II.6 Die Droge – der Betrug des Körpers
Als Kind mußte ich lernen, meine natürlichsten Reaktionen auf Verletzungen, wie Wut, Zorn, Schmerz und Angst, zu unterdrücken, weil mir dafür Strafen gedroht hätten. Später, in der Schulzeit, war ich sogar stolz auf meine Kunst der Beherrschung und Zurückhaltung. Diese Fähigkeit hielt ich für eine Tugend und erwartete sie auch von meinem ersten Kind. Erst nachdem ich mich von dieser Haltung hatte befreien können, wurde es mir möglich, das Leiden eines Kindes zu verstehen, dem man es verbietet, auf Verletzungen in einer adäquaten Weise zu reagieren und den Umgang mit seinen Emotionen in einer wohlwollenden Umgebung auszuprobieren, so daß es später in seinem Leben eine Orientierung in seinen Gefühlen findet, anstatt sie zu fürchten.
Leider ging es vielen Menschen ähnlich wie mir. Sie durften als Kinder ihre starken Emotionen nicht zeigen, also auch nicht erleben, und sehnten sich später danach. Manchen gelingt es, in den Therapien ihre verdrängten Emotionen zu finden und sie zu erleben, so daß diese sich in bewußte Gefühle verwandeln, die man aus der eigenen Geschichte heraus verstehen kann und nicht mehr zu furchten braucht. Doch andere lehnen diesen Weg für sich ab, weil sie sich mit ihren tragischen Erfahrungen niemandem anvertrauen können oder wollen. In der heutigen Spaßgesellschaft befinden sie sich dabei unter ihresgleichen. Es gehört zum guten Ton, Gefühle nicht zu zeigen, außer in Ausnahmezuständen, nach dem Konsum von Alkohol und Drogen. Ansonsten wird gerne über Gefühle (die der anderen und die eigenen) gespottet. Die Kunst der Ironie wird im Showbusiness und Journalismus oft gut bezahlt, also kann man mit der wirksamen Unterdrückung der Gefühle sogar viel Geld verdienen. Selbst wenn man schließlich in Gefahr kommen sollte, den Zugang zu sich selbst total zu verlieren, nur noch in der Maske, in der Als-ob-Persönlichkeit zu funktionieren, kann man zu Drogen, zu Alkohol und Medikamenten greifen, die einem reichlich zur Verfügung stehen können, da man doch gerade mit dem Spott so gut verdient hat. Der Alkohol hilft, bei guter Laune zu bleiben, und die stärkeren Drogen erreichen das noch effizienter. Weil aber diese Emotionen nicht echt, nicht mit der wahren Geschichte des Körpers verknüpft sind, ist ihre Wirkung notgedrungen zeitlich beschränkt. Immer höhere Dosen werden benötigt, um das Loch zu stopfen, das die Kindheit hinterlassen hat.
In einem Spiegel-Artikel vom 7. Juli 2003 erzählt ein junger Mann, der erfolgreich als Journalist arbeitet, unter anderem auch für den Spiegel, über seine jahrelange Heroinabhängigkeit. Ich zitiere hier einige Passagen aus dem Bericht, dessen Ehrlichkeit und Offenheit mich sehr berührt haben:
»Drogen zu nehmen, um kreativ zu sein, gilt in manchen Berufen als karrierefördernd. Mit Alkohol, Koks oder Heroin pushen sich Manager, Musiker und andere Medienstars. Über seine Sucht und sein Doppelleben schreibt ein etablierter Journalist und chronischer Junkie.
Zwei Tage vor Weihnachten versuchte ich, meine Freundin zu erwürgen. In den letzten Jahren waren es immer wieder diese Wochen um den Jahreswechsel, in denen mein Leben aus den Fugen geriet. Seit 15 Jahren schlug ich mich schon mit meiner Heroin-Abhängigkeit herum, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Dutzende Entgiftungsversuche und zwei stationäre Langzeittherapien hatte ich hinter mir. Seit einigen Monaten spritzte ich wieder täglich Heroin, oft zusammen mit Kokain.«
So wurde das Gleichgewicht gesichert.
»Beinahe zwei Jahre war alles gutgegangen, dieses Mal. Ich schrieb mittlerweile für die interessantesten Zeitungen des Landes und verdiente ziemlich anständig, im Sommer war ich in eine geräumige Altbauwohnung gezogen. Und, vielleicht das Wichtigste, ich hatte mich wieder verliebt. An diesem Abend, kurz vor Weihnachten, lag der Körper meiner Freundin auf dem hölzernen Dielenboden und wand sich unter mir, meine Hände an ihrem Hals.
