62

 

Drei Vierundzwanzig-Stunden-Perioden waren vergangen.

Man hatte die Toten wie ägyptische Mumien in Tücher gewickelt und dem See überlassen. Während Jill im feuchten und allesdurchdringenden Nebel stand und zusah, wie man die Leichen nacheinander durch die Luke warf, versuchte sie die Dauer des Falls in die Tiefe zu berechnen. Es war nicht etwa Kaltblütigkeit, die sie zu diesem Tun verleitete, sondern eine reine Abwehrmaßnahme, um angesichts der Schrecknisse ihrer Lage nicht hysterisch zu werden.

Der Tod war jetzt wieder zu einer schrecklichen Realität geworden und schien an diesem Ort mit seinen kaltfeuchten Winden und den dunklen, umherwirbelnden Wolken nur noch allgegenwärtiger und bedrohlicher zu sein. Sie brauchte nur ein paar Schritte in den Nebel hinaus zu machen, um aus der Sicht- und Hörweite all jener Menschen zu verschwinden, die um sie herum ihrer Arbeit nachgingen. Sie konnte weder ihre Füße noch das Metall sehen, über das sie schritt.

Wenn sie den Kopf aus einer der Luken streckte, würde sie nicht einmal das Geräusch des kalten, toten Sees hören, der ununterbrochen gegen die Hülle des Turms schlug. Hier war alles zu weit von einem entfernt, sogar das, was in unmittelbarer Nähe lag.

Die Umgebung war ein echtes Ödland. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als es bald wieder verlassen zu können.

Bis jetzt war Piscator noch nicht zurückgekehrt. Aus freiem Willen wäre er niemals so lang im Inneren des Turms geblieben. Entweder war er tot, verletzt oder wurde gefangengehalten. Auf jeden Fall konnten jene, die sich außerhalb des Turms aufhielten, nichts für ihn tun, und unter diesem Gesichtspunkt erschien die geplante siebentägige Wartezeit schon jetzt zu lang. Aus diesem Grund hatte Jill bereits bekanntgegeben, daß man bereits nach dem fünften Tag aufbrechen würde.

Die Mannschaft nahm dies mit offensichtlicher Erleichterung zur Kenntnis. Die Nerven der Leute waren, wie die Jills, bis zum äußersten angespannt, und sie litten dermaßen unter der unklaren Situation, daß man dazu übergegangen war, die vierstündige Wachperiode im Inneren des Bunkers auf die Hälfte zu verkürzen. Einige der Wachtposten begannen bereits zu halluzinieren, sie sahen geisterhafte Gestalten im Nebel und vernahmen Stimmen, die aus dem Korridor drangen. Einer der Männer hatte sogar seine Waffe abgefeuert, als er sich einbildete, eine gewaltige Gestalt renne aus dem Nebel auf ihn zu.

Die erste Durchsuchung der Parseval hatte weder Bomben noch Umwandler zu Tage gebracht. Da Jill befürchtete, daß die Leute nicht jeden Quadratzentimeter abgesucht hatten – und auch um sie beschäftigt zu halten –, ordnete sie eine zweite Suchaktion an. Diesmal wurde sie sogar auf die Außenhülle des Luftschiffes ausgeweitet. Männer begaben sich in den Laufgang und leuchteten alles mit Scheinwerfern aus. Andere untersuchten die Außenseiten der Hecksektion. Nirgendwo konnte eine Bombe ausgemacht werden.

Das erleichterte Jill aber nicht. Wenn Thorn von Anfang an den Plan gehabt hatte, an Bord Sprengstoff zu verstecken, konnte er ihn ebenso gut im Innern der Gasbehälter untergebracht haben. Wenn er das getan hatte, waren sie ihm ausgeliefert, denn es gab keine Möglichkeit, in das Innere der Behälter vorzudringen, ohne den unersetzlichen Wasserstoff abzulassen. In diesem Fall benötigte er natürlich eine Fernzündung, aber wenn sie nur klein genug war, konnte er sie überall an Bord versteckt haben. Es wäre ihm sogar möglich gewesen, sie zu tarnen.

