VIER

Die Küstenstädtchen, durch die wir kamen, wirkten verschlafen. Alles erweckte den Eindruck einer merkwürdigen Zufriedenheit. Oder war etwa Sonntag? Wie Puppenstuben klebten die kleinen Häuschen aneinander, und da oder dort konnte man Leute schon nachmittags dabei beobachten, wie sie hinter ihren vorhanglosen Fensterfronten auf einer Couch oder in einem Sessel saßen und fernsahen.

Wir hatten vor, von Zandvoort aus die Küste entlangzufahren und irgendwann einen Abstecher nach Amsterdam zu machen, wo ein Freund von mir lebte, bei dem wir für einige Zeit unterzukommen hofften. Leni wollte unbedingt zu McDonald’s, seit sie das Werbeplakat gesehen hatte, auf dem ein saftiger Hamburger sie anlachte und ihr seine hellrote Tomatenzunge herausstreckte.

Ich war kurz rechts rangefahren, um für Leni Zigaretten zu kaufen. Als ich zum Wagen zurückkam, war sie verschwunden. Ich blieb stehen wie jemand, der sich zu erinnern und den Rest der Welt einen Augenblick lang zu vergessen sucht. Auf dem Rücksitz lag ihre Jacke, da wußte ich, daß sie nicht weit sein konnte.

Langsam rollte der Datsun von der Tankstelle herunter, vorbei an einer Reihe kleiner Geschäfte und einem Spielkasino, in dessen dunkelblauer Verglasung sich mein Wagen spiegelte. Es waren kaum Leute unterwegs. Im Schrittempo fuhr ich die Straße entlang, bis ich sie hinter der Scheibe einer Schawarmabude entdeckte.

Als ich reinging, um sie zu holen, war ich ganz ruhig. Zunächst schien sie mich nicht zu bemerken, doch auch als sie mich sah, reagierte sie kaum. Der Mann neben ihr schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hantierte mit seinem Feuerzeug. Daß er seinen Arm um sie gelegt hatte, war mir sofort aufgefallen. Wie festgeklebt steckte die brennende Zigarette unter seinem Oberlippenbart.

Ich habe solche Gestalten in sämtlichen Bierzelten meiner Jugend gesehen; strohblonde Asbach-Cola-Trinker mit kleinen Hintern in knallengen, ausgeblichenen Jeans und muskulösen Oberkörpern in halb aufgeknöpften Polyesterhemden oder billigen Kunstlederblousons. Und ich habe sie nie leiden können, die Goldkettchenträger mit dem Ring am kleinen Finger und dem fehlenden Schneidezahn, die glauben, für jede Frau unwiderstehlich zu sein.

Der Mann neben Leni war so einer, ein Angeber, der mit ein paar Brocken Deutsch Eindruck auf sie zu machen versuchte und mich aus geröteten Augen ansah. Wie ein Gewohnheitstrinker, der nach seiner Flasche greift, zog er meine Schwester an sich. In den Schläfen spürte ich ein wildes Klopfen, ich machte einen Schritt vorwärts, und da gerieten wir auch schon aneinander. An den brennenden Schmerz in meiner rechten Hand, als ich das erste Mal zuschlug, kann ich mich noch gut erinnern und daran, wie er mir, auf dem Boden liegend, seinen stinkenden Atem ins Gesicht blies.

Leni bekam ihre Tür erst nach einigen Metern zu, als ich Vollgas gab und wir quer über die Fahrbahn schossen, so daß uns beinahe ein entgegenkommendes Auto gerammt hätte.

Immer wieder hatte ich zugeschlagen. Wie damals, als die Sache mit meinem Fahrrad und dem Jungen geschah und ich hinterher tagelang Angst hatte, er könne verblutet sein. Dunkelrot und schaumig war ihm das Blut von der Nase getropft und aus dem Mund gequollen. Mit jedem Stöhnen zerplatzten rosa Luftblasen auf seinen braun verschmierten Lippen. Die Tränen hatten schmutzige Streifen über seine Wangen gezogen. Noch lange danach sah ich ihn nachts so vor mir, wenn ich dalag und mein eigenes Blut dumpf in den Ohren rauschte und ich nicht einschlafen konnte. In solchen Momenten tat er mir leid. Doch die Art, wie er trotz seines blutverschmierten Gesichts bis zuletzt hündisch gelacht hatte, ließ mich ihn sogleich von neuem hassen. Auf dem Nachhauseweg von der Schule bin ich jedesmal mit Herzklopfen beim Konsum um die Ecke gebogen, und meistens stand er da und wartete auf mich.

