7
Ich bremste scharf und lehnte Gladys an einen verwitterten Bauholzstapel. Ned war noch im Hof des Wirtshauses beschäftigt. Er hatte alle Bierfässer weggerollt und war nun dabei, Käseräder so groß wie Mühlsteine von einem geparkten Laster abzuladen, wobei er großspurig die Muskeln spielen ließ.
»Hoy, Flavia«, begrüßte er mich und nutzte sogleich die Gelegenheit, seine Arbeit zu unterbrechen. »Magst’n Stück Käse?«
Ehe ich antworten konnte, hatte er ein brutal aussehendes Klappmesser aus der Tasche geholt und erschreckend mühelos eine dicke Scheibe Stilton abgeschnitten. Er selbst schnitt sich auch eine ab und biss mit »geräuschvollem Gusto« (so hätte Daphne das genannt) herzhaft hinein. Daphne will Schriftstellerin werden, darum notiert sie sich in einem alten Kontobuch alle möglichen Redewendungen, die ihr bei der täglichen Lektüre auffallen. Mir war der »geräuschvolle Gusto« noch vom letzten Mal, als ich heimlich in ihrem Buch gelesen hatte, in Erinnerung.
»Warste daheim?«, erkundigte sich Ned und warf mir einen verlegenen Seitenblick zu. Was jetzt kommen würde, konnte ich mir denken. Ich nickte.
»Und wie geht’s Miss Ophelia? War der Doktor schon bei ihr?«
»Ja, ich glaube, er hat heute Morgen bei uns reingeschaut.«
Ned schluckte den Schwindel anstandslos.
»Ist sie immer noch überall grün?«
»Sie ist inzwischen gelblicher«, sagte ich. »Und zwar eher schwefelgelb als kupfrig.«
Ich hatte festgestellt, dass eine Lüge, wenn man sie in möglichst viele Einzelheiten verpackt, besser rutscht, so, wie man kranken Pferden ihre Tablette in einen Apfel steckt. Diesmal merkte ich jedoch, kaum dass ich es ausgesprochen hatte, dass ich zu weit gegangen war.
»Ha, Flavia!«, sagte Ned. »Du willst dich bloß über mich lustig machen.«
Ich schenkte ihm mein bestes Spätzünder-Landei-Lächeln. »Du hast mich ertappt, Ned«, erwiderte ich. »Schuldig im Sinne der Anklage.«
Er revanchierte sich mit einem schiefen Abbild meines Grinsens. Ich argwöhnte schon, er wollte mich nachäffen, und mir kam die Galle hoch, doch dann begriff ich, dass er sich ehrlich freute, mich durchschaut zu haben. Das war die Gelegenheit!
»Du, Ned«, sagte ich, »würdest du mir antworten, wenn ich dir eine ungeheuer persönliche Frage stellen würde?«
Ich wartete, bis mein Ansinnen bei ihm angekommen war. Mit Ned zu kommunizieren war in etwa so, als wechselte man Telegramme mit einem mongolischen Leseanfänger.
»Ich würd’ schon antworten«, erwiderte er schließlich. Das verschlagene Glitzern in seinen Augen verriet, was er gleich hinzufügen würde: »Aber ich würd vielleicht nicht ehrlich sein, ist doch klar.«
Nachdem wir darüber tüchtig gelacht hatten, kam ich zur Sache. Ich fuhr gleich die ganz schweren Geschütze auf.
»Du bist doch superscharf auf Ophelia, stimmt’s?«
Ned steckte nachdenklich die Zunge in die Backe und fuhr sich mit dem Finger um den Hals unter dem Hemdkragen.
»Deine Schwester ist’n echt nettes Mädchen, das steht mal fest.«
»Würdest du dich nicht gern eines Tages mit ihr in einem hübschen strohgedeckten Häuschen niederlassen wollen und einen Stall voll Kinder aufziehen?«
Inzwischen glich Neds Hals einer Säule aufsteigender Röte wie ein dickes Alkoholthermometer. Im Handumdrehen sah er aus wie einer jener Vögel, die bei der Balz den Kropf aufplustern. Ich erbarmte mich seiner.
