13
Als wir am Fuß des Oakshott Hill angekommen waren, musste ich auf einmal wieder an Vater denken, und mit diesem Gedanken kam die Traurigkeit zurück. Glaubte die Polizei allen Ernstes, dass mein Vater Horace Bonepenny ermordet hatte? Und wie sollte er das angestellt haben, bitteschön? Hätte er ihn unter meinem Schlafzimmerfenster abgemurkst, hätte sich das Ganze nur vollkommen geräuschlos abspielen können. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass Vater jemanden umbrachte, ohne dabei laut zu werden.
Aber ehe ich weiterspekulieren konnte, wurde die Straße ebener und bog schließlich nach Cottesmore und Doddingsley Magna ab. Im Schatten einer uralten Eiche, auf der Bank einer Bushaltestelle, saß eine wohlbekannte Gestalt: ein Hutzelmännlein in einer Überfallhose, das wie ein in der Wäsche eingelaufener George Bernard Shaw aussah. Der Gnom saß dort so ruhig und zufrieden und baumelte mit den Beinen, als wäre er auf dieser Bank geboren worden und hätte seither sein ganzes Leben darauf verbracht.
Es war unser Nachbar Maximilian Brock, und ich hoffte inständig, dass er mich nicht gesehen hatte. In Bishop’s Lacey munkelte man, Max verdiene sich jetzt, nachdem er sich aus der Welt der Musik zurückgezogen hatte, heimlich seinen Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Skandalgeschichten für amerikanische Heftchenreihen wie Vertrauliche Geständnisse und Heiße Romanzen - und zwar unter weiblichen Pseudonymen wie zum Beispiel Lala Dupree.
Weil er jeden, der ihm über den Weg lief, neugierig auszufragen pflegte und anschließend alles, was man ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, in hanebüchene Sensationen verwandelte, wurde er hinter seinem Rücken »die Dorfschleuder« genannt. Aber als Feelys ehemaligen Klavierlehrer konnte ich ihn schlechterdings nicht ignorieren.
Ich fuhr an den Straßenrand, tat so, als hätte ich ihn nicht gesehen, und beschäftigte mich mit Gladys’ Kette. Wenn ich Glück hatte, würde er sich nicht umdrehen, und ich konnte mich hinter der Hecke verstecken, bis er weg war.
»Flavia! Haruh, mon vieux!«
Mist! Er hatte mich entdeckt. Ein Haruh! von Maximilian zu ignorieren entsprach in etwa der Missachtung des elften Gebots - selbst wenn der Ruf von einer Bushaltestelle kam. Darum tat ich so, als hätte ich ihn eben erst entdeckt, setzte ein künstliches Lächeln auf und schob Gladys durchs hohe Gras auf ihn zu.
Maximilian hatte viele Jahre lang auf den Kanalinseln gelebt, wo er als Pianist bei den Alderney Symphonikern gespielt hatte, eine Stellung, die - wie er behauptete - unendliche Geduld und einen beträchtlichen Vorrat an Kriminalromanen erforderte.
Wollte man auf Alderney den Schutz des Gesetzes anrufen (so hatte er es mir einmal beim jährlichen Blumenfest in St. Tankred geschildert), brauchte man sich nur mitten auf den Marktplatz der Stadt zu stellen und »Haruh, haruh, mon prince. On me fait tort!« zu rufen. »Protestgeschrei« wurde dieser Ruf auch genannt, und er bedeutete so viel wie: »Achtung, mein Prinz, jemand tut mir Ungemach!« Mit anderen Worten: Jemand verübt ein Verbrechen an mir.
»Wie geht’s, wie steht’s, mein kleiner Pelikan?«, erkundigte sich Max und legte den Kopf erwartungsvoll schief wie eine Elster, die auf ein Antwortbröckchen wartet.
»Ganz gut«, erwiderte ich zurückhaltend, denn ich entsann mich, wie Daffy mir einmal erzählt hatte, Max sei wie eine dieser Spinnen, die einen mit einem einzigen Biss lähmen können und erst dann von einem ablassen, wenn sie einem den letzten Tropfen Lebenssaft ausgesaugt hatten. Und den der ganzen Familie gleich mit.
