29

Das Innere des Salons erstaunte Adam immer wieder. Er war unglaublich üppig und extravagant eingerichtet. Der Innenarchitekt hatte offensichtlich alle Regeln des guten Geschmacks über den Haufen geworfen und sich um dramatische Effekte bemüht.

Rot war die beherrschende Farbe. Das riesige Sofa und die Sessel waren mit roter Seide bezogen. Zinnoberrote Samtvorhänge vor den Fenstern reichten bis auf den Boden. Der Teppich hatte ein Muster aus Scharlachrot und Gold.

Wie in so vielen Haushalten überall im Land, so hing auch hier ein großes, gerahmtes Bild der Königin in ihrer Trauerkleidung an dem wichtigen Platz über dem Kamin. Aber die anderen Bilder an der Wand sahen so ganz anders aus. Auf allen Bildern waren kühne Ritter in glänzender Rüstung zu sehen, die gerade eine wunderschöne Frau in nur hauchzarter Kleidung retteten – oder von ihr gerettet wurden.

Florence Stotley liebte ritterliche Motive.

Florence war eine nette, untersetzte, grauhaarige Frau, die sich ihrem sechzigsten Lebensjahr näherte. Mit ihren warmen, strahlenden Augen, den Grübchen und ihrem charmanten Äußeren hätte sie eine liebevolle Großmutter oder eine herzliche Großtante sein können. Nur wenige konnten glauben, dass sie ihren Reichtum als Besitzerin eines der exklusivsten Londoner Bordelle verdient hatte.

Sie hatte sich offiziell aus ihrem Geschäft zurückgezogen, dennoch setzte sie ihre geschäftlichen Talente noch auf die unterschiedlichsten Arten ein. Viele Menschen hatten über Jahre hinweg Florence Stotley unterschätzt, überlegte Adam. Aber er kannte sie seit seiner Zeit auf der Straße, und er empfand den größten Respekt für sie.

In gewisser Weise waren sie Geschäftspartner, doch unterschieden sich ihre Interessen ein wenig. Während er sich in letzter Zeit mit den Dingen der gehobenen Gesellschaft befasste, beschäftigte Florence sich noch immer mit den finsteren Aktivitäten der Menschen der Londoner Unterwelt.

Es war gar nicht ungewöhnlich, dass einer der beiden bei dem anderen Hilfe suchte. Immerhin waren die Geschäfte der Reichen und Mächtigen verwoben mit den geschäftlichen Aktivitäten ihrer Gegenspieler in den weniger exklusiven Teilen der Stadt, und so etwas war viel öfter der Fall, als viele Menschen glaubten.

»Wie schön, dich wiederzusehen, Adam.« Florence goss Tee aus einer reich verzierten silbernen Kanne ein, die einem wilden Drachen ähnelte. »Es ist schon eine ganze Weile her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Geht es Julia und den Kindern gut?«

»Sie sind alle glücklich und gesund, danke.« Adam lehnte sich in einem großen Ohrensessel zurück und streckte die Beine aus. »Im Augenblick ist meine Schwester damit beschäftigt, einen weiteren unvergesslichen Ball vorzubereiten.«

»Ich bin sicher, sie wird auch in diesem Jahr wieder ein phantastisches Ereignis auf die Beine stellen.« Florence lachte leise und reichte ihm eine Tasse Tee. »Ihr großer Erfolg mit Camelot im letzten Frühjahr war ja wochenlang in aller Munde.«

»Sie war dir wirklich zu großem Dank verpflichtet für deinen Vorschlag.« Er betrachtete die zierlichen Szenen von den Rittern der Tafelrunde auf seiner Teetasse. »Neues Porzellan, wie ich sehe.«

»Ja, ich freue mich sehr darüber.« Florence strich die Röcke glatt und sah ihn erwartungsvoll an. »Also, ich freue mich wirklich sehr über deinen Besuch, Adam, und das weißt du auch. Ich habe deine Nachricht bekommen, in der du mich um Hilfe gebeten hast bei der Suche nach der vermissten Haushälterin des Mediums, und ich versichere dir, ich habe meine Fühler bereits ausgestreckt, aber bis jetzt habe ich noch kein Glück gehabt.«

»Wenn überhaupt jemand Bess Whaley finden kann, dann bist du das, Florence. Ich vertraue deinen Quellen vollkommen. Aber zufällig habe ich heute Abend auch noch eine weitere Bitte. Ich wollte dir in diesem Fall lieber keine Nachricht schicken, weil ich glaubte, so etwas besser persönlich mit dir zu besprechen.«

Florence nickte. »Ich verstehe. Worum geht es denn dabei?«

»Ich möchte diesem alten Fälscher Bassingthorpe eine Nachricht schicken. Er gehörte früher einmal zu deinen Kunden. Bist du mit ihm noch in Verbindung?«

Florence lächelte erfreut. »Natürlich. Er ist nicht nur ein früherer Kunde, er ist auch ein Freund. Ich werde ihn wissen lassen, dass du mit ihm sprechen möchtest.«

»Danke.«

»Ist das alles?«

»Für den Augenblick«, antwortete Adam.

