19
Ich möchte nicht übertreiben, aber in jener Nacht schlief ich den Schlaf der Verdammten. Ich träumte von Zinnen und losen Ziegeln, um die der Regen peitschte, und wo der Wind den Duft von Veilchen vom Meer heranwehte. Eine bleiche Frau in altmodischer Tracht stand an meinem Bett und raunte mir ins Ohr, die Glocken würden läuten. Ein alter Seebär im Ölzeug hockte auf einem Pfahl und flickte mit einer Ahle seine Netze, während hinter ihm, weit draußen über dem Meer, ein kleines Flugzeug der untergehenden Sonne entgegenflog.
Als ich endlich aufwachte, strahlte die Sonne durchs Fenster, und ich war schauderhaft erkältet. Noch ehe ich zum Frühstück hinunterging, hatte ich alle Taschentücher aus meiner Nachttischschublade verbraucht und ein noch fast neues Badehandtuch ruiniert. Ich muss wohl nicht erklären, weshalb meine Laune nicht die allerbeste war.
»Komm mir bloß nicht zu nahe!«, sagte Feely, als ich schnaufend wie ein Nilpferd ans andere Ende des Tisches wankte.
»Stirb, Hexe!«, brachte ich gerade noch heraus und machte das Zeichen gegen den bösen Blick.
»Flavia!«
Ich stocherte in meinen Frühstücksflocken mit Milch herum und rührte sie mit einer Ecke meines Toasts um. Aber statt dass die verbrannte Kruste das Ganze ein wenig gewürzt hätte, schmeckte die teigige Pampe immer noch wie Pappendeckel.
Dann gab es auf einmal einen Ruck, und ich fiel in einen anderen Bewusstseinszustand, wie bei einer schlampig geklebten Filmrolle. Ich war am Tisch eingeschlafen.
»Was ist denn mit dir los?«, hörte ich Feely fragen.
»Ein lähmender Schlummer hat sich ihrer bemächtigt, so geschwächt ist sie von ihren gestrigen Ausschweifungen«, warf Daffy ein.
Daffy las nämlich gerade Bulwer-Lyttons Pelham, immer ein paar Seiten als Abendlektüre, und bis sie damit durch war, wurden wir tagtäglich mit absurden Kostproben eines Prosastils gequält, der steif wie ein Ladestock war.
Zumindest das mit dem »gestrig« stimmte, darum nickte ich bestätigend. Plötzlich sprang Feely erschrocken auf.
»Großer Gott!«, rief sie und schlug ihren Morgenmantel wie ein Leichentuch um sich. »Wer in aller Welt ist das?«
Jemand, von dem nur der Umriss zu erkennen war, hatte die gewölbten Hände an die Terrassentür gelegt und spähte zu uns herein.
»Ach, das ist der Schriftsteller«, sagte ich. »Der mit den englischen Landsitzen. Mr Pemberton.«
Feely entfloh quietschend treppauf, wo sie in ihr enges blaues Twinset schlüpfen, ihre frühmorgendlichen Verunstaltungen mit pfundweise Puder bestäuben und die Treppe anschließend als eine andere wieder herunterschweben würde - als Olivia de Havilland zum Beispiel. So verhielt sie sich immer, wenn ein fremder Mann unser Anwesen betrat. Daffy dagegen schaute nur flüchtig auf und las weiter. Wie immer blieb alles an mir hängen.
Ich ging auf die Terrasse hinaus und machte die Tür hinter mir zu.
»Guten Morgen, Flavia!«, begrüßte mich Pemberton schmunzelnd. »Hast du gut geschlafen?«
Ob ich gut geschlafen hatte? Blöde Frage! Ich stand ihm direkt gegenüber, den Schlaf noch in den Augen, die Haare struppig wie ein Rattennest, und meine Nase lief wie ein Forellenbach. Abgesehen davon - war diese Frage nicht jenen vorbehalten, die unter einem Dach genächtigt hatten? Hm … ein Blick in das Standardwerk Beeton’s Benimmbuch für Damen konnte nicht schaden. Feely hatte mir das Buch zum letzten Geburtstag geschenkt, aber es diente immer noch als Unterlage für das zu kurze Bein meines Bettes.
