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Im Wandschrank war es so dunkel, und die
Dunkelheit hat te die Farbe von altem Blut. Sie hatten mich einfach
reingeschubst und abgeschlossen. Ich sog die abgestandene Luft tief
durch die Nase ein und bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich
versuchte, bei jedem Einatmen bis zehn zu zählen und bei jedem
Ausatmen bis acht. Zum Glück hatten sie mir den Knebel so fest in
den Mund gesteckt, dass meine Nasenlöcher frei geblieben waren und
ich einen tiefen Schnaufer nach dem anderen machen konnte.
Ich versuchte, die Fingernägel unter den
Seidenschal zu zwängen, mit dem sie mir die Hände auf den Rücken
gefesselt hatten, aber weil ich mir die Nägel immer bis auf die
Kuppen abkaue, klappte es nicht. Wenigstens hatte ich daran
gedacht, die Finger aufeinanderzulegen und die Handflächen
auseinanderzudrücken, als sie den Knoten festgezogen hatten.
Jetzt ließ ich die Handgelenke kreisen und drückte
die Hände gegeneinander, bis die Fesseln ein bisschen nachgaben,
worauf ich den Knoten mit den Daumen herunterziehen konnte, bis er
erst in meiner Handfläche landete - und dann zwischen meinen
Fingern. Wären sie so schlau gewesen, mir auch die Daumen zu
fesseln, hätte ich mich nie im Leben befreien können. Diese
Trottel!
Als meine Hände endlich frei waren, war der Knebel
schnell entfernt.
Jetzt die Tür. Aber erst musste ich mich
vergewissern, dass sie nicht davor auf der Lauer lagen.
Ich spähte durchs Schlüsselloch auf den Dachboden
hinaus. Kein Mensch war zu sehen, nur dunkle Ecken, das übliche
Dachbodengerümpel und allerlei ausrangierte Möbel. Die Luft war
rein.
Ich griff über den Kopf nach hinten und drehte
einen der drahtenen Kleiderhaken heraus. Indem ich das krumme Ende
in das Schlüsselloch steckte und das andere Ende nach unten
drückte, bog ich mir einen L-förmigen Haken zurecht, mit dem ich in
den Tiefen des alten Schlosses herumstochern konnte. Nachdem ich
eine Weile zielstrebig hier und dort probiert und gefummelt hatte,
wurde ich mit einem zufriedenstellenden Klick belohnt. Es
war beinahe zu einfach gewesen. Die Tür ging auf, und ich war
wieder frei.
Ich hüpfte die breite Steintreppe zur
Eingangshalle hinunter und blieb ganz kurz vor der Esszimmertür
stehen, nur so lange, wie ich brauchte, um meine Zöpfe auf den
Rücken zu werfen, wo sie normalerweise immer lagen.
Vater bestand nach wie vor darauf, dass das
Abendessen pünktlich zur gewohnten Zeit serviert und an unserem
Esstisch aus massiver Eiche eingenommen wurde. Genau wie damals,
als meine Mutter noch lebte.
»Sind Ophelia und Daphne noch nicht unten,
Flavia?«, fragte er leicht gereizt und blickte von der neuesten
Ausgabe des British Philatelist, der Zeitschrift für den
Briefmarkenfreund, auf, die neben seinem Teller mit Braten und
Kartoffeln lag.
»Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen«,
antwortete ich.
Was der Wahrheit entsprach. Ich hatte die beiden
nicht mehr gesehen - seit sie mich gefesselt und geknebelt und mit
verbundenen Augen die Dachbodentreppe hochgeschleift und in den
Schrank gesperrt hatten.
Vater schaute mich die gesetzlich vorgeschriebenen
vier Sekunden
über seinen Brillenrand an, ehe er sich wieder seinen klebrigen
Kostbarkeiten widmete.