Florence goss ihm noch eine Tasse Tee ein. »Sehr eigenartig, diese Geschichte mit den ermordeten Medien. Es gehen Gerüchte herum, dass sie beide von dunklen Mächten der Geisterwelt umgebracht wurden, die sie zufällig freigesetzt haben.«

»Ich versichere dir, wer auch immer diese beiden umgebracht hat, kam aus dieser Welt.«

»Darf ich fragen, wieso du dich für die ganze Sache interessierst?«

»Erinnerst du dich an Maud Gatley?«

»Ja. Es war eine so traurige Sache mit ihr.« Florence schüttelte den Kopf. »Der armen Frau ist es nie gelungen, sich von ihrer Sucht zu befreien. Ich weiß, wie sehr du ihr zu helfen versucht hast, Adam. Du hast für so viele Kuren bezahlt, und sie alle haben nichts genützt.«

»Das Opium war immer stärker als ihr Wille«, stimmte er ihr zu. »Wie es scheint, hat sie Tagebuch geführt, und dieses Tagebuch hat sie dann Elizabeth Delmont hinterlassen. Delmont hat versucht, mich damit zu erpressen. Aber in der Nacht, in der sie ermordet wurde, ist auch das Tagebuch verschwunden. Und jetzt ist Irene Toller auf ähnliche Art und Weise umgebracht worden.«

»Ah. Das erklärt vieles. Maud kannte die Wahrheit über dich und Julia und Jessica und Nathan, nicht wahr?«

Er nickte. »Man erzählt, dass der Mann, der in eine betrügerische Investition verwickelt ist, bei der Mrs. Toller und Mrs. Delmont mitgemacht haben, sehr schwer humpelt. Die Zeugen haben mir erzählt, dass er einen üppigen Bart hat und eine goldgerahmte Brille trägt.«

»Und du nimmst an, dabei handelt es sich um eine Verkleidung?«

»Das ist alles viel zu offensichtlich, und man kann es sich zu leicht einprägen.«

»Da stimme ich dir zu.« Sie runzelte die Stirn. »Aber wenn er jetzt im Besitz des Tagebuches ist, warum hat er sich dann noch nicht mit dir in Verbindung gesetzt, um dich zu erpressen?«

»Ich nehme an, er lässt sich einfach nur Zeit.«

»Daraus kann ich ihm noch nicht einmal einen Vorwurf machen«, erwiderte sie spöttisch. »Wenn er überhaupt etwas über dich weiß, dann wird ihm auch klar sein, dass er äußerst vorsichtig sein muss. Er muss wissen, wenn er einen Fehler macht und sich verrät, wirst du ihn finden, und das wird sein Ende sein.«

Adam sah sie eindringlich an. »Ich werde ihn finden. Das ist nur noch eine Frage der Zeit.«

»Das ist mir klar. Ich kenne dich, seit du ein kleiner Junge warst, Adam. Du bist gnadenlos. Aber ich bitte dich, äußerst vorsichtig zu sein. Zwei Menschen sind in dieser Sache bereits umgebracht worden.«

»Ich weiß deine Sorge zu schätzen.« Er dachte kurz über Florence ausgedehnte Verbindungen in jeder Schicht der Gesellschaft nach. »Ich stelle fest, dass ich in letzter Zeit in die Welt der übersinnlichen Kräfte hineingezogen werde. Kannst du mir etwas über die Menschen im Wintersett House erzählen, das mir vielleicht helfen kann?«

»Nicht sehr viel. Forscher der übersinnlichen Kräfte kommen mir im Allgemeinen vor, als seien sie auf dem falschen Weg, aber allerdings relativ harmlos.« Sie hielt inne und dachte einen Augenblick lang nach. »Ich habe gehört, dass Mr. Reed, der Präsident der Gesellschaft für übersinnliche Forschungen, ein trauernder Witwer ist, der davon träumt, eines Tages mit dem Geist seiner toten Frau in Verbindung treten zu können.«

»Was ist denn mit ihr geschehen?«

»Sie ist vor einigen Jahren ermordet worden. Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten, obwohl es damals in der Presse eine ziemliche Sensation war. Ich glaube* man hat die Leiche von Mrs. Reed in einem Park gefunden, ganz in der Nähe ihres Hauses. Offensichtlich hat sie nur einen Tag nach der Hochzeit einen Spaziergang gemacht und ist überfallen worden. In den Berichten stand, dass sie vergewaltigt und erdrosselt wurde.«

