Ich hatte den Datsun in der Nähe des Bahnhofs abgestellt. Amsterdam schien Leni zu gefallen. Der Mann mit dem McDonald’s-Hütchen, ein Inder oder Pakistani, umkreiste schon zum dritten Mal unseren Tisch. Mechanisch räumte er Abfälle weg und wischte mit einem nassen Lappen über den Tisch. Auf Lenis Tablett türmten sich zerknüllte Papiertücher und aufgeklappte leere Pappboxen. Um ihren Mund lag ein matter, rosafarbener Ketchup-Schimmer.
Wie kleine Schornsteine lugten die Filter ihrer ausgedrückten Marlboros aus dem halb zerbröselten Hamburger-Brötchen. Als der Inder das Tablett endlich wegzog, schüttelte er wortlos den Kopf. In ihrer Cola knackte das Eis.
Kurz darauf liefen wir ziellos an den Schaufenstern vorbei, blieben da und dort stehen. Ich hatte gehofft, wir würden für ein paar Tage bei Paul unterkommen, der vor einigen Jahren nach Holland gegangen war, weil er meinte, in Amsterdam eine bessere »Aktionsbasis« zu haben. Doch als auch beim vierten oder fünften Versuch nur wieder sein Anrufbeantworter ansprang, gab ich auf.
Wir waren erst wenige Tage unterwegs, doch wenn ich in den Drehständern der Zeitungsläden die Schlagzeilen deutscher Zeitungen las, erschien mir alles, was passiert war, unendlich weit entfernt: das Blut des Hamsters, Raabs wutverzerrtes Gesicht, und über meiner Augenbraue hatte sich bereits ein dicker Grind gebildet.
Sicher hatten sie Mutter im Stift längst verständigt, doch für uns gab es kein Zurück. Lenis Idee, einfach wegzufahren, hatte mich sofort begeistert. Nun waren wir in Amsterdam und verloren uns in seinen Straßen, überquerten Plätze und passierten enge Gassen. Hoch oben verengten die Giebel den Himmel zu blauströmenden Kanälen. Und daß Leni lachte, gab uns nachträglich recht.
Seit Mutter unsere alte, für sie allein viel zu große Wohnung aufgelöst hatte, als sich ihr der Platz in dem Wohnstift bot und die Zugfahrten meiner Schwester zu ihr alle vierzehn Tage über das Wochenende dadurch entfielen, da war nicht nur für Leni ihr altes Zuhause endgültig zerstört.
Mutter war zuletzt wiederholt gestürzt, war auf der Toilette und im Flur zusammengebrochen. Einmal lag sie fast eine Stunde draußen im Garten in der Novemberkälte, das Knie und das Handgelenk am Gemäuer blutig geschürft, bis man ihre Rufe endlich auf der Straße hörte und ihr aufhalf. Von da an rechnete ich täglich mit einer schlechten Nachricht. Daß sie ausblieb, hielt Leni nicht davon ab, abzuhauen, denn spätestens, seit Mutter im Heim noch einmal zu einem unerwarteten Leben erwacht war und sie ihr in den Telefongesprächen unmißverständlich erklärte, daß die Stiftsleitung keine Besucher übers Wochenende wünsche, hatte Leni ihren Kurs geändert.
Auch mir gegenüber redete Mutter manchmal wie eine Fremde, zurückgezogen in eine an Hochmut grenzende Unberührbarkeit, die mich anfangs kränkte und noch später lange irritierte: Sie war noch einmal ins Lager der Überlebenswilligen zurückgekehrt. Die Trümmer, zwischen denen sie sich ein Leben lang als Gefangene bewegt und die sie nun in ihren alten vier Wänden zurückgelassen hatte, wollte sie nicht mehr sehen. Und wenn sie sich morgens schmückte, sich das Haar frisch machte und mit mattblauem Festiger besprühte, eine Brosche an die Bluse steckte und sich die Nägel klar lackierte wie für einen unbekannten Verehrer, dann funkelten ihre Vogeläuglein erwartungsfroh. Ein Leuchten, das mich erleichterte und zugleich abstieß.
