Das fiktive Tagebuch der Anita Fink
Unter den vielen Briefen und Tagebüchern, die ich häufig erhalte, befinden sich zahlreiche Zeugnisse von grausamsten Mißhandlungen in der Kindheit, aber auch – eher selten — Berichte von Therapien, die den Verfassern ermöglichten, die Folgen der Traumen ihrer Kindheit aufzulösen. Manchmal werde ich darum gebeten, über diese Lebensgeschichten zu berichten, doch ich zögere in den meisten Fällen, weil ich nicht weiß, ob sich die betreffende Person in einigen Jahren immer noch gern in einem fremden Buch sieht. In einem Fall habe ich mich entschlossen, eine fiktive Erzählung zu schreiben, die aber auf Fakten beruht. Ich vermute, daß sehr viele Menschen eine ähnliche Quelle des Leidens in sich tragen, ohne die Chance einer erfolgreichen Therapie gehabt zu haben. Eine junge Frau, die ich Anita Fink nenne, erzählt hier über die Entwicklung in ihrer Therapie, die ihr half, sich aus einer der schwersten Erkrankungen, der Magersucht, zu befreien.
Es wird im allgemeinen, auch unter Medizinern, nicht mehr bestritten, daß es sich hier um ein psychosomatisches Leiden handelt, daß die Seele »betroffen« ist, wenn ein (meistens junger) Mensch sein Gewicht so weit verliert, daß er in Lebensgefahr schwebt. Doch die seelische Verfassung dieser Menschen bleibt meistens in einem diffusen Licht. Meines Erachtens ebenfalls, um das Vierte Gebot nicht zu verletzen.
Ich habe dieses Problem bereits in Evas Erwachen angedeutet, beließ es aber dort noch bei der Polemik gegen die gängige Praxis, deren Ziel bei der Behandlung der Magersucht die Zunahme an Gewicht ist, während die Ursachen der Erkrankung verschleiert bleiben. Diese Polemik will ich hier nicht fortsetzen, ich möchte statt dessen an einer Geschichte illustrieren, welche psychischen Faktoren zur Entwicklung einer Magersucht führen und durch welche Faktoren sie, wie in diesem Fall, aufgelöst werden kann. Der »Hungerkünstler« von Kafka sagt am Ende seines Lebens, er habe gehungert, weil er nicht die Nahrung finden konnte, die ihm schmeckte. Das könnte auch Anita gesagt haben, aber erst, als sie gesund wurde, weil sie erst dann wußte, welche Nahrung sie brauchte, suchte und seit der Kindheit vermißte: die echte emotionale Kommunikation, ohne Lügen, ohne falsche »Sorgen«, ohne Schuldgefühle, ohne Vorwürfe, ohne Warnungen, ohne Angstmacherei, ohne Projektionen – eine Kommunikation, wie sie zwischen der Mutter und ihrem gewünschten Kind in der ersten Phase des Lebens im besten Fall bestehen kann. Wenn diese nie stattgefunden hat, wenn das Kind mit Lügen gefuttert wurde, wenn Worte und Gesten lediglich dazu dienten, die Ablehnung des Kindes, den Haß, den Ekel, den Widerwillen zu verbrämen, dann sträubt sich das Kind, an dieser »Nahrung« zu gedeihen, lehnt sie ab und kann später anorektisch werden, ohne zu wissen, welche Nahrung es braucht. Diese kennt es nicht aus Erfahrung, es weiß also nicht, daß es sie gibt.
Der Erwachsene kann zwar eine vage Ahnung haben, daß es diese Nahrung gibt, und mag sich dann in Eßorgien stürzen, wahllos alles mögliche in sich aufnehmen auf der Suche nach dem, was er braucht, aber nicht kennt. Er wird dann fettsüchtig, bulimisch. Er will nicht verzichten, er will essen, essen ohne Ende, ohne Einschränkungen. Aber da er wie der Magersüchtige nicht weiß, was et braucht, kann er sich nie satt essen. Er will frei sein, alles essen zu dürfen, sich keinem Zwang fügen zu müssen, aber er lebt schließlich im Zwang seiner Eßorgien. Um sich davon zu befreien, müßte er seine Gefühle jemandem mitteilen können, er müßte die Erfahrung machen, daß er gehört, verstanden, ernst genommen wird, sich nicht länger zu verstecken braucht. Erst dann weiß er, daß dies die Nahrung ist, die er schon sein Leben lang suchte.
Kafkas Hungerkünstler hat sie nicht benannt, weil auch Kafka sie nicht benennen konnte, er kannte als Kind keine wahre Kommunikation. Aber er litt unsäglich unter diesem Mangel, all seine Werke beschreiben nichts anderes als Fehlkommunikationen: Das Schloß, Der Prozeß, Die Verwandlung. In all den Geschichten werden seine Fragen nie gehört, mit seltsamen Verdrehungen beantwortet, der Mensch fühlt sich total isoliert und unfähig, sich Gehör zu verschaffen.
Ähnlich erging es lange Anita Fink. Am Ursprung ihrer Erkrankung stand die nie erfüllte Sehnsucht nach echtem Kontakt mit den Eltern und den Partnern. Das Verhungern signalisierte den Mangel, und die Genesung wurde schließlich möglich, als Anita die Erfahrung machte, daß es Menschen gab, die sie verstehen wollten und konnten. Ab September 1997 beginnt Anita, damals sechzehnjährig, im Krankenhaus ein Tagebuch zu schreiben:
Sie haben es geschafft, mein Gewicht ist besser, und ich habe etwas Hoffnung geschöpft. Nein, nicht sie haben es geschafft, sie nervten mich ja von Anfang an in dieser schrecklichen Klinik, es war noch schlimmer als zu Hause: du mußt dies, du mußt das, du kannst so und so nicht, was glaubst du bloß, wer du bist, hier wird dir geholfen, aber du mußt daran glauben und gehorchen, sonst kann dir niemand helfen. Verdammt noch mal, woher nehmt ihr eure Arroganz? Wieso soll ich gesund werden, wenn ich mich eurer blöden Ordnung füge und bei euch wie ein Teilchen eurer Maschine funktioniere? Das wäre ja mein Tod. Und ich will nicht sterben! Ihr behauptet das von mir, das ist aber eine Lüge, das ist Schwachsinn. Ich will leben, aber nicht so, wie man mir vorschreibt, weil ich sonst sterben könnte. Ich will als die Person leben, die ich bin. Aber man läßt mich nicht. Niemand läßt mich. Alle haben etwas mit mir vor. Und mit diesem Vor-Haben löschen sie mein Leben aus. Das hätte ich euch sagen wollen, aber wie? Wie kann man so was Leuten sagen, die hier in diese Klinik kommen, um ihr Pensum zu erledigen, die beim Rapport nur ihre Erfolge melden wollen (»Anita, hast du schon ein halbes Brötchen gegessen?«) und abends froh sind, die Skelette endlich zu verlassen und sich zu Hause gute Musik anzuhören.
