Wir stritten uns nun immer häufiger. Lenis Rauchen fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Feindselig und in sich zurückgezogen belauerte sie mich.
Wir hatten geplant, noch einmal durch Amsterdam zu streifen, doch nun wollte sie nicht mehr. Sie blieb immer wieder stehen, und als sie nicht aufhörte, herumzunörgeln, ließ ich sie stehen und lief los. Unwillig gab sie schließlich nach und folgte mir.
Als wir an einem Laden vorbeikamen, in dessen Auslage Drucke und alte Stiche in der Sonne bleichten, und Leni auf den Druck mit den Mondspinnern zeigte, da fühlte ich mich einen Moment lang versöhnt und wieder am richtigen Ort.
Wie eine Marionette hob die Frau müde den Kopf über der Zeitung, als wir den Laden betraten. Leni verschwand sofort hinter einer der Bücherwände. Überall stapelten sich Bücher, vor den Regalen, neben alten Zeitschriftentürmen und unter und über ausgeklügelt integrierten kleinen Holzvitrinen, in denen schwere Folianten aufgeschlagen im matten Glühbirnenlicht lagen.
Über einen wackligen Treppenaufgang und eine daran angeschlossene, improvisierte Traverse gelangte man auf die Galerie, von wo aus man einen guten Blick über den Laden hatte. Unten hatte sich Leni in einen alten Sessel fallen lassen, wo sie über einem Atlas brütete und mit dem Finger irgendwelche Flußläufe oder Landesgrenzen nachzog.
Leni liebte alles, was mit Geographie zu tun hatte. Schon in der zweiten Klasse zeigte sie Interesse an fremden Ländern, Flüssen und Landkarten. Auch konnte sie Stunden damit zubringen, Phantasielandkarten in ihr Ringbuch zu malen und in ihrer krakeligen Schrift erfundene Städtenamen daneben zu schreiben; oder kleine Bildchen vom Main oder der Kinzig aus Prospekten auszuschneiden und neben die mit Buntstiften abgepausten Flußverläufe zu kleben.
Später, als aus der Heimatkunde das Fach Erdkunde geworden war, da konnte sie von der Sahel-Zone oder dem Atlasgebirge erzählen. Ihre Fähigkeit, sich den Verlauf eines Flusses irgendwo auf der Weltkarte fotografisch genau merken und wie aus der Pistole geschossen beschreiben zu können, hat mich oft erschreckt, denn ebenso zäh, wie ihr Erinnerungsvermögen sich gegen das Vergessen irgendwelcher Städtenamen stemmte, konnte sie einem mit harter Miene noch nach Jahren jedes böse Wort wiederholen, das irgendwann einmal im Streit gegen sie gefallen war.
Und spielten wir als Kinder »Stadt-Land-Fluß«, so stand der Sieger jedesmal bereits vorher fest. Viel schneller als wir anderen, füllte sie die Spalten ihres Blattes mit Begriffen, trug in Windeseile Städte- und Flußnamen ein. Und rief sie »Stop«, dann mußten wir augenblicklich unsere Stifte fallen lassen, funkelten ihre Augen vor Erregung.
Die Antiquarin war bald wieder in ihre Zeitung vertieft, bis ich sie auf englisch auf den Mondspinner-Druck in der Auslage ansprach und nach anderen Schmetterlingsdarstellungen fragte und sie spontan auf deutsch antwortete, was mich überraschte. Und, wie es schien, auch sie selbst.
Sie sprach in jenem leicht schleppenden, mir nur allzuvertrauten Slawendeutsch, wie ich es von Onkel Viktor viele Jahre täglich gehört hatte; dieser aus den Backentaschen kommende, mild raunende Singsang, der die Silben leicht zischend bläht und sich als eigenartig vertraueneinflößende Klangschale kurz und hart um die Worte legt.
Mit trägen Augen suchte sie auf meine Frage hin die Buchreihen ab, bis sie sich erhob, in einer Seitentür neben einem überladenen alten Sekretär verschwand und mir kurz darauf eine Mappe mit Drucken vorlegte, handkolorierte, stockfleckige Blätter, die in Plastikhüllen steckten.
Ich konnte meine Neugierde nicht unterdrücken und fragte sie, woher sie käme, was sie mit einem knappen »aus Krakau« quittierte. Verunsichert, ja eingeschüchtert schaute sie dabei zu Boden. Ihre ganze Erscheinung wirkte seltsam ungebunden, geistesabwesend und doch angespannt; der enge, unmoderne Hosenanzug, dazu die leicht fleckigen, ockrigen Spinnenfinger, mit denen sie sich ab und zu an die Stirn tippte, verstärkten diesen Eindruck noch. Ihre hohen Wangenknochen und die breite Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen ließen mich an Onkel Viktors polnische Freundin Olga denken, die früher regelmäßig mit ihrem Mann Andrzej und ihrer Tochter Eva zu uns zu Besuch kam und häufig einen ganzen Rattenschwanz wildfremder Polen mitbrachte.
