6
»Lincoln Robert, du weißt, dass ich es will.« Sie blickte in seine grünen Augen auf, die eine Spur Unsicherheit verrieten. »Du hast doch gewiss nicht an meiner Antwort gezweifelt? Ich wusste immer schon, dass du mein künftiger Mann bist.«
Seine Unsicherheit war wie weggeblasen und wich einem Ausdruck glücklicher Erleichterung. »Ich musste es aus diesem Mund hören. Immerhin bist du die Tochter des Earl of Warwick, und unlängst wurde mir klar, wie vermessen es wäre, es als selbstverständlich anzunehmen.«
»Vermessen?«, rätselte sie.
»Du bist jetzt im heiratsfähigen Alter, und bei deinem Vater wird manch ein Bewerber um deine Hand anhalten. Die Baronie Warwick ist mächtig und mit ihrem ausgedehnten Landbesitz sehr reich. Du bist eine blendende Partie, die jedem unbeweibten Edelmann im Land ins Auge sticht.«
»Weil mein Vater Namen und Vermögen besitzt?«
»Absolut.«
»Wie schmeichelhaft«, neckte sie ihn. »Du bist natürlich die Ausnahme. Du liebst mich um meiner selbst willen.«
Er sah sie forschend an. »Das weißt du. Aber ich bin ein Mann, Brianna, und muss praktisch denken. An mir liegt es, für unsere Zukunft zu sorgen. Vater versprach mir eine Burg meiner Wahl, wenn ich heirate. Ich schwanke zwischen Wigton an der schottischen Grenze, das mir sehr zusagt, oder Farnham Castle in Surrey, das Vater von Onkel John de Warenne erbte.«
»Du warst noch nie auf Wigton Castle. Du solltest es dir ansehen, ehe du dich entscheidest.«
»Es könnte ein Jahr vergehen, ehe ich nach Wigton komme«, protestierte er. »Ich muss mich jetzt entscheiden, Teuerste.«
»Aber es wird mindestens ein Jahr dauern, bis wir heiraten.«
Er zog die Brauen zusammen. »Was soll das heißen - ein Jahr?«
»Mutter hielt immer eisern daran fest, dass ich mindestens achtzehn sein müsste, ehe ich heirate.«
»Aber das ist lächerlich! Ich bat dich eben, mich zu heiraten, und du hast eingewilligt.«
»Lincoln, ich dachte, es wäre von der Zukunft die Rede. Wir sind so jung ... Unser ganzes Leben liegt vor uns.«
»Ich bin neunzehn. Ich möchte jetzt eine Frau - ich möchte Söhne.«
»Das ist einer der Gründe, weshalb Mutter will, dass ich warte, bis ich achtzehn bin. Sie ist der Meinung, siebzehn sei zu jung, um ein Kind zu bekommen.«
Er fuhr sich ungeduldig durch das Haar. »Wir gehen zu ihr und reden mit ihr - wir werden sie überreden, sich anders zu besinnen.«
»Aber ich teile ihre Meinung.« Sie berührte seine Wange. »Lincoln, bin ich die Wartezeit nicht wert?«
Er stöhnte auf. »Natürlich, meine Holde. Aber in einem Jahr kann so viel geschehen.« Er zog sie an sich. »Was ist, wenn jemand versucht, dich mir zu rauben?«
»Unmöglich«, flüsterte sie. »Ich lege mein Herz in deine Hände, Lincoln. Ich schwöre dir ewige Liebe.«
Ihre Worte hoben seine Stimmung. »Ich werde nicht aufgeben«, gelobte er. »Ich muss dich warnen, dass ich die Absicht habe, deinen Widerstand zu überwinden.«
Wieder auf Hedingham, ging Brianna auf ihr Zimmer, um sich vor dem Abendessen zu erfrischen und umzukleiden, während Lincoln Robert die Pferde in den Stall brachte. Dort traf er auf seinen Vater, der mit Warwick über den Kauf von Pferden sprach.