Niemand will mir zuhören. Und der nette Psychiater tut so, als ob das Zuhören das Ziel seines Besuches wäre, aber seine eigentlichen Ziele scheinen ganz andere zu sein, ich sehe sie deutlich in der Art, wie er mir gut zuredet, mir Mut zum Leben machen will (wie ›macht‹ man das?), mir erklärt, daß mir alle hier helfen wollen, daß meine Krankheit sicher nachläßt, wenn ich Vertrauen gewinne; ja, ich bin krank, weil ich niemandem vertraue. Das werde ich hier lernen. Dann schaut er auf die Uhr und denkt vermutlich, wie gut er diesen Fall heute abend im Seminar darstellen kann, er hat den Schlüssel zur Anorexie gefunden: Vertrauen. Was hast du Esel dir dabei gedacht, als du mir Vertrauen predigtest? Alle predigen mir Vertrauen, aber sie verdienen es nicht! Du gibst vor, mir zuzuhören, aber tust nichts anderes, als mir imponieren zu wollen, willst mir gefallen, mich blenden, von mir bewundert werden und abends noch ein gutes Geschäft mit mir machen, deinen Kollegen im Seminar erzählen, wie geschickt du eine intelligente Frau zum Vertrauen führst.
Du eitler Bock, ich durchschaue dein Spiel endlich, lasse mir nichts mehr vormachen, nicht dir verdanke ich die Besserung, sondern Nina, der portugiesischen Putzfrau, die abends manchmal bei mir blieb und die mir wirklich zuhörte, sich über meine Familie aufregte, bevor ich das selber wagte, und mir so meine Empörung ermöglichte. Dank Ninas Reaktionen auf das, was ich ihr erzählte, begann ich selber zu fühlen und zu spüren, in welcher Kälte und Einsamkeit ich aufgewachsen bin, total beziehungslos. Woher soll ich denn mein Vertrauen nehmen? Die Gespräche mit Nina weckten erst meinen Appetit, da begann ich zu essen, da erfuhr ich, daß mir das Leben etwas zu bieten hat — echte Kommunikation, etwas, wonach ich mich immer gesehnt habe. So war ich gezwungen, Nahrung aufzunehmen, die ich nicht wollte, weil sie keine Nahrung war, die Kälte, die Dummheit und die Angst meiner Mutter. Meine Magersucht war die Flucht vor dieser angeblichen, vergifteten Nahrung, sie rettete mir mein Leben, mein Bedürfnis nach Wärme, Verständnis, Gespräch und Austausch. Nina ist nicht die einzige. Ich weiß jetzt, daß es das gibt, daß das, was ich suche, existiert, nur durfte ich es so lange nicht wissen.
Bevor ich mit Nina Kontakt hatte, wußte ich gar nicht, daß es andere Menschen gibt als ihr, meine Familie, die Schule. Alle waren so normal und für mich so unzugänglich. Allen war ich unverständlich, komisch. Für Nina war ich gar nicht komisch. Sie macht hier in Deutschland Putzarbeiten, und in Portugal hat sie ein Studium angefangen. Aber sie hat kein Geld gehabt, um es fortzusetzen, weil ihr Vater kurz nach ihrem Abitur starb und sie arbeiten mußte. Dennoch hat sie mich verstanden. Nicht, weil sie ein Studium angefangen hat, das hat gar nichts damit zu tun. Sie hatte während ihrer Kindheit eine Cousine, von der sie mir viel erzählte, und die hat ihr zugehört, die hat sie ernst genommen. Und nun kann sie das auch bei mir, ohne Anstrengung und ohne Probleme. Ich bin für sie nicht fremd, obwohl sie in Portugal aufgewachsen ist und ich in Deutschland. Ist das nicht seltsam? Und hier in meinem Land fühle ich mich wie eine Ausländerin, manchmal sogar wie eine Aussätzige, nur weil ich das nicht sein will und nicht werden will, was ihr mit mir vorhabt.
Mit der Magersucht konnte ich es demonstrieren. Schaut her, wie ich aussehe. Fühlt ihr euch angewidert von meinem Anblick? Um so besser, dann merkt ihr doch, daß etwas mit mir oder mit euch nicht stimmt. Ihr schaut weg, ihr haltet mich für verrückt. Das tut mir zwar weh, aber es ist weniger schlimm, als eine von euch zu sein. Ich bin auf eine Art verrückt, ich bin von euch weggerückt, weil ich mich weigere, mich euch anzupassen und mein Wesen zu verraten. Ich will wissen, wer ich bin, wofür ich auf diese Welt gekommen bin, warum zu dieser Zeit, warum in Süddeutschland, warum bei meinen Eltern, die gar nichts von mir verstehen und aufnehmen können. Wozu bin ich denn auf dieser Welt? Was mache ich hier?
Ich bin froh, daß ich seit den Gesprächen mit Nina nicht mehr all diese Fragen hinter der Magersucht verstecken muß. Ich will einen Weg suchen, der mir ermöglicht, Antworten auf meine Fragen zu finden und so zu leben, wie es mir entspricht.
