I.1 Die Ehr-Furcht vor
den Eltern und
ihre tragischen Folgen
– Dostojewski, Tschechow, Kafka,
Nietzsche
Anhand meiner Studien über zwei russische Schriftsteller, deren Werke mir in meiner Jugend sehr viel bedeuteten, Tschechow und Dostojewski, wurde mir klar, wie lückenlos der Mechanismus der Abspaltung noch vor einem Jahrhundert funktionierte. Als es mir endlich gelang, die Illusionen über meine Eltern aufzugeben und die Folgen ihrer Mißhandlungen in meinem Leben deutlich zu sehen, öffneten sich meine Augen für Fakten, denen ich früher keine Bedeutung beimaß. Ich las zum Beispiel in einer Biographie über Dostojewski, daß sein Vater, der zunächst Arzt war, in seinen späteren Jahren ein Gut mit hundert Leibeigenen erbte. Er ging allerdings so brutal mit diesen Menschen um, daß sie ihn eines Tages erschlugen. Die Brutalität dieses Gutsbesitzers muß weit über das normale Maß hinausgegangen sein, denn wie anders ist es zu erklären, daß die sonst verängstigten Leibeigenen eher bereit waren, die Strafe der Verbannung auf sich zu nehmen, als noch länger unter dieser Schreckensherrschaft zu leiden? Es war auch anzunehmen, daß der älteste Sohn dieses Mannes ebenfalls der Roheit des Vaters ausgesetzt war, und ich wollte sehen, wie der Autor weltbekannter Romane diese seine Geschichte verarbeitet hatte. Natürlich kannte ich seine Darstellung des erbarmungslosen Vaters im Roman Die Brüder Karamasow, aber ich wollte erfahren, wie sein reales Verhältnis zu seinem Vater war. So suchte ich nach entsprechenden Stellen in seinen Briefen. Ich las viele seiner Briefe, fand aber kein Schreiben an seinen Vater und nur eine einzige Erwähnung von dessen Person, die die volle Achtung und Liebe des Sohnes für ihn bezeugen sollte. Hingegen enthielten fast alle Briefe Dostojewskis Klagen über seine finanzielle Situation und Bitten um Unterstützung in Form von Darlehen. Aus ihnen spricht für mich deutlich die Angst eines Kindes vor der ständigen Existenzbedrohung sowie die verzweifelte Hoffnung auf das Verständnis für seine Not und auf das Wohlwollen des Adressaten.
Dostojewskis Gesundheitszustand war bekanntlich sehr schlecht. Er litt an chronischer Schlaflosigkeit und klagte über Alpträume, in denen sich vermutlich seine Kindheitstraumen meldeten, ohne daß ihm dies bewußt wurde. Er litt zudem jahrzehntelang unter epileptischen Anfällen. Dennoch haben seine Biographen kaum einen Zusammenhang zwischen diesen Attacken und der traumatischen Kindheit hergestellt. Sie haben ebenfalls nicht erkannt, daß hinter seiner Sucht nach dem Roulettespiel die Suche nach einem gnädigen Schicksal stand. Seine Frau half ihm zwar, von der Sucht loszukommen, aber auch sie konnte ihm nicht als Wissende Zeugin dienen, weil es damals noch mehr als heute absolut verpönt war, den eigenen Vater anzuklagen.
