22
»Ich muss Lincoln Robert gegenübertreten und ihn bitten, mich aus unserem Verlöbnis zu entlassen.« Als Brianna ihr Haar vor dem Spiegel bürstete, führte sie ein Selbstgespräch.
Sie hatte kein schlechtes Gewissen, weil sie Wolf Mortimer liebte, und sie empfand nicht das leiseste Bedauern, dass sie die letzten zwei herrlichen Tage und Nächte zusammen verbracht und diese Liebe ausgekostet hatten. Vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an hatten die Funken zwischen ihnen gesprüht, und mit jeder Begegnung war die gegenseitige Anziehung stärker aufgeflammt und tiefer gegangen, bis sie zu einem Feuer aufloderte, das ewig brennen würde. Wiewohl sie es geleugnet hatte, hatte ihr Herz von Anfang an gewusst, dass sie sich in ihn verliebt hatte, und als sie es sich schließlich eingestand, war es für sie wie eine Befreiung gewesen.
Brianna empfand jedoch großes Bedauern, was Lincoln Robert betraf. Sie hatte gelobt, ihn zu heiraten, und jetzt musste sie ihm eine tiefe Kränkung zufügen, indem sie ihn bat, sie freizugeben. Ihr war jetzt klar, dass das, was sie für Lincoln empfand, die Art Zuneigung war, die man einem Bruder oder Vetter entgegenbringt.
Da sie nun schon in Surrey war, beschloss Brianna, die wenigen Meilen nach Farnham Castle zu reiten und Lincoln Robert von Angesicht zu Angesicht zu sagen, dass sie ihn nicht heiraten konnte.
Auf Farnham angekommen, sah sie, dass der Besitz noch schöner war, als Lincoln ihn in seinen Briefen beschrieben hatte. Sie ließ ihren Blick über das Rittergut schweifen, auf dem sie und ihr Verlobter ihr Eheleben beginnen sollten.
Lynx und Jane waren sehr großzügig, uns diese Burg zu überlassen, die dem verstorbenen Earl of Surrey gehörte. Sie werden mich für undankbar halten, wenn ich nun um Entlassung aus dem Verlobungsvertrag bitte.
Im Hof wurde sie vom Steward von Farnham begrüßt.
»Guten Morgen. Könnt Ihr mir sagen, wo ich Lincoln Robert finden kann?«
»Er kehrte gestern nach Hedingham zurück, Lady Brianna. Es wird ihm sehr leid tun, Euch verfehlt zu haben. Er sprach so oft von Eurem Besuch. Tretet doch ein und nehmt Farnhams Gastlichkeit in Anspruch.«
»Habt Dank für die liebenswürdige Einladung, doch tue ich gut daran, zu meinen Pflichten nach Windsor zurückzukehren.« Im Grunde war Brianna erleichtert, dass die Konfrontation mit ihrem Verlobten aufgeschoben war. Als sie ging, tönte es in ihrem Inneren: Feigling!
»Wohin bist du verschwunden, um Himmels willen?«, fragte Isabelle Brianna nach ihr Rückkehr nach Windsor.
»Ich ritt nach Farnham Castle, um Lincoln de Warenne zu besuchen. Ich verschob meinen lange geplanten Besuch auf nach dem ersten August.« Eigentlich ist es keine Lüge - ich ritt tatsächlich nach Farnham.
Sie sah Besorgnis in der Miene der Königin. »Keine Angst, Isabelle. Ich verriet meinem Verlobten keine Geheimnisse.«
»Danke, Brianna. Wir dürfen niemandem trauen. Ich habe eine Neuigkeit für dich. In deiner Abwesenheit entdeckte man, dass Mortimers Söhne und die Brüder de Bohun nicht mehr auf Windsor sind. Wie durch ein Wunder konnten sie aus ihrer Haft entfliehen.«
»Eine große Erleichterung - wir müssen jedoch völlige Gleichgültigkeit vortäuschen.«
»Es war mein Sohn, Prinz Edward, der es mir berichtete. Er war sehr glücklich, dass sie ihrer Gefangenschaft entfliehen konnten. Es würde mich nicht wundern, wenn er seine Hände im Spiel hatte und seinen königlichen Vettern zur Flucht verhalf.«
Brianna beschloss, sie nicht von ihrer Vermutung abzubringen.