»Wie gut, dass ich euch gemeinsam antreffe. Ich sehe mich einem Dilemma gegenüber und hoffe dabei auf eure Hilfe. Heute bat ich Brianna um ihre Hand, und zum Glück willigte sie ein.«
Lynx lächelte erfreut über diese Neuigkeit. »Ich sehe dein Dilemma. Du hättest zuvor bei ihrem Vater formell um ihre Hand anhalten müssen.« »Ja, ich kenne die korrekte Vorgangsweise und entschuldige mich, weil ich mich nicht Eurer Einwilligung versicherte, ehe ich meinen Antrag machte, doch wollte ich mich vergewissern, dass Brianna meine Gefühle teilt.« Er sah Warwick an. »Ich bitte Euch jetzt formell um die Hand Eurer Tochter, Sir.«
»Warwick ist ein harter Verhandler. Als er Jory heiratete, brachte er John de Warenne doch tatsächlich dazu, ihr Chertsey Castle in Surrey zu geben. Ich zweifle nicht daran, dass deine reizende Braut mich mindestens einen Arm und ein Bein kosten wird«, scherzte Lynx.
»Brianna sagte, dass ihre Mutter sie erst mit achtzehn heiraten lässt. Ich brauche euch beide, um sie umzustimmen.«
Lynx warf seine Hände in gespieltem Entsetzen hoch. »Meine Schwester Jory besitzt einen eisernen Willen. Hat sie sich einmal zu etwas entschlossen, ist sie hartnäckig wie ein Terrier. Ich werde das Thema zur Sprache bringen, doch glaube ich, dass es eines Mannes von Warwicks Beherztheit bedarf, um sie herauszufordern.«
Vater und Sohn sahen Guy de Beauchamp an, der zu dem Thema hartnäckig geschwiegen hatte.
»Jory und ich haben die Heirat unserer Tochter besprochen, und wir sind uns einig, dass eine Verbindung zwischen dir und Brianna für beide Familien ideal wäre. Wir können uns keinen besseren Mann für unsere Tochter wünschen. Da sie fast siebzehn ist, sehe ich keinen Grund, warum ihr nicht ein Jahr lang verlobt sein könntet, zudem weiß ich, dass ihre Mutter dagegen ist, sie vor dem achtzehnten Lebensjahr zu vermählen.«
»Könntet Ihr nicht mithelfen, ihre Meinung zu ändern, Sir? Mir erscheint ein Jahr wie eine wahre Ewigkeit.«
»Lieber Himmel, weißt du, wie glücklich du dich schätzen kannst, eine Frau deiner eigenen Wahl zu bekommen? Weder Warwick noch ich hatten dieses Privileg. Unsere Ehen wurden arrangiert. Wir lernten unsere Bräute erst kennen, nachdem wir unsere Gelöbnisse getauscht hatten. Ein Jahr ist kurz, und du wirst deine Ungeduld zügeln.«
Brianna traf ihre Mutter und Jane oben im lichtdurchfluteten Wohngemach von Hedingham an. Als sie sah, dass sie allein waren, verspürte sie das überwältigende Verlangen, ihnen ihre erregende Neuigkeit mitzuteilen.
»Lincoln Robert bat mich um meine Hand, und ich habe ja gesagt!«
Jane sprang auf und schloss ihre Nichte liebevoll in die Arme. »Das ist ja wundervoll, obwohl ich sagen muss, dass es keine Überraschung ist. Mein Sohn spricht ständig von dir. Ich bin so glücklich, Brianna. Ich habe dich aufrichtig lieb ... du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe.«
»Als ich ihm sagte, dass wir warten müssten, bis ich achtzehn bin, war er schrecklich enttäuscht.«
»Nun, ich halte dies für eine weise Entscheidung. Ich war achtzehn, als Lynx und ich vermählt wurden, und ich wurde sofort schwanger. Ich glaube, siebzehn ist zu jung für die Mutterschaft, auch wenn viele edle Ladys mit vierzehn oder fünfzehn verheiratet werden.«
»Sicher wird Lincoln Robert sich überreden lassen, ein Jahr auf dich zu warten. Dein Vater wartete fünf Jahre auf mich. Und Warwick ist nicht eben für seine Geduld bekannt«, erklärte Jory. Sie blickte Jane an. »Brianna möchte gern ein Jahr am Hof der Königin verbringen, ehe sie heiratet. Hedingham ist so nahe, dass sie und Lincoln einander das Jahr über besuchen können.«
»Das ist richtig. Versprich mir, dass du oft kommen wirst«, lud Jane sie ein.