Dieser Gedanke führte zu einer dritten Suchaktion, bei der jedes noch so kleine mechanische oder elektrische Gerät an Bord dahingehend in Augenschein genommen wurde, daß es auch wirklich das war, was es zu sein vorgab. Auch diese Aktion blieb ohne Erfolg, aber der Gedanke, daß es an Bord der Parseval etwas gab, das Thorn dazu dienen konnte, eine Bombe zu zünden, trug nur noch mehr zur Steigerung der allgemeinen Nervosität bei.

Natürlich konnte Thorn, solange er in der Krankenabteilung lag, nicht viel anrichten.

Man hatte ihn eingeschlossen, und ständig standen zwei Wachen vor und hinter seiner Tür.

Jill sprach mit Cyrano über ein anderes Problem.

»Sam wird ein Höllenspektakel machen, wenn er erfährt, daß es für ihn hier rein gar nichts zu tun gibt – falls er diesen Ort überhaupt jemals erreicht. Es gibt einfach keine Möglichkeit, von einem Schiff aus auf den Turm hinaufzuklettern. Selbst wenn er das Unmögliche schaffen sollte, wüßte er immer noch nicht, wie er in das Ding hineinkommen könnte.

Möglicherweise befindet sich in den Reihen seiner Mannschaft der eine oder andere, der die Barriere durchdringen könnte, wenn er es erst einmal geschafft hat, auf die Landefläche hinaufzukommen. Aber selbst dann stellt sich noch die Frage, ob es diesem Mann nicht ebenso ergehen würde wie Piscator.«

»Was immer ihm passiert sein mag«, sagte Cyrano finster. Er hatten den Japaner beinahe ebenso gern gemocht wie Firebrass.

»Hat Firebrass dir auch von dem Laser erzählt, der auf der Mark Twain versteckt ist?«

Cyrano schien erst jetzt richtig zu erwachen. »Aha! Welch ein Trottel bin ich doch. Ja, natürlich hat er mir davon erzählt. Würde er mir Dinge verschweigen, die er dir erzählt! Ich wette um einen Kuß unter den Ringelschwanz einer Sau, daß er das niemals tun würde!«

»Nun, es ist vielleicht möglich, daß dieses Metall sogar einem Laserstrahl widersteht. Aber das können wir natürlich erst herausfinden, wenn wir es versucht haben, nicht wahr?«

Schlagartig blickte der Franzose wieder finster drein.

»Und wie lösen wir das Treibstoffproblem? Es ist nicht drin, daß wir einfach der Mark Twain entgegenfliegen, den Laser holen, hierher zurückkehren und anschließend auch noch den Flug nach Parolando schaffen. Dazu haben wir nicht genug Sprit.«

»Wir holen den Laser von der Mark Twain, kehren dann nach Parolando zurück, tanken auf und machen uns dann wieder auf den Rückweg.«

»Das wird eine Menge Zeit erfordern. Aber wahrscheinlich können wir gar nichts anderes tun. Was tun wir aber, wenn der hartherzige Sam Clemens uns seinen Laser nicht geben will?«

»Ich wüßte nicht, weswegen er das ablehnen sollte«, sagte Jill bedächtig. »Der Laser wäre die einzige Möglichkeit, in den Turm hineinzukommen.«

»Ah, ja, sicher. Aber damit sagst du, daß Sam Clemens sich der Logik beugen müßte. Er ist aber ein Mensch, und deswegen verhält er sich keinesfalls logisch. Aber wir werden sehen.«

Jill war von ihrer eigenen Idee so begeistert, daß sie plötzlich nicht mehr einsehen konnte, weshalb sie noch länger auf Piscator warten sollten.

Wenn er verletzt war oder von menschlichen oder mechanischen Gegnern festgehalten wurde, würde man ihn ohne den Laser jedenfalls nicht freibekommen.

Zuerst mußte jedoch Thorn verhört werden. Nachdem Jill Coppename angewiesen hatte, nichts zu unternehmen, bevor sie zurückkehrte, machte sie sich in Begleitung Cyranos auf den Weg in die Krankenstation. Thorn saß aufrecht im Bett. Sein rechtes Bein war mit einer Kette verbunden, deren anderes Ende am Bett befestigt war.