3. November 1997
Nun bin ich aus der Klinik entlassen worden, weil ich das nötige Mindestgewicht erreicht habe. Das genügte. Warum das geschehen ist, weiß niemand außer mir und Nina. Die Leute sind überzeugt, daß ihr Ernährungsplan die sogenannte Besserung bewirkt hat. Sollen sie es nur glauben und damit glücklich werden. Ich bin jedenfalls froh, die Klinik verlassen zu haben. Aber was jetzt? Ich muß mir ein Zimmer suchen, ich will nicht zu Hause bleiben. Mutti ist besorgt wie immer. Ihre ganze Vitalität investiert sie nur in die Besorgtheit um mich, die mir auf die Nerven geht. Ich fürchte, daß ich wiederum nichts essen kann, wenn sie so weitermacht, weil ihre Art, mit mir zu reden, mir den Appetit verschlägt. Ich spüre ihre Angst, möchte ihr helfen, möchte essen, damit sie keine Angst hat, daß ich wieder abnehme, aber das ganze Theater ertrage ich nicht lange. Ich will doch nicht essen, damit meine Mutter nicht Angst hat, daß ich abnehme. Ich will essen, weil ich Freude habe am Essen. Aber die Art, wie sie mit mir umgeht, verdirbt mir die ganze Freude. Auch andere Freuden verdirbt sie mir systematisch. Wenn ich Monika treffen will, sagt sie, daß sie unter dem Einfluß von Drogensüchtigen steht. Wenn ich mit Klaus telefoniere, sagt sie, er hätte jetzt nur Mädchen im Kopf und sei ihr verdächtig. Wenn ich mit Tante Anna spreche, sehe ich, daß sie auf ihre Schwester eifersüchtig ist, weil ich dort viel offener bin als mit ihr. Ich habe das Gefühl, ich muß mein Leben so einstellen und so reduzieren, daß meine Mutter nicht ausflippt, daß ihr wohl ist, und daß von mir nichts mehr übrigbleibt. Was wäre denn das anderes als eine Magersucht im seelischen Sinn? So seelisch abzumagern, daß nichts von einem übrigbleibt, damit die Mutter beruhigt ist und keine Ängste hat?
20. Januar 1998
Nun habe ich ein eigenes Zimmer gemietet. Ich bin immer noch ganz erstaunt, daß meine Eltern mir dies erlaubt haben. Nicht ohne Widerstände, aber mit Hilfe von Tante Anna ist es durchgegangen. Zuerst war ich ganz glücklich, endlich meine Ruhe zu haben, nicht mehr von Mutti ständig kontrolliert zu werden, selber meinen Tag einteilen zu können. Ich war richtig glücklich, doch das dauerte nicht lange. Plötzlich ertrug ich meine Einsamkeit nicht, die Gleichgültigkeit der Zimmervermieterin schien mir noch schlimmer als Muttis ständige Bevormundung. Ich sehnte mich so lange nach der Freiheit, und nun, als ich sie harte, machte sie mir angst. Der Zimmervermieterin, Frau Kort, ist es egal, ob ich esse, was und wann, und ich konnte es fast nicht ertragen, daß ihr das ganz gleichgültig zu sein schien. Ich machte mir dauernd Vorwürfe: Was will ich eigentlich? Du weißt ja selber nicht, was du willst. Wenn man sich für dein Eßverhalten interessiert, bist du unzufrieden, und wenn es einem gleichgültig ist, fehlt dir etwas. Es ist schwer, dir entgegenzukommen, weil du selber nicht weißt, was du willst.
Nachdem ich eine halbe Stunde so mit mir geredet hatte, hörte ich plötzlich die Stimmen meiner Eltern, die mir noch in den Ohren klangen. Hatten sie recht, mußte ich mich fragen, stimmt es, daß ich nicht weiß, was ich will? Hier in diesem leeren Zimmer, wo niemand mich dabei störte, zu sagen, was ich mir wirklich sehnlichst wünsche, wo niemand mich unterbricht, kritisiert und verunsichert, wollte ich versuchen herauszufinden, was ich wirklich fühle und brauche. Doch ich fand erst keine Worte. Mein Hals war wie zugeschnürt, ich spürte meine Tränen aufsteigen, und ich konnte nur noch weinen. Erst als ich eine Weile geweint hatte, kam die Antwort wie von selber: Ich will doch nur, daß ihr mir zuhört, mich ernst nehmt, aufhört, mich ständig zu belehren, zu kritisieren, abzulehnen. Ich möchte mich bei euch so frei fühlen, wie ich mich mit Nina fühlte. Sie hat mir nie gesagt, ich wüßte nicht, was ich wolle. Und in ihrer Gegenwart wußte ich es auch. Aber eure Art, mich zu belehren, schüchtert mich ein, blockiert mein Wissen. Ich weiß dann nicht, wie ich es sagen soll, wie ich sein muß, damit ihr mit mir zufrieden seid, damit ihr mich lieben könnt. Aber sollte mir das Kunststück gelingen, wird das Liebe sein, die ich bekomme?
14. Februar 1998
Wenn ich im Fernsehen die Eltern sehe, die hemmungslos vor Glück schreien, weil ihr Kind eine Goldmedaille bei der Olympiade gewonnen hat, dann durchzieht mich ein Schauer, und ich denke, wen haben sie denn zwanzig Jahre lang geliebt? Den Jungen, der all seine Kraft in die Übungen setzte, um endlich diesen Moment zu erleben, daß die Eltern auf ihn stolz sind? Aber fühlt er sich damit von ihnen geliebt? Hätten sie diesen unsinnigen Ehrgeiz auch, wenn sie ihn wirklich geliebt hätten, und hätte er es nötig gehabt, eine Goldmedaille zu bekommen, wenn er der Liebe seiner Eltern sicher gewesen wäre? Wen liebten sie denn? Den Gewinner der Goldmedaille oder ihr Kind, das unter dem Mangel an Liebe vielleicht gelitten hat? Ich habe einen solchen Gewinner am Bildschirm gesehen, und im Moment, als er von seinem Sieg erfuhr, brach er in Tränen aus, von denen er geschüttelt wurde. Es waren keine Glückstränen, man spürte das Leiden, das ihn schüttelte, nur er selber war sich dessen vermutlich nicht bewußt.