Als am Abend in der Halle Briannas und Lincoln Roberts Heirat besprochen wurde, machte Lynx sich für seinen Sohn stark. »Warum setzen wir nicht den Vertrag zu einer förmlichen Verlobung auf? Damit wären die Bedenken meines Sohnes ausgeräumt.«
»Ich habe nichts dagegen, falls Jory einverstanden ist«, erklärte Warwick.
»Und ich habe nichts dagegen, wenn Brianna es wünscht. Sie geben ein ideales Paar ab«, erklärte Jory.
Lincoln Robert ergriff Briannas Hand und murmelte: »Ich wäre sehr gern formell mit dir verlobt, doch muss ich dich warnen, dass ich weiterhin versuchen werde, dich zu einer Heirat vor deinem achtzehnten Geburtstag zu überreden.«
»Ach, ich mag es sehr, wenn ich umworben werde«, flüsterte sie verführerisch.
Der Earl of Warwick und der Earl of Surrey verhandelten bis spät in die Nacht. Schließlich wurde ein Vertrag aufgesetzt und verfügt, dass Farnham Castle im nahen Surrey an Lincoln Robert fallen sollte, während Lynx de Warenne sich einverstanden erklärte, Wigton Castle mit seinen riesigen Schafherden Brianna am Tag der Hochzeit zu übereignen. Ebenso wurde festgelegt, dass Lynx' ältester Sohn Hedingham übernehmen sollte, und Guy de Beauchamp sein geliebtes Flamstead Castle mit der Pferdezucht Brianna vererben würde.
Am Abend darauf trafen die zwei Familien in der kleinen Bibliothek der Burg zusammen, in der die geschäftlichen Angelegenheiten Hedinghams abgewickelt wurden. Hohe Kerzen erhellten den Raum und warfen ihr Licht auf das Dokument, das in Erwartung der Unterschriften des jungen Paares auf dem schimmernden Eichentisch lag. Der Verlobungskontrakt, ein gegenseitiges Versprechen der künftigen Eheschließung, legte daneben in allen Einzelheiten fest, welche Güter an Brianna und Lincoln Robert an dem Tag fallen sollten, an dem sie im heiligen Ehestand vereint sein würden. Das Dokument musste sodann von beiden Elternpaaren bezeugt und unterzeichnet werden.
Lynx de Warenne tauchte den Federkiel in das Tintenfass. »Obschon du weißt, was wir beschlossen, rate ich dir, den Vertrag durchzulesen, ehe du unterschreibst, Brianna.«
Sie sah Lincoln lächelnd an. Das warme Kerzenlicht betonte den satten Schimmer seiner goldbraunen Haare, und als Lynx ihr die Feder reichte, wusste sie, dass ihr künftiger Ehemann mit fünfzig ebenso aussehen würde wie sein Vater, eine Aussicht, die ihr zusagte.
Sie überflog den Text auf dem knisternden Pergament und unterschrieb sodann schwungvoll.
Lincoln Robert trat neben sie, und auch er las das Dokument sorgfältig durch. Nachdem er den Verlobungskontrakt unterschrieben hatte, fasste er besitzergreifend nach ihrer Hand und hob ihre Finger an seine Lippen, während seine Augen ihre Schönheit bewunderten.
Sie sahen, wie ihre Eltern vortraten und als Zeugen unterschrieben. Eine Verlobungszeremonie erforderte keinen Austausch von Schwüren oder verbale Versprechungen ewiger Liebe, Hingabe oder Treue. Es war ein einfacher, wenn auch bindender legaler Vertrag.
