II.1  Die Selbstverständlichkeit
der Kindermißhandlung

 

Seit einigen Jahren lese ich die Berichte in den Ourchildhood-Foren im Internet und mache oft die gleiche Erfahrung: Die meisten Neuankömmlinge schreiben, daß sie bereits viel im Forum gelesen hätten und Zweifel haben, ob sie am richtigen Ort seien, weil sie eigentlich keine Mißhandlungen als Kinder erlitten hätten und hier von so schrecklichen Leiden erfahren. Sie wären zwar hier und da geschlagen, mißachtet oder anders erniedrigt worden, aber sie hätten niemals in dem Maße leiden müssen wie viele Forumsteilnehmer, die hier schrieben. Doch mit der Zeit berichten auch diese Menschen über empörendes Verhalten ihrer Eltern, das ohne Vorbehalte als Mißhandlung bezeichnet werden kann und von den anderen auch so empfunden wird. Aber sie selbst brauchen eine gewisse Zeit, um ihr Leiden aus der Kindheit zu spüren, und dank des Mitgefühls der Forumsteilnehmer können sie langsam ihre Gefühle zulassen.

Dieses Phänomen spiegelt die Haltung der ganzen Weltbevölkerung den Kindermißhandlungen gegenüber. Sie werden höchstens als ungewollte Verfehlungen bezeichnet, ausgeübt durch Eltern, die die besten Vorsätze hätten, aber mit der Erziehung überfordert seien. Im gleichen Atemzug werden Arbeitslosigkeit oder Überarbeitung als Ursachen dafür benannt, daß dem Vater die Hand ausrutscht, und die Spannungen in der Ehe als Erklärungen dafür angebracht, daß die Mütter Kleiderbügel an den Körpern ihrer Kinder zerbrechen. Solche absurden Erklärungen sind Früchte unserer Moral, die seit jeher auf der Seite der Erwachsenen steht und sich gegen das Kind richtet. Von dieser Perspektive aus konnte das Leiden der Kinder nicht wahrgenommen werden. Dieser Einsicht entstammt meine Idee der Foren, in denen Menschen über ihr Leiden erzählen und dadurch, wie ich hoffe, mit der Zeit sichtbar machen, was ein kleines Kind ohne den Beistand der Gesellschaft ertragen muß. Dank dieser Berichte wird verstehbar, wie es zu Haß kommt, der so weit führen kann, daß ursprünglich unschuldige Kinder als Erwachsene später fähig sind, beispielsweise den Wahn eines Verrückten in Taten umzusetzen und den gigantischen Holocaust zu organisieren, zu bejahen, auszuführen, zu verteidigen und zu vergessen.

Die Frage aber, welche Kindheitsprägungen, welche Mißhandlungen und Demütigungen dazu beigetragen haben, daß ganz normale Kinder zu Monstern geworden sind, wird von der Öffentlichkeit nach wie vor vernachlässigt. Sowohl die Monster als auch die Menschen, die die Gefühle von Zorn und Wut gegen sich selbst gerichtet haben und erkrankt sind, verteidigen ihre Eltern, die sie einst schwer gezüchtigt haben, gegen jeden Vorwurf. Sie wissen nicht, was ihnen die Mißhandlungen ausgemacht haben, sie wissen nicht, wie sehr sie darunter gelitten haben, und wollen es nicht wissen. Sie bezeichnen sie als Wohltat zu ihrem Besten.

Auch in den Ratgebern zur Selbsttherapie und in der umfassenden Literatur über therapeutische Begleitung findet sich kaum eine eindeutige Parteinahme für das Kind. Dem Leser wird geraten, aus der Rolle des Opfers auszusteigen, niemanden für sein gestörtes Leben anzuklagen, sich selbst treu zu werden, um die Freiheit von der Vergangenheit zu erlangen und doch in guten Beziehungen zu den Eltern zu bleiben. Ich erkenne in diesen Ratschlägen die Widersprüche der Schwarzen Pädagogik und die der traditionellen Moral. Auch sehe ich die Gefahr, das einst gequälte Kind in seiner Verwirrung und moralischen Überforderung zu belassen, so daß es unter Umständen sein ganzes Leben lang nicht erwachsen werden kann.