Eine ähnliche Konstellation fand ich bei Anton Tschechow, der in seiner Erzählung Der Vater die Person seines eigenen Vaters, einen ehemaligen Leibeigenen und Alkoholiker, vermutlich sehr genau schildert. Die Erzählung handelt von einem Mann, der trinkt, auf Kosten seiner Söhne lebt, sich mit ihren Erfolgen schmückt, um seine innere Leere zu überdecken, der aber nie versucht hat zu sehen, wer seine Söhne eigentlich sind, ein Mann, der nie ein Gefühl der Zärtlichkeit oder eigener Würde zeigt. Diese Erzählung gilt als Kunstwerk und war von Tschechows bewußtem Leben total abgespalten. Hätte der Autor fühlen können, wie sein Vater wirklich mit ihm umgegangen ist, würde er sich vermutlich geschämt haben oder in Empörung ausgebrochen sein, aber das war zu seiner Zeit undenkbar. Statt sich gegen seinen Vater aufzulehnen, hat Tschechow seine ganze Familie unterhalten, auch zu Zeiten, als er noch sehr wenig Geld verdiente. Er kam für die Wohnung seiner Eltern in Moskau auf, kümmerte sich liebevoll um sie und seine Brüder. Doch in seiner Briefsammlung entdeckte ich nur wenige Hinweise auf den Vater. Wenn dieser einmal erwähnt wird, bezeugen die Briefe die durchaus wohlwollende und verständnisvolle Haltung des Sohnes. Nirgends finden sich Spuren der Erbitterung über die grausamen Schläge, die er einst vom Vater fast täglich erhielt. Mit Anfang Dreißig ging Tschechow für einige Monate auf die Insel Sachalin, die eine Strafkolonie war, um, wie er sich ausdrückte, das Leben der Verdammten, Gefolterten, Geschlagenen zu beschreiben. Das Wissen, daß er zu ihnen gehörte, war vermutlich für ihn ebenfalls abgespalten. Die Biographen fuhren seinen frühen Tod mit vierundvierzig Jahren auf die grausamen Bedingungen zurück, die auf der Insel Sachalin herrschten. Dabei hatte Tschechow wie sein Bruder Nicolai, der noch früher daran starb, sein ganzes Leben an Tuberkulose gelitten.
In Du sollst nicht merken zeigte ich am Leben Franz Kafkas und anderer Schriftsteller auf, daß das Schreiben ihnen zum Überleben verhalf, aber nicht genügte, um das in ihnen eingesperrte Kind vollständig zu befreien, ihm seine einst verlorene Lebendigkeit, Sensibilität und Sicherheit zurückzugeben, weil der Wissende Zeuge für diese Befreiung unentbehrlich ist.
Franz Kafka hatte zwar in Milena und vor allem in Ottla, seiner Schwester, Zeuginnen seines Leidens. Er konnte sich ihnen anvertrauen, aber nicht mit seinen frühen Ängsten und seinem Leiden an den Eltern. Das blieb ein Tabu. Immerhin hat er schließlich den später berühmt gewordenen Brief an den Vater geschrieben, aber er sandte ihn nicht ihm zu, sondern der Mutter, mit der Bitte, ihn dem Vater auszuhändigen. Er suchte in ihr den Wissenden Zeugen und hoffte, sie werde sein Leiden dank dieses Briefes endlich verstehen und sich ihm als Vermittlerin anbieten. Doch die Mutter hat den Brief zurückgehalten und auch nie versucht, mit ihrem Sohn über dessen Inhalt zu sprechen. Ohne die Unterstützung eines Wissenden Zeugen war Kafka aber nicht in der Lage, sich mit seinem Vater zu konfrontieren. Die Furcht vor der drohenden Strafe war viel zu groß. Denken wir nur an die Erzählung Das Urteil, die diese Furcht beschreibt. Leider hatte Kafka niemanden, der ihn hätte unterstützen können, diesen Brief trotz seiner Angst abzuschicken. Vielleicht wäre das seine Rettung gewesen. Allein konnte er diesen Schritt nicht wagen, erkrankte statt dessen an Tuberkulose und starb bereits mit Anfang vierzig.
Ähnliches ist bei Nietzsche zu beobachten, dessen Tragik ich in Der gemiedene Schlüssel und in Abbruch der Schweigemauer geschildert habe. Nietzsches großartiges Werk verstehe ich als einen Schrei nach Befreiung von der Lüge, der Ausbeutung, der Heuchelei und der eigenen Anpassung, aber niemand, er selbst am wenigsten, konnte sehen, wie sehr er schon als Kind darunter gelitten hatte. Sein Körper jedoch spürte diese Last pausenlos. Schon als kleiner Junge hatte er mit Rheuma zu kämpfen, das, wie seine starken Kopfschmerzen, zweifellos auf das Zurückhalten der starken Emotionen zurückzuführen war. Er litt auch an unzähligen anderen Erkrankungen, angeblich bis zu hundert während eines Schuljahres. Daß es das Leiden an der verlogenen Moral war, die zu seinem Alltag gehörte, konnte niemand merken, da doch alle die gleiche Luft atmeten wie er. Aber sein Körper hat die Lügen deutlicher als die anderen Menschen gespürt. Hätte jemand Nietzsche geholfen, das Wissen seines Körpers zuzulassen, hätte dieser nicht den »Verstand verlieren« müssen, um bis an sein Lebensende für seine eigene Wahrheit blind bleiben zu können.