Zwei Tage später trafen König Edward und Hugh Despencer in London ein, außer sich vor Wut, weil Roger Mortimer aus dem Tower ausgebrochen war. Der König ließ Segrave in Eisen legen und die ganze Wachgarnison bestrafen, wiewohl der Constable seine Unschuld beteuerte und Alspaye der Beihilfe zur Flucht des berüchtigten Gefangenen bezichtigte.
König Edward war der Panik nahe. Seine Armee schrumpfte mit jedem Tag. Ein in Freiheit befindlicher Mortimer konnte Mittelpunkt einer vereinten Opposition gegen seine Herrschaft werden. Er gab Befehl, Roger Mortimer müsse tot oder lebendig wieder gefasst werden, und ließ im ganzen Land nach ihm fahnden. Überzeugt, dass der berüchtigte Verräter nach Wales oder nach Irland entflohen sein musste, befahlen Edward und Despencer Pembroke, bewaffnete Suchtrupps in diese Gegenden zu entsenden.
»Es hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt passieren können. Ich werde von allen Seiten bedrängt«, tobte der König vor Pembroke. »Ihr wart mit mir oben im Norden. Kein Tag, an dem die verfluchten Schotten nicht in England einfallen! Eure Armee taugt nichts, Pembroke. In den Kämpfen gegen Bruce konnten wir keinen einzigen Sieg erringen!«
Der Earl of Pembroke, recht betagt und nicht bei bester Gesundheit, wagte es, Edward die Wahrheit zu sagen. »Sire, der Krieg mit Schottland ist nicht zu gewinnen. Euren Vater kostete die Unterwerfung der Schotten Englands Staatsschatz, sie aber weigerten sich, unterworfen zu bleiben.«
»Immer wenn wir einen Waffenstillstand unterzeichnen, brechen ihn die verdammten Schotten. Gott möge ihre verfluchten Seelen verrotten lassen! Ihr müsst hingehen und mit Robert Bruce einen langdauernden und beständigen Waffenstillstand aushandeln, der nicht nach einigen Monaten wieder gebrochen wird.«
»Sire, darf ich vorschlagen, dass Ihr die Earls of Surrey und Arundel mit mir nach Schottland schickt? Sie sind von Jugend an mit Robert Bruce befreundet. Wenn jemand Bruce zu einem dauerhaften Frieden mit England überreden kann, ist es Lynx de Warenne.«
Edward wandte sich an Despencer, der damit beschäftigt war, Urkunden mit dem königlichen Siegel von England zu versehen. »Was meinst du, Hugh? Mir ist dein Rat in diesen Angelegenheiten unentbehrlich.«
Hugh Despencer hatte den König völlig in der Hand. Dieser hatte ihm den gesamten beschlagnahmten Grundbesitz der Mortimers, d'Amorys und Audleys übertragen und ihn zum unbestrittenen Herrn von Südwales gemacht. Damit nicht zufrieden, war der unersättliche Despencer ständig darauf aus, noch mehr Rittergüter, Ländereien und Reichtümer in seinen Besitz zu bringen, um seine Macht zu festigen. Da er Frauen hasste, wurden vor allem Witwen und andere wehrlose weibliche Wesen, die über Besitz verfügten, Opfer seiner geradezu sadistischen Habgier. Er verfügte über ein Netzwerk von gut bezahlten, ergebenen Vollstreckern seines Willens, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckten, sodass die bedauernswerten Frauen schließlich genötigt waren, sich von ihren Häusern und Gütern zu trennen. Das Volk fürchtete und hasste ihn, und sehnte insgeheim seinen Sturz herbei.
Hugh Despencer hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt. »Seitdem de Warenne die Grafschaft Surrey bekam, tat er wenig, um seine Treue zur Krone unter Beweis zu stellen.«
»Er eilte mit seinen Truppen herbei, um bei der Belagerung von Leeds Castle Hilfe zu leisten«, hob Pembroke hervor.
