II.5  Lieber morden, als die Wahrheit
zu fühlen

 

Das Phänomen der Serienmörder beschäftigte bis vor kurzem nur Fachleute. Die Psychiatrie hat sich kaum mit der Kindheit von Delinquenten befaßt und betrachtete Verbrecher als Menschen, die mit abartigen Instinkten auf die Welt gekommen seien. Es scheint sich auf diesem Gebiet etwas zu verändern und mehr Verständnis anzukündigen. Ein Artikel in Le Monde vom 8. Juni 2003 widmet sich erstaunlich ausführlich der Kindheit des Verbrechers Patrice Alègre, und aufgrund sehr weniger Einzelheiten wird klar, weshalb dieser Mann mehrere Frauen vergewaltigt und erwürgt hat. Um zu verstehen, wie es zu grausamen Morden kam, bedarf es weder komplizierter psychologischer Theorien noch der Annahme des angeborenen Bösen, sondern lediglich des Einblicks in die Familienatmosphäre des aufwachsenden Kindes. Diesen Einblick erhalten wir indes selten, weil die Eltern des Verbrechers zumeist geschont und von ihrer Mitschuld freigesprochen werden.

Nicht so im Le-Monde-Artikel. Da wird in wenigen Abschnitten eine Kindheit geschildert, die keine Zweifel an dem Warum der verbrecherischen Karriere läßt. Patrice Alègre war das älteste Kind eines sehr jungen Ehepaares, das sich überhaupt keine Kinder wünschte. Der Vater war Polizist, von dem Patrice in der Verhandlung erzählt, daß dieser nur nach Hause kam, um ihn zu schlagen und zu beschimpfen. Er haßte diesen Vater und flüchtete zu seiner Mutter, die ihn angeblich liebte und der er treu zu Diensten stand. Sie war Prostituierte, und abgesehen von den vom Gutachter vermuteten inzestuösen Befriedigungen mit dem Körper ihres Kindes brauchte sie den Jungen auch für die Rolle des Wächters beim Verkehr mit ihrer Kundschaft. Das Kind mußte an der Tür stehen und Meldung erteilen, wenn eine Gefahr drohte (vermutlich die Ankunft des zornigen Vaters). Patrice erzählte, daß er nicht immer zusehen mußte, was im Zimmer nebenan geschah, aber er konnte seine Ohren nicht verschließen, und er litt unsäglich unter dem ständigen Wimmern und Stöhnen seiner Mutter, die er schon als kleines Kind mit panischer Angst bei oralem Sex beobachtete.

Es mag sein, daß es vielen Kindern gelingt, ein solches Schicksal zu überleben, ohne später kriminell zu werden. Ein Kind hat oft ein unerschöpfliches Potential: Es kann auch später berühmt werden, wie etwa Edgar Allan Poe, der sich schließlich zu Tode trank, oder wie Guy de Maupassant, der seine tragische, verwirrende Kindheit in angeblich dreihundert Geschichten »verarbeitet« hat, aber nicht verhindern konnte, daß er, wie sein jüngerer Bruder schon vor ihm, psychotisch wurde und mit zweiundvierzig Jahren in der Klinik starb.

Patrice Alègre war es nicht beschieden, einen einzigen Menschen zu finden, der ihn aus seiner Hölle gerettet und ihm ermöglicht hätte, die Verbrechen seiner Eltern als solche zu sehen. So hielt er seine Umgebung für die Welt an sich und tat alles, um sich in ihr durchzusetzen und um sich mit Hilfe von Diebstählen, Drogen und Gewaltakten der Allmacht der Eltern zu entziehen. Vor dem Gericht sagte er vermutlich ganz wahrheitsgetreu, daß er bei den Vergewaltigungen keinerlei sexuelle Bedürfnisse verspürte, nur das Bedürfnis nach Allmacht. Es ist zu hoffen, daß diese Aussagen die Justiz darüber informieren können, womit sie zu tun hat. Denn vor beinahe dreißig Jahren hat ein deutsches Gericht noch beschlossen, den von seiner Mutter seelisch umgebrachten Kindermörder Jürgen Bartsch kastrieren zu lassen, in der Hoffnung, ihn operativ daran zu hindern, seine angeblich zu starken Sexualtriebe an Kindern auszulassen. Welch ein grotesker, unmenschlicher und ignoranter Akt! (vgl. AM 1980)

Gerichte müßten endlich zur Kenntnis nehmen, daß das Bedürfnis nach Allmacht des einst ohnmächtigen ungeachteten Kindes am Werke ist, wenn ein Mörder serienmäßig Frauen und Kinder umbringt. Das hat mit Sexualität sehr wenig zu tun, es sei denn, daß durch die Inzesterfahrungen die Ohnmacht an sexuelle Erlebnisse gebunden war.

Und trotz allem stellt sich die Frage: Gab es keinen anderen Ausweg für Patrice Alègre, als zu morden, als immer wieder die Frau mitten in ihrem Wimmern und Stöhnen zu erwürgen? Dem Außenstehenden wird sehr schnell klar, daß er immer wieder die Mutter in den verschiedenen Frauengestalten erwürgen mußte, die ihn zu diesen Qualen als Kind verdammt hatte. Aber er selber konnte das kaum einsehen. Daher brauchte er Opfer. Er behauptet noch heute, daß er seine Mutter liebe. Und weil niemand ihm half, weil er keinen Wissenden Zeugen fand, der ihm ermöglicht und erlaubt hätte, seine Todeswünsche der Mutter gegenüber zuzulassen, sie sich bewußtzumachen und zu verstehen, wucherten sie in ihm ununterbrochen und zwangen ihn, andere Frauen anstelle der Mutter umzubringen. »Ist das so einfach?« werden viele Psychiater fragen. Ja, ich meine, es ist viel einfacher als das, was wir gelernt haben, lernen mußten, um unsere Eltern ehren zu können und den Haß, den sie verdienten, nicht zu spüren. Aber der Haß eines Patrice hätte niemanden getötet, wenn er bewußt erlebt worden wäre. Er entstand aus der so oft gelobten Bindung an seine Mutter — der Bindung, die ihn zum Morden trieb. Nur von der Mutter konnte er als Kind Rettung erwarten, weil er neben seinem Vater in ständiger Todesgefahr schwebte. Wie kann sich ein Kind, das ununterbrochen vom Terror seines Vaters bedroht wurde, leisten, auch noch seine Mutter zu hassen oder zumindest zu sehen, daß es von ihr keine Hilfe erwarten kann? Es mußte sich eine Illusion erschaffen und sich an diese klammern, aber den Preis dieser Illusion bezahlten seine zahlreichen späteren Opfer. Gefühle töten nicht, und das bewußte Erlebnis seiner Enttäuschung über die Mutter, sogar seines Bedürfnisses, sie zu erwürgen, hätte niemanden umgebracht. Es ist das Unterdrücken des Bedürfnisses, das Abspalten sämtlicher negativer Gefühle, die sich unbewußt auf sie richteten, die ihn in seine verhängnisvollen Taten getrieben haben.