5. März 1998
Ich will nicht so sein, wie ihr mich wollt. Aber ich habe noch keinen Mut, so zu sein, wie ich möchte, weil ich immer noch unter eurer Ablehnung und meiner Vereinsamung bei euch leide. Aber bin ich denn nicht einsam, wenn ich euch gefallen will? Da verrate ich ja mich selbst. Als Mutti vor zwei Wochen krank wurde und meine Hilfe brauchte, war ich fast froh, daß ich eine Ausrede hatte, um nach Hause zu kommen. Doch schon bald ertrug ich die Art nicht mehr, wie sie sich um mich sorgte. Ich kann nichts dafür, daß ich darin immer eine Heuchelei spüre. Sie gibt vor, sich um mich zu sorgen, und damit macht sie sich für mich unentbehrlich. Ich erlebe es als eine Verführung zum Glauben, daß sie mich liebt, aber wenn sie mich liebte, würde ich diese Liebe nicht spüren? Ich bin doch nicht pervers, ich merke doch, wenn jemand mich mag, mich ausreden läßt, sich dafür interessiert, was ich sage. Aber bei Mutti fühle ich nur, daß sie von mir umsorgt und geliebt werden will. Und darüber hinaus will sie, daß ich ihr das Gegenteil glaube. Das ist doch Erpressung! Vielleicht habe ich das schon als Kind so empfunden, aber ich konnte es nicht sagen, ich wußte gar nicht wie. Erst jetzt kann ich das realisieren.
Auf der anderen Seite tut sie mir leid, denn auch sie hungert nach Beziehungen. Aber sie kann es noch viel weniger merken und zeigen als ich. Sie ist wie eingesperrt, und in diesem Eingesperrtsein muß sie sich so hilflos vorkommen, daß sie ständig ihre Macht wiederherstellen muß, besonders mir gegenüber.
Schon wieder versuche ich sie zu verstehen. Wann werde ich mich endlich davon befreien? Wann werde ich endlich aufhören, die Psychologin meiner Mutter zu sein? Ich suche sie, ich will sie verstehen, ich will ihr helfen. Aber alles ist nutzlos. Sie will sich nicht helfen lassen, sie will sich nicht aufweichen lassen, sie scheint nur Macht zu brauchen. Und auf dieses Spiel lasse ich mich nicht mehr ein. Ich hoffe, daß es mir gelingt.
Mit Papa ist es anders. Er regiert durch seine Abwesenheit, er weicht allem aus, macht jede Begegnung unmöglich. Auch damals, als ich so klein war und er mit meinem Körper spielte, hat er nie etwas gesagt. Mutti ist anders. Sie ist allgegenwärtig, sei es im Schimpfen und Vorwürfe machen, sei es in ihrer Bedürftigkeit und ihren Klagen. Ich kann mich ihrer Gegenwart nie entziehen, aber ich kann diese Gegenwart nicht als Nahrung brauchen. Sie zerstört mich. Aber auch Papas Abwesenheit war zerstörerisch für mich, weil ich doch als Kind unbedingt Nahrung brauchte. Wo sollte ich sie suchen, wenn meine Eltern sie mir verweigern? Die Nahrung, die ich so dringend brauchte, wäre eine Beziehung gewesen, aber weder Mutti noch Papa wußten, was das sei, und fürchteten eine Bindung zu mir, weil sie selber als Kinder mißbraucht und nicht beschützt wurden. Nun schlage ich wieder in die gleiche Kerbe: Jetzt versuche ich Papa zu verstehen. Sechzehn Jahre lang tat ich das ununterbrochen, und jetzt will ich endlich davon loskommen. Wie auch immer Papa unter Einsamkeit gelitten hat, Tatsache ist, daß er mich in dieser Einsamkeit aufwachsen ließ, mich als Kind nur dann holte, wenn er mich gebraucht hat, aber nie für mich da war. Und später wich er mir immer aus. An diese Tatsachen will ich mich halten. Ich will der Realität nicht länger ausweichen.
9. April 1998
Ich habe wieder stark abgenommen, und der Psychiater aus der Klinik gab uns die Adresse einer Therapeutin. Sie heißt Susan. Nun habe ich zweimal mit ihr gesprochen. Bis jetzt geht es gut. Sie ist anders als der Psychiater. Ich fühle mich bei ihr verstanden, und das ist eine große Erleichterung. Sie versucht nicht, mir etwas einzureden, sie hört zu, aber redet auch, sagt, was sie denkt, und macht mir Mut, meine Gedanken auszusprechen und meinen Gefühlen zu vertrauen. Ich habe ihr von Nina erzählt und habe viel geweint. Essen mag ich immer noch nicht, aber dafür verstehe ich nun besser und tiefer, warum das so ist. Man hat mich sechzehn Jahre lang mit einer falschen Nahrung gefuttert, und ich habe genug davon. Entweder werde ich mir die richtige Nahrung verschaffen und mit Hilfe von Susan den Mut dazu finden, oder ich werde meinen Hungerstreik fortsetzen. Ist das ein Hungerstreik? Ich kann es nicht so sehen. Ich habe einfach keine Lust zu essen, keinen Appetit. Ich mag die Lügen nicht, ich mag die Verstellung nicht, ich mag das Ausweichen nicht. Ich möchte so gern mit meinen Eltern reden können, ihnen von mir erzählen und von ihnen hören, wie es ihnen als Kinder ergangen ist, wie sie heute die Welt empfinden. Nie haben sie darüber gesprochen. Dauernd haben sie versucht, mir gute Manieren beizubringen, und wichen allem aus, was persönlich war. Jetzt habe ich die Nase voll davon. Aber warum gehe ich nicht einfach fort? Warum komme ich immer wieder nach Hause und leide darunter, wie sie mit mir umgehen? Weil sie mir leid tun? Das auch, aber ich muß gestehen, daß ich sie immer noch brauche, daß ich sie immer noch vermisse, obwohl ich weiß, daß sie mir nie das geben können, was ich von ihnen möchte. Das heißt, mein Verstand weiß es, aber das Kind in mir kann das nicht verstehen, kann das nicht wissen. Es will auch nicht wissen, es will einfach, daß man es lieb hat, und kann nicht begreifen, daß es von Anfang an keine Liebe bekommen hat. Werde ich das jemals akzeptieren können?