»Das beweist nur seine Loyalität zur Königin, nicht zum König«, erklärte Hugh. »Lass ihn kommen und erläutere ihm seine Aufgabe. Wenn er zögert, kann man sanfte Überredung zur Anwendung bringen.«
Rickard de Beauchamp suchte den Londoner Kaufmann de Botton auf und nahm aus Frankreich angelangte, geheime Korrespondenz in Empfang. Mortimer bat Rickard, Nachrichten an seinen Sohn Wolf und an Adam Orleton, den Bischof von Hereford, weiterzuleiten. Und er bat ihn, die Königin davon in Kenntnis zu setzen, dass er wohlbehalten in Paris eingetroffen wäre.
Brianna, die sich in Begleitung von Simon Deveril befand, traf ihren Bruder Rickard im Wald am Fluss. Sie sah, dass er sich einen Bart hatte wachsen lassen, um sich unkenntlich zu machen.
»Roger schickte der Königin eine Botschaft. Er traf am Königshof in Paris ein und wurde von Isabelles Bruder Charles herzlich willkommen geheißen.«
»Danke, Rickard. Sie wird sehr erleichtert sein. Hat er eine Nachricht für Wolf?«
»Allerdings«, bestätigte Rickard.
»Dann weißt du, wo er ist!«, rief Brianna.
»Ich weiß, wie man ihn erreicht«, erwiderte er ausweichend. »Er ist ständig unterwegs, von Ort zu Ort. Seine Mission ist ähnlich wie meine - er soll alle Gegner der Tyrannei Edwards und Despencers unter einen Hut bringen. Adam Orleton wiederum arbeitet in aller Heimlichkeit daran, die Bischöfe an einen Tisch zu bringen. Wir alle haben unsere uns übertragenen Aufgaben. Roger Mortimer wird eine Invasionsarmee um sich scharen. Wenn er mit ihr landet, müssen wir bereit sein.«
»Ich danke dir, Rickard, dass du Kopf und Kragen riskierst, um uns auf dem Laufenden zu halten. Gibt es eine sichere Möglichkeit, mit dir in Verbindung zu treten?«
»Schicke nötigenfalls Simon nach Flamstead.«
Auf dem Rückweg zu den Stallungen sagte Brianna zu Simon: »Ich danke Euch, dass Ihr mich nicht gefragt habt, wohin ich letzte Woche verschwand.«
»Ich brauchte nicht zu fragen«, sagte Simon leise.
»Ach so ...« Brianna errötete. »Ich muss nach Hedingham, sobald die Königin mich für ein paar Tage entbehren kann.«
»Ich werde Euch begleiten, Mylady.«
»Danke, Simon, ich bin Euch verpflichtet.« Ihr kennt meine Geheimnisse und seid doch loyal geblieben.
Ende August wusste Brianna, dass sie ihren Besuch auf Hedingham guten Gewissens nicht mehr hinausschieben konnte. Als sie Isabelle um Urlaub bat, verriet sie der Königin nicht, dass sie ihre Verlobung auflösen wollte. Robert Lincoln muss der Erste sein, der es erfährt.
Als Brianna und Simon Deveril auf Hedingham eintrafen, wurden sie von Jane, die sich im Hof befand, mit strahlendem Lächeln empfangen. »Ach, wie schön! Ich wollte dir eben einen Brief schreiben und dich einladen. Es gibt aufregende Neuigkeiten, Brianna.«
»Hallo, Jane.« Ach, meine Liebe, du siehst so glücklich aus, undjetzt verderbe ich alles. Simon half Brianna aus dem Sattel und brachte Venus in den Stall.
»Wie ich sehe, trägst du den Kiesel, den ich für dich bemalte. Glaubst du an die mystische Kraft des Wolfes, dir geheimes Wissen zu vermitteln und dich auf dem Lebenspfad zu leiten?«
»Ja, das tue ich. Der Wolf ist als Symbol absolut passend«, sagte Brianna wahrheitsgemäß.
»Komm ins Haus, ich werde dir alles erzählen.«
Jane ging in ihre Kemenate voraus und schenkte ihnen selbstgemachten Löwenzahn-und Klettenwein ein.
»Lynx wurde vom König nach Westminster befohlen. Er ging sehr widerstrebend und verschwieg mir den Grund. Als er gestern zurückkam, schienen seine Befürchtungen ausgeräumt, und er war voller Pläne.«
»Was wollte Edward?« Briannas Wachsamkeit regte sich.