Denn Erwachsenwerden würde heißen, die Wahrheit nicht mehr zu leugnen, das verdrängte Leiden in sich zu fühlen, die Geschichte, die der Körper emotional kennt, auch mental zur Kenntnis zu nehmen, sie zu integrieren und nicht mehr verdrängen zu müssen. Ob dann der Kontakt zu den Eltern aufrechterhalten werden kann oder nicht, hängt von den gegebenen Umständen ab. Aber was geschehen muß, ist die Aufgabe der krankmachenden Bindung an die jetzt verinnerlichten Eltern der Kindheit, die man als Liebe bezeichnet, die aber keine Liebe ist. Sie setzt sich zusammen aus verschiedenen Bestandteilen wie Dankbarkeit, Mitleid, Erwartungen, Verleugnung, Illusionen, Gehorsam, Angst und Furcht vor Strafe.

Ich habe mich lange mit der Frage befaßt, weshalb manche Menschen ihre Therapien als erfolgreich bezeichnen konnten und andere trotz jahrzehntelanger Analysen oder Therapien in ihren Symptomen steckengeblieben sind, ohne sich von ihnen befreien zu können. In jedem positiv verlaufenen Fall durfte ich feststellen, daß Menschen sich aus der destruktiven Bindung des mißhandelten Kindes lösen konnten, wenn sie eine Begleitung bekamen, die es ihnen ermöglichte, ihre Geschichte zu finden und ihre Empörung über das Verhalten der Eltern zu artikulieren. Als Erwachsene konnten sie ihr Leben freier gestalten und brauchten ihre Eltern nicht zu hassen. Nicht aber die Menschen, die in ihren Therapien zur Vergebung angehalten wurden und daran glaubten, daß das Verzeihen tatsächlich einen Heilerfolg herbeiführen könnte. Diese blieben in der Position des kleinen Kindes gefangen, das seine Eltern zu lieben meint, sich aber im Grunde von den verinnerlichten Eltern weiterhin sein Leben lang kontrollieren und (in Form von Krankheiten) zerstören läßt. Eine solche Abhängigkeit begünstigt den Haß, der zwar verdrängt, aber dennoch aktiv bleibt und zu Aggressionen gegen Unschuldige treibt. Wir hassen nur, solange wir uns ohnmächtig fühlen.

Ich habe Hunderte von Briefen bekommen, die meine Behauptung belegen. So schreibt zum Beispiel eine sechsundzwanzigjährige, an Allergien leidende Frau namens Paula, ihr Onkel habe sie in ihrer Kinderzeit bei allen Besuchen sexuell belästigt und in Gegenwart anderer Familienmitglieder unverfroren ihre Brüste berührt. Zugleich war dieser Onkel der einzige Mensch, der dem Kind Aufmerksamkeit zukommen ließ und sich bei seinen Besuchen mit ihm beschäftigte. Kein Mensch hatte sie in Schutz genommen, und die Eltern sagten, als sie sich beklagte, sie solle ihm das nicht erlauben. Sie nahmen sie nicht in Schutz, sondern bürdeten dem Kind die Verantwortung auf. Nun litt der Onkel an Krebs, und Paula wollte ihn nicht besuchen, weil sie wütend auf diesen alten Mann war. Aber ihre Therapeutin meinte, sie würde sich später ihre Weigerung übelnehmen und sie brauche doch nicht die Familie jetzt zu verärgern, das würde ihr gar nichts nützen. So ist Paula hingegangen und hat ihre echten Gefühle der Empörung unterdrückt. Bald nach dem Tod des Onkels entstand aus der Erinnerung an diese Belästigungen etwas völlig anderes. Nun fühlte sie sogar Liebe für den verstorbenen Onkel. Die Therapeutin war mit ihr zufrieden, sie mit sich auch, die Liebe hat sie angeblich von ihrem Haß und von ihren Allergien geheilt. Doch plötzlich entwickelte sie ein starkes Asthma, sie litt unter Atemnot und konnte diese Erkrankung gar nicht verstehen, denn sie fühlte sich rein, hat ja dem Onkel vergeben können und würde ihm nichts nachtragen. Warum also diese Bestrafung? Sie hielt den Ausbruch der Krankheit für eine Bestrafung für ihre früheren Gefühle von Zorn und Empörung. Schließlich hat sie ein Buch von mir gelesen, und die Erkrankung war der Anlaß für sie, mir zu schreiben. Das Asthma verschwand, sobald sie ihre »Liebe« für den Onkel aufgeben konnte. Dies ist ein Beispiel für Gehorsam statt Liebe.