»Und wie geht’s deinem Vater, dem wackeren Colonel?«
Mein Herz machte einen Satz. »Ach, der ist wie immer furchtbar beschäftigt.«
»Und die kleine Miss Ophelia?«, bohrte er weiter. »Malt sie sich immer noch an wie Jezabel und bewundert sich in der silbernen Teekanne?«
Das ging nun aber eindeutig zu weit, fand sogar ich. Dergleichen ging ihn überhaupt nichts an, aber es war allgemein bekannt, dass Maximilian aus heiterem Himmel fürchterlich in Rage geraten konnte. Feely nannte ihn manchmal auch »das Rumpelstilzchen«, und Daffy hatte ihn schon als »Alexander Pope - bloß fieser« bezeichnet.
Trotzdem hatte ich Maximilian, trotz seiner abstoßenden Gewohnheiten und vielleicht wegen unserer ähnlichen Statur, hin und wieder als interessanten und informativen Gesprächspartner erlebt - solange man ihn seiner geringen Körpergröße wegen nicht unterschätzte.
»Der geht’s auch gut, vielen Dank«, erwiderte ich. »Und ihr Teint war heute Vormittag noch durchaus zufriedenstellend.«
Ein »leider!« verkniff ich mir.
»Ach übrigens, Max«, kam ich seiner nächsten Frage zuvor, »glauben Sie, ich kann irgendwann die hübsche kleine Toccata von Paradisi spielen lernen?«
»Nein«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. »Du hast nicht die Hände einer großen Künstlerin. Du hast die Hände einer Giftmischerin.«
Ich grinste. Das war unser Privatscherz. Damit war auch geklärt, dass er noch nichts von dem Mord auf Buckshaw erfahren hatte.
»Und die andere?«, fragte er. »Daphne … deine langsame Schwester?«
»Langsam« bezog sich auf Daffys musikalische Fortschritte beziehungsweise das Ausbleiben derselben. Klavierspielen bedeutete in ihrem Fall das aussichtslose Unterfangen, ihre widerspenstigen Finger auf Tasten zu setzen, die vor ihrer Berührung zurückzuschrecken schienen. Daffys Kampf mit dem Instrument glich dem Kampf der Henne gegen den Fuchs, eine aussichtslose Schlacht, die stets mit Tränen endete. Trotzdem wurde der Krieg fortgeführt, weil Vater darauf bestand.
Als ich Daphne einmal schluchzend mit dem Kopf auf dem geschlossenen Flügel angetroffen hatte, hatte ich geraunt: »Gib’s auf, Daff!«, und sie war wie eine Kampfhenne auf mich losgeflattert.
Ich hatte es sogar mit Ermutigung versucht. Jedes Mal, wenn ich sie auf dem Broadwood spielen hörte, begab ich mich in den Salon, lehnte mich an den Flügel und ließ den Blick in die Ferne schweifen, als verzückte mich ihr Spiel über die Maßen. Normalerweise strafte sie mich mit Nichtachtung, aber als ich mich einmal äußerte: »Was für ein wunderschönes Stück! Wie heißt es denn?«, hätte sie mir beinahe den Deckel auf die Pfoten geknallt.
»Das ist die G-Dur Tonleiter!«, hatte sie gekreischt und war hinausgerannt.
Es ist nicht immer leicht, auf Buckshaw zu leben.
»Der geht’s prima«, erwiderte ich. »Verschlingt Dickens wie eine Verrückte. Ansonsten kriegt man kein Wort aus ihr raus.«
»Ach ja«, seufzte Maximilian, »der gute alte Dickens.«
Da ihm kein neues Thema einzufallen schien, nutzte ich die Pause.
»Sagen Sie, Max, Sie sind doch ein Mann von Welt …«
Er strahlte und richtete sich zu voller Größe auf.
»Nicht nur ein Mann von Welt, sondern ein Boulevardier«, sagte er.