In der Bienengasse war sie über die Jahre zu einem Schatten ihrer selbst geworden; morgens lag sie wie gelähmt auf der Wohnzimmercouch, den kleinen Kopf tief ins Kissen gedrückt und um die Beine eine Decke, rührte sich mittags eine Tütensuppe ins sich erwärmende Kochtopfwasser, aß dazu ein paar Scheiben Schwarzbrot mit Margarine oder einen halben Kringel Fleischwurst.
Nur zum täglichen Blutdruckmessen in ihrer Lieblingsapotheke verließ sie die Wohnung. Ihre Zahlenhörigkeit hatte sie mit Vater lange geteilt. Stoisch schien Mutter auf ihr Ende zu warten, für das sie aber noch nicht vorgesehen war, und sprach sie mit mir am Telefon, verstand ich sie bisweilen kaum, so leise hauchte sie die wenigen, immer gleichen Sätze in die Muschel.
Dann liebte und haßte ich sie dafür, daß sie alt geworden war, daß ich sie eines Tages würde begraben müssen, ohne daß meine Fragen beantwortet wären. Ihr Verhältnis mit Onkel Viktor schweißte uns alle noch enger zusammen, so glaubten wir jedenfalls lange Zeit, tatsächlich aber hat es uns für immer getrennt und unserem Leben mit zwei Vätern etwas Undurchsichtiges, Possenhaftes verliehen.
Am Ende hatte Mutter ihre Kittelschürzenexistenz beherzt gegen das Leben eingetauscht. Uns aber, ihre Kinder, wollte sie auf ihrem letzten Freigang nicht mehr als Begleiter.
Wählte ich ihre Nummer im Stift, um zu hören, wie es ihr ging, redete sie wie eine, die gewillt war, endlich nur noch an sich zu denken. Dann sprach sie von ihren Rommé-Damen, von Plattenabenden und Gedächtnistraining. Erinnerte ich sie aber an ihr altes Leben, in dem wir noch immer ihre Kinder waren, wechselte sie entweder kurzerhand das Thema, oder aber sie hielt mir schroff ihre Angst entgegen, sich aufzuregen und am Abend nicht einschlafen zu können.
Bevor ich Leni aus der Anstalt holte, hatte sie mich fast täglich im Laden angerufen. Ich spürte, daß sie nun ganz auf mich setzte. Auch während sie auf der Intensivstation lag, besuchte ich sie immer allein. Mutter war regelmäßig verhindert. Entweder erkundete sie gerade mit einer Busladung Gleichgesinnter die Wasserkuppe, oder sie spülte ihre immer seltener aufkommenden Zweifel und Ängste auf einer Ausflugsfahrt an der Seite ihrer fidelen Stiftsfreundin Frau Benedikt an den Rhein mit einem guten Glas Weißwein herunter.
Ich habe mich ganz klein zu machen versucht, als ich damals in die Bienengasse einbog, in jenes Viertel und zu jenem Haus, in dem meine Kindheit als verwirrender Schwarzweißfilm vorübergeflimmert war: Schultüte, Blinddarmoperation und Maikäfersammeln, Onkel Viktors offene Beine.
Ich wollte noch einige Sachen holen, bevor der städtische Container kommen würde; Bücher, alte Plakate, die ich bei meinem Auszug vor Jahren vergessen oder zurückgelassen hatte. Doch als ich dann durch die fast leeren Zimmer ging und die hellen Flecken an den Wänden sah, wo Bilder abgenommen und Schränke weggerückt worden waren, mußte ich schlucken, denn einen Augenblick lang war mir, als höre ich von fern Mutters dünnes Lachen, als atme ich die muffig-süßliche Pudrigkeit ihrer pelzigen Wangen, an die ich zuletzt immer seltener meine gedrückt hatte. Verabschiedeten wir uns, hielt sie sie mir jedesmal wie selbstverständlich hin; dabei hat Mutter körperliche Berührungen immer gescheut.
Oft hat sie mich erschreckt, wenn sie am Frühstückstisch plötzlich aufsprang, weil sie Vaters Herumgeschleiche, seine Leisetreterei nicht mehr ertrug. Dann warf sie ihre Kittelschürze auf den Stuhl, zog sich mit der immer gleichen Drohung: »Ich nehme Gift und gehe ins Wasser!« den Mantel über, warf die Tür hinter sich zu und fuhr mit ihrem Fahrrad fort. Oder aber sie verschwand unter Tränen im Wohnzimmer, wo sie sich stundenlang einschloß, woraufhin Vater sich wieder ins Bett legte und der Kaffee in den Tassen trüb und schal wurde.