Als sie eintraten, sagte er nichts. Jill musterte den Mann schweigend. Sein Gesicht wirkte verschlossen und seine dunkelblauen Augen schläfrig. Er sah so stur aus wie Luzifer persönlich.

»Wollen Sie uns nicht sagen, welches Spiel hier gespielt wird?« fragte Jill.

Thorn gab keine Antwort.

Jill hatte dafür gesorgt, daß niemand ihm etwas über den Absturz des Helikopters erzählen konnte.

»Wir wissen, daß Sie die Bombe installiert haben. Sie haben Firebrass, die Obrenowa und alle anderen Leute in dem Kopter umgebracht.«

Thorn öffnete die Augen jetzt ganz, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Täuschte sie sich, oder spielte wirklich ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel?

»Sie sind des vorsätzlichen Mordes überführt, Thorn. Ich könnte Sie exekutieren lassen, und vielleicht werde ich das sogar tun. Es sei denn, Sie erzählen mir alles.«

Sie wartete ab. Thorn musterte sie.

»Wir wissen auch von den kleinen Kugeln, die sich in den Gehirnen von Firebrass und Anna befanden.«

Dies schien ihn getroffen zu haben. Thron wurde blaß. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Wurden Sie ebenfalls mit einem solchen Ding versorgt?«

Thorn stöhnte und sagte: »Man hat mich durchleuchtet. Glauben Sie, Firebrass hätte mich mitgenommen, wenn dem so wäre?«

 »Ich weiß nicht«, sagte Jill. »Immerhin hat er die Obrenowa auch akzeptiert. Warum sollte er sie in die Mannschaft aufnehmen und Sie ablehnen?«

Thorn schüttelte lediglich den Kopf.

 »Passen Sie auf. Wenn es sein muß, kann ich Graves sagen, er solle Ihren Schädel öffnen und sich das Ding in Ihrem Kopf einmal ansehen.«

»Sie würden damit nur Zeit vergeuden«, erwiderte Thorn. »Ich habe kein solches Ding im Gehirn.«

»Und ich glaube, daß Sie lügen. Welche Funktion haben diese Kugeln?«

Schweigen.

»Sie wissen es doch, oder nicht?«

»Was war Ihr Ziel, nachdem Sie den Helikopter stahlen?« fragte Cyrano.

Thorn biß sich auf die Lippen und sagte dann:

»Ich nehme an, Sie sind nicht in den Turm hineingelangt?«

Jill zögerte. Sollte sie ihm von Piscator erzählen? Konnte ihn diese Information zu einer Aussage verleiten? Sie konnte sich nicht vorstellen, was daraus erwachsen konnte, wenn sie ihm Dinge erklärte, von denen er noch nichts wußte. Aber hatte sie eine Wahl? Sie kannte nicht einmal die Stellung eines einzigen Teils in diesem gigantischen Puzzlespiel.

»Einer von uns ist hineingekommen«, sagte sie.

Thorn zuckte zusammen. Er wurde noch blasser.

»Einer? Wer war das?«

»Ich werde es Ihnen sagen, sobald Sie mir erzählt haben, was hier vor sich geht.«

Thorns Brustkasten blähte sich auf, als er einen tiefen Atemzug tat. Langsam stieß er die Luft wieder aus.

»Ich sage kein Wort mehr, ehe wir nicht die Mark Twain erreicht haben. Ich will mit Sam Clemens sprechen. Bis dahin werden Sie von mir kein Wort zu hören kriegen. Wenn Sie unbedingt wollen, können Sie mir ruhig meinen Schädel öffnen lassen. Aber das wäre grausam, würde mich möglicherweise töten und wäre völlig unnötig.«

Jill bedeutete Cyrano, ihr in den Nebenraum zu folgen. Als sie sich außerhalb von Thorns Sichtweite befanden, sagte sie: »Gibt es auf der Mark Twain einen Röntgenapparat?«

Cyrano sagte achselzuckend: »Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber sobald wir Funkkontakt mit dem Schiff haben, können wir das herausfinden.«

Sie kehrten an Thorns Bett zurück. Eine Minute lang starrte der Mann sie an. Er kämpfte offensichtlich mit sich selbst. Schließlich, als brächte er es nur unter größten Schwierigkeiten fertig, diese Frage zu stellen, sagte er: »Ist der Mann zurückgekehrt?«

»Hätte das irgendeine Bedeutung für Sie?«

Thorn erweckte den Eindruck, als wolle er etwas darauf erwidern. Statt dessen jedoch lächelte er nur.