»Richtig.« Was mochte dieser Ausdruck bedeuten? »Sind Sie schon mal in Stavanger gewesen?« So konnte ich mir vielleicht ersparen, im Atlas nachzuschlagen.
»Meinst du Stavanger in Norwegen?«
»Volltreffer!«, hätte ich fast gejubelt. Horace Bonepenny war in Norwegen gewesen! Ich holte tief Luft, um mich wieder zu fassen, und hoffte, dass Max es für Ungeduld hielt.
»Selbstverständlich«, sagte ich herablassend. »Oder gibt es noch andere Stavangers?«
Vielleicht glaubte er, ich wollte ihn auf den Arm nehmen, denn er kniff die Augen zusammen, und ein kalter Luftzug streifte mich, als die Gewitterwolken eines Maximilian-Wutanfalls die Sonne verdunkelten, aber dann kicherte er nur belustigt wie Quellwasser, das in ein Glas plätschert.
»Über Stavanger bin ich seinerzeit nach Trondheim gereist, wo ich Griegs Klavierkonzert in a-Moll gespielt habe. Grieg war übrigens ebenso Schotte wie Norweger. Sein Großvater kam aus Aberdeen, ist aber seinerzeit nach der Schlacht von Culloden ausgewandert. Hinterher hat er sich bestimmt gefragt, ob er’s wirklich besser getroffen hat, als er die Firths gegen die Fjorde eintauschte.
Das Konzert in Trondheim war ein großer Erfolg, muss ich sagen … freundliche Kritiker, nettes Publikum. Leider haben die Norweger kein Gespür für ihre eigenen Komponisten. Ich habe auch Scarlatti gespielt, um ein bisschen italienische Sonne in diese verschneite nordische Gegend zu bringen, und trotzdem musste ich in der Pause hören, wie ein Handlungsreisender aus Dublin seinem Freund zugeflüstert hat: ›Also mir kommt das alles spanisch vor, Thor.‹«
Ich lächelte höflich, obwohl ich diese uralte Schnurre schon mindestens fünfundvierzigmal gehört hatte.
»Aber das war natürlich noch in der guten alten Zeit vor dem Krieg. Stavanger! Selbstverständlich bin ich dort gewesen. Wie kommst du darauf?«
»Wie sind Sie dort hingekommen? Mit dem Schiff?«
In Stavanger war Horace Bonepenny noch am Leben gewesen, in England war er gestorben, und jetzt wollte ich herausfinden, wo er sich dazwischen aufgehalten hatte.
»Wie sonst? Du willst doch nicht etwa von zu Hause abhauen, Flavia?«
»Nein, nein, wir haben nur gestern Abend beim Abendessen darüber gesprochen, beziehungsweise uns gestritten.«
Auch eine gute Methode, eine Lüge glaubwürdig zu gestalten: einfach eine Portion Offenheit draufpacken.
»Ophelia meinte, dass man sich in London einschiffen muss, Vater bestand auf Hull, Daphne war für Scarborough, aber nur, weil Anne Brontë dort begraben liegt.«
»Newcastle-upon-Tyne«, sagte Maximilian. »Man geht in Newcastle-upon-Tyne an Bord.«
Mit dumpfem Rumpeln kündigte sich der Cottesmore-Bus an, und da kam er auch schon zwischen den Hecken angeschlingert wie ein Huhn auf dem Hochseil. Er hielt direkt vor der Bank und schnaufte von der Anstrengung, mit der er sich die Hügel hinauf- und hinunterquälen musste. Die Türen öffneten sich quietschend.
»Ernie, mon vieux!«, begrüßte Maximilian den Fahrer. »Was macht das Transportwesen?«
»Steig ein.« Ernie blickte stur durch die Windschutzscheibe geradeaus. Falls er den müden Scherz mitgekriegt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Nein, heute fahr ich nicht mit, Ernie. Hab nur meine alten Nieren ein Weilchen auf eurer Bank ausgeruht.«
»Die Bänke sind nur für Fahrgäste vorgesehen, die auf einen Bus warten, so steht’s in den Bestimmungen, Max. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Allerdings, Ernie. Danke, dass du mich dran erinnert hast.«
Max rutschte nach vorne und hüpfte von der Bank.