»Nur mal angenommen, sie würde sich gern mit dir treffen, aber ihr Vater würde das nicht erlauben. Nur mal angenommen, eine ihrer Schwestern könnte euch ein wenig behilflich sein.«
Sein roter Kropf wurde schon flacher. Er kämpfte mit den Tränen.
»Ist das dein Ernst, Flavia?«
»Großes Indianerehrenwort.«
Ned hielt mir die schwieligen Finger hin und schüttelte mir verblüffend sanft die Hand. Ich kam mir vor, als hätte ich einer Ananas die Hand gegeben.
»Hand gegeben, Brüder fürs Leben«, verkündete er, was immer das heißen sollte.
Hand gegeben, Brüder fürs Leben? Hatte ich eben den geheimen Handschlag irgendeiner bäuerlichen Bruderschaft empfangen, die sich bei Mondschein auf Friedhöfen und in verschwiegenen Wäldchen traf? War ich nunmehr offiziell aufgenommen und musste künftig an unaussprechlich blutigen mitternächtlichen Zeremonien in Wiesen und Feldern teilnehmen? Nicht die schlechteste Aussicht, wie ich fand.
Ned grinste mich an wie der Totenschädel auf einer Piratenflagge. Ich bekam wieder Oberwasser.
»Also aufgepasst!«, sagte ich. »Erste Lektion: Niemals tote Vögel vor die Tür legen. Das machen nur liebeskranke Kater.«
Ned machte ein verständnisloses Gesicht.
»Ich hab bloß ein-, zweimal Blumen hingelegt, damit Ophelia sie findet«, entgegnete er. Das war mir neu. Ophelia hatte die Sträuße offensichtlich sofort, ehe sonst jemand aus dem Haushalt etwas mitbekam, in ihrem Schlafzimmer verschwinden lassen, um sich in aller Ruhe seligen Liebesträumereien hinzugeben.
»Aber tote Vögel? Noch nie. Du kennst mich doch, Flavia. So was würd’ ich nie machen.«
Ich überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass er Recht hatte. Es passte nicht zu ihm. Meine nächste Frage stellte sich jedoch als echter Glückstreffer heraus.
»Weiß Mary Stoker eigentlich, dass du in Ophelia verschossen bist?« Den Ausdruck hatte ich aus irgendeinem amerikanischen Kinofilm, aus Heimweh nach St. Louis oder Vier Schwestern, und endlich hatte ich mal Gelegenheit, ihn anzubringen. Wie Daphne prägte ich mir bestimmte Ausdrücke und Redewendungen ein, benötigte allerdings kein Kontobuch, um sie mir aufzuschreiben.
»Was hat denn Mary damit zu tun? Sie ist Tullys Tochter, und damit hat sich’s.«
»Komm schon, Ned, ich hab genau gesehen, wie ihr euch heute Vormittag geküsst habt, als ich … zufällig vorbeikam.«
»Ich wollte sie bloß’n bissel trösten. Mehr war nicht.«
»Weil irgendwer sie von hinten überrascht hatte?«
Ned sprang auf. »Du blöde …!«, rief er. »Das soll keiner wissen!«
»Als sie seine Bettwäsche gewechselt hat?«
»Du bist eine Hexe, Flavia de Luce!«, brüllte Ned. »Hau ab! Fahr heim!«
»Erzähl’s ihr ruhig, Ned«, sagte da jemand leise. Als ich mich umdrehte, stand Mary in der Tür.
Mit einer Hand stützte sie sich am Türrahmen ab, mit der anderen fasste sie sich an den Kragen wie Tess von den d’Urbervilles leibhaftig. Von Nahem sah man, dass sie grobe, rot aufgesprungene Hände hatte und fürchterlich schielte.
»Erzähl’s ihr ruhig«, wiederholte sie. »Jetzt isses sowieso egal, oder?«
Ich merkte sofort, dass sie mich nicht leiden konnte. Das ist nämlich ein weiblicher Urinstinkt, dass ein Mädchen sofort merkt, ob ein anderes Mädchen es leiden kann oder nicht. Feely behauptet, im Gegensatz dazu sei zwischen Männern und Frauen die Telefonverbindung unterbrochen, und man wisse nie, wer von beiden aufgelegt hätte. Bei einem Jungen wüsste man nie, ob er in einen verknallt ist oder einen nur veräppeln will; wie ein Mädchen einen findet, weiß man nach drei Sekunden. Zwischen Mädchen gibt es einen unaufhörlichen Strom unhörbarer und unsichtbarer Signale, wie die Hochfrequenzradiosignale zwischen Schiffen auf hoher See und der Küste, und diese geheime Abfolge von Punkten und Strichen signalisierte mir, dass Mary mich nicht leiden konnte.