Draußen liefen die Kirchgänger heim, ich stand in meinem Schlafanzug in der hellen Küche, und meine Fußsohlen klebten an dem eiskalten, wie ein Salamanderbauch gelb-braun gesprenkelten PVC-Boden. In den Ohren schwoll das Ticken der Wanduhr.
Doch wenn ich tags darauf aus dem Kindergarten heimlief und es schon im Hof nach Mutters selbstgemachtem Kirschenmichel roch, wirkte ihr Zorn in meiner Erinnerung nur noch gespielt. Oben aus Meiers offenem Küchenfenster krächzte eine Ansagerstimme, und die Schnecken zogen ihre klebrigen Spuren über die Stufen der karminroten Steintreppe.
Dann saß sie mit einer Zigarette zwischen den kurzen, dicken Fingern und friedlicher Miene an dem klobigen Küchentisch, vor sich eine Tasse Nescafé, und blies Wölkchen in die Luft. Mutter genehmigte sich ab und zu eine Schachtel Peter Stuyvesant, an der sie eine ganze Woche zu paffen hatte. Oder aber sie kritzelte Zahlenkolonnen in ihr Haushaltsbuch und listete – Posten für Posten – ihre täglichen Einkäufe auf.
Verschmierte Teller und Kaffeetassen im Ablauf, Krümel auf dem Tisch, vergilbte Zeitungsstöße neben dem Nordmende-Radio und die kleine Plastikwaage, darin Mutters diverse Brillenetuis und in ein Papiertaschentuch eingewickelte Goldzähne: tausendmal gesehene Stilleben, Koordinaten unserer Leben, die in trister Gleichförmigkeit dort verliefen und irgendwann versanden würden.
Die hufeisenförmig ineinander übergehenden Zimmer mit den echten Brücken auf dem grobgemusterten, billigen Teppichboden, die verschlissene Couchgarnitur mit dem Blümchenmuster, die fleckigen und nicht zueinander passenden Deckchen, die Mutter jedesmal unter die Teller legte, kam jemand zu Besuch, und das vornehme Getue, wenn plötzlich kleine Gäbelchen auf dem Wurst- und Käseteller lagen – all das verstand ich erst viel später, wenn ich Mutter im Stift besuchte und sah, mit welcher Genugtuung sie ihre neuen Blusen, ihre enger gemachten Boutiqueschnäppchen, ihre Bally-Schuhe, Brillantsplitter und Tigeraugen vorführte.
Dabei hielt sie den Kopf stets hoch erhoben und leicht schief wie eine, die über Mauern schaut. Nach Vaters Tod, damals, ein erstes Aufatmen, Mutters kleine Fluchten, die sie sich immer häufiger gestattete. Ab und zu Konzertbesuche, später gar ein Theaterabonnement, ein Goldarmband – wahrgewordene Träume, die ihr vorgekommen sein müssen wie die verdiente Entschädigung für das langsame Sterben ihres Mannes, das sich im psychiatrischen Krankenhaus Marburg, eineinhalb Stunden von ihr entfernt, abspielte. Am Ende erkannte er sie nicht mehr.
Lange, so gestand sie mir einmal, habe sie gebraucht, um sich, ohne würgen zu müssen, an seinen fauligen Gestank erinnern zu können. Da stand ich nun in unserer alten Wohnung, in diesem staubigen, von den Jahrzehnten vergilbten Raum, der einmal unser Wohnzimmer gewesen war, und dachte an Mutters immer leicht schmuddeliges Geschirr; hier eine übersehene Kruste am Tellerrand, da eine Kaffeespur an der Tasse und ihr gespieltes Händewaschen, kam sie vom Klo.
Rechts hatte die Musiktruhe gestanden, auf deren Plattenspieler Leni ihre alten Chris-Andrews-Platten und »Penny Lane« von den Beatles und ich später meine erste Creedence-Clearwater-Revival-Single wieder und wieder gespielt hatten. »Hey tonight« hatten sie, von blechern klingenden Gitarren angetrieben, als Refrain gegrölt, daß Mutter aus der Küche kam und mich mit eindringlichem Blick aufforderte, »das Ding« endlich leiser zu stellen.