»Dann mal Tschüss«, sagte er, tippte sich an die Hutkrempe und spazierte wie Charlie Chaplin die Straße hinunter.
Die Türen schlossen sich, Ernie legte den ersten Gang ein, und der Bus setzte sich widerspenstig in Bewegung. So gingen wir alle unserer getrennten Wege: Ernie und sein Bus in Richtung Cottesmore, Max in sein Häuschen, und Gladys und ich setzten unsere Fahrt nach Hinley fort.
 
Die Polizeiwache in Hinley war in dem Gebäude einer alten Postkutschenstation untergebracht. Eingezwängt zwischen einem kleinen Park und einem Kino, blickte die Fachwerkfront finster über die Straße, die blaue Lampe war am Giebel angebracht. Ein in undefinierbarem Braun gestrichener Anbau aus Schlackenbeton war an die Seitenwand geklatscht wie ein Kuhfladen an einen Eisenbahnwaggon. Dort drin vermutete ich die Arrestzellen.
Ich ließ Gladys an einem Fahrradständer grasen, der schon voller offiziell aussehender schwarzer Raleigh-Räder stand, ging die ausgetretene Vortreppe hoch und trat in die Wachstube.
Dort saß ein uniformierter Sergeant am Schreibtisch, kramte in irgendwelchen Akten und kratzte sich mit dem spitzen Ende eines Bleistifts durch das schüttere Haar. Ich lächelte und ging an ihm vorbei.
»He, mal langsam«, brummelte er. »Wo willst du denn hin, Frolleinchen?«
Leute auszufragen gehört offenbar zum Berufsbild des Polizisten. Ich lächelte unbeirrt, als hätte ich ihn nicht gehört, und marschierte einfach weiter auf die offene Tür zu, hinter der ich einen dunklen Flur ausmachen konnte. Blitzschnell war der Sergeant aufgesprungen und hielt mich am Arm fest. Er hatte mich geschnappt. Jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig, als in Tränen auszubrechen.
Das tat ich nur ausgesprochen ungern, aber ich sah keinen anderen Ausweg.
 
Zehn Minuten später tranken Wachtmeister Glossop und ich in der Küche der Polizeiwache einträchtig Kakao. Er hatte mir erzählt, dass er zu Hause auch ein Mädchen hatte, genauso eins wie ich (was ich nicht recht glauben wollte). Elisabeth hieß sie.
»Unsre Lissie ist ihrer Mutter’ne große Hilfe, gerade jetzt, nachdem meine Frau im Obstgarten ganz übel von der Leiter gefallen ist. Das Bein hat sie sich gebrochen, nächsten Sonntag ist’s zwei Wochen her.«
Erst dachte ich, er hätte zu viel Beano oder Dandy gelesen und trug ein bisschen dick auf, um sich wichtig zu machen, aber seine ernste Miene und die kummervoll gerunzelte Stirn belehrten mich eines Besseren. Wachtmeister Glossop verstellte sich nicht, also ging ich am besten auf ihn ein.
Darum fing ich unverzüglich wieder an zu schniefen und vertraute ihm an, dass ich keine Mutter mehr hätte, dass sie bei einem Bergsteigerunfall im fernen Tibet ums Leben gekommen sei und dass ich sie schrecklich vermisste.
»Ist ja gut, ist ja gut!«, brummelte er beschwichtigend. »Hier bei uns darf man aber nicht weinen, das stört sozusagen die natürliche Würde dieses Ortes. Wisch dir lieber die Tränen ab, sonst muss ich dich womöglich noch einbuchten.«
Ich brachte ein zaghaftes Lächeln zustande, das er mir mit Zins und Zinseszins zurückzahlte.
Während meiner Darbietung waren mehrere Polizisten auf einen Tee und ein belegtes Brötchen hereingekommen, und jeder hatte mir stumm, aber aufmunternd zugelächelt. Wenigstens hatten sie keine Fragen gestellt.