»Na schön«, sagte Jill. »Wir kehren zur Mark Twain zurück. Ich werde wieder mit Ihnen sprechen, wenn wir dort angekommen sind; es sei denn, Sie hätten es sich inzwischen überlegt.«

Das Durchchecken der Instrumente dauerte eine Stunde, dann wurden die Seile eingeholt, und die Wächter kamen wieder an Bord. Cyrano übernahm den Pilotensitz und ließ die Parseval aufsteigen, während die Propeller sich aufrichteten, um dem Luftschiff zusätzliche Fahrt zu verleihen. Um den Verlust an Wasserstoff auszugleichen, wurde Wasserballast abgeworfen. Die den Turm umgebenden Aufwinde hoben das Schiff höher hinauf als nötig, aber Cyrano steuerte es wieder hinunter und hielt genau auf das Loch in der Polarbarriere zu, durch das sie gekommen waren.

Jill stand hinter der Bugscheibe und starrte in den Nebel hinaus.

»Bis bald, Piscator«, murmelte sie. »Wir kommen wieder.«

Die Windströmung schob das Schiff durch das Loch hinaus. Cyrano meinte, es werde wie ein Stück verdorbenen Fleisches vom Mund eines Riesen ausgespuckt, und verglich den Vorgang mit der Ungeduld eines Babys, das nicht mehr länger auf den Zeitpunkt der Geburt warten wollte und außerdem eine Mutter hatte, die nicht länger bereit war, die neun Monate alte Frucht noch weiter in sich zu tragen. Manchmal übertrieb der Franzose wirklich.

Die klare Luft, die Helligkeit der Sonne und das Grün der Vegetation außerhalb der Polarbarriere verleiteten sie beinahe dazu, in lautes Singen auszubrechen. Cyrano sagte grinsend: »Hätte ich jetzt keine Wache – ich würde tanzen! Ich kann mir nicht vorstellen, noch einmal mit freundlicheren Gefühlen an diesen finsteren Ort zurückzukehren.«

Sobald die Parseval eine bestimmte Höhe erreicht hatte, versuchte Aukuso mit der Mark Twain in Funkkontakt zu treten. Es dauerte keine Stunde, dann meldete er, daß die Verbindung stand.

Jill wollte gerade beginnen, Sam über den Ablauf der Ereignisse aufzuklären, als er ihr mit aufgebrachter Stimme ins Wort fiel und ihr Greystocks verräterischen Angriff schilderte. Obwohl diese Nachricht Jill einen großen Schock versetzte, dauerte es nicht lange, und Clemens detaillierte und mehr als ausführliche Schilderung ging ihr auf die Nerven. Immerhin war seinem Schiff so gut wie nichts geschehen; sie war diejenige, die einige wichtige Aussagen zu machen hatte.

Schließlich fand Clemens ein Ende.

»Ich hab’ den größten Teil meiner Wut jetzt verdaut«, knurrte er, »jedenfalls für den Augenblick. Aber sagen Sie, wieso sind Sie es, die mit mir sprechen? Wo steckt Firebrass?«

»Leider haben Sie mich nicht mehr als zwei Worte sagen lassen«, meinte Jill und erklärte ihm in allen Einzelheiten, was geschehen war, seit das Luftschiff das Loch in der Polarbarriere durchdrungen hatte.

Nun war Sam an der Reihe, schockiert zu sein. Aber abgesehen von einigen saftigen Flüchen unterbrach er ihren Bericht nicht.