Wenige Stunden zuvor hatte ich mich noch krampfhaft bemüht, diese Hände zu verbergen. Ich saß in einer Hotelsuite und interviewte einen der renommiertesten Regisseure Deutschlands. Seit einiger Zeit hatte ich dazu übergehen müssen, in die kleinen Adern auf meinem Handrücken und auf den Fingern zu injizieren. Die Venen an meinen Armen waren völlig zerstört. Mittlerweile sahen meine Hände aus wie Klauen aus einem Horrorfilm – geschwollen, entzündet, zerstochen. Ich trug nur noch Pullover mit sehr langen Ärmeln. Glücklicherweise war es Winter. Der Regisseur hatte schöne schlanke Hände. Hände, die ständig in Bewegung waren. Die mit meinem Aufnahmegerät spielten, wenn er nachdachte. Hände, mit denen er seine Welt zu gestalten schien.
Es fiel mir schwer, mich auf unser Gespräch zu konzentrieren. Ich hatte mit dem Flugzeug anreisen müssen, und meinen letzten Druck hatte ich mir vor vielen Stunden gesetzt, vor dem Abflug. Heroin an Bord zu schmuggeln war mir zu riskant erschienen. Außerdem versuchte ich, meinen Konsum wenigstens ansatzweise zu kontrollieren, indem ich jeden Tag nur eine bestimmte Menge kaufte. Am Ende des Tages wurde es daher oft eng. Ich wurde unruhig, litt unter Schweißausbrüchen. Ich wollte nach Hause. Jetzt gleich. Es bereitete mir körperliche Anstrengung, meine Aufmerksamkeit auf irgend etwas anderes zu richten. Dennoch gelang es mir, das Interview durchzustehen. Wenn es etwas gab, das ich noch mehr fürchtete als die Entzugsqualen, dann war es die Vorstellung, meinen Job zu verlieren. Seit meinem 17. Lebensjahr hatte ich davon geträumt, mit Schreiben mein Geld zu verdienen. Vor beinahe zehn Jahren war dieser Traum wahr geworden. Manchmal schien es mir, als sei meine Arbeit der letzte Rest von Leben, der mir noch geblieben war.«
Der letzte Rest von Leben hieß Arbeit. Und Arbeit hieß Beherrschung. Und wo war das eigentliche Leben? Wo waren die Gefühle?
»Also klammerte ich mich an meine Arbeit. Bei jedem Auftrag zerfraß die Angst, alldem nicht mehr gewachsen zu sein, meine Eingeweide. Ich begriff selbst nicht, wie es mir gelang, Reisen durchzustehen, Interviews zu führen, Texte zu schreiben.
Also saß ich in diesem Hotelzimmer und redete, zerfressen von Versagensangst, Scham, Selbsthaß und Drogengier. Nur diese verdammten 45 Minuten. Dann hast du es überstanden. Ich sah dem Regisseur dabei zu, wie er mit seinen Gesten seine Sätze rahmte. Stunden später sah ich meinen Händen zu, die den Hals meiner Freundin würgten.
[...]«
Möglicherweise gelingt es der Droge, Ängste und Schmerzen so weit zu unterdrücken, daß der Betreffende die wahren Gefühle nicht spüren muß – solange die Droge noch wirkt. Um so mehr aber schlagen diese ungelebten Emotionen zu, wenn die Wirkung der Droge nachläßt. So war es auch hier:
»Die Rückreise nach dem Interview war eine Tortur. Schon im Taxi war ich weggedämmert, ein flacher, fiebriger Erschöpfungsschlaf, aus dem ich ständig hochschreckte. Ein Film von kaltem Schweiß bedeckte meine Haut. Es sah danach aus, daß ich meinen Flug verpassen würde. Noch eineinhalb Stunden länger auf meinen nächsten Druck warten zu müssen schien mir unerträglich. Ich sah alle 90 Sekunden auf die Uhr.