»Darf ich bitte meinen Vater besuchen?«, fragte ich. »Er heißt Colonel de Luce, und ich glaube, er ist hier bei Ihnen eingesperrt.«
Wachtmeister Glossops Miene wurde mit einem Mal undurchdringlich, und ich merkte, dass ich voreilig gewesen war. Nunmehr saß ich dem Beamten Glossop gegenüber.
»Wart mal«, sagte er und verschwand in einem engen Flur, an dessen Ende ich ein schwarzes Gitter zu erkennen glaubte.
Ich sah mich rasch um. Ich saß in einem trostlosen kleinen Raum, dessen Einrichtung so schäbig wirkte, als hätte man sie einem Trödler direkt vom Lastwagen herunter abgekauft. Die Stuhlbeine waren zerschrammt und abgestoßen, als hätten Hunderte von Beamten sie schon seit hundert Jahren mit Füßen getreten.
In dem vergeblichen Versuch, das Ganze freundlicher zu gestalten, hatte jemand den kleinen Küchenschrank apfelgrün gestrichen, aber die Spüle war ein mit Rostflecken übersätes Relikt, das aussah wie eine Leihgabe aus dem Kreisgefängnis. Gesprungene Tassen und krakelierte Untertassen standen traurig Wange an Wange auf einem Abtropfbrett, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Fensterstreben in Wirklichkeit halbherzig verkleidete Gitterstäbe waren. Ein eigenartiger, herber Geruch hing in der Luft, das war mir gleich beim Hereinkommen aufgefallen. Es miefte, als wäre ein Glas mit Sardellenpaste, das jemand vor Jahren ganz hinten im Regal vergessen hatte, plötzlich aufgegangen.
Ein Lied aus der Oper Die Piraten von Penzance kam mir in den Sinn. »Polizist sein ist wahrhaftig kein Genuss«, wie ich es mal in einer Aufführung der D’Oyly Carte Opera Company im Radio gehört hatte, und wie immer hatten Gilbert und Sullivan so was von Recht.
Sollte ich vielleicht lieber abhauen? Meine Idee war vielleicht gar zu tollkühn gewesen, eher aus dem Instinkt, Vater zu beschützen, entstanden und einem prähistorischen Winkel meines Gehirns entsprungen. Steh einfach auf, und geh zur Tür hinaus, sagte ich mir. Niemand wird sich etwas dabei denken.
Ich lauschte und legte dabei den Kopf wie Maximilian ein wenig schief, um mein ohnehin scharfes Gehör noch anzuspitzen. Irgendwo brummten Bassstimmen wie die Bewohner eines fernen Bienenkorbs.
Ich setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, wie eine empfindsame Señorita beim Tango, und blieb abrupt an der Tür stehen. Von dort, wo ich stand, konnte ich nur eine Ecke des Schreibtischs im Vorzimmer erkennen, und zu meiner großen Erleichterung lag darauf kein Uniformärmel.
Ich riskierte noch einen Blick. Der Flur war leer, also schob ich mich im Tangoschritt ungehindert zur Tür und trat ins helle Tageslicht hinaus.
Obwohl ich nicht eingesperrt gewesen war, kam es mir vor, als sei mir endlich die Flucht gelungen.
Ich schlenderte zum Fahrradständer. Noch zehn Sekunden, dann würde ich auf und davon sein. Aber da erstarrte ich, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf gekippt. Gladys war weg! Beinahe hätte ich laut geschrien.
Vor mir standen immer noch sämtliche Beamtenfahrräder mit ihren amtlichen kleinen Lampen und den behördlich vorgeschriebenen Gepäckträgern - nur Gladys war verschwunden!
Ich schaute erst in die eine, dann in die andere Richtung, und stellte beklommen fest, dass die Straßen, wenn man zu Fuß unterwegs war, mit einem Mal ganz anders aussahen. In welche Richtung ging es nach Hause? Wo lang ging es zur Landstraße?