»Geht so«, erwiderte ich. »Ich bin erkältet.«
»Das tut mir aber leid. Ich hatte gehofft, mich mit deinem Vater über Buckshaw unterhalten zu können. Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber mein Aufenthalt hier in der Gegend ist leider nur von begrenzter Dauer. Seit Kriegsende sind die Preise für eine Unterkunft selbst in einem so bescheidenen Gasthaus wie dem Dreizehn Erpel schlicht erschütternd. Nicht, dass ich Mitleid schinden wollte, aber wir armen Gelehrten nagen eben doch am Hungertuch.«
»Haben Sie schon gefrühstückt, Mister Pemberton?«, erkundigte ich mich. »Mrs Mullet bringt Ihnen bestimmt noch etwas.«
»Sehr nett von dir, Flavia, aber der Wirt vom Dreizehn Erpel hat mir ein wahres Festmahl, bestehend aus zwei Würstchen und einem Ei, vorgesetzt, und ich muss auf meine Westenk nöpfe aufpassen.«
Was ich mit letzterer Mitteilung anfangen sollte, war mir nicht ganz klar, und meine Erkältung raubte mir die Lust, näher nachzufragen.
»Vielleicht kann ich Ihnen ja etwas über Buckshaw erzählen«, schlug ich vor. »Mein Vater sitzt im …«
Großartig! Das hast du mal wieder schlau angestellt, Flavia!
»Mein Vater sitzt bei einer Besprechung mit der Bank in der Stadt.«
»Danke für das Angebot, aber ich will dich nicht langweilen. Ich habe ein paar knifflige Fragen über Entwässerungsgräben, zur Flurbereinigung und so weiter. Ich würde meinem Kapitel über Buckshaw gern einen Appendix über die architektonischen Veränderungen durch Antony und William de Luce im 19. Jahrhundert anfügen, ›Ein zweigeteiltes Haus‹, oder so ähnlich.«
»Dass man einen Appendix herausnimmt, habe ich ja schon mal gehört«, entfuhr es mir, »aber noch nie, dass man einen anfügt.«
Noch mit Triefnase war ich in der Lage, meine Klinge mit den Allerbesten kreuzen. Ein prustender Nieser verdarb leider ein wenig die Wirkung.
»Vielleicht darf ich kurz hereinkommen, mich ein wenig umsehen und mir ein paar Notizen machen? Ich störe auch nicht.«
Ich dachte noch über Synonyme für »Nein« nach, als ich einen Motor tuckern hörte und Dogger hinter dem Lenker unseres alten Traktors am Ende der Allee auftauchte, wo er eine Ladung Kompost in den Garten fuhr. Mr Pemberton, der sofort gemerkt hatte, dass ich über seine Schulter spähte, drehte sich neugierig um. Als er Dogger heranrumpeln sah, winkte er ihm zu.
»Das ist doch der alte Dogger, nicht wahr? Der getreue Gefolgsmann eurer Familie.«
Dogger hatte angehalten und drehte sich seinerseits um, weil er wissen wollte, wem Pemberton winkte. Als er niemanden erblickte, lupfte er den Hut wie zum Gruß, kratzte sich den Kopf, stieg vom Traktor und kam quer über den Rasen auf uns zu.
»Wie schon gesagt, Flavia«, sagte Pemberton und schaute auf seine Armbanduhr, »ich kann mich nicht allzu lange hier aufhalten. Ich bin drüben in Nether Eaton mit meinem Verleger verabredet. Wir wollen uns ein Grabmal ansehen, ein ausgesprochen seltenes Stück, bei dem beide Hände deutlich zu erkennen sind. Auch die Schmiedearbeit ringsherum soll au ßerordentlich sein. Der gute Quarrington hat ein Faible für Gräber, und ich will ihn lieber nicht warten lassen. Andernfalls könnte es sein, dass Pembertons Grüfte und Grabmäler die Schublade des Autors nie verlässt.«
Er warf sich den Künstlerrucksack über die Schulter und ging die Treppe hinunter. Unten angekommen blieb er kurz stehen, schloss die Augen und labte sich mit einem tiefen Atemzug an der frischen Morgenluft.