Eine andere Frau war erstaunt, daß sie nach einigen Jahren der Psychoanalyse Schmerzen in den Beinen hatte, für die die Arzte keine Ursache finden konnten, so daß psychische Gründe für sie immerhin in Frage kamen. In der Analyse arbeitete sie seit Jahren an ihrer angeblichen Phantasie, daß sie vom Vater sexuell mißbraucht worden war. Sie wollte so gerne dem Analytiker glauben, daß es sich nur um Einbildungen und nicht um Erinnerungen an reale Vorgänge handelte. Aber all diese Spekulationen halfen ihr nicht, zu begreifen, weshalb sie solche Schmerzen in den Beinen hatte. Als sie schließlich die Behandlung abbrach, verschwanden zu ihrem großen Erstaunen ihre Schmerzen. Sie waren ein Signal für sie, daß sie sich da in einer Welt befand, aus der sie keinen Schritt machen konnte. Sie wollte dem Analytiker und seinen irreführenden Deutungen davonlaufen und wagte es nicht zu tun. So haben die Schmerzen in den Beinen das Bedürfnis zu fliehen eine Zeitlang blockieren können, bis sie den Entschluß faßte, diese Analyse abzubrechen und von ihr keine Hilfe mehr zu erwarten.

Die Bindung an die Elternfiguren, die ich hier zu beschreiben versuche, ist die Bindung an mißhandelnde Eltern, die uns daran hindert, uns selber zu helfen. Die einst unerfüllten natürlichen Bedürfnisse des Kindes übertragen wir später auf Therapeuten, Partner und unsere eigenen Kinder. Wir können nicht glauben, daß sie von den Eltern tatsächlich ignoriert oder sogar torpediert wurden, so daß wir sie verdrängen mußten. Wir hoffen, daß jetzt die anderen Menschen, mit denen wir in Beziehungen treten, unseren Anliegen endlich nachkommen, uns verstehen, unterstützen, respektieren und uns die schweren Entscheidungen des Lebens abnehmen werden. Da sich diese Erwartungen aus der Verleugnung der Kindheitsrealität nähren, können wir sie nicht aufgeben. Nicht durch einen Willensakt, wie ich oben sagte. Aber sie verschwinden mit der Zeit, wenn wir den Willen haben, uns unserer Wahrheit zu stellen. Dies ist nicht einfach, es ist wohl meistens mit Schmerzen verbunden, aber es ist möglich.

Man kann in den Foren oft beobachten, daß manche Menschen verärgert sind, wenn jemand aus der Gruppe mit Empörung auf die Taten ihrer Eltern reagiert, obwohl er diese Eltern gar nicht kannte, sondern seine Empörung dem gilt, was er vom Betreffenden gehört hat. Aber es ist etwas anderes, sich über die Taten der Eltern zu beklagen, als die Fakten voll und ganz ernst zu nehmen. Das Letztere weckt die Angst des kleinen Kindes vor der Strafe, daher ziehen es viele vor, ihre frühesten Wahrnehmungen in der Verdrängung zu belassen, die Wahrheit nicht zu sehen, die Taten zu beschönigen und sich mit der Idee der Vergebung zu arrangieren. So bleiben sie weiter in der kindlichen Erwartungshaltung gefangen.

