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Jill gab den Befehl, das Schiff erneut loszumachen. Nachdem dies geschehen war, ließ sie die Mannschaft antreten. Während sie den Leuten bekanntgab, was geschehen war, wurden die Fotografien herumgereicht.

»Wenn es nicht anders geht, können wir eine Woche hier abwarten, aber dann wird es Zeit für uns. Piscator würde aus freiem Willen keineswegs so lange dort unten bleiben. Wenn er in spätestens zwölf Stunden nicht wieder auftaucht, müssen wir damit rechnen, daß sie ihn dort unten festhalten. Oder er hatte einen Unfall, wurde verletzt oder ist tot. Es gibt keinen Weg für uns, das herauszufinden. Uns bleibt nichts anderes übrig, als eine gewisse Zeitlang hier auf ihn zu warten.«

Niemand würde zu diesem Zeitpunkt bereits daran denken, Piscator aufzugeben, aber es war ebenso offensichtlich, daß kein Mitglied der Besatzung davon erbaut war, sieben Tage an diesem kalten, finsteren, nassen und unheimlich stillen Ort zu verbringen. Die Umgebung erinnerte sie alle zu stark an einen Campingplatz direkt vor den Toren der Hölle.

Inzwischen war der Helikopter Nr. 1 ausgebrannt. Eine Arbeitsgruppe, die die Toten bergen und die Ursache der Explosion herausfinden sollte, verließ die Parseval. Die Mechaniker untersuchten den anderen Hubschrauber, überprüften die Pontons und ersetzten das von einer Kugel zerstörte Steuerbordfenster.

Immer noch standen drei Mann im Innern des Bunkers Wache. Gerade als Jill sich in die Messe begeben wollte, erreichte sie ein Anruf von Dr. Graves.

»Thorn ist immer noch besinnungslos, aber er erholt sich allmählich. Ich habe mir inzwischen auch die Überreste von Firebrass’ Gehirn näher angesehen. Ich kann natürlich ohne Mikroskop nicht viel tun, aber ich würde einen Eid darauf ablegen, daß die kleine schwarze Kugel irgendwie mit dem Nervensystem seines Gehirns verbunden war. Natürlich habe ich auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß es erst während der Explosion in seinen Kopf eindrang, aber die Mechaniker sind sich hundertprozentig sicher, daß es im ganzen Helikopter kein Ding wie dieses Kügelchen gegeben hat.«

»Sie glauben, sie wurde auf chirurgischem Wege in sein Gehirn implantiert?«

»Es ist nicht genug von der Vorderpartie seines Schädels übriggeblieben, um das mit Sicherheit bestätigen zu können«, erwiderte Graves. »Aber ich werde auf jeden Fall auch die anderen untersuchen. Ich habe vor, die gesamte Helikoptermannschaft zu sezieren. Das wird allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen, zumal ich mich auch noch um Thorn kümmern muß.«

Jill versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken und sagte:

»Sind Sie sich dessen bewußt, was die Kugel bedeuten kann?«

»Ich habe eine Menge Zeit damit verbracht, über die Sache nachzudenken. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was diese Kugel zu bedeuten hat, außer daß sie ungeheuer wichtig ist. Wissen Sie, Jill, ich habe seit Jahren an allen möglichen Leuten Sektionen vorgenommen. Nicht etwa, weil es der Fall erfordert hätte, sondern ausschließlich deswegen, weil ich in Übung bleiben wollte. Aber ich habe in nicht einer Leiche von tausend etwas derart Ungewöhnliches gefunden.

Ich will Ihnen etwas sagen. Ich glaube, daß ich jetzt weiß, warum Firebrass darauf bestand, die Köpfe seiner Mannschaftsmitglieder durchleuchten zu lassen. Er hat nach Leuten Ausschau gehalten, in – oder auf – deren Gehirnen sich schwarze Kugeln dieser Art befanden. Es wird alles nur noch rätselhafter, nicht wahr?«

Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen unterbrach Jill die Verbindung.

Firebrass war einer von ihnen gewesen.

Kurz darauf rief sie Graves erneut an.