»Schönen Gruß an Colonel de Luce«, rief er noch, dann war er weg.
Dogger kam die Treppe hochgeschlurft, als hätte er in der Nacht kein Auge zugetan.
»Besuch, Miss Flavia?«, fragte er, nahm den Hut ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
»Das war Mister Pemberton. Er schreibt ein Buch über Landhäuser oder Grabmäler oder irgend so was. Er wollte sich mit Vater über Buckshaw unterhalten.«
»Glaube nicht, dass ich schon mal von ihm gehört hab. Aber ich bin ja auch kein großer Leser vor dem Herrn. Trotzdem, Miss Flavia …«
Jetzt würde er mir gleich eine Moralpredigt halten, gespickt mit Gleichnissen und grauenerregenden Geschichten, die alle darauf hinausliefen, dass man sich nicht mit Fremden einlassen soll. Irrtum! Er begnügte sich damit, den Finger an die Hutkrempe zu legen, und wir beide standen einfach da und glotzten wie zwei Kühe über die Wiese. Botschaft abgeschickt, Botschaft erhalten. Guter alter Dogger. Das war seine Lehrmethode.
Dogger war es auch gewesen, der mir seinerzeit geduldig beigebracht hatte, wie man Schlösser knackt. Ich hatte ihn eines Tages dabei angetroffen, wie er sich an der Gewächshaustür zu schaffen gemacht hatte. Bei einem seiner »Vorfälle« hatte er den Schlüssel verloren und mühte sich nun mit den verbogenen Zinken einer ausgemusterten Küchengabel ab, die er in einem Blumentopf gefunden hatte.
Seine Hände zitterten heftig. Wenn Dogger in diesem Zustand war, hatte man immer den Eindruck, als bekäme man sofort einen elektrischen Schlag, wenn man ihn nur antippte. Trotzdem hatte ich ihm meine Hilfe angeboten, woraufhin er mir gezeigt hatte, wie man mit einem Dietrich umgeht.
»Eigentlich ist es ganz einfach, Miss Flavia«, verkündete er nach meinem dritten vergeblichen Versuch. »Du musst nur immer an die drei D denken: Drehmoment, Druck und Durchhalten! Stell dir vor, du wohnst in diesem Schloss. Hör auf deine Fingerspitzen.«
»Wo hast du das gelernt?«, fragte ich staunend, als das Schloss aufsprang. Wenn man den Bogen erst einmal raushatte, war es geradezu kinderleicht.
»Irgendwo und irgendwann«, erwiderte Dogger und verschwand im Gewächshaus, wo er sich sofort in irgendeine Arbeit vertiefte, sodass ich mich nicht mehr traute, genauer nachzufragen.
 
Obwohl die Sonne freundlich durch mein Laborfenster schien, konnte ich einfach keinen klaren Gedanken fassen. Ich war immer noch mit dem beschäftigt, was mir Vater erzählt hatte. Dazu kam das, was ich auf eigene Faust herausgefunden hatte: wie Mr Twining und Horace Bonepenny zu Tode gekommen waren.
Was hatte es mit dem Barett und dem Talar auf sich, die ich auf dem Dach von Anson House gefunden hatte? Wem hatten sie gehört und warum hatte der Betreffende sie dort oben versteckt?
Sowohl Vaters Schilderung als auch der Reporter des Hinley-Kurier hatten bestätigt, dass Mr Twining seinen Talar trug, als er in den Tod stürzte. Dass beide sich geirrt hatten, war ausgesprochen unwahrscheinlich.
Dann war da der Diebstahl des Rächers von Ulster aus dem Besitz Seiner Majestät sowie seines Zwillingsbruders, der Dr. Kissing gehört hatte.
Was mochte aus Dr. Kissing geworden sein? Ob Miss Mountjoy das wusste? Sie schien ja auch sonst alles zu wissen. Lebte der alte Herr womöglich noch? Ich zweifelte sehr daran. Seit er seine kostbarste Marke scheinbar in Flammen hatte aufgehen sehen, waren dreißig Jahre vergangen.
