17
Jacks Gesicht schwebte über ihr. Es war mit keinem Körper verbunden, sondern bewegte sich hin und her wie ein Ballon. Das rotgelockte Haar, sein hübsches, breites Gesicht, die strahlendblauen Augen, sein festes Kinn, die vollen Lippen, sein Lächeln…
»Jack!« murmelte sie. Das Gesicht verschwand, wurde zu einem anderen, das auch über einen Körper verfügte.
Auch dieses Gesicht war breit und gutaussehend, aber mit hohen Wangenknochen, schwarzen, leicht schräggestellten Augen und von schwarzem, glattem Haar gerahmt.
»Piscator!«
»Ich hörte Sie schreien.« Er beugte sich vor und nahm ihre Hände. »Können Sie aufstehen?«
»Ich glaube schon«, sagte sie zitternd. Mit seiner Hilfe war es kein Problem. Erst jetzt stellte Jill fest, daß das Gewitter aufgehört hatte. Es regnete auch nicht mehr, obwohl es von der Dachrinne herab noch immer tröpfelte. Die Tür war geöffnet, draußen herrschte Finsternis. Wolken bedeckten die Sterne. Nein, dort war die Silhouette eines Berges auszumachen. Die Wolken begannen aufzureißen. Jill sah hinter ihnen eine samtene Schwärze, in der langsam die leuchtenden Gasnebel und die gewaltigen Sternhaufen sichtbar wurden.
Gleichzeitig fiel ihr auf, daß sie nackt war. Sie sah an sich herab und stellte fest, daß ihre Brüste dermaßen gerötet waren, als seien sie zu nahe an einem Feuer gewesen. Noch während sie darauf starrte, wurden die Rötungen allmählich schwächer.
Piscator sagte: »Ich dachte zuerst, Sie hätten sich verbrannt, weil ihre Brüste und Ihre Schamgegend dermaßen gerötet und geschwollen waren. Aber ich habe von einem Feuer keine Spur entdecken können.«
»Das Feuer kam von innen«, sagte Jill. »Es war in mir. Traumgummi.«
Piscator zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Ach so.«
Jill lachte.
Er führte sie zu ihrer Liege, auf die sie sich mit einem wohligen Seufzer fallen ließ. Die Hitze in ihrer Vagina begann nun abzuebben und machte einem wohligen Gefühl Platz. Piscator beschäftigte sich damit, sie zuzudecken, und brachte ihr einen Becher voll Regenwasser aus der Tonne, die vor der Hütte stand. Jill trank das Wasser, hielt den Becher mit einer Hand und stützte sich dabei mit der anderen ab.
»Danke«, sagte sie. »Ich hätte wirklich besser wissen müssen, wozu der Traumgummi führt. Ich hatte Depressionen, und wenn ich in derartige Stimmungen gerate, kommt dabei meistens etwas Ungewöhnliches heraus. Es war alles so ungeheuer real und schrecklich. Obwohl die ganze Vision schier unglaublich war, habe ich sie nicht einen Moment lang in Frage gestellt.«
»Die Chancisten benutzen Traumgummi in ihrer Therapie, aber niemals ohne Beaufsichtigung«, sagte Piscator. »Es scheint hin und wieder zu heilsamen Resultaten zu führen. Aber wir benutzen ihn lediglich während des Grundstadiums der Erziehung bei einigen Leuten.«
»Wir?«
»Al Ahl al-Hagg, die Jünger des Wirklichen. Die ihr Abendländler Sufis nennt.«
»Das dachte ich mir.«
»Das sollten Sie auch, nachdem wir uns darüber bereits einmal unterhalten haben.«
Jill schnappte nach Luft und fragte: »Wann soll das gewesen sein?«
»Heute morgen.«
»Es muß an dem Gummi liegen«, erwiderte Jill. »Ich bin fertig damit. Ich werde von diesem verdammten Zeug nichts mehr nehmen.«
Sie setzte sich auf und sagte: »Sie werden doch Firebrass nichts davon erzählen – oder?«
Piscator lächelte jetzt nicht mehr. »Sie haben gerade eine ziemlich starke psychische Störung gehabt. Das Resultat waren Beinahe-Verbrennungen; Stigmata, die ihr Körper auf psychische Reize hin hervorbrachte… Nun…«
»Ich werde das Zeug nicht mehr nehmen. Das ist kein leeres Versprechen, das sollten Sie wissen. Ich bin keinesfalls süchtig danach. Und ich bin geistig durchaus stabil.«
»Sie sind zutiefst verstört«, sagte Piscator. »Sei ehrlich, Jill. Du hast doch nichts dagegen, daß ich dich duze, oder? Hast du schon öfter solche Zustände gehabt? Wenn ja, wie oft und wie stark waren sie? Und wie lange hielten sie an? Wie lange brauchtest du jeweils, um dich von ihnen zu erholen?«
»Es war das erste Mal«, sagte Jill.