Susan meint, ich werde lernen können, es zu akzeptieren. Zum Glück sagt sie nicht, daß ich mich in meinen Gefühlen täusche. Sie ermutigt mich, meine Wahrnehmungen ernst zu nehmen und ihnen zu glauben. Das ist ganz herrlich, das habe ich noch nie in diesem Maße erlebt. Auch bei Klaus nicht. Wenn ich Klaus etwas erzähle, sagt er auch oft »Das glaubst du nur so«, als ob er besser als ich wissen könnte, wie ich etwas empfinde. Aber der arme Klaus, der sich für so wichtig hält, wiederholt ja auch nur das, was ihm seine Eltern gesagt haben: »Deine Gefühle täuschen dich, wir wissen es besser« usw. Seine Eltern reden so wahrscheinlich aus Gewohnheit, weil man eben so redet, denn im Grunde sind sie anders als meine Eltern. Sie sind viel mehr bereit zuzuhören und auf Klaus einzugehen, vor allem die Mutter. Sie stellt ihm häufig Fragen, und man hat das Gefühl, daß sie ihn wirklich verstehen will. Ich wäre froh, wenn meine Mutter mir solche Fragen stellte. Aber Klaus mag das nicht. Er möchte, daß sie ihn in Ruhe läßt und ihn selber Dinge herausfinden läßt, ohne ihm ständig dabei helfen zu wollen. Das ist sein gutes Recht, aber diese Haltung von Klaus schafft auch Distanz zwischen uns. Ich komme einfach nicht an ihn heran. Wie denkt wohl Susan darüber?
11. Juli 1998
Wie bin ich froh, daß es Susan gibt. Nicht nur, weil sie mir zuhört und mich ermutigt, mich auf meine Art zu äußern, sondern auch, weil ich weiß, daß jemand zu mir steht und daß ich mich nicht verändern muß, damit sie mich gerne hat. Sie hat mich gern, wie ich bin. Das ist überwältigend, ich muß mich gar nicht anstrengen, um verstanden zu werden. Sie versteht mich einfach. Es ist ein herrliches Gefühl, verstanden zu werden. Ich muß nicht um die Welt reisen, um Menschen zu finden, die mir zuhören wollen, und später enttäuscht zu sein. Ich habe einen Menschen gefunden, der das kann, und dank dieses Menschen kann ich ermessen, wie ich mich immer getäuscht habe, zum Beispiel mit Klaus. Wir waren gestern im Kino, und ich versuchte später mit ihm über den Film zu sprechen. Ich erklärte, warum mich die Inszenierung enttäuscht hatte, obwohl die Rezensionen so gut waren. Er sagte darauf nur: »Du hast zu hohe Ansprüche.« Da fiel mir auf, daß er schon früher solche Bemerkungen gemacht hatte, statt auf den Inhalt dessen, was ich sagte, einzugehen. Doch ich nahm das immer als normal hin, weil ich zu Hause auch nichts anderes hörte und so daran gewöhnt war. Aber gestern fiel es mir auf. Ich dachte, so würde Susan doch niemals reagieren, sie antwortet stets auf das, was ich sage, und wenn sie mich nicht versteht, fragt sie nach. Plötzlich habe ich realisiert, daß ich seit einem Jahr mit Klaus befreundet bin und nicht gewagt habe zu merken, daß er mir eigentlich gar nicht zuhört, daß er mir in einer ähnlichen Weise wie Papa ausweicht und daß ich das für normal hielt. Ob sich das wohl ändern würde? Warum sollte es sich ändern? Wenn Klaus ausweicht, wird er dafür seine Gründe haben, an denen ich nichts ändern kann. Aber zum Glück fange ich an zu merken, daß ich es nicht mag, wenn man mir ausweicht, und daß ich dieses Nichtmögen auch zum Ausdruck bringe. Ich bin nicht mehr das kleine Kind bei meinem Papa.
18. Juli 1998
Ich erzählte Susan, daß mir Klaus manchmal auf die Nerven geht und ich weiß nicht warum. Ich hab ihn doch gern. Es sind immer Kleinigkeiten, die mich ärgern, und ich mache mir deswegen Vorwürfe. Er meint es doch gut mit mir. Er sagt, daß er mich liebt, und ich weiß, daß er sehr an mir hängt. Warum bin ich denn so kleinlich? Warum regen mich Kleinigkeiten auf? Warum kann ich nicht großzügiger sein? Ich redete lange so daher, beschuldigte mich, Susan hörte mir zu, und schließlich fragte sie mich, worin denn die Kleinigkeiten bestehen. Sie wollte alles genau wissen, und ich mochte nicht darauf eingehen, aber schließlich sah ich ein, daß ich stundenlang so daherreden könnte und mich beschuldigen könnte, ohne genau hinzusehen, was mich ärgerte. Einfach weil ich meine Gefühle schon verdammte, bevor ich sie ernst nehmen und verstehen konnte.
So fing ich an, über die konkreten Einzelheiten zu berichten. Da war die Geschichte mit dem Brief. Ich hatte ihm einen ganz langen Brief geschrieben und darin zu sagen versucht, wie schlecht ich mich fühle, wenn er mir meine Gefühle auszureden versucht. Wenn er zum Beispiel sagt, ich würde alles negativ sehen, würde Haarspalterei betreiben, über alles spekulieren, was nicht der Rede wert sei. Ich solle mir doch nicht unnötige Sorgen machen, wo kein Grund dafür bestünde. Solche Äußerungen machen mich traurig, ich fühle mich einsam und neige dazu, mir selber das gleiche zu sagen, hör doch auf zu grübeln, nimm das Leben von der guten Seite, sei doch nicht so kompliziert. Doch ich habe herausgefunden, dank der Therapie mit Susan, daß mir solche Ratschläge nicht guttun, mich in eine sinnlose Anstrengung treiben, bei der nichts Gutes herauskommt. Ich fühle mich so, wie ich bin, abgelehnt. Immer mehr abgelehnt. Auch von mir so abgelehnt wie früher von Mutti. Wie kann man ein Kind liebhaben, das man ganz anders haben will, als es ist? Wenn ich mich ständig anders haben will, als ich bin, und wenn Klaus das auch von mir wünscht, kann ich mich nicht lieben und kann auch nicht glauben, daß die anderen es tun. Wen lieben sie denn? Die Person, die ich nicht bin? Die Person, die ich bin, die sie aber verändern wollen, damit sie sie leiden können? Ich will mich nicht um eine solche ›Liebe‹ bemühen, ich bin dessen müde.
Und nun, ermutigt durch meine Therapie, habe ich das alles Klaus geschrieben. Ich fürchtete schon beim Schreiben, er würde das alles nicht verstehen. Oder (das fürchtete ich am meisten) er würde alles als an ihn gerichtete Vorwürfe aufnehmen. Doch so habe ich das gar nicht gemeint. Ich habe einfach versucht, mich zu öffnen, und hoffte, Klaus würde mich dann besser begreifen. Ich habe ja klar geschrieben, warum ich mich im Moment verändere, und wollte ihn mit einbeziehen, ich wollte ihn nicht draußen lassen.