»Na los, erzähl’s ihr!«, forderte Mary ihn auf.
Ned schluckte schwer und klappte den Mund auf, aber kein Laut kam heraus.
»Du bist doch Flavia de Luce, oder?«, fragte Mary. »Eine von denen oben aus Buckshaw.« Sie schleuderte es mir wie eine Torte ins Gesicht.
Ich nickte brav, als wäre ich ein vernachlässigter adliger Inzuchtbalg, der ein bisschen liebgehabt werden muss. Lieber mitspielen, dachte ich.
»Dann komm mal mit!« Mary winkte mich heran. »Aber beeil dich - und sei ja leise!«
Ich folgte ihr in eine dunkle gemauerte Speisekammer aus Stein und eine gezimmerte, steile Treppe hinauf. Oben huschten wir in eine Art Wäschekammer, eine Art hohen Wandschrank, in dem inzwischen Regale mit Putzmitteln, Seife und Bohnerwachs standen. In der Ecke lehnten kreuz und quer mehrere Aufnehmer und Besen, und es stank betäubend nach Karbol.
»Pst!« Mary kniff mich fest in den Arm. Schwere Schritte näherten sich, kamen die Treppe hoch. Wir drückten uns in eine Ecke und passten höllisch auf, dass wir keinen Mop umschmissen.
»Der Tag wird kommen, an dem ein Cotswold-Pferd die Siegerprämie einheimst. An deiner Stelle würde ich ein paar Kröten auf Seastar setzen, und scheiß auf die Tipps, die dir irgendwelche Londoner Angeber aufschwatzen wollen. Die können doch alle ihren Arsch nicht von ihrem Ellenbogen unterscheiden!«
Das war Tully, der mit irgendwem Wetttipps austauschte, und das in so vertraulichem Ton, dass man ihn noch in Epsom Downs hören konnte. Die leise Erwiderung auf seine kleine Ansprache endete in »Har-Har!«, dann verklangen die Schritte in dem Labyrinth holzgetäfelter Flure. »Hier lang«, zischelte Mary und zog mich am Ärmel. Wir bogen in einen engen Gang ab. Mary holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss geräuschlos die letzte Tür links auf.
Wir standen in einem Zimmer, das sich seit 1592, als Königin Elisabeth Bishop’s Lacey auf einer ihrer Sommer reisen durchs Land besuchte, nicht wesentlich verändert hatte. Balkendecke, Stuckpaneele, ein winziges, bleiverglastes Fenster, das zum Lüften offen stand, und breite Dielen, die sich wie ein sanft wogendes Meer wellten - so mein erster Eindruck.
An einer Wand stand ein lädierter Tisch mit dem ABC Zugfahrplan (Oktober 1946) unter dem einen Bein, damit er nicht kippelte. Obendrauf standen und lagen ein nicht zueinanderpassendes Waschgeschirr aus Krug und Schüssel in Rosa und Blassgelb, ein Kamm, eine Bürste und ein kleines schwarzes Lederetui. In der Ecke neben dem offenen Fenster sah ich ein einzelnes Gepäckstück: ein billig aussehender Überseekoffer aus Vulkanfiber, der über und über mit bunten Aufklebern gepflastert war. Daneben stand ein einfacher Stuhl, dem in der Lehne eine Strebe fehlte. Auf der anderen Seite gab es einen Kleiderschrank, der verdächtig nach Trödelmarkt aussah. Und ein Bett.
»Das isses!«, verkündete Mary. Als sie uns einschloss, betrachtete ich sie zum ersten Mal richtig. In dem grauen Spülwasserlicht, das durch das schmutzige Fenster hereinfiel, wirkte sie älter, härter und spröder als das Mädchen mit den verarbeiteten Händen aus dem sonnenbeschienenen Hof.