Um dem denkwürdigen Anlass eine persönliche Note zu geben, griff Lincoln Robert in sein Wams und holte ein Schächtelchen hervor »Ein Verlobungsring als Zeichen meiner Liebe.«
Mit angehaltenem Atem öffnete Brianna das Etui. »Ach, ein Smaragd ... mein Lieblingsstein.« Sie streckte die Hand aus, damit Lincoln ihr die Ehre erweisen konnte. Sie wusste, dass Smaragde die traditionellen Steine der de Warennes waren und von Generation zu Generation weitervererbt wurden. »Mutter besitzt eine stattliche Kollektion, aus der ich mir hin und wieder etwas borgen darf. Ich bin überglücklich, dass ich nun einen eigenen Smaragd besitze. Ich danke dir, Lincoln.«
»Eine Verlobung ist Anlass, auf das Wohl des Paares anzustoßen. Da einige Ale vorziehen, während andere dem Wein zugeneigt sind, habe ich heute beides bringen lassen«, erklärte Jane und trat an einen Beistelltisch.
»Zu diesem ganz besonderen Anlass verzichte ich auf Ale«, erklärte Jory. »Wir wollen mit Wein auf das Wohl der Verlobten trinken.«
Guy de Beauchamp schloss seine Tochter in die Arme und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die hellen Locken. »Denk daran, dass du jetzt noch mir gehörst ... ein ganzes Jahr lang«, murmelte er leise.
Er liebt mich von ganzem Herzen. Wie konnte ich nur daran zweifeln?
Ihr Vater sah ihr in die Augen. »Sollte etwas oder jemand dein Glück trüben, dann komm zu mir und sag es mir.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. Als ob jemand es wagen würde, den Zorn des verrufenen Earl of Warwick auf sich zu ziehen. »Ich hab dich lieb, Vater.«
»Wo soll die Hochzeit stattfinden?«, frage Jory. »Flamstead ist näher bei Hedingham als Warwick und wäre praktischer.«
Vater liebt Flamstead. »Ja, wir wollen auf Flamstead Hochzeit feiern«, gab Brianna ihre Zustimmung.
Eine Stunde später, als Brianna sich für die Nacht zurechtmachte, schlüpfte Jane in ihr Gemach. »Auch ich habe für dich ein Geschenk, doch wollte ich es dir unter vier Augen geben. Dass deine Mutter es billigt, weiß ich, da ich ihr vor Jahren auch eines malte, bei deinem Vater aber bin ich nicht so sicher. Er missbilligt jeden Aberglauben und würde über ein keltisches Angebinde sicher die Nase rümpfen, auch wenn es mystische Kräfte besitzt, die dich zu leiten und zu schützen vermögen.«
Brianna nahm den kleinen Seidenbeutel, den Jane ihr überreichte, und fühlte die ovale Form des kleinen Gegenstandes darin. »Ach, wie schön. Du hast mir einen deiner keltischen Wundersteine gemalt.«
»Als du sie unlängst auf meinem Arbeitstisch im Wohngemach sahst, spürte ich, dass du fasziniert warst, und beschloss, eigens für dich einen zu entwerfen.«
»Die Kieselsteine, die du mit Blumen, Göttinnen und keltischen Kreuzen bemalst, sind wunderschön, doch ich hoffe, dass du für mich ein Tier als Symbol gewählt hast.«
»Da du Tiere so liebst, war die Entscheidung klar.«
Brianna ließ den flachen, ovalen und mit einer feinen Lederschnur durchzogenen Stein aus dem Seidenbeutel gleiten. Sie hielt ihn auf der Handfläche und betrachtete ihn, gebannt von seiner Schönheit. Das Tiersymbol, das Jane für sie gemalt hatte, war ein silbergrauer Wolf mit goldenen Augen.