Seine Antwort kam nicht sofort. Ich fürchtete schon seine Wut, seine Ungeduld über mein ständiges Grübeln, seine Ablehnung, aber ich erwartete doch eine Stellungnahme zu dem, was ich geschrieben habe. Statt dessen bekam ich nach mehreren Tagen des Wartens einen Brief aus seinen Ferien, der mich vollkommen verblüffte. Er dankte mir für mein Schreiben, aber erwähnte mit keinem Wort dessen Inhalt. Dafür erzählte er mir, was er in den Ferien machte, welche Bergtouren er noch vorhatte und mit welchen Leuten er abends ausginge. Nun war ich völlig am Boden zerstört. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, ich hätte ihn mit diesem Brief überfordert, er sei nicht gewohnt, auf die Gefühle anderer Menschen einzugehen, schon gar nicht auf seine eigenen, und könne daher mit meinem Brief gar nichts anfangen. Aber wenn ich meine Gefühle ernst nehmen wollte, dann half mir diese Überlegung des gesunden Menschenverstands überhaupt nicht. Ich fühlte mich wie vernichtet, als ob ich überhaupt nichts geschrieben hätte. Wer bin ich denn, dachte ich, daß man mich wie ein Nichts behandelt? Ich fühlte mich an meiner Seele umgebracht.
Als ich mich in der Therapie mit Susan diesen Gefühlen näherte, weinte ich wie ein kleines Kind, das tatsächlich in Gefahr ist, umgebracht zu werden. Zum Glück hat Susan nicht versucht, mir dieses Gefühl auszureden und zu sagen, es bestünde doch jetzt keine Gefahr. Sie ließ mich weinen, nahm mich in die Arme wie ein kleines Kind, streichelte meinen Rücken, und in diesem Moment wurde mir zum ersten Mal klar, daß ich in meiner ganzen Kindheit nie etwas anderes erfahren habe, als an der Seele umgebracht zu werden. Was ich jetzt mit Klaus erlebte, der einfach meinen Brief ignorierte, war keine neue Erfahrung. Ich kannte sie ja schon sehr genau, seit langem. Neu war nur, daß ich zum ersten Mal mir Schmerz auf diese Erfahrung reagieren konnte, daß ich den Schmerz spüren konnte. In der Kindheit war niemand da, der mir das ermöglicht hätte. Es hat mich niemand in die Arme genommen und so viel Verständnis gezeigt, wie ich das jetzt bei Susan spürte. Früher war der Schmerz für mich unzugänglich, und später habe ich ihn in der Magersucht manifestiert, ohne ihn zu verstehen.
Die Magersucht sagte immer wieder, ich verhungere, wenn niemand mit mir sprechen will. Je mehr ich am Verhungern bin, desto mehr bekomme ich von der Umgebung Zeichen der totalen Verständnislosigkeit. Wie die Reaktion von Klaus auf meinen Brief. Die Ärzte gaben mir verschiedene Vorschriften, die Eltern doppelten nach, der Psychiater drohte mit meinem Tod, wenn ich nicht zu essen anfinge, und gab mir Medikamente, damit ich essen könnte. Alle wollten mich dazu zwingen, Appetit zu haben, aber ich hatte keinen Appetit auf diese Art von Fehlkommunikation, die man mir angeboten hat. Und das, wonach ich suchte, schien unerfüllbar.
Bis zu dem Augenblick, als ich mich bei Susan so tief verstanden fühlte. Dieser Moment gab mir die Hoffnung wieder, die vielleicht jeder Mensch bei seiner Geburt noch hat, daß es einen wahren Austausch geben kann. Jedes Kind versucht irgendwie, die Mutter zu erreichen. Aber wenn die Antwort vollständig ausbleibt, verliert es die Hoffnung. In dieser Verweigerung der Mutter liegt vielleicht die Wurzel der Hoffnungslosigkeit überhaupt. Nun schien die Hoffnung dank Susan für mich wieder aufzuleben. Ich will nicht mehr mit Menschen wie Klaus Zusammensein, die, wie ich früher, die Hoffnung auf ein offenes Gespräch aufgegeben haben; ich möchte anderen Menschen begegnen, mit denen ich über meine Vergangenheit sprechen kann. Den meisten wird es wahrscheinlich angst machen, wenn ich meine Kindheit erwähne, aber vielleicht will sich der eine oder andere ebenfalls öffnen. Allein mit Susan fühle ich mich wie in eine andere Welt versetzt. Ich kann nicht mehr begreifen, wie ich es so lange mit Klaus ausgehalten habe. Je mehr ich mich in meinen Erinnerungen dem Verhalten meines Vaters nähere, desto deutlicher erkenne ich den Ursprung meiner Bindung an Klaus und an ähnliche Freunde.
31. Dezember 2000
Ich habe lange keine Eintragungen mehr gemacht und heute, nach zweijährigem Abstand, meine Tagebuchnotizen aus der Therapiezeit gelesen. Es dauerte gar nicht so lange, verglichen mit den langen Therapien, die ich wegen meiner Magersucht erleiden mußte. Ich merke jetzt deutlich, wie ich von meinen Gefühlen abgeschnitten war und immer noch an der Hoffnung hing, irgendwann mit meinen Eltern in eine echte Beziehung treten zu können. Doch all das hat sich inzwischen geändert. Ich bin seit einem Jahr nicht mehr bei Susan in Therapie und brauche sie nicht mehr, weil ich jetzt dem Kind in mir das Verständnis geben kann, das ich bei ihr zum ersten Mal in meinem Leben erfahren hatte. Jetzt begleite ich das Kind, das ich einmal war und das immer noch in mir lebt. Ich kann die Signale meines Körpers respektieren, übe keinen Zwang auf ihn aus, und siehe da, die Symptome sind verschwunden. Ich leide nicht mehr an Magersucht, ich habe Appetit aufs Essen und aufs Leben. Ich habe einige Freunde, mit denen ich offen sprechen kann, ohne Angst zu haben, verurteilt zu werden. Die früheren Erwartungen an meine Eltern haben sich wie von selbst aufgelöst, seitdem nicht nur der erwachsene Teil, sondern auch das Kind in mir verstanden hat, wie vollständig dessen Sehnsucht abgelehnt und abgewiesen wurde. Jetzt fühle ich mich nicht mehr von Menschen angezogen, die mein Bedürfnis nach Offenheit und Redlichkeit ebenfalls frustrieren müssen. Ich finde Menschen, die ähnliche Bedürfnisse haben wie ich, ich leide nicht mehr unter nächtlichem Herzklopfen, auch nicht an der Angst, in einem Tunnel zu fahren. Ich habe ein normales Gewicht, meine Körperfunktionen haben sich stabilisiert, ich nehme keine Medikamente, aber ich meide auch Kontakte, von denen ich weiß, daß ich allergisch darauf reagieren würde. Und ich weiß warum. Zu diesen Kontakten gehören auch meine Eltern und manche Familienangehörige, die mir jahrelang gute Ratschläge gaben.
