zu Peter Hennings Erstling
von Paul Nizon
Dieser Erstling ist von einer erstaunlichen Kunstfertigkeit, bedenkt man die Mehrschichtigkeit und zunehmende Schwärze des Stoffes und den leichthändigen Einsatz der Mittel zur Meisterung der Handlung.
Die Mittel sind in erster Linie dramaturgische, mit Schnitt und Rückblende operierende Techniken, zum anderen sprachlicher Natur. Die Handlung hat einen ereignisreichen abenteuerlichen Ablauf und einen erschreckenden Tiefgang – erzählt wird die Fahrt von Geschwistern, Bruder und Schwester, im Auto ans Meer. Die Fahrt ist eine Flucht, die Flucht hat den Charakter einer Entführung, eines Raubs. Die Schwester ist Insassin einer psychiatrischen Klinik in einem fortgeschrittenen Zustand der Regression, Apathie und Verwahrlosung, man denkt: eine Zurückgebliebene. Außerdem ist sie lungenkrank. Die brüderliche Entführung ist der Versuch, die in niederdrückender Monotonie Dahinvegetierende ins Lebendigsein wenn nicht eine Auferweckung zurückzuholen, ein Befreiungsakt. Die Tat geschieht nicht nur aus sorgerischen Gründen der Anhänglichkeit, sondern ebensosehr als Liebesakt, denn kaum wahrnehmbar schwebt eine Note inzestuöser Nähe oder doch eine ähnliche Abhängigkeit über dem Geschwisterverhältnis. Und so fahren denn die beiden in dem alten Datsun über die holländische Grenze ans Meer. Ja, eine Jungfernfahrt.
Die Reise ist im besten Sinne unterhaltsam aufgezeichnet, mit einem starken Sinn fürs Atmosphärische und mit einer völlig authentisch erscheinenden Autorität für das schwierige, krankheitshalber belastete Geschwisterverhältnis, eine Meisterleistung schon darum weil ohne autobiographischen Hintergrund (der Autor hat keine Schwester), vielmehr freie Erfindung.
Weniger frei erfunden, das heißt in der Herkommenskonstellation verankert dürften die mehrheitlich horrormäßigen Geschichten des weiteren Familienpersonals sein, lauter abschreckende Beispiele des Niedergangs, des Verrats, der Feigheit, des Verkommens und Verrottens, des Selbstmords. Und so nimmt denn die Reise in die erhoffte Freiheit unterirdisch immer stärker das Gepräge einer Erinnerungshöllenfahrt an und die Schwester dasjenige des Opfers wenn nicht einer Märtyrerin. Wir erkennen in dem Stoff und den Personen des mörderischen Spießerklimas die Vorstufe für Hennings »Die Ängstlichen«, den großangelegten vielbeachteten Roman. Es ist alles in dem Erstling schon da, das ganze Personenregister, wenn auch noch nicht ganz ausgeschlüpft. Und es ist sprachlich das dazugehörige Klima eingefangen: »Verschmierte Teller und Kaffeetassen im Ablauf, Krümel auf dem Tisch, vergilbte Zeitungsstöße neben dem Nordmende-Radio und die kleine Plastikwaage, darin Mutters diverse Brillenetuis und in ein Papiertaschentuch eingewickelte Goldzähne.«
Henning hat eine Vorliebe für exakte Fachbezeichnungen aus allen möglichen Bereichen des Alltags, so aus dem Spitalwesen samt einer kenntnisreichen Vertrautheit mit den schillernden schrecklichen Namen der Arzneimittel, insbesondere Psychopharmaka. Er kann aber auch mit den Fachausdrücken der Schusterkunst aufwarten, von Standfuß bis Überstemme etc, dem Gewerbe, das der Erzählbruder betreibt, der Davongekommene, der die geliebte Schwester zum Schluss von ihrem Unleben erlöst. Warum Flickschuster?
Sind Schuster nicht sprichwörtliche Gedankenklauber und Fastphilosophen in ihren abgeschirmten Denkerhöhlen?
Warum Eisvogel? Der Eisvogel ist eine Schmetterlingsart. Henning, Liebhaber und Kenner der Schmetterlingswelt und Schmetterlingskunde, versucht eine Annäherung zwischen dem schönsten und verletzlichsten Naturgeschöpf und dem fast schon zum Seelchen geschrumpften oder verpuppten Schwesterwesen. Er kann wunderbar über Schmetterlinge schreiben. Den schönsten Wortschatz behält er sich im vorliegenden Buch für die Beschreibung der bei aller Belastung annähernd glücklichen Kindheitsmomente im Zusammensein mit den Kindern der Nachbarschaft, den kleinen Freunden, jenen wichtigen Persönlichkeiten, vor. Schöner als mit »Viele kleine Kinderkilometer« kann ein Satz über ein Spielzeugauto nicht beginnen. Der Rest ist Finsternis.