Drogensucht macht dir die Zeit zum Feind. Du wartest. Ständig, in endloser Wiederholungsschleife, immer wieder aufs neue. Auf das Ende der Schmerzen, deinen Dealer, das nächste Geld, einen Platz in der Entgiftung oder einfach nur darauf, daß der Tag endlich zu Ende geht. Daß alles endlich zu Ende geht. Nach jedem Druck läuft die Uhr wieder unaufhaltsam gegen dich. Vielleicht ist das das Hinterhältigste an der Sucht – sie macht dir alles und jeden zum Feind. Die Zeit, deinen Körper, der nur durch lästige Bedürfnisse auf sich aufmerksam macht, Freunde und Familie, deren Sorgen du nicht zerstreuen kannst, eine Welt, die nur Forderungen stellt, denen du dich nicht gewachsen fühlst. Nichts strukturiert das Leben mit solcher Eindeutigkeit wie die Sucht. Sie läßt keinen Raum für Zweifel, nicht mal für Entscheidungen. Zufriedenheit mißt sich an der vorhandenen Drogenmenge. Sucht ordnet die Welt.
Ich war an diesem Nachmittag nur einige hundert Kilometer von zu Hause entfernt, aber es schien mir wie das Ende der Welt. Zu Hause, das war da, wo die Drogen auf mich warteten. Daß ich den Flieger noch erreichte, konnte meine Unruhe nur kurzfristig zügeln. Der Start verzögerte sich, ich dämmerte wieder vor mich hin. Jedesmal, wenn ich die Augen öffnete und sah, daß die Maschine immer noch auf dem Rollfeld stand, hätte ich heulen können. Der Entzug kroch langsam in meine Glieder und biß sich in den Knochen fest. Ein inwendiges Reißen in Armen und Beinen, als wären Muskeln und Sehnen zu kurz.«
Die verbannten Emotionen verschaffen sich wieder Zugang und bestürmen den Körper.
»In meiner Wohnung wartete Monika auf mich. Sie war nachmittags bei unserem Dealer gewesen, einem jungen Schwarzen, und hatte Heroin und Kokain gekauft. Das nötige Geld hatte ich ihr vor meinem Abflug gegeben. Das war unser ganz persönlicher Deal – ich verdiente das Geld, und sie ging los, Drogen besorgen.
Ich haßte alle Junkies, wollte mit der Szene so wenig wie möglich zu tun haben. Und bei der Arbeit beschränkte ich, wenn es irgend ging, meine Kontakte mit den zuständigen Redakteuren auf E-Mail und Fax, ging erst ans Telefon, wenn die Nachricht auf dem Anrufbeantworter keinerlei Aufschub mehr zuließ. Mit meinen Freunden redete ich schon lange nicht mehr, ich hatte ihnen sowieso nichts zu sagen.
Wie so häufig in den vergangenen Wochen hatte ich stundenlang im Bad gesessen und versucht, eine Ader zu finden, die noch nicht völlig zerstört war. Vor allem das Kokain zerfrißt die Venen, die zahllosen Einstiche mit nichtsterilen Spritzen tun das übrige. In meinem Badezimmer sah es aus wie in einer Schlachterei, Blutschlieren im Waschbecken und auf dem Boden, Wände und Decke bespritzt.
Die Entzugserscheinungen an diesem Tag war ich halbwegs losgeworden, indem ich zunächst ungefähr ein Gramm Heroin geraucht hatte – das braune Pulver verdampft auf einem Alu-Blech, das von unten erhitzt wird, der Rauch wird inhaliert, so tief wie irgend möglich. Da die Droge den Umweg über die Lunge nehmen muß, läßt die Wirkung einige Minuten auf sich warten, eine Ewigkeit also. Der Rausch steigt nur langsam und bedächtig in den Kopf, der erlösende Kick bleibt aus. Ein wenig wie Sex ohne Orgasmus.
Außerdem war das Inhalieren eine Tortur für mich. Ich bin Asthmatiker, meine Lunge rasselte schon nach kurzer Zeit, jeder Zug schmerzte wie ein Messerstich und löste Übelkeit und Brechreiz aus. Mit jedem vergeblichen Injektionsversuch wuchs meine Unruhe.