Oft dachte ich, ich müßte einfach nur fester in die Pedale treten und direkt auf ihn zuhalten, dann würde er schon zur Seite springen; doch sobald ich nur noch ein paar Armlängen von ihm entfernt war, drängte er mich auch schon gegen die Hauswand des Tabakladens. Am rauhen Verputz riß ich mir regelmäßig die Hände auf. Und trudelte ich mit eingezogenem Kopf unter seinen Schlägen davon, dann lag das höllische Brennen der Handrücken taub unter meiner pochenden Wut.

Lange Zeit machte er sich einen Spaß daraus, mir seine Überlegenheit immer neu einzuprügeln. Eines Tages aber schlug ich zurück. Es war eine instinktive Bewegung, meine Arme flogen wie von selbst. Und daß meine Schläge trafen, spürte ich tief in den Fingerknöcheln.

Er hatte meine ersten Hiebe nicht kommen sehen, und als er auf dem Boden gekrümmt dalag, habe ich blind zugetreten. Ins Gesicht, in den Magen, überallhin. Vor allem aber ins Gesicht, das sich zu einer blutigen Fratze verzerrte und bald wie leblos wegkippte. Ab und zu spuckte er Blut, das dünne Fäden über den Bordstein zog. Mir war, als müsse ich immer so weitermachen, bis ans Ende meiner Angst.

Die dicke Verkäuferin aus dem Konsum neben Kauffelds Schreinerei, wo wir nach der Schule die kleinen Weingummi-Colafläschchen kauften, hat mich schließlich weggezerrt. Später sah ich den Jungen auf einem Fußballplatz wieder, doch er tat so, als sei nie etwas geschehen. Mir aber ist die Angst geblieben, und noch lange später stieg sie jedesmal in mir auf, wenn sich zwei auf der Kirmes schlugen und ich das dumpfe Krachen ihrer Fäuste mitanhörte.

In der Schawarmabude war mir, als sei nichts vergangen, als sei ich noch immer jener kleine Junge, den man von seinem Fahrrad stößt. Und so schlug ich zu, boxte dem Holländer meine Fäuste ins Gesicht. Sein Kopf klappte einmal zurück wie ein angesägtes Stück Holz, dann riß mich einer seiner Tritte zu Boden, und ein heftiges Stechen fuhr mir durch den Unterleib. Bei jedem Schlag biß ich die Zähne so fest zusammen, daß mein Mund hinterher wie betäubt war. Irgend jemand hat sich zuletzt zwischen uns geworfen.

Dann sind wir losgerannt, doch ich taumelte mehr, als daß ich lief, torkelte mit schweren Beinen zum Wagen. Ich war wie benommen, mit jedem Schritt drang der Schmerz über dem rechten Auge tiefer ins Gehirn, so daß ich glaubte, es müsse jede Sekunde zerspringen. Die linke Augenbraue war zu einem Hautklumpen angeschwollen, und ich konnte das Blut gar nicht so schnell herunterschlucken oder ausspucken, wie es mir im Mund zusammenlief.

Alles war einfach von mir abgefallen, meine Scheu zuzuschlagen, meine Skrupel, ihn zu verletzen. Und daß ich ihn sicher totgeschlagen hätte, ließ mich auch später noch schaudern. Wieder hatte ich mit der gleichen unbestimmten Angst zugeschlagen, maßlos und blind.

Im Spiegel des kleinen Waschraums der Tankstelle, auf die ich abgebogen war, sah ich, daß ich ziemlich viel abbekommen hatte. Als ich meine Schläfen unter das kalte Wasser hielt, lief mir der Schmerz in immer neuen Wellen durch den Kopf. Einen Augenblick lang glaubte ich, ohnmächtig zu werden, und doch sah ich alles wie vergrößert. Die Blutspritzer im Waschbecken erinnerten mich an das Clownskostüm, in das mich Mutter einmal zu Fasching gesteckt hatte, und an den pudrigen Geschmack der Schminke, die ich mir im Konfetti-Regen in der Turnhalle enttäuscht von der Oberlippe geleckt hatte. Ich wollte Indianer sein, weil alle meine Freunde als Indianer gingen und nur Mädchen sich als Clowns verkleideten.

Dann wurde mir schlecht, und der metallische Blutgeschmack mischte sich mit dem, was mir sauer die Kehle hochstieg und aus dem Mund schoß. Im Auto erzählte mir Leni, mein Würgen hätte seltsam geklungen, da drinnen, ich hätte mehr geweint als gekotzt.

Daß sie mit mir sprach, beruhigte mich, denn nun, dachte ich, konnte unsere Fahrt wirklich beginnen.