Ich schenkte ihm ein so breites Lächeln, dass er
eine prächtige Aussicht auf die Zahnspange hatte, mit der mein
Gebiss verdrahtet war. Obwohl ich damit wie ein Luftschiff ohne Au
ßenhülle aussah, wurde mein Vater gern ab und zu daran erinnert,
dass er für sein Geld auch etwas bekam. Diesmal war er jedoch viel
zu beschäftigt, um darauf zu achten.
Daraufhin hob ich den Deckel der mit
Schmetterlingen und Brombeerranken handbemalten Terrine hoch und
entnahm ihr eine großzügige Portion Erbsen. Unter Verwendung meines
Messers als Lineal und meiner Gabel als Gerte dirigierte ich die
Erbsen so, dass sie sich in Reih und Glied auf meinem Teller
formierten. Die kleinen grünen Kugeln bildeten so exakt
ausgerichtete Zweierreihen, dass der Anblick das Herz des
penibelsten Schweizer Uhrmachers hätte höher schlagen lassen.
Anschließend piekte ich sie von links unten nach rechts oben mit
der Gabel auf und verputzte sie.
Ophelia war an allem schuld. Schließlich war sie
schon siebzehn, weshalb von ihr inzwischen das Mindestmaß an Reife
erwartet wurde, über das sie demnächst als Erwachsene verfügen
sollte. Dass sie sich mit der dreizehnjährigen Daphne verbündete,
war einfach nicht fair. Zusammen waren die beiden schon dreißig!
Dreißig Jahre gegen meine kümmerlichen elf! Das war nicht nur
unsportlich, sondern geradezu niederträchtig. Und es schrie
förmlich nach Rache.
Am nächsten Morgen, als ich in meinem Labor im
obersten Stock des Ostflügels gerade mit einigen Glaskolben und
Reagenzgläsern beschäftigt war, kam Ophelia einfach so
hereingeplatzt.
»Wo ist meine Perlenkette?«
Ich zuckte die Achseln. »Seit wann bin ich für
deine Klunker verantwortlich?«
»Ich weiß, dass du sie weggenommen hast. Die
Pfefferminzbonbons aus meiner Unterwäscheschublade sind auch weg,
und mir ist nicht entgangen, dass alle in diesem Haushalt
vermissten Pfefferminzbonbons früher oder später im selben
ungewaschenen Mund wieder auftauchen.«
Ich regulierte die Flamme des Brenners, auf dem ich
ein Becherglas mit einer roten Flüssigkeit erhitzte. »Wenn du damit
andeuten möchtest, dass meine Körperpflege nicht denselben hohen
Standards entspricht wie die deine, kannst du mir mal die
Überschuhe lecken.«
»Flavia!«
»Und zwar kreuzweise. Ich habe es satt, immerzu als
Sündenbock herzuhalten, Feely.«
Aber mein berechtigter Zorn verflog im Nu, als
Ophelia kurzsichtig in das rubinrote Becherglas linste, in dem es
just in diesem Augenblick zu brodeln anfing.
»Was ist das für ein klebriges Zeug auf dem Boden?«
Sie klopfte mit einem langen, sorgsam gefeilten Fingernagel an das
Glas.
»Das ist ein Experiment. Vorsicht, Feely! Das ist
Säure!« Ophelia wurde leichenblass. »Das ist doch meine Kette! Die
hab ich von Mama geerbt!«
Ophelia war die einzige von Harriets Töchtern, die
von unserer Mutter als »Mama« sprach, denn sie war die einzige von
uns dreien, die alt genug war, sich noch an die Frau aus Fleisch
und Blut zu erinnern, die uns unter dem Herzen getragen hatte. Eine
Tatsache, die uns Ophelia bei jeder sich bietenden Gelegenheit
unter die Nase rieb. Harriet war, als ich gerade mal ein Jahr alt
war, beim Bergsteigen ums Leben gekommen, und seither wurde auf
Buckshaw nicht oft von ihr gesprochen.