»Firebrass sagte einmal, er würde uns irgendwann erzählen, weswegen er uns röntgen ließ. Er hat es aber nie getan, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Kennen Sie seinen Grund?«

»Nein. Ich habe ihn zwar einmal danach gefragt, aber er wimmelte mich daraufhin ab.«

»Dann wissen Sie also auch nicht, ob auch Thorn eine solche Kugel in seinem Schädel hat. Wenn er sterben sollte, müssen Sie ihn öffnen, Doc.«

»Das werde ich tun. Ich könnte sein Gehirn natürlich auch jetzt schon freilegen, aber dazu ist noch nicht die richtige Zeit. Erst muß es ihm besser gehen.«

»Würde ihn das nicht umbringen? Ich habe davon gehört, daß man Patienten operativ den Schädel öffnet, aber heißt das, Sie könnten das auch ohne Grund tun?«

»Es wäre eine meiner leichtesten Übungen, Jill.«

Vierundzwanzig Stunden vergingen. Jill unternahm alles, um die Mannschaft beschäftigt zu halten, aber abgesehen von einigen Reinigungsarbeiten gab es nicht viel zu tun. Sie wünschte, man hätte einige der in Parolando produzierten Filme mitgenommen. Abgesehen von Kartenspielen, Schach und Pfeilwerfen gab es wenig, um die Leute bei Laune zu halten. Sie organisierte mehrere Übungen, damit die Mannschaft auf andere Gedanken kam, aber auch das konnte man nicht übertreiben, und abgesehen davon war diese Art des Zeittotschlagens beinahe ebenso langweilig wie Nichtstun.

Die Finsternis und Kälte schienen allmählich Einzug in die Knochen der Besatzung zu halten, und der Gedanke an die unbekannten Wesen, die für die Existenz dieser Welt verantwortlich waren und sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielten, trug ebenfalls nicht gerade dazu bei, die Stimmung zu heben. Was planten sie? Warum hatten sie sich bis jetzt noch nicht gezeigt?

Und am wichtigsten von allem: Was war mit Piscator geschehen?

Cyrano de Bergerac schien dieser unerträgliche Zustand am meisten zu treffen. Natürlich konnte seine plötzliche Schweigsamkeit und sein dumpfes Brüten auch auf den Tod Firebrass’ zurückzuführen sein. Jill hatte allerdings den Eindruck, daß ihn irgend etwas ganz gewaltig störte.

Dr. Graves bat Jill in sein Büro. Als sie eintrat, saß er auf der Ecke seines Schreibtisches. Er streckte den Arm aus und öffnete ohne ein Wort zu sagen seine Hand. Auf ihr lag eine winzige, schwarze Kugel.

»Sie waren derart verbrannt, daß ich auf den ersten Blick nicht einmal ausmachen konnte, welchem Geschlecht der Tote angehörte«, sagte er. »Da die Obrenowa die Kleinste an Bord war, untersuchte ich also die kleinste Leiche zuerst. Ich habe dieses Ding sofort gefunden. Ich habe bisher nichts gesagt, weil ich zuerst auch die anderen sezieren wollte. Sie war aber die einzige, die dieses Ding hier besaß.«

»Das macht also zwei!«

»Yeah. Und ich denke ständig an Thorn.«

Jill nahm Platz und steckte mit zitternden Händen eine Zigarette an. Graves sagte: »Hören Sie zu. Der einzige an Bord befindliche Alkohol steht in meinem Giftschrank. Er ist zwar nur für medizinische Zwecke gedacht, aber ich glaube durchaus, daß Sie jetzt einen Schluck vertragen können. Ich bin mir sogar sicher.«

Während er seinem Medizinschrank eine Flasche entnahm, erzählte Jill ihm von der Auseinandersetzung zwischen Thorn und der Obrenowa.