»Der König will, dass Lynx und der Earl of Arundel Pembroke nach Schottland begleiten, um einen dauerhaften Waffenstillstand mit Robert Bruce auszuhandeln. Ich werde meine Familie auf Dumfries Castle besuchen und meine Söhne vorführen können. Seit fast achtzehn Jahren war ich nicht mehr in Schottland. Ich bin ja so aufgeregt!«
»Ja, das freut mich für dich. Es wird wunderbar sein, nach so langer Zeit nach Schottland zurückzukehren und deine Familie zu sehen.«
»Wir möchten, dass du mitkommst, Brianna. Lincoln Robert sagte sofort, dass du überglücklich sein würdest.«
»Das ist sehr großzügig, Jane. Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« O Gott, ich muss Lincoln gestehen, dass ich die Verlobung lösen möchte. Ich kann doch Jane damit nicht einfach überfallen.
»Du wirst Wigton Castle besuchen können, das euch nach der Hochzeit gehören wird. Und du wirst Robert Bruce, den König von Schottland, kennen lernen. Du wirst ihn mögen ... alle mögen ihn.«
»Ja ... gewiss«, sagte sie lahm. »Wo ist Lincoln Robert?«
»Er sieht bei der Ernte nach dem Rechten. Wir hoffen, das Heu einzubringen, ehe wir abreisen. Er müsste gleich da sein. «
»Ich will ihm entgegengehen.«
»Lauf los, mein Schatz. Er soll dir von unseren Reiseplänen berichten. Sag nicht, dass ich ihm die Überraschung verdarb.«
Brianna war ganz elend zumute. Ich bin diejenige, die euch die Überraschung verderben wird.
Sie ging los zu den Heuwiesen, die hinter dem Obstgarten lagen. Sie kam bis zur ersten Reihe von Apfelbäumen, als sie ihn sah. Brianna blieb stehen und wartete, bis er näher gekommen war.
Er stieß einen Freudenschrei aus, als er sie sah und glitt aus dem Sattel. »Du hast dein Versprechen nicht gehalten, dass du nach Farnham kommen wolltest«, neckte er sie.
»Ich ... ich war in Farnham, du aber warst schon fort.«
»Hat Mutter dir von unseren Reiseplänen berichtet?« Er hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis.
»Lincoln, bitte, stell mich hin. Ich muss etwas Ernstes mit dir besprechen.« »Ich auch.« Er stellte sie hin. »Warum heiraten wir nicht auf Wigton Castle?«
»Nein, Lincoln ... das ist ausgeschlossen.«
»Dann eben in Schottland. Ja, wir könnten die Hochzeit in Schottland feiern.«
Brianna atmete tief durch. »Lincoln, ich bitte dich, mich freizugeben und die Verlobung zu lösen.«
Erst sah er sie verblüfft an, dann verdüsterte sich seine Miene. »Niemals!«, rief er empört aus. »Ich gebe dich nicht frei! «
»Lincoln, du musst.« Sie suchte nach Worten, die ihn nicht verletzen würden und fand keine. »Mir wurde klar, dass meine Liebe zu dir die einer Kusine ist. Wir waren Freunde aus Kindertagen. Und ich dachte, das wäre genug, aber ...«
»Freunde tun dies einander nicht an.«
»Es tut mir leid. Mein Bedauern ist grenzenlos, Lincoln. Aber ich kann dich nicht heiraten, weil ich dich nicht wie einen Ehemann lieben kann.«
»Das ist mir einerlei, Brianna! Der Vertrag ist legal und bindend, und ich lasse nicht zu, dass du ihn brichst.«
»Du musst mich freigeben, Lincoln. Ich werde dich nicht heiraten.«
»Liebe hat damit nichts zu tun. Du bist die Tochter eines Earls des Reiches. Du hast unterschrieben und wirst dich daran halten.«
»Willst du damit sagen, dass Adelstitel für dich wichtiger sind als Liebe?« In Brianna regte sich Zorn.