War ich eifersüchtig auf Ophelias Erinnerungen?
Nahm ich es ihr übel, dass sie sich noch an unsere Mutter erinnern
konnte? Ich glaube nicht. Es ging viel tiefer. Aus unerfindlichen
Gründen verabscheute ich Ophelias Erinnerungen an unsere
Mutter.
Ich hob ganz langsam den Kopf, damit meine runden
Brillengläser Ophelia ordentlich anblitzten, denn ich wusste, dass
meine Schwester dann jedes Mal das beklemmende Gefühl bekam, vor
einem verrückten deutschen Wissenschaftler aus einem alten
Schwarzweißfilm zu stehen.
»Blöde Kuh!«
»Gewitterziege!«, fauchte ich zurück. Aber erst,
nachdem Ophelia auf dem Absatz kehrtgemacht hatte - übrigens
ausgesprochen elegant - und hinausgerauscht war.
Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten.
Was ich von Ophelia schon gewohnt war. Sie war, im Gegensatz zu
mir, keine geduldige Planerin, die davon überzeugt war, dass man
das Süppchen der Rache möglichst lange köcheln lassen musste, um es
zur Perfektion reifen zu lassen.
Gleich nach dem Abendessen, als sich Vater wieder
in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, um über seiner Sammlung
papierener Miniaturporträts zu brüten, legte Ophelia das silberne
Buttermesser, in dem sie die letzte Viertelstunde wie ein
Wellensittich ihr Spiegelbild betrachtet hatte, ein klein wenig zu
bedächtig auf den Tisch. Dann verkündete sie unvermittelt: »Weißt
du, eigentlich bin ich gar nicht deine richtige Schwester. Und
Daphne auch nicht. Darum sind wir auch so ganz anders als du. Dir
ist wahrscheinlich noch nie in den Sinn gekommen, dass du bloß
adoptiert worden bist.«
Ich ließ den Löffel fallen, dass es nur so
schepperte.
»Das stimmt nicht! Ich bin Harriet wie aus dem
Gesicht geschnitten! Das sagen alle.«
»Eben deswegen hat Mama im Heim für ledige Mütter
gerade dich ausgesucht.« Ophelia schnitt eine angeekelte
Grimasse.
»Wie konnte ich ihr denn ähnlich sehen, wo ich doch
ein Neugeborenes war und sie eine Erwachsene?« So leicht ließ ich
mich nicht ins Bockshorn jagen.
»Weil du sie an ihre eigenen Babybilder erinnert
hast. Herrje, sie hat die Fotos sogar mitgeschleppt und zum
Vergleich neben dich gehalten.«
Ich wandte mich an Daphne, die ihre Nase tief in
eine ledergebundene Ausgabe von Die Burg von Otranto
steckte. »Das ist gelogen, Daffy, stimmt’s?«
»Leider nein.« Daphne schlug behutsam eine
zwiebelhautdünne Seite um. »Vater hat immer gesagt, dass es dich
aus den Schuhen hauen wird, wenn du es eines Tages erfährst. Wir
mussten ihm beide schwören, dass wir es dir nie verraten würden.
Jedenfalls nicht vor deinem elften Geburtstag. Wir mussten einen
richtigen Eid ablegen.«
»Eine grüne Gladstone-Tasche«, mischte sich Ophelia
wieder ein, »hab ich selber gesehen. Ich hab gesehen, wie Mama ihre
eigenen Babyfotos in eine grüne Gladstone-Tasche gesteckt hat und
in das Heim gefahren ist. Ich war damals zwar erst sechs, fast
sieben, aber ich werde ihre vornehm blassen Hände niemals vergessen
… wie sie mit ihren schlanken Fingern die Messingschließe zugemacht
hat.«
Ich brach in Tränen aus, sprang auf und rannte aus
dem Esszimmer. Erst am nächsten Morgen beim Frühstück kam mir das
Gift in den Sinn.
