Mittlerweile waren wir nahezu pleite. Zimmerrechnungen, Benzin, Essen und die vielen Getränke hatten mein Geld fast aufgebraucht. Nur noch wenige Schecks und ein bißchen Bargeld waren uns geblieben – zuviel, um sich geschlagen zu geben, zuwenig, um neu zu planen. Wir mußten kürzertreten, soviel war klar, vor allem aber uns bald etwas einfallen lassen.
Ein paarmal hatte ich sie zum Umkehren überreden wollen, doch nun konnte ich mir selbst kaum noch vorstellen, wie es wäre, den Schildern Richtung Arnheim zu folgen und einfach zurück nach Hause zu fahren.
Obendrein hatte der Motor des Datsun kleinere Aussetzer, was uns mehrfach zwang, anzuhalten. Die dauernde Hitze hatte den Wagen aufgeheizt, und die Nadel der Temperaturanzeige kletterte in den roten Bereich.
Auf einer Raststätte kurz vor Rotterdam kauften wir ein paar Flaschen Wasser. Leni ließ es sich übers Gesicht und in den Nacken laufen, rieb sich schwerfällig die Unterarme damit ab. Sie wirkte müder und schwächer als an den Tagen zuvor. Und sie hatte aufgehört, mit mir zu streiten. Längst ertrug sie alles scheinbar teilnahmslos. Ihre Stirn war heiß, als ich meine Hand darauf legte.
Ich begann mich unter den unausgesetzten Blicken zweier junger Frauen für unser heruntergekommenes Äußeres zu schämen. Eis essend und an ihren verdecklosen Sportwagen gelehnt, ließen sie mich ihre Mißbilligung spüren. Da glaubte ich den alten Berber zu verstehen, der bei Wind und Wetter sein Fahrrad mit den zahllosen, kunstvoll daran befestigten prallgefüllten Plastiktüten unbeeindruckt durch unser Viertel schob. Alle Tage lief er sein Revier in der ihm vertrauten Reihenfolge ab, so als gehorche er einer höheren Fügung, einer Pflicht oder unbedingten Dienstanweisung; ein dahinschlurfender, alle Zeit der Welt besitzender, kleinlauter, aber aufrechter Büßer, der Platte schob und dumme Kommentare provozierte.
Wiederholt blieb er stehen, um mich durch die kleine Scheibe meines Ladens zu beäugen. Dabei riß er mit der ganzen Kraft seines ausgemergelten Körpers das nach vorne rollende Rad an sich, wobei er seine schmale Unterlippe hochzog, als könne er damit dem Rucken der Fliehkraft trotzen.
Über Monate hinweg habe ich ihn beobachtet, sein herrenloses Fahrrad gegen eine Wand oder einen Vorgartenzaun gelehnt gesehen, bis er hinter irgendeiner Ecke hervorkam und mit seinem kranken Fuß im immer offenen Stiefel in meine Richtung lief. Alle Tage trug er einen speckigen, blauen Anorak, in dem er aussah wie ein sich dem Wind entgegenstemmender, O-beiniger Don Quichotte. Seine Ungebundenheit gefiel mir, sein bisweilen zufrieden wirkendes Zockeln durch die Straßenzüge. An Sommerabenden konnte man ihn, die Beine übereinandergeschlagen, auf den kniehohen Geländern der Parkbuchten sitzen und seinen Stummel paffen sehen.
Das schlohweiße Haar, das er bis auf ein paar Fransen stets unter einer blauen, völlig verdreckten Pudelmütze verbarg, die hellen Augen, mit denen er mich anmusterte, die weißen Bartstoppeln und die Art und Weise, wie er die Augen zukniff, wenn er sich grüblerisch übers Kinn strich oder den Rauch seiner Zigarette inhalierte – in all dem erinnerte er mich von Anfang an so sehr an Onkel Viktor, daß ich mich für den Mann schämte, wenn Leute stehenblieben und ihm ein paar Münzen in die Hand drückten. Dabei schien er das Geld nicht als Almosen zu betrachten, sondern wohl als eine Art Entschädigung, die ihm zustand. Jedesmal ließ er die Münzen so wortlos in seiner Anoraktasche verschwinden, wie er anschließend ungerührt davonging.
Leni hätte ihn einfach stehengelassen, wenn er angefangen hätte, von seinen Kriegserlebnissen oder von seinem rechten, immer entzündeten Fuß zu erzählen, den er aus Verachtung für die Ärzte mit Ringelblumensalbe selbst behandelte. Sie hätte ihn nicht gemocht, so wie sie auch Onkel Viktor nie gemocht hat.
Doch inzwischen sah sie in ihrer schmuddeligen, orangen Pumphose und dem ausgeleierten ESPANA-T-Shirt selbst wie ein unheimlicher Harlekin aus, mit ihrem hochroten Kopf und dem fettigen Haar. Ihr Gesicht hatte etwas Maskenhaftes angenommen. Und für einen Moment dachte ich mit Entsetzen, ihre fiebrig gespannte Haut könne sich von ihrem Gesicht schälen. »Es soll endlich regnen« hatte sie einmal zum offenen Fenster hinausgeschrien.
Als sie immer kurzatmiger wurde, sich schwerfällig wand gegen die Enge in ihrer Brust, da ahnte ich, was auf mich zukommen würde.