Als hätte ich nicht schon genug Probleme gehabt, zog auch noch ein Gewitter auf. Im Westen brauten sich schwarze Wolken zusammen, und die Wolken, die schon über meinem Kopf dahinjagten, hatten bereits einen unschönen Lilaton angenommen und sahen aus wie Blutergüsse.
Erst packte mich die Angst, dann wurde ich zornig. Wieso war ich auch so bescheuert gewesen und hatte Gladys nicht angeschlossen? Wie sollte ich jetzt nach Hause kommen? Was sollte jetzt aus der armen Flavia werden?
Feely hatte mir einmal geraten, in einer Umgebung, in der ich mich nicht auskannte, niemals verunsichert zu wirken, aber wie stellte man das im Falle eines Falles an?
Darüber dachte ich immer noch nach, als sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte und jemand sagte: »Ich glaube, du kommst jetzt lieber mal mit.«
Es war Inspektor Hewitt.
 
»Das wäre ausgesprochen vorschriftswidrig«, sagte der Inspektor. »Höchst unangebracht.«
Wir saßen in seinem Büro, einem langen schmalen Raum, der früher einmal die Schankstube der ehemaligen Poststation beherbergt hatte. Hier war es beeindruckend ordentlich, es fehlten nur noch eine Kübelpalme und ein Klavier.
Ein Aktenschrank und ein schlichter Schreibtisch, ein Stuhl, ein Telefon und ein kleines Bücherregal, obendrauf das gerahmte Foto einer Frau im Kamelhaarmantel, die sich an die Brüstung einer malerischen Brücke lehnte. Ich war insgeheim ein bisschen enttäuscht.
»Dein Vater muss so lange hierbleiben, bis wir gewisse Erkundigungen eingezogen haben. Anschließend wird er wahrscheinlich woanders hingebracht, wohin, darf ich dir leider nicht sagen. Tut mir leid, Flavia, aber es kommt nicht infrage, dass du ihn besuchst.«
»Ist er verhaftet?«, fragte ich.
»Leider ja.«
»Aber wieso?« Eine dämliche Frage, wie ich sofort begriff, als ich sie ausgesprochen hatte. Er sah mich an, als hätte er ein Kind vor sich.
»Sieh mal, Flavia, ich kann nachvollziehen, dass du wütend bist. Das ist verständlich. Du hattest keine Möglichkeit, deinen Vater noch einmal zu sehen, als … na ja, du warst nicht zu Hause, als wir ihn mitgenommen haben. Auch einem Polizeibeamten fällt es nicht immer leicht, jemanden zu verhaften. Bitte habe Verständnis dafür, dass ich nicht immer wie ein Freund handeln kann, auch wenn mir das manchmal lieber wäre, aber ich bin nun mal auch Stellvertreter Seiner Majestät.«
»Ich weiß schon, Georg VI. ist kein alberner Mensch.«
Inspektor Hewitt sah mich bekümmert an. Er stand von seinem Schreibtisch auf und trat ans Fenster, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf die sich draußen zusammenballenden Wolken schaute.
»Nein«, bestätigte er schließlich, »König Georg ist kein alberner Mensch.«
Da hatte ich eine Eingebung. Mit einem Mal war alles so folgerichtig wie in einem dieser rückwärts laufenden Kinofilme, wo alle Puzzleteile an die ihnen zugedachte Stelle hüpfen und das Bild sich vor den Augen der Zuschauers von selbst zusammensetzt.
»Darf ich offen mit Ihnen sprechen, Herr Inspektor?«
»Aber natürlich. Schieß los.«
»Der Mann, der tot auf Buckshaw aufgefunden wurde, ist am Freitag in Bishop’s Lacey eingetroffen, und zwar nach einer Schiffsreise aus dem norwegischen Stavanger. Sie müssen Vater sofort freilassen, Herr Inspektor, er war’s nämlich nicht.«
Der Inspektor war zwar ein wenig verdutzt, fing sich aber gleich wieder und schmunzelte nachsichtig.
»Ach was?«
»Nein! Ich war’s. Ich habe Horace Bonepenny umgebracht.«