Mein Kopf war voll von Bildern, von Erinnerungen an Augenblicke voller Verzückung und unglaublicher Intensität. Erinnerungen daran, wie ich als I4jähriger Haschisch schätzen lernte, weil ich plötzlich Musik nicht nur hören, sondern im ganzen Körper spüren konnte. Daran, wie ich im LSD-Rausch mit vor Staunen offenem Mund vor einer Fußgängerampel stand und der Wechsel der Farben kleine Lichtexplosionen in meinem Hirn auslöste. Neben mir meine Freunde, auf magische Weise mit mir verbunden. Erinnerungen an meinen ersten Druck, der mich ähnlich gefangennahm wie mein erster Sex: daran, wie das Heroin-Kokain-Gemisch all meine Nervenzellen zum Schwingen brachte, bis ich vor erregter Spannung vibrierte, eine Art riesiger chinesischer Gong aus Fleisch und Knochen. An die alles besänftigende Wirkung des Heroins, eine Art Lenor für die Seele, das dich warm umschließt wie die Fruchtblase den Fötus. [...]«
Dieser Mann bringt sehr deutlich zum Ausdruck, mit welcher Kraft die wahren Bedürfnisse und Gefühle auftauchen, wenn die Droge nicht zur Verfügung steht. Die authentischen Gefühle des Mangels, der Verlassenheit und der Wut erzeugen aber Panik, so daß sie wieder mit Hilfe des Heroins bekämpft werden müssen. Zugleich soll der Körper durch die Droge zur »Produktion« erwünschter, positiver Gefühle manipuliert werden. Derselbe Mechanismus ist natürlich auch beim Konsum legaler Drogen, wie Psychopharmaka, wirksam.
Die zwanghafte Abhängigkeit von Substanzen kann katastrophale Wirkungen haben, gerade weil sie den Weg zu den wahren Emotionen und Gefühlen verbaut. Die Droge kann zwar euphorische Gefühle schenken, die einst infolge der grausamen Erziehung eingebüßte Kreativität anregen, aber der Körper toleriert diese Selbstentfremdung nicht für die Dauer des Lebens. Wir haben bei Kafka und anderen gesehen, daß auch die schöpferischen Tätigkeiten, wie das Schreiben und Malen, eine Zeitlang helfen können, zu überleben, aber sie erschließen nicht den durch frühe Mißhandlungen verlorenen Zugang zu der eigentlichen Lebensquelle eines Menschen, solange er das Wissen um seine Geschichte fürchtet.
Besonders Rimbaud liefert uns hierfür ein erschütterndes Beispiel. Die Drogen konnten nicht die seelische Nahrung ersetzen, die er wirklich gebraucht hätte, und sein Körper ließ sich über seine wahren Gefühle nicht täuschen. Doch wäre er nur einem Menschen begegnet, der ihm geholfen hätte, die destruktive Wirkung seiner Mutter vollständig zu erkennen, statt sich selbst dafür zu bestrafen, hätte sein Leben eine andere Wendung nehmen können. So scheiterten alle Fluchtversuche, und er war immer wieder gezwungen, zur Mutter zurückzukehren. Auch das Leben Paul Verlaines endete sehr früh, er starb mit einundfünfzig Jahren, im Elend, äußerlich infolge seiner Drogensucht und des Alkoholismus, die seine Geldreserven vollständig aufgebraucht hatten. Doch die innere Ursache war wie bei so vielen anderen der Mangel an Bewußtsein, die Fügsamkeit unter das allgemein geltende Gebot, die mütterliche Kontrolle und Manipulation (häufig mit Hilfe des Geldes) schweigend zu dulden. Verlaine lebte schließlich bei Frauen, die ihm Geld gaben, angeblich bei Prostituierten, nachdem er doch in seinen jungen Jahren so sehr gehofft hatte, sich mit Hilfe der Selbstmanipulation durch Substanzen befreien zu können.
Nicht in allen Fällen hat die Droge die Funktion, den Menschen von der Abhängigkeit und den mütterlichen Zwängen zu befreien. Häufig geht es beim Konsum von legalen Drogen (wie Alkohol, Zigaretten, Medikamente) um den Versuch, das Loch zu füllen, das die Mutter hinterlassen hat. Das Kind hat nicht die Nahrung bekommen, die es von ihr brauchte, und konnte sie später auch nicht mehr finden. Im drogenfreien Zustand kann diese Lücke buchstäblich als physischer Hunger gespürt werden, als ein Hungerkrampf im Magen, der sich zusammenzieht. Wahrscheinlich wird der Grundstein zur Sucht ganz am Anfang des Lebens gelegt, damit auch der Grundstein zur Bulimie und anderen Eßstörungen. Der Körper macht deutlich, daß er (in der Vergangenheit) etwas dringend brauchte, als ein winzig kleines Wesen, doch die Botschaft wird mißverstanden, solange die Emotionen ausgeschaltet bleiben. So wird die Not des kleinen Kindes fälschlicherweise als die heutige Not registriert, und alle Versuche, sie in der Gegenwart zu beseitigen, müssen fehlschlagen. Denn heute haben wir andere Bedürfnisse als damals, und wir können viele davon befriedigen, wenn sie nicht mehr in unserem Unbewußten mit den alten gekoppelt sind.