Und kam Leni wieder einmal für ein paar Tage aus Gießen zu Besuch, dann inspizierte sie alles: ihr altes Zimmer, meine unterdessen angewachsene Plattensammlung und ebenso die ihr wohlvertrauten Bilder an den Wänden schien sie mit Befremden zu betrachten.
Auch von Vater sind mir nur die immer gleichen Bilder geblieben: Vater als geistesverwirrtes Gespenst an seinem letzten Weihnachtsfest im Kreise seiner Lieben. Viel früher: Vater, den Hut tief in die hohe Stirn gezogen, Vater als zuprostender Schnapstrinker in lustiger Wohnzimmerrunde am ausgezogenen Eßtisch neben den Grafrieds, Onkel Friedel aus dem ersten Stock und seinem Gartenfreund Günther Mack. Vater auf Fotos: ein junger Mann mit den gleichen, aber noch viel weicheren Zügen, dem inzwischen schon lichten Haar. Hosenträger, Aktentasche, Fahrradklammern: Vater!
Und seinen dicken Siegelring sehe ich immer noch vor mir. Mutter behauptete, einer der Pfleger müsse ihn Vater kurz vor seinem Tod vom inzwischen dürr gewordenen Finger gestreift und an sich genommen haben, ein eigentümlich klotziges Stück. Er ist nie wieder aufgetaucht, der Ring.
Da war mir, als hätte ich mich in ein geplündertes, gespenstisches Museum verlaufen oder an ein offenes Grab, aus dessen Tiefe mir noch einmal die Stimmen der Abwesenden zuflüsterten, die einst in diesen Räumen ausgelassen gefeiert, geweint und zuletzt immer häufiger geschwiegen hatten.
Hätte ich in diesen Sekunden nicht mit Bestimmtheit gewußt, daß Mutter eine knappe Autostunde entfernt in ihrem hellen, frisch tapezierten Zimmer saß und mit hochgelegten Beinen darauf wartete, von ihren Rommé-Damen aus ihrem nachmittäglichen Dösen erlöst zu werden – ich hätte glauben können, dies alles hätte es hier nie gegeben: nicht Vaters uns alle lähmende Angst, der er am Ende in seinen Delirien erlag, nicht Mutters neidische Versuche, alles schönfärberisch umzudeuten, was hier im jahrelangen Provisorium unseres Zusammenlebens gescheitert war, und auch nicht Lenis Krankheit.
Aus allen Ecken schienen hier die Erinnerungen wie längst müde gewordene Hunde noch ein letztes Mal nach mir zu schnappen. Es waren schon abgeschüttelt geglaubte Reflexe, die mich zurückversetzten in die beklemmende Borniertheit einer Familie, in der Selbstbetrug, Kleinkariertheit, Lebensangst und Vertuschung geherrscht hatten; dieses nun leergeräumte Gespinst, aus dem ich lange keinen Weg nach draußen fand. Vielleicht, so denke ich heute, war es die Enge darin, der Leni einfach nicht entkommen konnte und die ihr die Luft nahm.
Um uns liefen die Menschen durch die Amsterdamer Nacht, deren Lichter mich zurückbrachten in die Gegenwart unserer Reise. Noch immer trieb es uns stumm an Geschäften vorbei, an Boutiquen und Gaststätten und über einen großen Platz, auf dem Händler ihre Blumenstände abbauten, bis wir in eine der Grachten abbogen, eine dunkle, abschüssige, kopfsteingepflasterte Gasse, an deren Ende der Ausleger einer Bar im Lampenlicht schwankte. Leni sah mich an, und wir stiegen die paar Stufen ins helle Licht hinab. Mit langen Fingern angelte sie nach der Speisekarte.
Im Hintergrund lief wieder der Beatles-Song, der mir schon am Morgen beim Tanken aus einem vorbeirollenden Auto entgegengetönt war, »Yesterday«.
Als kurz darauf die Platte mit den Käsespießen und den Oliven kam, duftete das warme Weißbrot.