Mir schwirrte der Kopf, mein Hirn war wie Watte. Meine Nebenhöhlen waren verstopft, meine Augen tränten, und ich spürte, dass ein ganz fieses Kopfweh im Anmarsch war. Ich musste etwas unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Letztendlich war ich ja selber schuld. Ich hatte mir kalte Füße geholt. Mrs Mullet sagte immer: »Warme Füße, kühler Kopf, dann macht die Nase auch nicht ›tropf‹.« Wenn man sich eine Erkältung eingefangen hatte, gab es nur ein wirkungsvolles Gegenmittel, darum ging ich in die Küche hinunter, wo Mrs Mullet mit Teigausrollen beschäftigt war.
»Du schniefst ja, Schatz«, sagte sie, ohne von ihrem Nudelholz aufzublicken. »Ich mach dir gleich einen schönen Teller Hühnerbrühe.« Konnte sie hellsehen?
Bei »Hühnerbrühe« dämpfte sie die Stimme zu einem Flüstern und warf einen verschwörerischen Blick über die Schulter.
»Heiße Hühnerbrühe!«, raunte sie. »Ein Geheimtipp, den mir Mrs Jacobson beim Teekränzchen der Landfrauen verraten hat. Das Rezept befindet sich schon seit der Flucht aus Ägypten in ihrer Familie. Aber ich habe nichts gesagt, verstanden?«
Mrs Mullets zweite Lieblingsdorfweisheit rankte sich um Eukalyptus. Sie hatte Dogger gezwungen, im Gewächshaus Eukalyptusbäume zu pflanzen, und anschließend die Blätter unverdrossen überall auf Buckshaw als Schutz gegen Erkältung und Grippe versteckt.
»Hat man Eukalyptus hier, bleibt die Grippe vor der Tür!«, hatte sie triumphierend verkündet und tatsächlich Recht behalten. Seit sie die wächsernen dunkelgrünen Blätter an unverdächtigen Orten im ganzen Haus versteckt hatte, hatte keiner von uns auch nur einen Schnupfen gehabt.
Bis jetzt. Anscheinend war etwas schiefgegangen.
»Nein danke, Mrs Mullet«, lehnte ich ab, »ich habe mir grade die Zähne geputzt.«
Das war zwar gelogen, aber etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Abgesehen davon, dass meiner Ausrede etwas Märtyrerhaftes anhaftete, hatte sie den zusätzlichen Vorteil, meinen angeschlagenen Ruf in punkto Körperpflege aufzupolieren. Auf dem Weg nach draußen mopste ich aus der Speisekammer eine Flasche mit gelbem Granulat, die mit dem Etikett Partingtons Geflügelfond versehen war, und von einem Wandkerzenhalter im Flur bediente ich mich mit einer Handvoll Eukalyptusblätter.
Oben im Labor holte ich eine Flasche Natriumkarbonat aus dem Regal, die Onkel Tar in seiner spinnenhaften, gestochen scharfen Handschrift mit der Aufschrift Sal aeratus versehen hatte, und obendrein, akribisch wie immer, mit Sod. Bicarb., um es von Kaliumbikarbonat zu unterscheiden, das manchmal auch als Sal aeratus bezeichnet wird. Pot. Bicarb. war eher in Feuerlöschern als in menschlichen Mägen zu finden.
Ich kannte das Zeug als NaHCO3, vom einfachen Volk auch kurz »Natron« beziehungsweise »Backpulver« genannt. Irgendwo hatte ich auch gehört, dass diese Leute einer tüchtigen Dosis Natron sogar zutrauen, noch die hartnäckigste Erkältung aus dem Körper zu schwemmen.
Chemisch gesehen ist das durchaus folgerichtig, überlegte ich, denn wenn Natron ein Heilmittel ist und Hühnerbrühe auch, dann müsste doch ein Glas sprudelnder Hühnerbrühe wahre Wunder wirken! Mir wurde ganz schwindlig. Vielleicht konnte ich mir diese Erfindung sogar patentieren lassen als das weltweit erste Mittel gegen die gemeine Feld-, Wald- und Wiesengrippe: De Luce’s Grippelösung - Flavias Famose Formel!