Wie alle großartigen Pläne war auch dieser ganz
einfach.
Buckshaw war seit undenklichen Zeiten das Zuhause
unserer Familie, der de Luces. Das jetzige Gebäude im
georgianischen Stil wurde errichtet, nachdem das ursprüngliche
elisabethanische Haus von den Dorfbewohnern, die den de Luces
unterstellten, mit den Oraniern zu sympathisieren, bis auf die
Grundmauern niedergebrannt worden war. Dass wir vierhundert Jahre
lang glühende Katholiken gewesen waren und sich daran auch nichts
geändert hatte, konnte die aufgebrachten Bürger von Bishop’s Lacey
nicht besänftigen. Das »Alte Haus«, wie es damals hieß, war in
Flammen aufgegangen, und inzwischen
war das neue Gebäude, das an derselben Stelle errichtet worden
war, auch schon wieder an die dreihundert Jahre alt.
Zwei spätere Familienmitglieder, Antony und William
de Luce, die über den Krimkrieg in Streit geraten waren, hatten die
Anlage verschandelt, indem jeder nachträglich einen Flügel hatte
anbauen lassen: William den Ostflügel, Antony den Westflügel.
Jeder hatte sich in sein höchsteigenes
Herrschaftsgebiet zurückgezogen, und jeder hatte dem anderen
untersagt, auch nur einen Fuß über den schwarzen Strich zu setzen,
den sie quer durch die vordere Eingangshalle, das Vestibül und das
Wasserklosett des Butlers hinter der Treppe gezogen hatten. Die
beiden gelben, pustelhaft viktorianischen Ziegelanbauten, zeigten
wie die steinernen Schwingen eines Friedhofsengels nach hinten, was
den hohen Fenstern und Fensterläden der georgianischen Fassade in
meinen Augen das affektierte, leicht verdutzte Aussehen einer alten
Jungfer mit schmerzhaft straffem Haarknoten verlieh.
Ein späterer de Luce - Tarquin, auch »Tar« genannt
- hinterließ nach einem spektakulären Nervenzusammenbruch das, was
einmal eine brillante Chemikerkarriere zu werden versprach, als
Scherbenhaufen. Er wurde in dem Sommer, in dem Königin Viktoria ihr
fünfundzwanzigjähriges Thronjubiläum beging, von der Universität
Oxford verwiesen.
Tars nachsichtiger Vater, stets besorgt um die
schwache Gesundheit seines Sohnes, hatte weder Kosten noch Mühen
gescheut, ihm im obersten Stock des Ostflügels ein richtiges Labor
einzurichten: komplett mit Glasbehältern, Mikroskopen und einem
Spektroskop aus Deutschland, Messingwaagen aus Luzern sowie einer
verwirrend geformten, mundgeblasenen deutschen Geißlerröhre, an der
Tar elektrische Spulen befestigen konnte, um zu untersuchen, wie
verschiedene Gase fluoreszieren.
Auf einem Schreibtisch vor dem Fenster stand ein
Leitz-Mikroskop,
dessen Messinggehäuse immer noch so schwelgerisch glänzte wie an
dem Tag, als es per Kutsche von der Bahnstation Buckshaw
angeliefert worden war. Der blanke Spiegel konnte so eingestellt
werden, dass er die ersten Strahlen der Morgensonne einfing, und
damit man das Gerät auch an diesigen Tagen und nach Einbruch der
Dunkelheit benutzen konnte, war es mit einer
Petroleum-Mikroskoplampe von Davidson & Co. aus London
ausgestattet.
Es gab sogar ein Skelett auf einem Rollständer, das
Tar im zarten Alter von zwölf Jahren von dem berühmten
Naturforscher Frank Buckland geschenkt bekommen hatte, dessen Vater
einst das mumifizierte Herz von König Ludwig XIV. verzehrt
hatte.
