ACHT

Wir waren mittlerweile über eine Woche unterwegs, und ohne ihre Lungentabletten fing Leni wieder an zu husten, ein trockenes, in der Enge ihrer Brust festsitzendes Rasseln, das sie oft minutenlang schüttelte und ihr eine scheckige Röte in die Wangen trieb, um sich dann wieder in langen Pausen neu gegen sie zu formieren.

Unsere Kleider waren verklebt; es war heiß geworden, und wir fuhren mit runtergedrehten Scheiben.

Nordwijk, Zandvoort, Haarlem – ich weiß nicht mehr, wo wir überall anhielten und ausstiegen, um durch verstopfte Fußgängerzonen zu laufen. Da oder dort trank ich ein Glas Amstel und Leni immer nur Cola. Einmal sahen wir uns einen Harrison-Ford-Film in einem alten Plüschkino namens »Apollo« an und versanken in den bonbonfarbenen Sesseln. Es wurde das amerikanische Original gezeigt, und wir verstanden fast nichts. Trotzdem schien sich Leni zu amüsieren, denn was da auf der Leinwand geschah, begriff man auch so. Kindlich gebannt folgte sie der Handlung, stopfte sich das Popcorn in den Mund, und das Flimmern der Bilder warf wilde Schatten auf ihr Gesicht.

In Haarlem saßen wir stundenlang im »Café 1900«, wo uns eine schöne, schlanke Kellnerin mit einer Stupsnase und in Springerstiefeln bediente. Jedesmal, wenn sie an der Nische vorbeikam, in der wir saßen, warf sie mir flüchtige, aber intensive Blicke zu. Ihre geschmeidigen Bewegungen wirkten, als liefe sie mit ihren Stiefeln auf Schlagsahne. Ihr langes, blondes Haar fiel in Wellen bis zur Taille locker herab. Ich konnte nicht anders, als immer wieder zu ihr hinüberzusehen. Es schien ihr zu gefallen, daß sie mir gefiel.

Die alte Frau mit dem fetten Pudel, die uns gegenübersaß und Leni unentwegt anstarrte, warf ihrem schnaufenden Liebling Brotstückchen vor die Füße, die sie zuvor in einen vor ihr auf dem Tisch stehenden Teller getunkt hatte. Gierig würgte der Hund die Brocken herunter. Das Tier erinnerte mich an Pancho, Mutters vor Jahren gestorbenen Kaninchenzwergdackel, ein giftiges Luder, das ihr am Ende fast das Herz brach, als es qualvoll starb. Beim Bezahlen versuchte ich, der blonden Kellnerin nicht in die Augen zu sehen. Beiläufig legte ich ihr die Münzen hin. Sie mochte es für Lässigkeit gehalten haben, ich war aber einfach nur feige.

Bei unseren Telefonaten war mir aufgefallen, wie mühsam Leni nach Luft schnappte, während sie meine Fragen beantwortete. Kurz darauf kam Mutters Anruf mit der Nachricht, Leni liege im Krankenhaus. Als sich dann ihre Bronchitis zu einer Lungenentzündung auswuchs, wurde sie für ein paar Tage auf die Intensivstation verlegt.

Die behandelnde Ärztin hatte Mutter mit ihren Andeutungen geängstigt, doch im Grunde ahnten wir seit langem, daß Lenis Rauchen sie eines Tages umbringen würde.

Als ich sie dann selber sprach, klang ihre Stimme schwach und eigenartig hohl. Sie hatten ihr Medikamente gegeben, erst intravenös, später Tabletten, die sie fortan zusätzlich zu den Neuroleptika abends vor dem Schlafen einnehmen sollte. Seit mehr als zwanzig Jahren schluckte sie Tabletten – anfangs Akineton, später Truksal, Neurozil, Haloperidol, kleine blauweiße oder rotgrüne Kapseln, die sie beruhigen sollten. In Wirklichkeit aber verwandelten sie meine Schwester in ein Wesen, das unsichtbare Bleiplatten auf seiner Schädeldecke zu balancieren schien. Unempfindlich gemacht gegen Hitze und Kälte, schleppte sie ihren Körper mit sich herum; im Winter lief sie in dünnen Fähnchen durch den Park, und jedes noch so heiße Essen schlang sie, ohne das Gesicht zu verziehen, herunter.