Trotz dieser positiven Wendung erfuhr die reale Person, die ich hier Anita nenne, einen massiven Rückschlag, als es ihre Mutter schaffte, sie zu erneuten Besuchen zu zwingen. Sie wurde krank und gab Anita die Schuld an ihrer Erkrankung, denn diese hätte doch wissen müssen, wie schwer ihr Rückzug die Mutter treffen würde. Wie konnte sie ihr das antun?
Eine solche Inszenierung geschieht sehr oft, die Stellung der Mutter gibt ihr offenbar eine unbeschränkte Macht über das Gewissen ihrer erwachsenen Tochter, und was sie als Kind nicht bei ihrer eigenen Mutter bekommen konnte, die Gegenwart und Fürsorge, kann sie leicht von ihrer Tochter erpressen, wenn sie ihr ordentlich Schuldgefühle macht.
Der ganze Therapieerfolg schien in Gefahr, als sich Anita wieder von den alten Schuldgefühlen überschwemmt sah. Zum Glück haben sich die Symptome der Magersucht nicht wieder gemeldet, aber die Besuche bei der Mutter ließen Anita klar erkennen, daß sie mit neuen Depressionen zu rechnen hatte, wenn sie sich nicht zur »Härte« entschloß, die ihr durch die emotionale Erpressung aufgezwungen wurde, und die Besuche einstellte. Daher meldete sie sich wieder bei Susan, in der Hoffnung auf ihren Beistand und Unterstützung.
Zu ihrem großen Erstaunen begegnete sie hier einer Susan, die sie bisher nicht gekannt hatte. Diese versuchte ihr klarzumachen, daß ihr noch ein Stück analytischer Arbeit bevorstünde, wenn sie ihre Schuldgefühle endgültig loswerden wolle, nämlich die Auflösung ihres Ödipuskomplexes. Die inzestuöse Ausbeutung durch den Vater hätte in ihr Schuldgefühle hinterlassen, die sie ihr ganzes Leben bei der Mutter abzuzahlen versuche.
Anita konnte mit diesen Deutungen nichts anfangen, sie konnte nichts dabei fühlen, außer den Ärger, manipuliert worden zu sein. Sie erlebte jetzt Susan wie eine Gefangene der psychoanalytischen Schule, die, trotz mehrfacher Versicherungen, deren Dogmen offenbar noch nicht genug in Frage gestellt hatte. Sie hatte ihr so gut helfen können, die Muster der Schwarzen Pädagogik abzuschütteln, aber nun offenbarte sie ihr eine Abhängigkeit von den Ansichten ihrer Ausbildung, die in Anitas Ohren vollkommen falsch klangen. Sie war fast dreißig Jahre jünger als Susan und brauchte sich nicht Dogmen zu unterwerfen, die eine Generation früher als selbstverständlich galten.
So verabschiedete sich Anita von Susan und fand eine Gruppe von Gleichaltrigen, die bereits ähnliche Erfahrungen in den Therapien gemacht hatten und nach erziehungsfreien Formen der Kommunikation suchten. Da erhielt sie die Bestätigung, die sie brauchte, um sich dem Sog ihrer Familie zu entziehen und sich nicht Theorien einreden zu lassen, die ihr nicht im geringsten einleuchteten. Die Depression verschwand, und auch die Magersucht kehrte nicht wieder zurück.
Magersucht gilt als eine sehr komplexe Erkrankung mit manchmal tödlichem Ausgang. Der Mensch quält sich zu Tode. Doch um diese Krankheit zu verstehen, müssen wir uns darüber klarwerden, worunter dieser Mensch als Kind gelitten hat und wie er von seinen Eltern seelisch gequält wurde, als sie ihm die wichtige emotionale Nahrung verweigerten. Diese Aussage scheint so viel Unbehagen bei den Ärzten zu wecken, daß sie lieber an der Idee festhalten, die Anorexie sei unverständlich und könne zwar mit Medikamenten begleitet, aber nicht wirklich ausgeheilt werden. Ähnliche Mißverständnisse entstehen da, wo die vom Körper erzählte Geschichte ignoriert und im Namen des Vierten Gebotes auf dem Altar der Moral geopfert wird.
Anita lernte zuerst bei Nina, dann bei Susan und schließlich in der Gruppe, daß sie das Recht hatte, auf ihrem Bedürfnis nach einer nährenden Kommunikation zu bestehen, daß sie auf diese Nahrung nie mehr verzichten müsse und daß sie nicht in der Nähe ihrer Mutter leben könne, ohne dies mit der Depression zu bezahlen. Das genügte ihrem Körper, der sie von nun an nicht mehr zu mahnen brauchte, weil sie seine Bedürfnisse respektierte und sich ihretwegen von niemandem mehr beschuldigen ließ, solange sie ihren Gefühlen treu blieb.
Anita erfuhr dank Nina zum ersten Mal in der Klinik, daß es so etwas wie menschliche Wärme und Anteilnahme ohne Forderungen und Schuldzuweisungen geben kann. Dann hatte sie das Glück, in Susan eine Therapeutin zu finden, die zuhören und fühlen konnte, bei der sie ihre eigenen Emotionen fand und sie zu erleben und auszudrücken wagte. Sie wußte von nun an, welche Nahrung sie suchte und brauchte, sie konnte neue Beziehungen anknüpfen und die alten auflösen, in denen sie auf etwas wartete, das sie nicht kannte. Jetzt kannte sie es, bei Susan hat sie es bekommen und konnte später dank dieser Erfahrung auch die Grenzen der Therapeutin erkennen. Und nie wieder wird sie sich in ein Loch verkriechen müssen, um vor den ihr angebotenen Lügen zu fliehen. Sie wird ihnen jedesmal ihre Wahrheit entgegensetzen und nie mehr hungern müssen, weil sich jetzt das Leben für sie lohnt.