Drei Wände waren mit deckenhohen Schränken und
Vitrinen versehen, von denen wiederum zwei mit Chemikalien in
gläsernen Apothekengefäßen vollgestellt waren, ein jedes mit Tar de
Luces akribischer Handschrift beschriftet, denn Tar hatte dem
Schicksal ein Schnippchen geschlagen und sie alle überlebt. Er war
1928 im Alter von sechzig Jahren inmitten seines chemischen
Königreichs gestorben, wo er eines Morgens von seinem Verwalter
gefunden wurde, am Schreibtisch sitzend und mit dem gebrochenen
Auge durch sein geliebtes Leitz-Mikroskop spähend. Man munkelte, er
habe sich mit dem Zerfall erster Ordnung von Stickstoffpentoxid
beschäftigt. Wenn das stimmt, handelt es sich um die erste belegte
Forschung zu einer Reaktion, die letztendlich zur Entwicklung der
Atombombe führte.
Onkel Tars Schatzkammer wurde verschlossen und
verharrte in staubiger ungestörter Stille, bis das, was Vater meine
»skurrile Begabung« nannte, zutage trat und ich so weit war, das
Labor für mich zu beanspruchen.
Mich überläuft immer noch jedes Mal ein freudiger
Schauer, wenn ich an den regnerischen Herbsttag denke, an dem die
Chemie in mein Leben trat.
Ich war beim Bergsteigerspielen in der Bibliothek
an den Regalen hochgeklettert, als ich mit dem Fuß abrutschte und
ein dickes Buch zu Boden polterte. Als ich es aufhob und die
zerknitterten Seiten glatt streichen wollte, sah ich, dass es nicht
nur Worte, sondern auch lauter Abbildungen enthielt. Zum Beispiel
gossen körperlose Hände Flüssigkeiten in eigenartig geformte
Glasbehälter, die außerirdischen Musikinstrumenten glichen.
Der Titel des Buches lautete Grundzüge der
Chemie, und ich entnahm dem Werk im Handumdrehen, dass das Wort
Jod von »violett« und das Wort »Brom« vom griechischen Wort für
»Gestank« abgeleitet ist. Hochspannend! Ich schob den dicken roten
Wälzer unter meinen Pullover und nahm ihn mit nach oben in mein
Zimmer, und erst viel später entdeckte ich, dass jemand H. de
Luce auf das Vorsatzblatt geschrieben hatte. Das Buch hatte
Harriet gehört.
Schon bald vertiefte ich mich in jeder freien
Minute in meine neue Errungenschaft. Abends konnte ich es manchmal
kaum erwarten, endlich ins Bett gehen zu dürfen. Harriets Buch war
inzwischen mein heimlicher Freund.
Es führte sämtliche Alkalimetalle eingehend auf:
Metalle mit wunderlichen Namen wie Lithium und Rubidium, außerdem
Erdalkalien wie Strontium, Barium und Radium. Als ich las, dass
eine Frau, nämlich Madame Curie, das Radium entdeckt hatte, stieß
ich einen Freudenschrei aus.
Und dann die Giftgase: Phosphin, Arsin (von dem
eine einzige Blase tödlich sein kann), Stickstoffpentoxid,
Schwefelwasserstoff … die Liste war schier endlos. Als ich
entdeckte, dass mein Buch auch noch ausführliche Anleitungen für
die Herstellung dieser Stoffe enthielt, war ich im siebten
Himmel.
Sobald ich mir beigebracht hatte, wie man chemische
Gleichungen liest (etwa K4FeC6N6 +
2K = 6KC N + Fe, womit die Reaktion beschrieben wird, die auftritt,
wenn man das gelbe Prussiat Pottasche oder auch Kalziumkarbonat
erhitzt, um Kaliumzyanid
bzw. Zyankali herzustellen), kam es mir vor, als stünde mir von
nun an die ganze Welt offen, als wäre mir das Zauberbuch einer
Märchenhexe in die Hände gefallen.