Ich summte sogar vergleichsweise vergnügt vor mich hin, während ich einen Viertelliter Trinkwasser in ein Becherglas gab und das Gefäß auf den Bunsenbrenner stellte. Inzwischen kochte ich die klein gerissenen Eukalyptusblätter in einem verschlossenen Glaskolben auf und sah zu, wie sich strohgelbe Öltropfen am Ende der Destillationsschlange absetzten.
Als das Wasser aufsprudelte, nahm ich es von der Flamme und ließ es ein paar Minuten abkühlen, dann gab ich zwei gehäufte Teelöffel Partingtons Geflügelfond und einen Esslöffel gutes altes NaHCO3 hinein.
Anschließend rührte ich kräftig um, bis das Gebräu wie der Vesuv über den Rand des Becherglases brodelte, hielt mir die Nase zu und kippte mir die Hälfte in den Schlund. Ein Schluck, und es war unten.
Hühnersekt! O Herr, schütze uns alle, die wir uns im Weinberg der Experimentalchemie abrackern!
Ich nahm den Stopfen vom Kolben und kippte das Eukalyptuswasser samt den Blättern in die Reste der gelben Suppe. Dann zog ich den Pullover aus, drapierte ihn mir als Inhalierhaube um den Kopf und atmete die kampferhaltigen Dämpfe von Geflügeleukalyptus ein. Schon spürte ich, wie irgendwo in den verschleimten Abgründen meines Schädels meine Nebenhöhlen die Waffen streckten. Ich fühlte mich schon beträchtlich besser.
Da klopfte es so laut, dass mir beinahe das Herz stehen blieb. In diesen Teil des Hauses verirrte sich so selten jemand, dass ein Klopfen so unerwartet kam wie die unvermittelten Orgelakkorde in einem Horrorfilm, wenn die Tür aufgeht, hinter der lauter Leichen liegen. Ich schob den Riegel zurück. Im Flur stand Dogger und wrang seine Mütze in den Händen wie eine irische Waschfrau. Ich sah sofort, dass er einen seiner Vor fälle gehabt hatte.
Als ich seine Hände nahm, hörten sie sofort zu zittern auf. Auch wenn ich diese Erkenntnis nicht oft in die Tat umsetzte, so hatte ich doch die Erfahrung gemacht, dass eine Berührung manchmal mehr sagen kann als hundert Worte.
»Wie lautet die Losung?«, fragte ich, verschränkte die Finger und legte die Hände auf den Kopf.
Dogger sah mich ungefähr fünf Sekunden verdattert an, dann wurden seine angespannten Züge milder und er hätte beinahe gelacht. Wie ein Automat verschränkte er die Finger und ahmte mich nach.
»Es liegt mir auf der Zunge …«, sagte er zögernd, dann raunte er: »Die Losung heißt: Arsen.«
»Bloß nicht runterschlucken«, erwiderte ich, »das Zeug ist giftig.«
Mit beträchtlicher Willensstärke rang sich Dogger ein Lächeln ab. Damit war dem Ritual ausreichend Genüge getan.
»Tritt ein, mein Freund«, sagte ich und riss die Tür weit auf.
Dogger kam herein und sah sich so verwundert um, als hätte es ihn unvermittelt in die Werkstatt eines mesopotamischen Alchimisten verschlagen. Er war schon so lange nicht mehr in diesem Teil des Hauses gewesen, dass er das Labor völlig vergessen hatte.
»So viel Glas!«, sagte er mit bebender Stimme.
Ich zog Tars altmodischen Armlehnstuhl vom Schreibtisch heran und hielt das Möbel fest, bis Dogger Platz genommen hatte.
»Setz dich. Ich mach dir was zurecht.«
Ich füllte einen sauberen Kolben mit Wasser und stellte ihn auf einen kleinen Gitterrost. Als ich das Streichholz an den Bunsenbrenner hielt, zuckte Dogger bei dem leisen Plop! zusammen.