»Die Wölfin, ein keltisches Symbol für Kraft, Verstand und geheimes Wissen, wird der Erdgöttin Sironi als Gefährtin zugeordnet. Sie ist eine Übermutter, wild, beschützend und liebevoll, die dich auf deiner Reise durch das Leben leiten und schützen wird.«
»Wie schön sie ist. Ihre Kraft ist für mich schon spürbar. Ich danke dir aus tiefstem Herzen!«
»Es freut mich, dass du sie magst. Gute Nacht, meine Liebe, und schlaf gut.«
Als Brianna allein war, betrachtete sie den Wunderstein, erstaunt, dass Jane die Wölfin als Symbol für sie gewählt hatte. Sie zeichnete mit der Fingerspitze die Umrisse nach. »Shadow ... Shadow.«
Sie legte den Stein auf das Tischchen neben dem Bett, kaum aber war sie unter die Decke geglitten, als sie danach griff und die Schnur über ihren Kopf schob. Die Wölfin lag nun in der Senke zwischen ihren Brüsten, ihrem Herzen nahe. Und nach dem Einschlafen dauerte es nicht lange, bis Brianna in einen Traum eintauchte.
Aus weiter Ferne vernahm sie ein Heulen, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie hob den Kopf von den Pfoten und lauschte angestrengt. Wieder war das Geheul zu hören. Es erregte sie und sprach die Wildheit an, die tief in ihr verborgen schlummerte. Langsam und lautlos erhob sie sich. Ihre angeborene Wachsamkeit gab ihr ein, Augen und Ohren und ihren scharfen Geruchssinn zu nutzen, um eventuellen Gefahren vor ihrer Höhle zu begegnen. Wieder ertönte das Heulen, und der Ruf der Wildnis war von fast unwiderstehlicher, drängender Verlockung.
Eine uralte, über Generationen kluger, listenreicher Ahnen überlieferte Weisheit, ließ sie die damit verbundenen Risiken abwägen. Ihr natürliches Zaudern schwand allmählich und wich dem Wissen, dass das vor ihr liegende Abenteuer herrlich zu werden versprach. Ihr rastloser Geist hungerte nach Erregung. Ihr Instinkt lechzte nach einem Seelengefährten.
Lautlos glitt sie aus ihrem sicheren Schlupfwinkel in die dunkle, nur vom Mond erhellte Nacht. Sie bewegte sich zwischen den Bäumen dorthin, wo der Boden anzusteigen begann und folgte einem unsichtbaren Pfad, der sie zu ihrem Schicksal geleitete.
Plötzlich sah sie ihn und hielt jäh inne. Das Mondlicht ließ seine dunkle Silhouette hervortreten, wie er mit zurückgeworfenem Kopf auf dem Gipfel eines Hügels stand. Der prachtvollste männliche Wolf, den sie jemals gesehen hatte. Instinktiv wusste sie, dass der dunkle Wolf dominant und gefährlich sein würde, doch war sie bereit, ihm zu folgen, wohin er sie führen mochte.
Er witterte ihre Nähe, drehte sich nach ihr um und stieß ein Geheul aus, elementar und ursprünglich. Sie ging näher, antwortete auf seinen Ruf und sah, dass sein glattes Fell schwarz war und seine Augen von hellem Grau. Er tat einen Schritt auf sie zu, und ihrer Kehle entrang sich ein warnendes Knurren. Ihre Warnung ignorierend glitt seine Zunge hervor und leckte sie. Sie liebkoste seinen Hals als Zeichen, dass sie ihn akzeptierte.
Seite an Seite sprangen sie den Hügel hinunter, rannten in einem Freudentaumel immer schneller, ihre Freiheit auskostend, ekstatisch, weil sie einander gefunden hatten. Meile um Meile ging es dahin, über Felder, durch Bäche und Wälder, bis die Dämmerung den Himmel erhellte. Sie scheuchten einen Vogelschwarm auf und verfolgten ihn spielerisch. Das Paarungsspiel war viel köstlicher und hielt sie gebannt. Von ihrem nächtlichen Lauf in Hochstimmung versetzt, fanden sie eine Lichtung mitten im Wald.