»Hat die Polizei ihren Mörder gefunden?«

»Nein.« Florence nahm einen Schluck von ihrem Tee und stellte die Tasse dann wieder ab. »Vielleicht ist das der Grund dafür, warum Durward Reed so entschlossen ist, mit ihr in Kontakt zu treten. Zweifellos will er von ihr den Namen des Verbrechers erfahren, der sie umgebracht hat, damit dieser Mensch seine gerechte Strafe bekommt.«

»Ich wäre da wohl ein wenig direkter vorgegangen, um den Mörder zu finden«, meinte Adam.

»Ja, natürlich. Aber nicht jeder Mensch hat deine Verbindungen, und nur wenige können sich an den Gedanken der Gewalt so schnell gewöhnen wie du.«

Auf diese Bemerkung gab er keine Antwort. »Ich frage mich, wieso Reed glaubt, dass er mit ihr in Verbindung treten kann.«

Florence zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht ist er davon überzeugt, dass man sie auf der Anderen Seite erreichen kann, weil sie damals behauptet hat, selbst übersinnliche Kräfte zu besitzen, während sie noch auf dieser Seite weilte. Zweifellos geht er davon aus, wenn es einen Geist gibt, der die Gabe hat, den Schleier zu durchdringen, dann wird es einer sein, der diese Gabe auch besessen hat, als er noch lebte.«

»Mrs. Reed war ein Medium?«

»Ja, das war sie wirklich. Vor über zehn Jahren, noch vor ihrer Hochzeit, war sie sehr berühmt. Sie hat Seancen veranstaltet in den exklusivsten Kreisen.«

»Sie gehörte also zur gehobenen Gesellschaftsschicht?«

Florence nickte. »Sie war die Letzte einer vornehmen Familie, die ihren Reichtum mit Schifffahrtsgesellschaften verdient hat. Ich hatte eine ganze Anzahl Kunden, die an ihren Seancen teilgenommen haben.«

»Danke, Florence. Ich stehe wieder einmal in deiner Schuld.«

Sie verzog ihr Gesicht auf eine Weise, die ihm bereits bekannt war und ihm sagte, dass sie nur allzu gern bereit war, Geschäfte zu machen.

»Du kannst dich gern revanchieren, mit einigen Informationen aus deiner Welt«, gab sie zurück.

»Wenn ich deine Fragen beantworten kann, will ich das gern tun.«

»Du erinnerst dich doch an das kleine Geschäft in der Marbury Street? Du weißt schon, das sich um die Gentlemen kümmert, die ihre Lust an Disziplin und Fesseln haben?«

»Ja. Ich habe gehört, dass Mrs. Thorne es verkauft hat.«

»Das stimmt. Aber ihre Nachfolgerin, die den bezeichnenden Namen Mrs. Lash trägt, ist recht ehrgeizig. Sie hat die Absicht, ihr Geschäft in ein neues und wesentlich großartigeres Haus zu verlegen. Und dazu hat sie einen sehr einfallsreichen Plan entwickelt, um an das nötige Kapital zu kommen. Sie stellt ein Konsortium aus Investoren aus ihren Kunden zusammen.«

»Wirklich?« Er war interessiert. »Das ist sicher sehr einfallsreich von ihr. Diese Investoren gehören zu den Mitgliedern der gehobenen Gesellschaft, nehme ich an?«

»Genau. Sie hat mich gebeten, mir die finanziellen Hintergründe einiger dieser Männer einmal genauer anzusehen. Eine Frau in ihrer Lage, die sich entscheidet, mit diesen Männern Geschäfte zu machen, kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Das ist wahr«, stimmte er ihr zu.

»Ich zeige dir die Liste einmal.« Florence stand auf und ging zu einem Tisch in der Nähe, wo sie eine Schublade aufzog. »Zwei der Namen sind mir bekannt, aber drei von ihnen kenne ich nicht. Ich hoffe, du wirst in der Lage sein, mir etwas über sie zu erzählen.«

Er stand auf, nahm ihr die Liste ab und betrachtete sie einen Augenblick und prägte sich die Namen ein. Diese Art von Information konnte nützlich sein.

»Mir war gar nicht klar, dass Ivybridge und Milborne Freude am Auspeitschen haben«, meinte er dann ein wenig abgelenkt.