Ich habe meine erste Analyse im Jahre 1958 begonnen, und rückblickend habe ich das Gefühl, daß meine Analytikerin von der Moral stark durchdrungen war. Ich habe es nicht merken können, weil ich selbst mit den gleichen Wertvorstellungen aufgewachsen bin. So hatte ich keine Möglichkeit, dort zu erkennen, daß ich ein mißhandeltes Kind gewesen war. Um dieses zu entdecken, brauchte ich eine Zeugin, die diesen Weg zurückgelegt hat und die die übliche Verleugnung der Kindermißhandlung in unserer Gesellschaft nicht mehr teilte. Noch heute, über vier Jahrzehnte später, ist diese Haltung nicht selbstverständlich. Berichte von Therapeuten, die behaupten, auf der Seite des Kindes zu stehen, geraten in den meisten Fällen in eine erzieherische Haltung, die den Autoren natürlich unbewußt bleibt, weil sie sie nie reflektierten. Obwohl manche meine Bücher zitieren und die Klienten dazu ermuntern, sich selbst gerecht zu werden und sich nicht den Forderungen anderer anzupassen, habe ich als Leserin das Gefühl, daß sie ununterbrochen Ratschläge geben, die man eigentlich nicht befolgen kann. Denn das, was ich als Ergebnis einer langen Geschichte verstehe, wird hier wie eine Unart geschildert, die man korrigieren sollte: ›Man sollte sich respektieren lernen, man sollte seine Qualitäten schätzen können, man müßte das und jenes.‹ Es gibt eine ganze Reihe von Informationen, die dem Menschen helfen wollen, sein Wertgefühl wiederzuerlangen, doch ohne seine Blockierungen aufheben zu können. Ich meine aber, daß ein Mensch, der sich nicht schätzen kann, nicht respektieren kann, sich seine Kreativität nicht erlauben darf, es nicht freiwillig tut. Seine Blockierungen sind das Ergebnis einer Geschichte, die er so genau wie möglich kennenlernen muß, emotional kennenlernen muß, um zu verstehen, wie er so geworden ist, wie er ist. Wenn er das verstanden hat, weil er das fühlen konnte, braucht er keine Ratschläge mehr. Nur einen Wissenden Zeugen, der mit ihm den Weg zu seiner Wahrheit gehen kann, auf dem er sich das gönnen wird, was er sich immer schon wünschte, aber versagen mußte: Vertrauen, Respekt und Liebe zu sich selbst. Er braucht den Abschied von der Erwartung, die Eltern würden ihm doch noch eines Tages das geben, was sie ihm in der Kindheit vorenthalten haben.

Deshalb konnten bisher nur wenige Menschen diesen Weg beschreiten, und so viele begnügen sich mit den Ratschlägen ihrer Therapeuten oder lassen sich von religiösen Vorstellungen daran hindern, ihre Wahrheit zu entdecken. Ich habe oben die Angst als den entscheidenden Faktor genannt, doch ich meine, daß diese Angst sich vermindern wird, wenn die Tatsachen der Kindermißhandlungen in der Gesellschaft nicht mehr tabuisiert werden. Bisher haben die Opfer von Mißhandlungen die Wahrheit eben aus der frühkindlichen Angst heraus verleugnet und dadurch dazu beigetragen, daß die Wahrheit durchweg verschleiert wurde. Aber wenn die ehemaligen Opfer zu erzählen beginnen, was ihnen geschehen ist, werden auch Therapeuten gezwungen sein, die Realitäten wahrzunehmen. Ich habe vor kurzem gehört, daß ein Psychoanalytiker in Deutschland öffentlich behauptete, er sähe selten ehemalige Opfer von Kindermißhandlungen in seiner Praxis. Diese Aussage ist erstaunlich, denn ich kenne keinen Menschen, der an psychischen Symptomen leidet und sich behandeln lassen will, ohne daß er in der Kindheit zumindest geschlagen wurde. Das nenne ich eine körperliche und seelische Mißhandlung, auch wenn diese Art von Demütigung seit Jahrtausenden bagatellisiert und als erzieherische Maßnahme bezeichnet wurde und wird. Es ist vielleicht nur eine Frage der Definition, aber die scheint mir in diesem Fall entscheidend.