»Wird gleich serviert!«, verkündete ich. »Kleinen Augenblick.«
Das Praktische an Laborgläsern ist, dass Wasser darin mit Lichtgeschwindigkeit kocht. Ich warf einen Teelöffel schwarze Blätter in ein Becherglas und kippte das kochende Wasser darüber. Als das Gebräu dunkelrot war, reichte ich es Dogger, der es skeptisch musterte.
»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Es ist Tetley’s.«
Er nippte an seinem Tee und pustete, um ihn abzukühlen. Während er trank, fiel mir der Grund ein, weshalb wir Engländer uns eher vom Tee als vom Buckingham Palace oder dem Parlament Seiner Majestät regieren lassen. Abgesehen von der Seele ist das Teekochen das Einzige, was unsereinen vom Menschenaffen unterscheidet. So hatte es jedenfalls der Vikar einmal meinem Vater gegenüber ausgedrückt, der es Feely weitererzählt hatte, die es wiederum Daffy weitererzählt hatte und die wiederum mir.
»Vielen Dank«, sagte Dogger. »Jetzt geht’s mir wieder besser. Aber etwas muss ich dir noch sagen, Miss Flavia.«
Ich hockte auf der Schreibtischkante und gab mir Mühe, kumpelhaft zu wirken.
»Dann raus damit.«
»Na ja …«, Dogger gab sich einen Ruck, »du weißt doch, dass ich hin und wieder … na ja, also, ab und zu jedenfalls, dass ich da manchmal …«
»Klar, Dogger«, erwiderte ich. »Geht uns das nicht allen manchmal so?«
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Weißt du, die Sache ist nämlich die, dass ich … als ich …«
Er verdrehte die Augen wie eine Kuh im Schlachthof.
»Ich glaube, ich habe womöglich jemandem etwas angetan. Und der Colonel sitzt deswegen jetzt im Bau.«
»Sprichst du von Horace Bonepenny?«
Dogger ließ das Becherglas mit dem Tee auf den Boden fallen. Ich holte ein Tuch und tupfte ihm, warum auch immer, die völlig trockenen Hände ab.
»Was weißt du über Horace Bonepenny?«, fragte er und packte mich mit eisernem Griff am Handgelenk. Bei jedem anderen außer Dogger hätte ich es mit der Angst zu tun gekriegt.
»Alles«, entgegnete ich und machte mich behutsam los. »Ich habe in der Bücherei nachgeschlagen. Ich habe mit Miss Mountjoy gesprochen, und Vater hat mir gestern Abend die ganze Geschichte erzählt.«
»Du hast Colonel de Luce gestern Abend gesprochen? In Hinley?«
»Ja. Ich bin hingeradelt. Ich habe dir doch noch gesagt, dass es ihm gutgeht. Weißt du das nicht mehr?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal spielt mir mein Gedächtnis einen Streich.«
War das überhaupt möglich? War Dogger tatsächlich irgendwo im Haus oder im Garten Horace Bonepenny begegnet und mit ihm aneinandergeraten? War er tatsächlich am Tod des Mannes beteiligt? War es ein Unfall gewesen? Oder steckte noch mehr dahinter?
»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte ich. »Erzähl mir alles, woran du dich erinnerst.«
»Ich hab geschlafen. Dann hab ich Stimmen gehört. Laute Stimmen. Ich bin aufgestanden und zum Arbeitszimmer des Colonels rübergegangen. Dort stand jemand im Flur.«
»Das war ich. Ich stand im Flur.«
»Das warst du«, wiederholte Dogger »Du hast im Flur gestanden.«
»Richtig. Du hast gesagt, ich soll abzischen.«
»Das hab ich gesagt?« Dogger war entsetzt.
»Ja, du hast gesagt, ich soll wieder ins Bett gehen.«
»Ein Mann kam aus dem Arbeitszimmer«, sagte Dogger unvermittelt. »Ich habe mich neben der Uhr an die Wand gedrückt, und er ging direkt an mir vorbei. Ich hätte ihn anfassen können.«
Anscheinend hatte er zu einem Zeitpunkt vorgespult, an dem ich längst wieder im Bett lag.