»Das haben sie alle. Deshalb sind sie ja Kunden in diesem Haus. Es interessiert mich wirklich, was du über die Männer auf dieser Liste weißt.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wie mir scheint, ist es die üblich Ansammlung von unerträglichen Tugendbolden und Heuchlern. Es sind Menschen, die sehr hochnäsig sind und so tun, als hätten sie eine großartige Moral, und hinter den Kulissen drängen sie sich dann ihren Dienerinnen auf und besuchen Bordelle.« Er hielt inne. »Aber du hast gesagt, dass dich ganz besonders ihre Finanzen interessieren?«

»Ja. Wenn man ihre Lage bedenkt, dann wird Mrs. Lash mittellos sein, wenn es sich herausstellt, dass einer dieser Männer nicht verlässlich ist.«

Er gab ihr eine kurze Beurteilung der finanziellen Situation dieser Männer, soweit ihm das möglich war.

»Danke.« Florence legte die Liste in die Schublade zurück. »Ich kann also Mrs. Lash mitteilen, dass keiner ihrer potenziellen Investoren kurz vor dem Bankrott steht.«

»Aber du solltest sie daran erinnern, dass es noch andere Risiken gibt. Keinem dieser Männer kann sie vollkommen vertrauen.«

»Ich bin mir sicher, dass sie sich vollkommen im Klaren ist, was den Charakter dieser Männer betrifft.«

»Wenn das alles ist, dann muss ich jetzt weiter.« Er griff nach ihrer Hand und beugte sich darüber. »Auf Wiedersehen, Florence. Wie immer, so war es mir auch heute wieder eine große Freude, dich zu sehen.«

»Du bist so galant«, murmelte Florence. Ein sehnsüchtiger Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich schwöre, wenn ich dich jetzt sehe, in deiner eleganten Kleidung und mit dem feinen Benehmen, dann kann ich kaum glauben, dass du früher einmal dieser abgerissene Junge warst, der an meine Hintertür kam, um mir Geheimnisse und Klatsch von Mauds Kunden zu verkaufen. Aber ich habe schon immer gewusst, dass du eines Tages ein erfolgreicher Mann werden würdest.«

Er griente sie an. »Wirklich?«

»Jawohl. Die einzige Frage für mich war, ob du deinen Reichtum auf die legale oder die illegale Art und Weise erwerben würdest.«

»Eine der vielen Lektionen, die ich gelernt habe, Madam, war die, dass es oft nur einen sehr kleinen Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten gibt.«

»Bah. Jetzt versuchst du, der Welt ein kaltes und rücksichtsloses Gesicht zu zeigen, aber ich kenne dich schon sehr lange, Adam Hardesty. Ich weiß, wie du deinen Bruder und deine Schwestern gerettet hast. Ich kenne die Wohltätigkeitshäuser für Kinder, die du in den armen Gegenden errichtet hast. Unter deiner entschieden rostigen Rüstung besitzt du ein Gefühl für Ehre und einen Edelmut, der jedem Ritter der Tafelrunde gut angestanden hätte.«

Belustigt betrachtete er eines der Bilder, das am nächsten hing. Es zeigte einen Ritter in einer kunstvoll geschmiedeten Rüstung, der sich der Aufmerksamkeit einer Gruppe spärlich bekleideter Nymphen erfreute. »Und warum werde ich dann nur so selten von Reihen von wunderschönen nackten Frauen belagert?«

»Sehr wahrscheinlich wegen deiner berüchtigten Regeln, von denen du in den letzten Jahren besessen bist, um einen Skandal zu vermeiden.«

Er betrachtete ein weiteres der Bilder, das eine wunderschöne nackte Frau in den Armen eines Ritters in goldener Rüstung zeigte. Erinnerungen an die heiße, süße Leidenschaft, die er in Carolines Armen gefunden hatte, brachten sein Blut in Wallung.

»Wie es scheint, habe ich in letzter Zeit eine ganze Anzahl dieser Regeln umgestoßen«, meinte er.

»Wie es scheint, bist du der Mittelpunkt einer großen Sensation in der Presse.« Florence lachte. »Und das erinnert mich daran, dass ich dich fragen wollte, ob deine Verbindung mit Mrs. Fordyce eine ernsthafte Sache ist oder nur eine wilde, kurze Affäre? Ich hoffe, es ist etwas von beidem.«

»Kennst du ihre Romane?«

»Natürlich. Ich liebe die Romane von Mrs. Fordyce.«

»Du zwingst mich, die erniedrigende Wahrheit zu gestehen, Madam. Ich habe alle Gründe anzunehmen, dass Mrs. Fordyce mich als ihre Muse betrachtet. Sie hat mir gesagt, dass ich ihr Modell für den Charakter von Edmund Drake in ihrem neuen Roman bin.«

»Wie aufregend. Ich kann gar nicht erwarten, herauszufinden, ob du dem üblichen Schicksal entgehen wirst, das die Bösewichte von Mrs. Fordyce ereilt.«