Mutter hatte ihr Leben lang vor allem Angst gehabt und bis zuletzt eine eingeübte Selbstsicherheit an den Tag gelegt, hinter der sie sich meine ganze Kindheit und Jugend über versteckt hielt. Allen anstehenden Entscheidungen, allen noch so geringfügigen Veränderungen war sie mit einer hinter dick aufgetragener Fürsorge getarnten Mutlosigkeit ausgewichen. Ihre Lebensvermeidungstaktiken hat sie uns eingeimpft mit jeder Geste, jeder Mahnung. Sie hat uns in Schach gehalten mit ihrer Angst, hat sich auf unsere Kosten geängstigt.
Im Stift aber, mit ihren Kaffeedamen und Opernfreunden, hatte Mutter noch einmal – zu allem entschlossen – Anfang gespielt: Nachmittags versprühte sie Lebensfreude in ihrer Literaturrunde, und neuerdings modulierte sie ihre Stimme in einen falschen jugendlichen Hochton. Unterdessen fuhren wir dem Ende einer Reise entgegen, das wir uns so nicht vorgestellt hatten. Es war, als zöge sich in unserem Fahren all das Erlebte, Vergangenheit und Gegenwart, zu einem einzigen endlosen Augenblick zusammen.
Früh haben wir die Uneinlösbarkeit unserer Träume und Wünsche beigebracht bekommen, haben die Enttäuschung geschluckt wie unser tägliches Brot, sie als unverdauliche Kost hinuntergewürgt, bis sie sauer wieder hochkam und uns den Atem nahm.
Sollte ich in der Schule etwas über meinen Vater sagen, dann konnte ich mich oft nicht zu der ganzen Wahrheit durchringen. Doch was war eigentlich die Wahrheit? Daß er sich am Ende seines Zahlendaseins verrechnet hatte? Daß er ein Nazi gewesen war, ohne es sich selbst einzugestehen, und ihn zuletzt ein Strom aus Scheiße fortgerissen hatte? Und was konnte ich über den Rest der Familie sagen? Daß eine Serie kleinerer Herzinfarkte Onkel Viktors Herz wie einen Schweizer Käse durchlöchert hatte, Toni die schnelle Lösung einem quälenden Tod auf Raten vorgezogen hatte, oder daß Leni nun gegen Dämonen kämpfte, die in ihrem Körper wüteten? Immer wieder schickte ich Stoßgebete in die Dunkelheit, wenn sich Leni verkrampfte neben mir, sich hin- und herwarf und der Schmerz tiefe Kanten in ihr blasses Gesicht schnitt. Ohne Unterlaß drosch der Regen auf die Scheibe, ein Rasseln und Trommeln, gegen das die Wischer ankratzten, bis der Wind drehte, die Bäume ihre Häupter im Sturm neigten und Böen von der Seite gegen den Wagen drückten und uns immer wieder abtrieben aus unserer Spur.
Wir hatten viele Kilometer zurückgelegt, hatten uns durch Hitzetage gequält und in staubigen Hotelzimmern in den Schlaf gewälzt. Jetzt waren es nur noch ein paar Stunden, die uns von dort trennten, wo wir vor Wochen aufgebrochen waren. Grau hing der Regen im Scheinwerferlicht. Schneller als Hundert wollte ich nicht fahren, ruhig stand die Tachonadel hinter der kleinen, matt leuchtenden runden Scheibe.
Schlingernd tanzte der Datsun über Wasserlachen, daß ich ein paar Mal glaubte, die Kontrolle zu verlieren, als Leni plötzlich hochfuhr und heftig zu röcheln begann, sich wild auf die Brust schlug und gleich darauf, wie aus schlechten Träumen erwacht, in den Sitz zurückfiel. In immer kürzeren Abständen stemmte sie sich gegen den Schmerz, der sie hochtrieb und niederschlug, hob und zurückwarf.
Ich lenkte den Wagen herunter von der Autobahn und steuerte ihn in eine unbeleuchtete Haltebucht. Hastig sprang ich heraus in den Regen, lief um den Wagen herum, und als ich die Tür aufriß und nach ihr griff, traf mich ihr schmerzerfüllter Blick. Ich brüllte, soviel weiß ich noch, bis zuletzt auf sie ein.
Der Falter taumelte gegen das braune Sideboard, klatschte gegen die Plattentruhe. Immer wieder schlug die Hand nach ihm, wenn er sich zu fangen schien und von neuem hochstieg.
Ihr Gesicht ganz weiß.
Die dunklen Flügel hatten unter den Schlägen Staub verloren. Wieder knallte das kleine Tier gegen die Wand, trudelte gegen die Stehlampe, fiel auf den Teppich, flatterte wie wild ein letztes Mal auf und gegen einen Stuhl.
Sie hörte auf, Leni zu sein.
Mit einem letzten gezielten Hieb hatte die Hand über den Falter triumphiert. Dann stürzte er erneut auf den Teppich zurück. Die glasigen, geschlossenen Flügel des Falters vibrierten.
Ihr Kopf war seitlich weggekippt. Das Röcheln war verstummt.
Die Beinchen verkrallten sich zitternd in den eigenen Tod.
In kleinen Spiralen lagen die Haare auf ihrer Wange.
Noch immer spulte sich der lange Rüssel zu einem Faden auf, der sinnlos ins Leere stocherte.
Schlaff hingen ihre Arme herunter. Das T-Shirt war ihr ein Stück über den Bauchnabel gerutscht, ein letztes Mal zuckte der kleine Körper kurz und heftig auf, wobei man die dicken Adern in den licht gewordenen Stellen sah. Dann wurde es still.
Leni ist nicht mehr zu sich gekommen. Ich habe gar nicht lange überlegt; es gab nur noch eins, das ich für sie tun konnte.
Den ersten blauschwarzen Eisvogel, den ich als Junge sah, hielt ich für einen Trauermantel. Doch nachdem er sich gegen seine Gewohnheit und nach langem Zögern auf einem Stein niederließ, habe ich ihn erkannt, und sein Schillern hat sich mir unauslöschlich eingeprägt.
Eisvögel sind keine Trauermäntel. Sie brauchen das Zwielicht feuchter Waldwege und die Geborgenheit luftiger Baumkronen. Wer einen Eisvogel für einen Trauermantel hält, hat keine Ahnung. Vorsichtig machte ich die Tür auf ihrer Seite wieder zu.
Aus dem Regen war ein schwaches Nieseln geworden. Ich blieb einen Moment lang stehen. Es roch wie in einem Treibhaus. Um mich herum lagen unsichtbar die Ebenen und führten fernab durch die Nacht, sammelten sich zu Anhöhen, erhoben sich später zu Bergen, kreuzten baumbestandene Straßen, führten zu unbekannten Städten.
Später auf der Autobahn lag ihr Körper ruhig und friedlich neben mir, so als schliefe sie. Bei der nächsten Ausfahrt fuhr ich ab, der Blinker rastete wieder ein.