Er streckte seinen schlanken Leib im Gras aus, und sie legte sich neben ihn, voll Bewunderung für seine dunkle männliche Schönheit. Sie spürte die beginnende Hitze der Erregung in sich und rollte sich verspielt auf den Rücken, um sich seiner Dominanz in uralter weiblicher Unterwerfung hinzugeben.
Brianna erwachte mit einem Ruck. Sie setzte sich auf und sah, dass das erste Licht der Morgendämmerung durch die offenen Läden drang und den schönen Raum erhellte, der einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie spürte den Kiesel auf ihrer Brust, und sofort war die Erinnerung an ihren Traum da. Ein köstliches Kribbeln überlief sie, als ihr weitere Einzelheiten einfielen. »Ich habe geträumt, dass ich Mortimers Wölfin wäre.« Plötzlich errötete sie, und ihr Entzücken wurde zu Enttäuschung, da ihr die Identität des dunklen, dominierenden Wesens bewusst wurde, das sie zu dem kühnen, hemmungslosen Paarungsspiel verführt hatte.
Brianna verdrängte den Traum mit Absicht aus ihren Gedanken. Dies war ihr letzter Morgen auf Hedingham. Nach dem Mittagsmahl würden Vater und Bruder nach Flamstead Castle zurückkehren, während sie und ihre Mutter sich auf den Weg nach Windsor machten.
Brianna hatte Lincoln Robert versprochen, dass sie vor ihrem Aufbruch mit ihm ausreiten würde, um sich ganz privat verabschieden zu können. Vor dem Stall angelangt, hörte sie Gelächter und erkannte die Stimmen als jene ihres Verlobten und seines Bruders Jamie.
»Es gibt einen sicheren Weg, dass Brianna dich anfleht, sie zu heiraten, ehe sie achtzehn wird«, erklärte der junge de Warenne.
»Und der wäre, du Genie?«
»Sie zu schwängern, natürlich.«
Dieser unverblümte Rat, den sie unbeabsichtigt mitgehört hatte, traf Brianna wie ein betäubender Schlag. Ihr erster Impuls war es, den jungen Teufel zu ohrfeigen.
»Genau meine Idee!«, erwiderte Lincoln lachend.
Nicht sehr komisch! Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Stall, doch auf halbem Weg über den Hof ging ihr der Humor der Situation auf. Sie würden sich zu Tode ärgern, wenn sie wüssten, dass ich sie belauscht habe. Sie war nicht so naiv anzunehmen, dass Männer sich nicht über Sex unterhielten; es war vermutlich ihr Lieblingsthema. Nach kurzer Überlegung ging sie zurück in den Stall. Diesmal freilich so laut, dass man sie hörte.
Lincoln Robert kam sofort auf sie zu und begrüßte sie. »Guten Morgen, mein Schatz. Venus ist schon gesattelt.«
»Wie umsichtig von dir. Guten Morgen, Jamie. Es ist herzerfrischend, wenn man sieht, dass zwei Brüder sich so gut verstehen. Warum begleitest du uns nicht, Jamie? Lincoln und ich würden uns freuen.«
Jamie sah seinen Bruder an. »Ich glaube nicht ...«
»Ich bestehe darauf ... Ein Nein akzeptiere ich nicht.« Sie verbarg ihre Belustigung, als sie sah, wie Lincolns Lächeln erlosch.
»Leider muss ich ablehnen, Brianna. Vater reißt mir den Kopf ab, wenn ich davonlaufe und ...«
»Ach, komm ... das war doch ein Witz. Als ob wir einen Sittenwächter nötig hätten, der unser zärtliches Lebewohl beobachtet.«
Er lachte erleichtert.
»Du hättest dein Gesicht sehen sollen. Finster wie eine Gewitterwolke. Ich habe doch nur gescherzt.« Sie benetzte ihre Lippen. »Ich necke dich gern, Lincoln.«
Als er sie in den Sattel hob, schenkte sie ihm ein provozierendes, verlockendes Lächeln. »Fang mich, wenn du kannst.«
Bis er sein Pferd gesattelt hatte, war sie bereits außer Sicht. Erst beim Obstgarten holte er sie ein.