Graves reichte ihr einen Becher mit einer purpurfarbenen Flüssigkeit und sagte: »Sie waren also füreinander mehr als nur Leute, die sich guten Tag sagen?«

»Ich glaube, ja. Aber ich weiß nicht, was das alles bedeutet.«

»Wer weiß das schon? Ausgenommen vielleicht Thorn. – Prosit!«

Jill stürzte den wärmenden, nach Früchten schmeckenden Alkohol hinunter und sagte: »Wir haben weder in der Unterkunft der Obrenowa, noch in denen von Firebrass oder Thorn etwas Verdächtiges finden können.«

Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Eins ist mir allerdings aufgefallen – nicht durch Präsenz, sondern durch Abwesenheit. Wie bei dem Hund in der Sherlock-Holmes-Geschichte, der nicht bellte. Wir haben Thorns Gral weder im Innern des Hubschraubers, noch in seiner Kabine finden können. Ich habe allerdings angeordnet, daß man die Maschine einer weiteren gründlichen Untersuchung unterzieht. Vor ein paar Stunden sagten Sie, daß Thorn nun wieder bei Bewußtsein sei. Glauben Sie, daß man ihn schon verhören kann?«

»Auf keinen Fall lange. Ich rate Ihnen zu warten, bis er wieder etwas kräftiger geworden ist. Im Moment kann er, wenn er keine Lust zum Reden hat, immer noch Schlaf vortäuschen.«

Das Interkom klingelte. Graves legte einen Schalter um.

»Doktor? Hier spricht Cogswell. Ich möchte mit dem Kapitän sprechen.«

Jill sagte: »Hier bin ich.«

»Wir haben im Helikopter Nr. 2 eine Bombe gefunden, Kapitän. Plastiksprengstoff. Sie sieht aus, als wöge sie ungefähr zwei Kilogramm, und der Zünder ist mit einem Funkempfänger verbunden, der sich an der Unterseite der Waffensicherung im Heck befindet.«

»Unternehmen Sie nichts, bevor ich nicht bei Ihnen bin. Ich möchte einen Blick darauf werfen, ehe Sie es abmontieren.«

Jill stand auf. »Ich glaube, es besteht kein Zweifel mehr daran, daß Thorn auch für die Bombe in Firebrass’ Helikopter verantwortlich war. Die Untersuchungskommission hat zwar die Ursache der Explosion noch nicht festgestellt, aber der Chef der Gruppe hat von vornherein nicht ausgeschlossen, daß sie von einer Bombe hervorgerufen wurde.«

»Ja«, sagte Graves. »Aber die Frage ist, aus welchen Gründen Thorn so etwas tun sollte.«

Jill machte Anstalten, zur Tür zu gehen, blieb jedoch stehen. »Mein Gott! Wenn Thorn die Bomben in den Hubschrauber angebracht hat, können wir genauso gut welche in diesem Schiff haben!«

»Wenn Sie keine Fernsteuerung in seiner Kabine gefunden haben, als Sie sie durchsuchten«, sagte Graves, »dann kann sie nur anderswo auf der Parseval versteckt sein.«

Jill gab augenblicklich Alarm. Nachdem sie Coppename den Befehl erteilt hatte, Suchkommandos zusammenzustellen, eilte sie in den Hangar.

Die Bombe lag noch an der Stelle, die man ihr beschrieben hatte. Jill kniete sich hin und sah sie sich im Strahl einer Taschenlampe an. Dann verließ sie die Maschine wieder.

»Entfernen Sie den Zünder und den Empfänger und verstauen Sie das Ding in einer Halterung. Lassen Sie den Elektronikoffizier holen und fragen Sie ihn, auf welcher Frequenz das Signal zur Zündung hätte gegeben werden müssen. Ach, warten Sie, ich erledige das selbst.«

Jill wollte sichergehen, daß die Experimente des Elektronikers in einem abgeschirmten Raum stattfanden. Die verschiedenen Bomben – falls es noch weitere gab – konnten auf die gleiche Wellenlänge wie jene im Innern der Maschine Nr. 2 eingestellt sein. Von jetzt ab durfte nichts mehr dem Zufall überlassen werden.

Nachdem sie sichergestellt hatte, daß Deruyck, der Elektroniker, auch verstand, aus welchen Gründen er sich in einen abgeschirmten Raum begeben sollte, kehrte sie in die Kontrollgondel zurück. Coppename saß am Interkom und lauschte den Berichten der Suchkommandos.

Cyrano nahm den Pilotensitz ein und starrte auf die Armaturen, als befände sich die Parseval im vollen Flug. Als Jill die Brücke betrat, sah er auf.

»Ist es gestattet, nach der Diagnose Dr. Graves’ zu fragen?«

Jill hatte bis jetzt keinerlei Geheimnisse vor der Mannschaft gehabt. Sie war davon überzeugt, daß jedermann an Bord das Recht hatte, genauso viel zu wissen wie sie selbst.