Am spannendsten fand ich aber, dass alles (die
ganze Schöpfung - ohne Ausnahme!) von unsichtbaren chemischen
Verbindungen zusammengehalten wurde. Und ich fand es aus
unerfindlichen Gründen ausgesprochen tröstlich, dass es irgendwo -
selbst wenn es unsereiner nicht sehen kann - etwas unerschütterlich
Dauerhaftes gibt.
Anfangs kam ich nicht gleich darauf, den
offenkundigen Zusammenhang zu bemerken - nämlich den zwischen dem
Buch und dem verlassenen Labor; aber als der Groschen endlich fiel,
erwachte mein Leben erst zum richtigen Leben, falls irgendwer
versteht, wie ich das meine.
Hier, in Onkel Tars Labor, standen ordentlich
aufgereiht sämtliche Chemiebücher, die er einst liebevoll
zusammengetragen hatte, und schon bald fand ich heraus, dass die
meisten gar nicht so sehr über meinen Verstand gingen.
Es folgten einfache Experimente, bei denen ich mich
darin übte, die Anweisungen Wort für Wort zu befolgen. Was nicht
heißen soll, dass es nicht gelegentlich zu beträchtlichem Gestank
und etlichen Explosionen gekommen wäre, aber darüber wollen wir
lieber den Mantel des Schweigens breiten.
Meine Notizbücher wurden immer dicker. Sobald sich
mir die Geheimnisse der organischen Chemie offenbart hatten, traute
ich mir immer kniffligere Experimente zu und erfreute mich an
meinem neuen Wissen darüber, was einem die Natur so alles großzügig
zur Verfügung stellt.
Meine besondere Vorliebe galt den Giften.
Ich hieb mit einem Bambusspazierstock, den ich aus
dem Elefantenfuß-Schirmständer in der vorderen Eingangshalle
gemopst hatte, auf das Unkraut ein. Hier hinten im Küchengarten
hatten die hohen roten Ziegelmauern die wärmende
Sonne noch nicht durchgelassen. Alles war noch feucht vom
nächtlichen Regen.
Ich bahnte mir einen Weg durch das wuchernde,
letztes Jahr nicht mehr gemähte Gras, bis ich am Fuß der Mauer das
Gesuchte entdeckte: ein Büschel hellrot schimmernder Pflanzen,
deren dreiblättrige Stauden sich von den anderen Kletterpflanzen
abhoben. Ich zog die baumwollenen Gartenhandschuhe an, die ich mir
in den Gürtel gesteckt hatte, und machte mich, begleitet von einer
schallend gepfiffenen Interpretation von
Bibbidi-Bobbidi-Buu, frisch ans Werk.
Später, als ich glücklich wieder in meinem
Sanctum Sanctorum, meinem Allerheiligsten, saß - auf diesen
Ausdruck war ich in einer Biografie Thomas Jeffersons gestoßen und
hatte ihn mir sogleich angeeignet -, stopfte ich die bunten Blätter
in einen Destillierkolben und achtete darauf, dass ich die
Handschuhe erst auszog, nachdem ich alles bis ganz unten auf den
Boden gedrückt hatte. Nun kam der Teil, der mir am meisten Spaß
machte.
Ich stöpselte den Destillierkolben zu, verband ihn
auf einer Seite mit einem Glaskolben, in dem bereits Wasser kochte,
und auf der anderen mit einer gewundenen gläsernen Kühlschlange,
die in ein leeres Reagenzglas mündete. Das Wasser brodelte wie
verrückt, und ich sah zu, wie sich der Dampf seinen Weg in den
Kolben mit den Blättern bahnte. Die fingen schon an, weich zu
werden und sich aufzurollen, während der heiße Dampf die winzigen
Taschen zwischen den Zellen öffnete und die Essenz der Pflanze
freisetzte.