»Firebrass ist also tot, und Sie glauben, er sei einer der Anderen gewesen? Vielleicht war er es aber trotzdem nicht, Jill. Sind Sie eventuell schon auf den Gedanken gekommen, daß diese kleinen schwarzen Kugeln möglicherweise einer ganzen Reihe von uns aus rein wissenschaftlichen Gründen eingepflanzt wurden? Daß vielleicht jeder Tausendste von uns mit diesem Ding ausgestattet ist? Ich habe zwar keine Ahnung, welchen Zielen diese Dinger dienen könnten, aber vielleicht verstärken sie die Gehirnwellen ihrer Träger, damit die Anderen sie aufzeichnen und für irgendwelche wissenschaftlichen Experimente verwerten können. Natürlich könnten sie auch dazu dienen, um ihre Träger in irgendeiner Weise von anderen Menschen zu unterscheiden.«

»Daran habe ich noch nicht gedacht«, gab Jill zu. »Ich wünschte mir, Sie hätten recht, Sam; ganz einfach deshalb, weil ich den Gedanken, Firebrass könne einer von ihnen gewesen sein, nicht ertragen kann.«

»Mir geht es genauso. Von Wichtigkeit ist im Moment allerdings, daß eine Expedition, die keine Möglichkeit hat, von der Luft aus in den Turm einzudringen, uns nichts einbringt. Ich habe diese beiden Schiffe also für die Affen gebaut. Nun, nicht nur für die Affen. Das Leben auf einem Schiff wie diesem läßt sich schon ertragen. Es bietet einem einen Luxus, den es anderswo nicht gibt – ausgenommen auf der Rex – und außerdem stellt es die schnellste Art der Fortbewegung dar, auch wenn man über kein bestimmtes Ziel verfügt. Aber ich habe König John noch nicht vergessen. Ich werde mich an seine Fersen heften und ihn für das, was er mir antat, zur Rechenschaft ziehen.«

»In einer Sache irren Sie sich, Sam«, erwiderte Jill. »Ich glaube, daß wir trotzdem in den Turm eindringen können. Alles, was ich dazu brauche, ist Ihr Laser.«

Die Geräusche, die Clemens von sich gab, hörten sich an, als leide er an einem Erstickungsanfall.

»Soll das etwa heißen… daß Firebrass Sie darüber informiert hat? Dieser gottverdammte, prinzipienlose, undankbare… Grrrr! Ich sagte ihm, er solle kein Wort darüber verlieren! Er wußte, wie wichtig es ist, daß diese Sache ein Geheimnis bleibt! Und jetzt weiß jedermann im Steuerhaus davon. Sie haben jedes Ihrer Worte mitgehört. Jetzt muß ich sie alle vergattern – aber wer garantiert mir, daß nicht einer von ihnen schwätzt? Wenn Firebrass jetzt hier wäre, würde ich ihn mit einer Hand am Hals packen und mit der anderen meine Zigarre auf seinem Arsch ausdrücken!« Dann fügte er hinzu: »Abgesehen davon hätten Sie auch warten können, bis Sie bei mir sind, bevor Sie diese Sache zur Sprache brachten. Ich weiß genau, daß Johns Funker uns seit Jahren abhören. Vielleicht haben sie jetzt herausgefunden, wie es um uns steht, und sperren inzwischen so gierig die Ohren auf wie ein Schwein die Nüstern, das ein Nest frischer Trüffel entdeckt hat!«

»Es tut mir leid«, antwortete Jill, »aber ich mußte darüber reden. Sie müssen einige Vorbereitungen treffen, damit wir den Laser übernehmen können, ohne zu landen.« Dann fügte sie hinzu: »Ich brauche ihn. Der Laser ist wahrscheinlich das einzige Mittel, mit dem wir in den Turm hineinkommen können. Ohne ihn wäre nicht nur unsere Arbeit, sondern auch der Tod mehrerer Menschen umsonst gewesen.«

Jill versuchte zu vermeiden, daß man ihrer Stimme den Ärger anhörte, den sie jetzt verspürte.

»Denken Sie darüber nach, Sam. Was ist Ihnen wichtiger: Rache an König John zu nehmen – oder das Rätsel dieser Welt zu lösen und herauszufinden, warum wir hier sind und wer dafür verantwortlich ist?