»Gültige Verlobungsverträge haben Vorrang vor der Liebe. Unsere Väter, beide Earls des Reiches, unterschrieben als Zeugen. Es ist eine Ehe zwischen Ebenbürtigen. Die Liebe wird sich einstellen, wenn wir verheiratet sind.«
»Lincoln, wir werden nie verheiratet sein. Ich werde mit Lynx und Jane sprechen.«
Sofort wechselte Lincoln seine Taktik. Er ließ von seinen Forderungen ab und verlegte sich aufs Schmeicheln. »Brianna, du kannst doch nicht so grausam sein und mit meiner Mutter darüber sprechen. Das wäre herzlos ... ihr die Reise nach Schottland zu verderben, nachdem sie so viele Jahre darauf warten musste.«
»Ich möchte Jane nicht kränken«, protestierte Brianna. »Sie ist der liebste und gütigste Mensch, den ich kenne.«
»Dann kränke sie nicht, ich bitte dich darum. Sag meiner Mutter zuliebe nichts, bis sie ihre Reise hinter sich hat und wir wieder zu Hause sind. Unsere Hochzeit war für Weihnachten geplant. Dir bleibt also ausreichend Zeit, um es dir noch zu überlegen. Vielleicht änderst du ja deine Meinung. Wenn der Dezember da ist und du noch immer so denkst, gebe ich dich frei.«
Brianna zögerte. »Lincoln, ich hätte ein besseres Gefühl, wenn es einen raschen, sauberen Bruch gäbe.«
»Du hättest ein besseres Gefühl? Verzeih, deine Gefühle sind in dieser Sache offenbar vorrangig.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Vergiss, dass du die Tochter bist, die meine Mutter sich immer wünschte. Vergiss, dass es ihr das Herz brechen wird.«
»Mein schlechtes Gewissen lässt mir keine Ruhe, weil ich ihr wehtun muss, doch spüre ich, dass Jane mich verstehen wird.«
»Ja, meine Mutter ist völlig selbstlos. Sie ist sehr verständnisvoll und denkt immer nur an andere.«
Brianna atmete wieder tief durch. »Ich denke, ich könnte warten, bis ihr aus Schottland zurückkommt. Aber du sollst wissen, Lincoln, dass ich meine Absicht niemals ändern werde.«
»Ich weiß, wie eigensinnig du bist.«
Nein, Lincoln du hast nicht die leiseste Ahnung.
»Brianna, wie geht es meinem Teufelsmädchen?«, neckte Lynx de Warenne sie.
Sie errötete. Seine Worte weckten in ihr das Gefühl, mit dem Teufel im Bund zu sein. Lynx war nach Colchester geritten, um die bevorstehende Reise mit Richard Fitzallan, Earl of Arundel zu besprechen, war aber rechtzeitig zum Dinner zurückgekommen.
»Als ich Fitzallan sagte, dass meine Familie nach Schottland mitkommt, entschloss er sich, seine Tochter Blanche mitzunehmen. Er bietet uns für die Fahrt nach Edinburgh sein Schiff an, das in Colchester liegt. Das wäre für die Damen weniger anstrengend als eine Reise zu Pferd.«
»Wie großzügig von Lord Arundel!«, rief die überglückliche Jane aus.
»Blanche Fitzallan ist eine reizende junge Dame, wie Brianna und ich feststellten«, erklärte Lincoln Robert.
Der junge Jamie verdrehte vielsagend die Augen, und Brianna verschluckte sich fast an ihrem Wein.
Nach Tisch folgte Brianna Lynx in seine Bibliothek und schloss die Tür. »Ich finde es sonderbar, dass du so willig dem Befehl des Königs folgst. Edward und Despencer sind Tyrannen übelster Sorte.«
»Das sind sie freilich, doch liegt meinem Wahnsinn Methode zugrunde. Wenn ich mit meinem Freund Robert Bruce einen Waffenstillstand aushandle, werden meine Burgen und Ländereien nicht konfisziert.«
»Man drohte dir?«
»Nicht ausdrücklich, doch wurde angedeutet, dass mein Besitz gesichert wäre, wenn meine Verhandlungen erfolgreich verlaufen. Ich weiß, dass ich auf deine Verschwiegenheit bauen kann, Brianna. Jane darf es nicht erfahren. Lincoln kehrte von Farnham zurück, um mich zu warnen, dass der Besitz unseres Nachbarn, der an unseren grenzt, von Despencer eingezogen wurde.«
»Dieser gemeine, habgierige Schurke! Wenn diejenigen, die sich gegen diese Tyrannei verschwören, an dich heranträten - würdest du mit ihnen gemeinsame Sache machen?«
Lynx erstarrte. Seine Miene verhärtete sich. »Brianna, ich habe nicht die Absicht, mit dir Hochverrat zu erörtern. Halte dich aus den Angelegenheiten der Männer heraus. Du bist, Gott sei es geklagt, wie deine Mutter. Sei versichert, dass ich das tun werde, was für meine Familie das Beste ist.«
»Ja, natürlich. Verzeih mir.«
Seine Miene wurde weich. »Jane wird dir mit Freuden Dumfries zeigen, und vielleicht kannst du mit Lincoln Wigton Castle besuchen, das gegenüber von Janes Elternhaus auf der anderen Seite des Solway Firth liegt.«
Brianna, die schon widersprechen wollte, besann sich sogleich anders. Sie hatte eingewilligt, die Auflösung der Verlobung nicht zu erwähnen, bis Jane aus Schottland zurückkäme.