»Na gut. Ich werde darüber schweigen, solange es sich nicht wiederholt. Und du wirst ehrlich mit mir sein und mir sagen, wenn es sich ein zweites Mal ereignet, nicht wahr? Du würdest doch das Schiff nicht deswegen in Gefahr bringen wollen, nur weil du nicht darauf verzichten willst, mit auf die Reise zu gehen?«
»Natürlich würde ich das nicht wollen«, erwiderte Jill zögernd.
»Gut, dann belassen wir es dabei.«
Jill stützte sich erneut auf einen Ellbogen. Sie ignorierte die Tatsache, daß die Decken verrutschten und eine ihrer Brüste entblößt war.
»Schau, Piscator. Sei ehrlich. Wenn man dir einen Rang geben würde, der unter dem meinen liegt – was sehr gut passieren könnte, wenn Firebrass die Positionen wirklich nach den Erfahrungen der einzelnen verteilt –, würde es dir ein Minderwertigkeitsgefühl verschaffen?«
»Nicht im geringsten«, sagte er lächelnd.
Jill legte sich zurück und zog die Decke herauf. »Du entstammst einem Kulturkeis, in dem die Frauen generell eine minderwertige Position einnahmen. Eure Frauen hatten kaum mehr Rechte als eure Haustiere. Si…«
»Das gehört alles der Vergangenheit an, die nicht nur weit von uns entfernt, sondern auch längst tot ist«, erwiderte Piscator. »Des weiteren war ich an sich nie der typische Mann Japans. Du solltest dich davor hüten, in Vorurteile zu verfallen. Hast du nicht dein ganzes Leben lang dagegen gekämpft, gegen Vorurteile, meine ich?«
»Das stimmt«, sagte Jill. »Aber es ist eben auch bei mir ein bedingter Reflex.«
»Ich glaube, das habe ich dir auch schon einmal gesagt. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Du solltest lernen, in anderen Kategorien zu denken.«
»Und wie soll ich das anstellen?«
Piscator zögerte. Dann sagte er: »Du wirst es selbst herausfinden, wenn du dich nur bemühst.«
Jill wußte, er wartete darauf, daß sie ihn bat, sie als seine Schülerin zu akzeptieren. Aber sie hatte keinerlei Absichten dieser Art, denn sie glaubte nicht an organisierte Religionen. Obwohl der Sufismus keine Religion darstellte, waren seine Mitglieder dennoch religiös. Zumindest gab es keinen atheistischen Sufisten.
Und sie war Atheistin. Obwohl man ihr ein zweites Leben geschenkt hatte, glaubte sie nicht an einen Schöpfer. Zumindest nicht an einen, der an ihr oder irgendeiner anderen Kreatur persönlich interessiert war. Die Leute, die an eine Wesenheit glaubten, die die Menschheit als seine Kinder ansah – wieso war ein solches Wesen überhaupt immer ein er, und nicht, wie es sich für eine geschlechtslose Gottheit geziemte, ein es? –, machten sich selbst etwas vor. Gottgläubige mochten zwar intelligent sein, aber geistig gesehen waren sie unwissend. Ihre für das kritische Betrachten von Religionen zuständigen Gehirnwindungen waren irgendwie lahmgelegt worden. Oder die religiösen »Schaltkreise« hatten keinerlei Verbindung mit denen des allgemeinen Intellekts.
Das war ein schlechter Vergleich. Die Leute benutzten ihren Intellekt, um jenes unintellektuelle, auf reinen Emotionen basierende Phänomen namens Religion zu rechtfertigen. Hin und wieder sogar brillant. Aber soweit es sie anging, in völlig unnützer Form.