Brianna saß ab und wollte einen Apfel vom Baum pflücken. Der, den sie wollte, war jedoch außerhalb ihrer Reichweite, daher kletterte sie auf den Baum. »Heute habe ich das Frühstück ausgelassen, damit wir ausreiten können.« Sie riss zwei Äpfel ab und biss genussvoll in einen hinein.
Lincoln war wie der Blitz aus dem Sattel. Er lief zum Baum und hob einladend die Arme.
Brianna gönnte sich noch einen Biss vom Apfel und leckte sich genüsslich den Saft von den Lippen, während sie seine Einladung erwog. Ohne Vorwarnung sprang sie hinunter in seine Arme und riss ihn mit ihrem Schwung zu Boden. Lincoln rollte sie weiter, bis er oben lag. Sie hielt ihm den anderen Apfel entgegen und murmelte verführerisch: »Das Weib verführte mich.«
Er nahm ihren Mund in Besitz und küsste sie gierig. Erregt presste er seine harte Erektion an ihren weichen Leib. Dann hob er seinen Mund und sah nachdenklich auf sie hinunter, als sie ausgestreckt zwischen seinen Schenkeln lag.
»Es gibt einen Weg, dass ich dich anflehe, mich zu heiraten«, flüsterte sie verführerisch. »Liebe mich und mach mir ein Kind.«
Lincoln richtete sich ächzend auf. »Herrgott, Brianna, du hast gehört, was im Stall gesprochen wurde.«
»Allerdings, Lincoln de Warenne. Lass dir gesagt sein, dass ich so viel Verstand habe, mich nicht von dir verführen zu lassen.« In ihren Augen blitzte es boshaft. »Ein Jahr mindestens«, setzte sie keck hinzu.
Als sie keine Anstalten machte aufzustehen, beugte er sich wieder über sie. »Da du binnen einer Stunde fort sein wirst, drängt es mich heftig, dich auf eine Art zu küssen, wie du noch nie geküsst wurdest.«
Brianna verfügte über uralte weibliche Intuition. Es hatte bereits Streit gegeben, weil sie ihren Plan, an den Königshof zu gehen, nicht aufgeben wollte. Sie wusste, wie sehr er ihren Plan missbilligte. »Aber nur, weil ich an den Hof gehe. Du verspürst das überwältigende männliche Verlangen, mir dein Zeichen aufzudrücken.«
»Ja, das stimmt«, gab er zu. »Weil du für jeden Mann eine riesengroße Versuchung bist.« Seine Lippen pressten sich besitzergreifend auf ihre.
Lange nachdem Brianna fortgeritten war, stand Lincoln Robert leise fluchend im Hof von Hedingham. Er war enttäuscht und sehr ungehalten. Brianna hatte getan, als hätte sie ihm einen großen Gefallen erwiesen, indem sie in die
Verlobung einwilligte, obwohl es doch genau umgekehrt war. Ich bin immerhin der Erbe der Grafenwürde von Surrey! Eine Verlobung gibt mir gewisse Rechte, die zu verweigern ihr großes Vergnügen bereitet. Die kleine Göre hat mich tagelang in höchste Erregung versetzt.
Als Lincoln seinen erigierten Schwanz in eine angenehmere Position brachte, sah er Rose, die Zofe seiner Mutter, mit einem Korb über dem Arm über den Hof gehen. Sein Blick folgte ihr nachdenklich. Rasch war er an ihrer Seite.
»Wohin des Weges, schöne Maid?«, neckte er sie.
Rose sah den schmucken jungen Erben errötend an. »Ich muss in den Obstgarten, Mylord. Die Köchin braucht Birnen.«
Und du hast zwei besonders hübsche davon! »Rose, ich komme mit und überprüfe, ob sie reif sind.«