»Wann soll es losgehen?«
»Wir nehmen uns vor, nächste Woche in See zu stechen. Ich möchte spätestens in der ersten Septemberwoche unterwegs sein. Der Herbst kommt in Schottland sehr früh, und der Winter lässt dann nicht lange auf sich warten. Vergiss nicht, deine Pelze mitzunehmen.«
Der Abend blieb Brianna völlig nebelhaft in Erinnerung. Als Lynx und Jane sich früh zurückzogen, argwöhnte sie, dass sie ihr und Lincoln Robert das Alleinsein ermöglichen wollten. »Ich bin müde. Ich glaube, ich gehe auch hinauf.«
Allein in ihrem schönen Gemach, das ihrer Mutter gehört hatte, stellte sie fest, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Als sie sich fürs Bett zurechtmachte, tastete sie nach dem Wolfskiesel. Sie umfasste den Stein fest. Bitte, führe mich auf den richtigen Weg.
Für Lynx und Jane stand fest, dass sie mit ihnen nach Schottland gehen würde, in Wahrheit verspürte sie aber nicht die geringste Neigung dazu. Da sie eingewilligt hatte, die Verlobung erst nach der Rückkehr zu lösen, bedeutete dies, dass sie jeden Tag der Reise eine Lüge leben musste, etwas, wovor sie zurückschreckte. Lass die Heuchelei, Brianna. Dass du sehr gut lügen und betrügen kannst, hast du bewiesen, als du über Monate hinweg Isabelle und Mortimer beistandest.
Als sie über ihrem Dilemma grübelte, wurde ihr klar, dass sie, wenn sie ihre Absicht bezüglich der Verlobung nicht preisgeben wollte, einen plausiblen Vorwand brauchte, um Lynx und Jane zu erklären, warum sie nicht nach Schottland fahren konnte.
Sie zog einen Morgenmantel über ihr Nachthemd und ging den langen Korridor zum großen Schlafgemach entlang. Die Tür stand ein wenig offen, und als sie ihren Namen hörte, stutzte sie und lauschte Lynx' Worten.
»Brianna hat Roberts keltische Augen - große, sanfte, braune Augen. Schon vor langer Zeit kam mir der Gedanke, dass Bruce ihr Vater sein könnte.«
»Das darfst du nicht sagen. Viele Menschen haben braune Augen«, ermahnte Jane ihren Gemahl.
Brianna hörte es und war wie betäubt. Ich kann doch unmöglich die Tochter des Königs von Schottland sein! Sie stand im halbdunklen Korridor wie angewurzelt da. Ihr Herz hämmerte, in ihrem Kopf drehte sich alles. Als das Schwindelgefühl nachließ, zog sie sich leise zurück und lief in ihr Gemach.
Sie trat vor den Spiegel, hob die dichten, dunklen Wimpern und sah die großen, braunen keltischen Augen, die sie anstarrten. Briannas Finger schlössen sich um den Wolfskiesel. Du brachtest mir geheimes Wissen. Das Spiegelbild des Raumes hinter ihr rief ihr ihre Mutter ins Gedächtnis. Jorys Geist schien in der Luft greifbar.
Du hast Schottland verlassen und sofort Guy de Beauchamp geheiratet. Der Earl of Warwick ist nicht mein Vater! Wut und Schmerz ergriffen von ihr Besitz. Wie konntest du nur? Wie konntet ihr beide mich so hintergehen?