So hatten schon die alten Alchimisten ihre Kunst
praktiziert: Feuer und Dampf, Dampf und Feuer. Destillation.
Einfach herrlich.
Destillation. Ich sprach es laut vor mich hin:
»Des-til-lation!«
Ehrfürchtig sah ich zu, wie sich der Dampf in der
Glasspirale abkühlte und kondensierte, rieb mir verzückt die Hände,
als sich der erste klare Tropfen am Glasrand bildete - und mit
vernehmlichem Plopp! in das Auffanggefäß fiel.
Als das ganze Wasser verdampft war, drehte ich den
Bunsenbrenner aus, stützte das Kinn in die Hände und beobachtete
gespannt, wie die Flüssigkeit in dem Reagenzglas zwei Schichten
bildete. Unten auf dem Boden sah man das klare destillierte Wasser,
obendrauf schwamm eine gelbliche Flüssigkeit, der Pflanzensaft. Er
wurde Urushiol genannt, eine Substanz, die unter anderem bei der
Lackherstellung verwendet wird.
Ich zog ein goldfarbenes Röhrchen aus der
Pullovertasche, nahm die Kappe ab und musste schmunzeln, als die
rote Spitze erschien. Es war Ophelias Lippenstift, aus der
Schublade ihrer Frisierkommode geklaut, wie auch die Perlenkette
und die Pfefferminzbonbons. Und Feely - Fräulein Rotzfahne - war
nicht mal aufgefallen, dass ihr heißgeliebter Lippenstift
verschwunden war.
Apropos Pfefferminzbonbons - ich steckte eins in
den Mund und zermalmte es krachend.
Der Lippenstift selbst ließ sich ganz leicht
herausdrehen. Ich zündete den Bunsenbrenner wieder an. Der
wachsähnliche Stift verwandelte sich im Nu in eine klebrige Masse.
Wenn Feely wüsste, dass man Lippenstifte unter anderem aus
Fischschuppen herstellt, dachte ich, wäre sie vielleicht nicht ganz
so erpicht darauf, sich das Zeug auf den Mund zu schmieren. Ich
musste es ihr bei Gelegenheit mal erzählen. Aber das hatte
Zeit.
Mit einer Pipette entnahm ich dem Reagenzglas eine
kleine Menge destillierten Saft, ließ ihn vorsichtig in die
Lippenstiftpampe tröpfeln und rührte die Mixtur mit einem
Holzspatel kräftig durch.
Zu dünn, fand ich, nahm ein Gefäß aus dem Regal und
fügte ein paar Klümpchen Bienenwachs hinzu, um die ursprüngliche
Konsistenz zu erreichen.
Jetzt war es wieder Zeit für die Handschuhe - und
für die eiserne Patronengussform, die ich mir aus der recht
passablen Feuerwaffensammlung von Buckshaw ausgeborgt hatte.
Schon komisch, dass ein Lippenstift genauso groß
ist wie ein Projektil vom Kaliber 45. Gut zu wissen, jedenfalls.
Wenn ich heute Abend im warmen Bettchen lag, musste ich
ausführlicher darüber nachdenken, was sich mit diesem Wissen noch
alles anfangen ließ, jetzt war ich zu beschäftigt.
Nachdem ich den roten Pfropf behutsam aus der
Gussform gelöst und unter kaltem Wasser abgekühlt hatte, passte er
wieder anstandslos in seine goldene Hülse.
Ich drehte ihn mehrmals raus und rein, um mich zu
vergewissern, dass der Stift einwandfrei funktionierte, dann schob
ich die Kappe wieder darüber. Feely war eine Langschläferin und saß
bestimmt noch beim Frühstück.
»Wo ist mein Lippenstift, du Miststück? Was hast
du damit gemacht?«
»Der liegt in deiner Schublade«, antwortete ich.