Als sie geendet hatte, sagte Cyrano lange Zeit nichts. Seine langen Finger schlugen auf dem Armaturenbrett einen Takt, und er starrte an die Decke, als hätte jemand auf ihr eine wichtige Botschaft hinterlassen. Schließlich stand er auf.

»Ich glaube, wir sollten ein kleines Gespräch miteinander führen. Unter vier Augen. Und zwar jetzt, falls sich das ermöglichen ließe.«

»Jetzt? Bei diesem Trubel?«

»Wir können ins Kartenzimmer gehen.«

Er ging hinter Jill her und schloß die Tür. Während sie sich hinsetzte und sich eine Zigarette anzündete, ging Cyrano auf und ab. Er hielt die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

»Es ist offensichtlich, daß Firebrass, Thorn und die Obrenowa Agenten der Anderen waren, beziehungsweise sind. Ich kann es kaum glauben, daß auch Firebrass dazu gehörte. Er war so menschlich! Trotzdem ist es möglich, daß sie sich auch wie Menschen verhalten können.

Jenes Wesen allerdings, das sich selbst als Ethiker bezeichnete, behauptete, daß weder es selbst, noch die Agenten in irgendeiner Form gewalttätig seien. Die Anderen verabscheuten Gewalt. Aber Firebrass konnte sehr gewalttätig werden. Er hat sich bestimmt niemals wie ein Pazifist aufgeführt. Und außerdem war da noch diese Sache mit dem Neuankömmling namens Stern. Wenn ich von dem ausgehe, was du mir erzählt hast, sieht es eher so aus, als hätte Firebrass Stern und nicht etwa dieser Firebrass angegriffen.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte Jill. »Es wäre vielleicht besser, noch einmal von vorn zu beginnen.«

»Na schön. Ich werde dir jetzt etwas sagen, obwohl ich versprochen habe, es geheimzuhalten. Es fällt mir gewiß nicht leicht, mein Wort zu brechen, und ich tue es jetzt zum erstenmal. Aber ebenso gut kann es möglich sein, daß ich mein Wort jemandem gegeben habe, der in Wirklichkeit mein Feind ist.

Es ist siebzehn Jahre her. Das ist eine lange Zeit, und dennoch scheint es mir, als sei es gestern gewesen! Ich lebte damals in einem Gebiet, dessen Bewohner zum größten Teil aus meiner Heimat und meiner Zeit stammten. Auf dem rechten Ufer, sollte ich dazu sagen. Auf dem linken lebten braunhäutige Wilde; Indianer, die auf Kuba lebten, bevor Kolumbus dortgewesen war, und ich glaube, diese Leute hatten es noch nicht einmal gemerkt, daß sie jetzt an einem anderen Ort waren. Sie waren äußerst friedfertig, und nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten kam das Gebiet wieder zur Ruhe.

Der kleine Staat, in dem ich lebte, wurde vom Großen Conti, unter dem ich bei der Belagerung von Arras zu dienen die Ehre hatte, geleitet. Dabei zog ich mir eine Wunde an der Kehle zu; die zweite übrigens, die man ernsthaft nennen konnte, abgesehen von den vielen kleineren, derer ich teilhaftig wurde in all den Kriegen und Schrecken, die in mir die Ansicht verdichteten, daß Mars der dümmste aller Götter sein muß. Gleichfalls aber hatte ich das Vergnügen, dort meinen guten Freund und Lehrmeister, den berühmten Gassendi zu finden. Er hatte, wie du sehr wohl weißt, Ansichten, die denen des berüchtigten Descartes widersprachen, und er erweckte Epikur, dessen Physik und Moral er beispielhaft repräsentierte, zu neuem Leben. Gar nicht zu reden von seinem Einfluß auf Möllere, Chapelle und Dehenault, die – nebenbei gesagt – ebenfalls gute Freunde von mir sind. Er regte sie dazu an, Lukrez, den göttlichen römischen Atomisten, zu übersetzen…«

»Komm zur Sache! Sag mir nichts als die nackte Wahrheit!«

»Was die Wahrheit anbetrifft, um ganz kurz einen anderen Römer zu zitieren…«

»Cyrano!«