»Wahrscheinlich hast du noch nie im Leben so ein kleines Zimmer gesehen«, sagte sie spöttisch. »Ihr da oben auf Buckshaw besucht doch gern die Irrenanstalt, was? Begafft die Bekloppten - wollt mal sehen, wie unsereiner in seinen Käfigen so haust. Werft uns einen Keks durchs Gitter.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Mary wandte sich nach mir um, damit mich die ganze Wucht ihres vernichtenden Blicks traf.
»Tu nicht so unschuldig! Deine Schwester, diese Ophelia, hat dich doch mit’ner Nachricht für Ned hergeschickt. Sie hält mich wohl für’n Flittchen oder so was, aber das stimmt nicht!«
Da kam ich zu dem Schluss, dass ich Mary mochte, auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Wer den Ausdruck »Flittchen« benutzte, war eine Freundschaft wert.
»Hör zu«, erwiderte ich, »das mit der Nachricht stimmt nicht. Das hab ich nur zur Tarnung gesagt. Du musst mir helfen, Mary! Das machst du bestimmt. Bei uns auf Buckshaw wurde nämlich jemand umgebracht …«
Zack! Jetzt war es raus!
»… und niemand weiß davon, nur du und ich … und der Mörder natürlich.«
Sie hatte sich gleich wieder im Griff und fragte: »Und wer?«
»Keine Ahnung. Darum bin ich ja hergekommen. Ich hab mir gedacht, wenn ein Toter in unserem Gurkenbeet liegt und nicht mal die Polizei ihn identifizieren kann, ist er höchstwahrscheinlich im Dreizehn Erpel abgestiegen - falls er überhaupt irgendwo abgestiegen ist. Kannst du mir das Gästebuch beschaffen?«
»Nicht nötig. Wir haben zurzeit sowieso nur einen Gast, und das ist Mr Sanders.«
Je länger ich mich mit Mary unterhielt, desto sympathischer wurde sie mir.
»Und das hier ist sein Zimmer«, setzte sie zuvorkommend hinzu.
»Und wo kommt Mr Sanders her?«, fragte ich.
Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Keine Ahnung.«
»Hat er schon mal hier übernachtet?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Dann muss ich unbedingt im Gästebuch nachsehen. Bitte, Mary, es ist wichtig! Die Polizei kommt bestimmt bald zu euch, und dann ist es zu spät.«
»Na schön.« Sie schloss wieder auf und schlich in den Gang hinaus.
Kaum war sie draußen, öffnete ich die Schranktür. Bis auf zwei hölzerne Kleiderbügel war er leer. Daraufhin widmete ich mich dem Überseekoffer, der mit Aufklebern besetzt war wie ein Schiffsrumpf mit Seepocken. Diese farbenfrohen Krustentiere trugen jedoch Aufschriften: Paris, Rom, Stockholm, Amsterdam, Kopenhagen, Stavanger und viele andere.
Ich betätigte die Schließe, und zu meiner Verblüffung schnappte sie auf. Der Koffer war nicht abgeschlossen! Er ließ sich mühelos aufklappen und ich sah mich Mr Sanders’ Garderobe gegenüber: ein blauer Sergeanzug, zwei Hemden, ein Paar braune Schnürschuhe (zu blauem Serge? Das wusste ja sogar ich, dass das nicht zusammenpasste!), und ein Schlapphut wie aus dem Theater, der mich an gewisse Fotos von G. K. Chesterton aus der Radio Times erinnerte.
Ich zog die Kofferschubladen auf, wobei ich darauf achtete, dass ich den Inhalt nicht durcheinanderbrachte: eine Haarbürste (Perlmutt-Imitat), ein Rasierer (Valet Auto-Stop), eine Tube Rasiercreme (Marke »Morgenstolz«), eine Zahnbürste, Zahnpasta (Thymol: »besonders empfohlen zur Abtötung zahnschmelzschädigender Bakterien«), eine Nagelzange, ein Kamm (Xylonit) und ein Paar rechteckiger Manschettenknöpfe (aus natürlichem Gagat) mit zwei in Silber eingelegten Initialen: HB.)
H B? Wohnte hier nicht ein Mr Sanders? Wofür konnte HB stehen?