»Hast du aber nicht … ihn angefasst, meine ich.«
»Nein. Da noch nicht. Ich bin ihm in den Garten nachgegangen. Er hat mich nicht gesehen. Ich bin immer an der Mauer hinter dem Gewächshaus langgeschlichen. Er stand im Gurkenbeet … und aß irgendwas … er war aufgeregt … führte Selbstgespräche … hat zwischendurch immer ganz übel geflucht … hatte offenbar gar nicht mitgekriegt, dass er vom Weg abgekommen war. Und dann ging das Feuerwerk los.«
»Das Feuerwerk?«
»Na ja, du weißt schon, Raketen, Feuerräder und so was. Ich dachte, im Dorf feiern sie ein Fest. Ist ja schließlich Juni. Im Juni gibt’s oft Feste.«
Im Dorf hatte kein Fest stattgefunden, da war ich ganz sicher. Lieber hätte ich mich in zerlöcherten Turnschuhen einmal quer durch den Regenwald geschleppt, als auch nur eine einzige Gelegenheit zu verpassen, auf dem Rummel an der Wurfbude Kokosnüsse zu werfen und mich an Kekskrachern und Erdbeeren mit Schlagsahne zu überfressen. Nein, was die Termine der dörflichen Festivitäten anging, die hatte ich alle drauf.
»Und was ist dann passiert?«, fragte ich. Die Einzelheiten konnten wir ein andermal klären.
»Dann muss ich wohl eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, lag ich im Gras. Das Gras war nass. Ich bin aufgestanden und ins Bett gegangen. Mir war nicht gut. Muss wohl einen meiner blöden Anfälle gehabt haben, keine Ahnung.«
»Und jetzt hast du Angst, dass du womöglich bei einem deiner blöden Anfälle Horace Bonepenny umgebracht hast?«
Dogger nickte bedrückt und fasste sich an den Hinterkopf. »Wer soll’s denn sonst gewesen sein?«
Wo hatte ich das schon einmal gehört? Ach ja! Hatte nicht Inspektor Hewitt das Gleiche in Bezug auf Vater gefragt?
»Nimm den Kopf runter, Dogger«, sagte ich.
»Tut mir leid, Miss Flavia. Wenn ich jemanden umgebracht hab, war’s bestimmt keine Absicht.«
»Zeig mir mal deinen Kopf.«
Dogger rutschte auf dem Stuhl in sich zusammen und beugte sich vor. Als ich seinen Kragen anhob, zuckte er zusammen.
Auf seinem Nacken, schräg hinter dem Ohr, saß ein dicker Bluterguss, ungefähr so groß wie ein Schuhabsatz. Als ich ihn vorsichtig betastete, zuckte Dogger noch einmal zusammen.
Ich pfiff durch die Zähne.
»Von wegen Feuerwerk! Das war kein Feuerwerk, Dogger. Dir hat jemand eins über den Schädel gezogen. Und jetzt läufst du schon zwei Tage mit dem Ding rum! Das muss doch scheußlich weh tun.«
»Schon, Miss Flavia. Aber ich hab schon Schlimmeres ausgehalten.«
Ich muss ihn ungläubig angesehen haben.
»Ich hab mir im Spiegel in die Augen geschaut«, fügte er hinzu. »Die Pupillen waren gleich groß. Eine kleine Gehirnerschütterung höchstens, halb so wild. Da bin ich bald drüber weg.«
Ich wollte ihn fragen, wo er denn diese Weisheit herhatte, aber er redete schon weiter: »Hab ich bloß mal irgendwo gelesen.«
Mir fiel eine wichtigere Frage ein.
»Und wie hast du es bitteschön fertiggebracht, jemanden umzubringen, wenn du bewusstlos warst, Dogger?«
Er stand da wie ein begossener Pudel. Er machte den Mund auf und zu, aber es kam kein Ton heraus.
»Jemand hat dich überfallen!«, sagte ich. »Jemand hat dich mit einem Schuh niedergeschlagen!«
»Ach, das glaub ich nicht, Miss«, sagte er bekümmert. »Denn außer Horace Bonepenny und mir war kein Mensch im Garten.«