Im Korso fuhr man raus in den Spessart zum Pilzesammeln, worin die Wierschomierskis wahre Spezialisten waren. Hinterher roch es in unserer Wohnung tagelang nach getrockneten Pilzen, die Onkel Viktors Mutter Henriette aus Wien, wenn sie zufällig auch da war, auf Zeitungspapier in Antonias altem Zimmer ausbreitete. Dann gab es Powideltascherln und Mohnknödel, Kartoffelnudeln und Kaiserschmarrn, daß einem die Augen überliefen, oder mit Zwiebeln und Speck geschmorte Butterpilze und selbstgemachte Spätzle. Viktors Mutter Henriette war eine gebürtige Wienerin, eine kantige, starrköpfige Besserwisserin, die in meiner Erinnerung eines Tages für immer davongefahren ist in einem Schnellzug nach Wien.
Olga Wierschomierski dagegen hatte etwas von einer polnischen Fernsehansagerin, wenn sie ihr Mündchen spitzte, um ein Schlückchen Eierlikör zu schlürfen, oder nach jedem gelungenen Satz kokett ihren Pagenkopf schüttelte, daß die strohblonden Strähnen zitterten.
Eigentlich interessiert hat mich aber nur Eva, Tante Olgas Tochter, eine kleine Schönheit, die sich in ihrem Teenagerspeck lasziv auf unserer Wohnzimmercouch lümmelte und dabei so tat, als schlafe sie mit offenen Augen. Ihr dicker, runder Busen ist noch lange danach durch meine Jungenträume gespukt, wenn ich in meinen nächtlichen Phantasien mit ihr auf einem Pferdekarrussel im Kreis fuhr und sie sich mit großen Augen meine viel zu kleinen Hände auf die nackten Brüste legte.
Und doch schnitt sie jedesmal genervt Grimassen, wenn Onkel Andrzej nach dem fünften Sliwowitz anfing, sie vor allen anderen neckisch »Pony« zu nennen und ihr Klapse auf den Po zu geben oder mit zweideutigen Bemerkungen ihre frühreifen Rundungen zu preisen. Tante Olga machte meist gute Miene zum bösen Spiel, markierte eine operettenhafte Empörung, wobei sie die pinselstrichdünnen Brauen hochzog, daß sich alle auf die Schenkel schlugen und Onkel Viktor vergnügt an seiner Rothändle zog.
Evas Busen war einfach wunderbar – zwei herrlich runde Bälle, über denen dünne Stoffe spannten und die auf meine Blicke lauerten. Obgleich Eva eher träge war, ihre Brüste, das wußte sie, machten sie zu einer Attraktion. Und nicht nur für mich, sondern auch für Onkel Viktor, der sein Begehren nur schwer verbergen konnte und Mutter damit oft beschämte.
Kamen die Polen zu Besuch, meist an den Samstagen, erfüllte bald ein glückseliges Heimweh unsere Wohnung. Dann wurde hitzig palavert, Onkel Viktor packte seine Mandoline aus, und man sang polnische Lieder, die Aschenbecher quollen über, und ich mußte immer neue Bierflaschen aus dem Schuppen im Garten herbeiholen, bis Onkel Viktor die zweite Flasche Sliwowitz auf den Tisch stellte und alles in immer neuen Freundschaftsbekundungen und Verbrüderungen endete. Danach atmete unsere Wohnung Wärme, Schweiß und Kummer, und die polnischen Sätze hingen wie fernwehgetränkte Girlanden über unseren Köpfen.
Gegen Eva wirkte Leni wie eine Porzellanpuppe, die in ihrer eigenen Sprachlosigkeit trieb. Denn Eva schien regelrecht zu galoppieren, wenn die Worte aus ihrem Schmollmund kamen; und da, wo ihr Busen bei jeder Bewegung unübersehbar wogte, wölbten sich bei Leni zwei kinderfaustgroße Hügelchen, die plötzlich mickrig wirkten.
Vielleicht hat Leni Eva deswegen nie ausstehen können. Und fuhr der polnische Express durch unsere Wohnung, hielt sie sich meist abseits. Auch anschließend, wenn wir in die Autos verfrachtet wurden und es in den Spessart ging und Mutter in jeder Kurve mit angespannten Waden an Onkel Viktors längst ungültigen »Internationalen Führerschein« dachte, saß sie hinten zwischen mir und Eva eingezwängt in ihrer Unzufriedenheit und schwieg.
Onkel Andrzej ist Jahre später an einem Hirnschlag gestorben, und Eva hat bald einen Vertreter geheiratet, der ihren Busen fortan für sich allein hatte. Ich habe sie seit jenen Tagen nicht mehr wiedergesehen.
Tante Olga eröffnete eine Frauenboutique, das »Modeneck«. Mutter probierte noch manchmal eine Bluse oder einen heruntergesetzten Rock bei ihr an, wobei beide vertraulich taten. Mit Onkel Viktors Krankheit aber rissen auch die letzten Fäden zu seinem alten Leben ab. Und die Wierschomierskis hatten sich inzwischen in »Grün« umbenannt.
Die Frau aus Krakau in dem Antiquariat warf mir noch einen letzten, verstohlenen Blick durchs Schaufenster nach, als wir ihren Laden verließen und Leni den Druck, den sie sich ausgesucht hatte, an sich drückte.