Anitas Erzählung braucht eigentlich keine Kommentare, die Fakten, die sie beschreibt, weisen auf die Gesetzmäßigkeit hin, die diese Geschichte spiegelt. Am Ursprung der Erkrankung stand Anitas Verhungern beim Mangel an echtem affektiven Kontakt mit den Eltern und den Partnern. Und die Genesung wird schließlich möglich, sobald die Erfahrung gemacht werden kann, daß es für Anita heute Menschen gibt, die verstehen wollen und können.
Zu den in unserer Kindheit unterdrückten (bzw. verdrängten oder abgespaltenen) Emotionen, die in unseren Körperzellen gespeichert sind, gehört vor allem die Angst. Ein geschlagenes Kind müßte ja ständig Angst vor neuen Schlägen haben, aber es kann nicht mit dem Wissen leben, daß es grausam behandelt wird. Es muß dieses Wissen verdrängen. Ähnlich kann ein vernachlässigtes Kind seinen Schmerz nicht bewußt erleben, geschweige denn ihn ausdrücken, aus Furcht, völlig verlassen zu werden. Also verharrt es in einer irrealen, geschönten, illusionären Welt. Das hilft ihm zu überleben.
Wenn nun beim Erwachsenen die einst unterdrückten Emotionen manchmal durch ganz banale Ereignisse ausgelöst werden, finden sie kaum Verständnis. »Ich? Angst vor meiner Mutter? Sie ist doch völlig harmlos, behandelt mich freundlich, gibt sich alle Mühe. Wie kann ich denn Angst vor ihr haben?« Oder in einem anderen Fall: »Meine Mutter ist schrecklich. Aber ich weiß es doch, daher habe ich alle Beziehungen zu ihr abgebrochen, bin von ihr total unabhängig.« Das kann wohl für den erwachsenen Menschen stimmen. Es kann aber auch sein, daß in ihm noch das kleine, nichtintegrierte Kind lebt, dessen panische Ängste nie zugelassen, nie bewußt erlebt werden konnten und sich deshalb heute auf andere Menschen richten. Diese Ängste können uns ohne ersichtlichen Grund plötzlich überfallen und in Panik versetzen. Die unbewußte Angst vor der Mutter oder dem Vater kann Jahrzehnte überdauern, wenn sie nicht in Gegenwart eines Wissenden Zeugen erlebt worden ist.
Bei Anita zum Beispiel zeigte sie sich in ihrem Mißtrauen dem ganzen Klinikpersonal gegenüber und in ihrem Unvermögen zu essen. Das Mißtrauen war zwar oft berechtigt, aber vielleicht nicht immer. Das ist das Verwirrende. Der Körper sagte nur immerzu: Das will ich nicht, ohne sagen zu können, was er wollte. Erst nachdem Anita ihre Emotionen in Susans Gegenwart hatte erleben können, erst nachdem sie in sich die ganz frühen Ängste vor einer emotional völlig verschlossenen Mutter entdeckt hatte, konnte sie sich von ihnen befreien. Von da an konnte sie sich besser in der Gegenwart zurechtfinden, weil sie besser unterscheiden konnte.
Sie wußte nun, daß sie sich nicht länger anzustrengen brauchte, um Klaus zu einem ehrlichen, offenen Dialog zu zwingen, weil es nur an ihm lag, seine Haltung zu verändern. Klaus hörte auf, ihr Mutterersatz zu sein. Auf der anderen Seite entdeckte sie plötzlich Menschen in ihrer Umgebung, die anders waren als ihre Mutter und ihr Vater und vor denen sie sich nicht mehr zu schützen brauchte. Da sie jetzt mit der Geschichte der ganz kleinen Anita vertraut wurde, brauchte sie sie nicht mehr zu fürchten und in Neuauflagen zu inszenieren. Sie konnte sich immer besser in der Gegenwart orientieren und das Heute vom Damals unterscheiden. In ihrer neuentdeckten Freude am Essen spiegelte sich ihre Freude am Kontakt mit Menschen, die offen für sie waren, ohne daß sie sich anstrengen mußte. Sie genoß den Austausch mit ihnen in vollen Zügen und fragte sich manchmal erstaunt, wo denn das Mißtrauen und die Ängste geblieben waren, die sie so lange von fast allen Mitmenschen getrennt hatten. Sie waren tatsächlich verschwunden, seitdem die Gegenwart nicht mehr so undurchsichtig mit der Vergangenheit verschlungen war.
Wir wissen, daß viele Jugendliche der Psychiatrie mit Mißtrauen begegnen. Sie lassen sich nicht leicht davon überzeugen, daß man es »gut mit ihnen meint«, auch wenn dies durchaus der Fall sein könnte. Sie erwarten allerlei Tricks, die altbekannten Argumente der Schwarzen Pädagogik zugunsten der Moral, all das, was ihnen von klein auf bekannt und suspekt ist. Der Therapeut muß sich das Vertrauen seines Patienten erst verdienen, aber wie kann er das, wenn sein Gegenüber immer wieder hatte erfahren müssen, daß sein Vertrauen mißbraucht wurde? Muß er nicht monate- oder jahrelang am Aufbau einer tragenden Beziehung arbeiten?
Ich glaube nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß auch sehr mißtrauische Menschen aufhorchen und sich öffnen, wenn sie sich wirklich verstanden und angenommen fühlen. So ist es Anita ergangen, als sie Nina, dem portugiesischen Mädchen, und später Susan, ihrer Therapeutin, begegnete. Ihr Körper hat ihr schnell geholfen, das Mißtrauen aufzugeben, indem er Appetit aufs Essen entwickelte, als er die wahre Nahrung erkannte. Das Angebot eines ehrlichen Verstehenwollens ist sehr schnell erkennbar, weil es nicht vorgetäuscht werden kann. Wenn ein authentischer Mensch dahintersteckt und nicht eine Fassade, wird dies schnell gesehen, sogar von einem argwöhnischen Jugendlichen, doch es darf keine Spur von Verlogenheit in dem Hilfeangebot stecken.
Das würde der Körper früher oder später merken, und auch die schönsten Worte werden ihn, zumindest auf die Dauer, nicht beirren können.