»Da hab ich ihn jedenfalls gesehen, als ich deine Perlenkette
geklaut hab.«
In meinem kurzen Leben war ich, als jüngste von
drei Schwestern, wohl oder übel zu einer Meisterin der gespaltenen
Zunge geworden.
»In der Schublade ist er nicht. Da hab ich eben
erst nachgeschaut.«
»Hast du die Brille aufgehabt?«, fragte ich
feixend.
Obwohl uns Vater alle drei mit Brillen ausgestattet
hatte, weigerte sich Feely hartnäckig, ihre aufzusetzen, und meine
enthielt kaum mehr als Fensterglas. Ich trug sie fast nur im Labor,
als Augenschutz, und sonst hin und wieder auch mal, um Mitleid zu
erregen.
Feely schlug auf den Tisch und stürmte in ihr
Zimmer.
Ich widmete mich seelenruhig wieder den
unergründlichen Tiefen meiner zweiten Schüssel Weetabix.
Später schrieb ich in mein Notizheft:
Freitag, 2. Juni 1950, 9.42 Uhr. Verhalten der
Versuchsperson normal, wenn auch missmutig. (Aber so ist sie
eigentlich immer.) Eintritt der Wirkung kann zwischen 12 und 72
Stunden betragen.
Ich konnte warten.
Mrs Mullet, die untersetzt und grau und rund wie
ein Mühlstein war und die, da bin ich mir sicher, sich für eine
Gestalt aus einem Gedicht von A. A. Milne hielt, war in der Küche
mit einem ihrer eitergelben Schmandkuchen beschäftigt. Wie
gewöhnlich kämpfte sie mit dem riesigen AGA-Herd, der die kleine,
vollgestopfte Küche schier erschlug.
»Ach, du bist’s, Miss Flavia! Hilf mir doch bitte
mal mit dem Herd, mein Schatz.«
Noch ehe mir eine passende Erwiderung einfiel,
stand Vater hinter mir.
»Ich muss dich kurz sprechen, Flavia.« Sein Ton war
gewichtig wie die Bleistücke an den Stiefeln eines
Tiefseetauchers.
Ich schielte zu Mrs Mullet hinüber. Die pflegte
sich nämlich beim kleinsten Anzeichen von Missstimmigkeiten aus dem
Staub zu machen. Einmal hatte sie sich sogar, als Vater die Stimme
erhoben hatte, in einen Teppich eingerollt und sich geweigert,
wieder herauszukommen, bis man nach ihrem Mann geschickt
hatte.
Sie schloss die Backofentür so behutsam, als wäre
sie aus kostbarstem Kristallglas.
»Ich muss los«, verkündete sie. »Das Mittagessen
steht in der Wärmeklappe.«
»Vielen Dank, Mrs Mullet«, sagte Vater. »Das
kriegen wir schon hin.« Wir kriegten es immer hin.
Sie öffnete die Küchentür - und stieß unvermittelt
einen Schrei aus wie ein in die Enge getriebener Dachs.
»Ach herrje! Entschuldigen Sie vielmals, Colonel de
Luce, aber … um Himmels willen!«
Vater und ich mussten uns an ihr
vorbeidrängeln.
Es war ein Vogel. Eine Zwergschnepfe. Und zwar eine
tote. Sie lag rücklings auf der Treppe, die steifen Flügel wie ein
kleiner Flugsaurier ausgebreitet, die Augen mit einem ziemlich
unschönen Film überzogen, und der lange schwarze nadelartige
Schnabel zeigte senkrecht in die Luft. Etwas war darauf aufgespießt
und wehte im Morgenwind - ein Fitzelchen Papier.
Nein, kein Papierfitzelchen, sondern eine
Briefmarke.
Vater bückte sich und rang plötzlich nach Luft. Er
griff sich an die Kehle, seine Hände zitterten wie Espenlaub im
Herbst, und sein Gesicht war aschfahl.