Anfangs war sie einfach umgefallen, wenn ihr eine zu hohe Dosis verabreicht wurde, und sie bekam heftige Blickkrämpfe, wobei sich ihre Augen unkontrollierbar nach oben verdrehten und sie die Orientierung verlor. Einmal ist sie im Bus neben mir zuckend und mit verdrehten Augäpfeln vor allen Leuten umgekippt, die entsetzt aufschrien, als sie zu Boden ging und eine jüngere Frau mit sich riß.

Daß ich sie nicht nach ihren Lungentabletten gefragt habe, als wir losfuhren, werde ich mir nie verzeihen. Sie hätten ihr geholfen, und die Dinge wären anders gekommen. Aber alles war damals so schnell gegangen.

In der ersten Zeit hatten wir beide das Gefühl, das einzig Richtige und längst Überfällige getan zu haben und endlich über die Leere und die Aussichtslosigkeit ihres Heimlebens zu triumphieren, indem ich sie von dort wegbrachte. Doch je länger wir ziellos herumfuhren, desto mehr wich meine Euphorie einer immer größer werdenden Ernüchterung über unsere selbstgeschaffene Situation. Ab und zu stachelte ich uns noch mit Witzen über Mutters Ängste an, tatsächlich aber konnten wir uns irgendwann nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß unsere Fahrt zu einem Auf-der-Stelle-Treten geworden war.

Meine Versuche, ihr weitere Kinobesuche oder Ausflüge ans Meer schmackhaft zu machen, tat Leni nur noch gelangweilt ab. Wir fuhren durch Tage und Nächte, und nichts schien sie mehr wirklich zu interessieren, außer die Zigaretten. Nach gut zwei Wochen war uns aller Elan abhanden gekommen. Zudem waren Leni ihre Haloperidol ausgegangen, was sie deutlich nervöser machte. Sie lauerte. Gereizt schnitt sie mir ständig das Wort ab.

Ab einem gewissen Zeitpunkt mußte ich mir eingestehen, daß unser Vorhaben von Anfang an begrenzt gewesen war. Ich dachte inzwischen immer häufiger an meinen Laden.

Ich machte noch einmal einen Versuch bei meinem Amsterdamer Freund, und als er tatsächlich den Hörer abnahm, dachte ich erleichtert, wir seien einen Schritt weiter, könnten bei ihm in Ruhe unsere Lage überdenken. Doch Leni reagierte barsch, lehnte meine Idee, dort haltzumachen, unwillig ab.

Wir fuhren dann aber trotzdem zu Paul, wenn auch nur für eine Nacht. Zuerst gab er sich überschwenglich, klopfte mir dauernd auf die Schulter und stellte belanglose Fragen.

Doch als er Lenis Zustand endlich begriff, kühlte er merklich ab, wirkte seine Herzlichkeit nur noch gespielt. Hier lief die Zeit also auch gegen uns. Paul arbeitete inzwischen als professioneller Fotograf. Auf dem verstaubten Glastisch drängten sich Kameras, Objektive und zahllose Klarsichthüllen, in denen Dias steckten. An der Wand hingen in Wechselrahmen große Schwarzweißbilder mit nackten Frauen in hochhackigen Schuhen, über deren eckige Schultern sich dunkle oder blonde Haarwogen gossen. Eine hatte ihre Scham blank rasiert. Selbstbewußt starrte sie dem Betrachter unter langen Wimpern und mit gelackten Lippen entgegen, aufreizend und kühl.

Die ganze Wohnung kam mir vor wie aus einem Prospekt, ihre kalte Perfektion wirkte einschüchternd. In der Diele klemmten Schuhspanner in polierten Schnallenschuhen. Im Stromzähler drehte sich mit kaum vernehmbarem Sirren das Rädchen.

Paul gab sich geschäftig, redete ununterbrochen von Bildredakteuren, Models und ahnungslosen Kunden, die ihn noch um den Verstand brächten. Paul war grau und zu einem langweiligen Angeber geworden, der seinen Redefluß nur unterbrach, um sich einen nach Pfefferminz riechenden, grünen Sirup nachzugießen. Meinen Fragen wich er aus.

Paul rang sich am nächsten Morgen ein kurzes, gemeinsames Frühstück ab, doch als wir seine Wohnung verließen, fuhr er sichtlich erleichtert in seinem schwarzen Saab Turbo davon.

Anfangs hatte ich nicht das geringste Interesse an einem Kaffee mit ihm, aber ich verspürte Lust auf das vertrauenerweckende Bild, gemeinsam dazusitzen und Kaffee zu trinken.