Piscator sagte: »Du solltest jetzt schlafen. Wenn du meine Hilfe brauchst, zögere nicht, nach mir zu rufen.«
»Du bist kein Arzt«, sagte Jill. »Warum solltest du…«
»Du hast ein gewisses Potential. Und obwohl du dich manchmal wie eine Närrin benimmt, bist du doch nicht dumm. Trotzdem hast du dich von Zeit zu Zeit selbst hereingelegt und tust es manchmal heute noch. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Er verbeugte sich und ging, die Tür hinter sich schließend. Jill wollte ihn zuerst zurückhalten, doch dann tat sie es doch nicht. An sich hätte sie ihn fragen sollen, was er ausgerechnet in jenem Moment, in dem sie Hilfe benötigte, in der Nähe ihrer Hütte getan hatte. Aber jetzt war es zu spät. Und wohl auch nicht wichtig. Aber dennoch… was hatte er bei ihrer Hütte gesucht? Ob er mit der Absicht gekommen war, sie zu verführen? Eine Vergewaltigung stand natürlich außerhalb jeglicher Spekulation. Sie war größer als er, und obwohl er möglicherweise einige ausgefeilte Kampftechniken beherrschte, wäre es schwer für ihn gewesen, gegen sie anzukommen. Außerdem konnte er nicht das Risiko eingehen, von ihr angeklagt zu werden. Damit wäre seine mögliche Position als Luftschiffoffizier unweigerlich dahin.
Nein, wahrscheinlich traf keine dieser Vermutungen zu. Piscator war einfach nicht der Typ von einem Mann, dem man derlei Dinge zutrauen konnte. Andererseits: Waren sie, gleichgültig, wie nett sie sich einer Frau gegenüber verhielten, nicht alle gleich? Nein, Piscator hatte – es gefiel ihr nicht, den ungenauen und unwissenschaftlichen Ausdruck zu benutzen – eine Ausstrahlung, die ihn von den anderen unterschied.
Auf jeden Fall verbreitete er nicht die Strahlung, die man gemeinhin als mies bezeichnete.
Erst jetzt fiel ihr auf, daß er sie gar nicht nach ihrem Alptraum gefragt hatte. Wenn er neugierig gewesen war, hatte er es jedenfalls ausgezeichnet verstanden, ihr dies nicht zu zeigen. Möglicherweise hatte er auch angenommen, daß sie ihm ihre Erfahrungen freiwillig mitteilen würde, sollte ihr danach zumute sein. Er war ein sehr empfindsamer Mensch und ziemlich einfühlsam.
Aber was bedeutete dieser schreckliche Angriff Jacks? Daß sie sich vor ihm fürchtete – oder generell vor allen Männern? Vor dem männlichen Geschlecht? Vor jeder Art von Sex, wenn sie nur männlich war? Sie konnte es nicht glauben. Aber die Illusion (Selbsttäuschung? Heimsuchung?) hatte ihr sichtbare Haß- und Zerstörungsgefühle offenbart. Nicht generell gegenüber Männern und Jack im besonderen. Zwar hatte sie ihn verbrannt, aber gleichzeitig war sie mit in Flammen aufgegangen und hatte sich in gewissem Sinne sogar selbst vergewaltigt. Aber das ergab keinen Sinn. Sie wußte genau, daß sie sich nicht unterbewußt wünschte, vergewaltigt zu werden. Nur eine geistig abnormale Frau konnte sich so etwas wünschen.
Haßte sie sich selbst? Die Antwort lautete: Ja, hin und wieder. Aber wer tat das nicht?
Einige Zeit später sank sie in einen unruhigen Schlaf. Einmal träumte sie von Cyrano de Bergerac. Sie schlugen mit Degen aufeinander ein. Die kreisende Spitze seiner Waffe schien sie zu hypnotisieren, dann flog ihre eigene Klinge in die Luft, und Cyrano versenkte seine Waffe tief in ihren Nabel. Als er die Klinge wieder herauszog, sah sie überrascht an sich herunter. Ihr Nabel blutete nicht. Statt dessen schwoll er an, wurde dicker – und schließlich stieß aus der Geschwulst ein kleiner, drohender Dolch hervor.