Die Tür flog auf, und jemand fauchte: »Was machst du da?«
Mir blieb fast das Herz stehen. Es war Mary.
»Das Gästebuch konnte ich nicht holen, Dad war … Flavia! Du kannst doch nicht im Gepäck von’nem Gast rumwühlen! Wir kriegen beide einen Riesenärger! Lass das!«
»Schon gut«, sagte ich und griff noch rasch in die Anzugtaschen. Sie waren sowieso leer. »Wann hast du Mr Sanders zuletzt gesehen?«
»Gestern. Gestern Mittag.«
»Hier? In diesem Zimmer?«
Sie schluckte, nickte und wandte den Blick ab.
»Ich hab die Bettwäsche gewechselt, da stand er plötzlich hinter mir und hat mich betatscht. Hat mir die Hand auf’n Mund gedrückt, damit ich nicht schreie. Ein Glück, dass Dad im Hof war und mich gerufen hat. Da hat er’s dann doch mit der Angst zu tun gekriegt. Aber ich hab ihn tüchtig getreten, sogar zweimal! So ein Ferkel! Ich hätt ihm die Augen ausgekratzt, wenn ich drangekommen wär!«
Sie sah mich mit einem Mal verlegen an, als hätte sich jäh ein riesiger gesellschaftlicher Abgrund zwischen uns aufgetan.
»Also ich an deiner Stelle hätte ihm die Augen ausgekratzt und hinterher die Höhlen ausgesaugt«, sagte ich.
Sie riss entsetzt die Augen auf.
»John Marston«, erklärte ich rasch. »Die holländische Kurtisane. Sechzehn-Null-Vier.«
Nach einer ungefähr zweihundert Jahre dauernden Pause prustete Mary los.
»Du bist mir vielleicht eine!«, sagte sie.
Der Abgrund war überbrückt.
»Zweiter Akt«, fügte ich hinzu.
Und schon krümmten wir uns beide vor unterdrücktem Lachen, hüpften, die Hände auf den Mund gedrückt, durchs Zimmer und schnaubten zweistimmig wie ein Pärchen dressierter Seehunde.
»Feely hat es uns damals mit der Taschenlampe unter der Bettdecke vorgelesen«, berichtete ich, worauf wir aus unerfindlichen Gründen noch viel mehr lachen mussten, so lange, bis wir uns kaum noch rühren konnten.
Mary umarmte mich so stürmisch, dass ich keine Luft mehr bekam.
»Du bist echt’ne Marke, Flavia«, sagte sie. »Ganz ehrlich. Komm her - sieh dir das mal an.«
Sie ging zum Tisch, knotete den dünnen Riemen des schwarzen Lederetuis auf und öffnete den Deckel. In dem Etui befanden sich zwei Reihen jeweils sechs kleiner Glasfläschchen, insgesamt also zwölf. Elf waren mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt, das zwölfte war nur ein Viertel voll. Zwischen den Reihen mit den Behältern war eine halbrunde Vertiefung, als gehörte dort ein Röhrchen oder etwas Ähnliches hinein.
»Was hältst du davon?«, flüsterte sie, als Tullys Organ von fern erscholl. »Glaubst du, das ist Gift? Ist unser Mr Sanders so’ne Art Dr. Crippen?«
Ich entkorkte das nur teilweise gefüllte Fläschchen und führte es an die Nase. Der Inhalt roch, als hätte jemand Essig auf die Rückseite eines Heftpflasters geträufelt, ein beißender Eiweißgeruch, als ob im Nebenzimmer jemand Haare von einem Alkoholiker in Brand gesteckt hätte.
»Insulin«, konstatierte ich. »Euer Mr Sanders ist Diabetiker.«
Mary sah mich verständnislos an, und ich konnte plötzlich nachvollziehen, wie sich Archimedes gefühlt haben musste, als er in der Badewanne saß und »Heureka!« jubelte. Ich packte Mary am Arm.
»Hat Mr Sanders rote Haare?«
»Karottenrote. Woher weißt du das?«
Sie staunte mich an, als wäre ich Madame Zolanda von der Kirmes, mit Turban, Kopftuch, Kristallkugel und allem Drum und Dran.
»Hexerei«, antwortete ich.