Nebenbei gesagt, ich sehe keinen Grund, warum Sie nicht beides haben sollten. Nachdem wir den Laser benutzt haben, erhalten Sie ihn sofort zurück.«

»Himmel, Arsch und Zwirn! Woher soll ich das wissen, daß die Parseval diese Aktion überhaupt überlebt? Vielleicht sind Sie und Ihre Leute die nächsten, die von den Anderen festgesetzt werden. Möglicherweise sitzen sie jetzt hinter ihrer sicheren Mauer und amüsieren sich über die Katze, die nicht zu ihnen hineinkommen kann. Aber glauben Sie denn allen Ernstes, diese Leute würden zusehen und abwarten, wenn Sie anrücken und versuchen, sie aus ihrer Konservenbüchse herauszuschneiden?

Sie werden zuschlagen und Sie schnappen, ebenso wie Piscator. Und was machen wir dann? Was ist überhaupt, wenn sich herausstellt, daß die Laserstrahlen dem Turm überhaupt nichts anhaben können?«

»Sie haben nur zu recht. Aber wir müssen es eben ausprobieren. Das ist der einzige Weg, es herauszufinden.«

»Na schön, na schön! Sie haben die Logik auf Ihrer Seite; aber wenn hätte die jemals eine Diskussion entschieden? Aber ich bin ein vernünftiger Mensch. Sie können den Laser haben!

Aber – und dies ist ein großes Aber, wie die Königin von Spanien zu Dan Sickles sagte – zuerst müssen Sie mir den Hundesohn John besorgen!«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sam.«

»Ich will damit sagen, daß Sie einen Überfall auf die Rex veranstalten sollen. Schicken Sie ihm während der Nacht eine Gruppe mit einem Helikopter auf den Hals und lassen Sie ihn hochnehmen. Ich würde es zwar bevorzugen, ihn lebend in die Finger zu kriegen, aber wenn das nicht möglich ist, soll er meinetwegen auch zur Hölle fahren!«

»Das wäre dumm und heimtückisch!« erwiderte Jill. »Wir könnten nicht nur den Kopter dabei verlieren, sondern auch die Männer, die an diesem sinnlosen Unternehmen beteiligt wären. Außerdem können wir es uns nicht erlauben, den Hubschrauber zu verlieren – von dem Leben der Männer abgesehen –, denn wir haben nur noch diesen einen.«

Die lange Rede hatte Sam ein wenig außer Atem geraten lassen, dennoch wartete er so lange, bis er wieder dazu in der Lage war, den Faden aufzunehmen. Seine Stimme klang jetzt sanft und eisig zugleich.

»Sie sind es, die sich jetzt dumm aufführt. Wenn John nicht mehr wäre, hätte ich auch keinen Grund mehr, mit meinem Schiff einen Angriff gegen die Rex zu fahren. Denken Sie doch nur an all die Leben, die wir dann verschonen würden! Sein Stellvertreter könnte das Kommando über die Rex übernehmen, und ich würde ihm sogar Glück dabei wünschen. Ich verlange nicht mehr, als daß John, nach allem, was er an Verbrechen begangen hat, nicht so einfach davonkommt und auch noch über das Schiff verfügt, für das ich nicht nur gelitten habe, sondern beinahe auch gestorben bin. Und vergessen Sie nicht, daß er außerdem versucht hat, auch dieses Schiff zu versenken!

Ich will diese jämmerliche Mißgeburt vor mir stehen haben, damit ich ihr genauestens erklären kann, was sie ist. Mehr nicht. Ich verspreche Ihnen, daß ich ihn nicht umbringen oder mißhandeln werde, wenn es das ist, was Sie an meinem Vorhaben stört. Herr im Himmel! Wieso sollten Sie überhaupt etwas dagegen haben?

Und wenn ich ihm meine Meinung gegeigt habe – es wird übrigens die größte und bestformulierteste Schimpfkanonade aller Zeiten werden und diesen Schurken mit einer gespaltenen Zunge zurücklassen –, werde ich ihn irgendwo an Land setzen. Natürlich da, wo Kannibalen leben oder Gralsklaverei betrieben wird. Das verspreche ich Ihnen, Jill.«

»Und was ist, wenn er bei dem Unternehmen ums Leben kommt?«

»Ich würde es bedauern.«

»Aber ich kann meinen Leuten nicht einfach den Befehl geben, sich auf eine solch gefährliche Mission einzulassen.«

»Ich würde niemanden darum bitten. Sehen Sie zu, ob Sie Freiwillige finden. Wenn Sie nicht genug Leute dafür haben, wäre das natürlich Pech, denn dann würden Sie den Laser nicht kriegen. Ich würde allerdings keinen Mangel an Helden voraussetzen. Wenn ich irgend etwas genau kenne, ist es die menschliche Natur.«

Cyrano schrie: »Es wäre mir eine Ehre, dabei mitzumachen, Sam!«

»Bist du das, Cyrano? Nun, ich muß zugeben, daß du nicht gerade einer meiner besten Freunde bist, aber wenn du’s machen willst, wünsche ich dir Glück. Und das ist ehrlich gemeint.«

Jill war so überrascht, daß sie eine ganze Weile keinen Ton herausbrachte.

Und das wollte der Mann sein, der behauptete, daß Mars der dümmste aller Götter sei?

Als sie ihre Stimmkraft wiederfand, sagte sie: »Warum tust du das, Cyrano?«

»Warum? Du vergißt wohl, daß auch ich mich an Bord der Nicht vermietbar aufhielt, als John und seine Piraten das Schiff an sich rissen. Sie brachten mich beinahe um. Es wäre eine herrliche Rache, mitanzusehen, was er für ein Gesicht macht, wenn ihm klar wird, daß er sich in seiner eigenen Falle gefangen hat und Piraten einen Piraten überfallen.

Hier geht es nicht um einen alle Lande überziehenden, unpersönlich geführten Krieg, den irgendwelche habgierigen, ruhmestrunkenen Einfaltspinsel inszeniert haben, die sich einen Dreck darum scheren, wie viele Leute dabei abgeschlachtet oder in den Wahnsinn getrieben werden, oder wer dabei an den Folgen von Hunger, Folter und Krankheiten stirbt. Hier haben keine Leute das Sagen, denen es gleichgültig ist, wie viele Frauen und Kinder dabei ihr Leben verlieren, wie viele Frauen geschändet und vergewaltigt werden oder als Witwe oder kinderlos zurückbleiben.

Nein, dies hier ist eine persönliche Sache. Ich kenne den Mann, gegen den ich meinen kleinen gut vorbereiteten Krieg führen werde. Und ebenso kennt ihn Clemens, ein Mann, der den Krieg ebenso verabscheut wie ich.«

Jill ließ sich auf keine Diskussion mit ihm ein. Er erschien ihr in diesem Moment wie ein kleines Kind, ein idiotisches Kind. Obwohl er die Schrecken und das Elend bewaffneter Auseinandersetzungen miterlebt hatte, wollte er immer noch Krieg spielen.

Jill hatte keine andere Wahl, als auf Sams Vorschlag einzugehen. Natürlich hätte sie ihm, da er keine Möglichkeit hatte, sie zur Rechenschaft zu ziehen, nicht gehorchen müssen. Aber wenn sie den Laser haben wollte – und den wollte sie haben –, blieb ihr nichts anderes übrig, als den Überfall auszuführen.

Ihre letzte Hoffnung, dem Unternehmen zu entgehen, zerstob im gleichen Moment, als sie um Freiwilligenmeldungen bat. Es meldeten sich so viele Männer, daß sie ohne Schwierigkeiten drei Helikopter hätte bemannen können, wenn sie darüber verfügt hätte.

Vielleicht, dachte Jill, war die Wache auf dem Turm für die Männer dermaßen frustrierend gewesen, daß sie sich nach nichts anderem sehnten als einem Gegner, der sichtbar war und kämpfen würde. Aber das war natürlich auch keine ernstzunehmende Erklärung.

Clemens hatte recht. Er kannte sich in der menschlichen Natur aus. Zumindest in der männlichen. Nein, auch das war nicht fair. In der Natur einiger Männer.

Es folgte eine einstündige Diskussion, in der Cyrano erklärte, er könne einige Rißzeichnungen der Rex anfertigen. Clemens gab schließlich zu allem seinen Segen, bestand jedoch darauf, daß man ihn sofort über den Ausgang des Überfalls informierte, wenn der Helikopter zurückkehrte.

»Falls er zurückkehrt«, sagte Jill.