II.7  Wir dürfen merken

 

Eine Frau schrieb mir, daß sie sich in einer jahrelangen Therapie darum bemühte, den Eltern die zum Teil gefährlichen körperlichen Angriffe nachzusehen, weil die Mutter offenbar an einer Psychose litt. Je mehr sich die Tochter zu dieser Nachsicht zwang, desto tiefer versank sie in ihrer Depression. Sie fühlte sich wie in einem Gefängnis eingesperrt. Nur das Malen half ihr, ihre Suizidgedanken abzuwehren und sich am Leben zu erhalten. Nach einer Ausstellung verkaufte sie Bilder, und einige Agenten machten ihr große Hoffnungen. In ihrer Freude erzählte sie das ihrer Mutter, die sich ebenfalls freute und sagte: »Jetzt wirst du viel Geld verdienen und wirst dich um mich kümmern können.«

Als ich das las, erinnerte ich mich an eine Bekannte namens Klara, die mir wie nebenbei erzählte, ihr verwitweter, aber kerngesunder und geschäftstüchtiger Vater hätte am Tage ihrer Pensionierung, auf die sie sich »wie auf ein zweites Leben« freute, zu ihr gesagt: Jetzt wirst du endlich genug Zeit haben, um dich mehr um meine Geschäfte zu kümmern. Diese Bekannte, die sich ihr Leben lang mehr um andere kümmerte als um sich selbst, merkte gar nicht, daß diese Äußerung sich wie eine neue schwere Last auf sie legte, sie erzählte alles lächelnd, fast heiter. Auch die Familie fand, daß es jetzt tatsächlich an der Zeit wäre, wenn sie nun die Rolle der gerade verstorbenen, langjährigen Sekretärin übernehmen könnte, da sie doch frei sei. (Was soll denn die arme Klara anderes mit ihrer Freizeit tun, als sich für den Vater zu opfern?) Aber schon nach wenigen Wochen hörte ich, daß Klara an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war. Wenig später starb sie. Sie hatte die ganze Zeit an starken Schmerzen gelitten, und meine Versuche, sie an den Satz ihres Vaters zu erinnern, blieben erfolglos. Sie bedauerte, daß sie nun wegen dieser Krankheit nicht imstande war, ihm zu helfen, weil sie ihn sehr liebte. Sie wisse nicht, weshalb sie nun mit diesem Leiden geschlagen sei, sie war fast nie krank gewesen, alle hätten sie um ihre Gesundheit beneidet. Klara lebte sehr stark in ihren Konventionen, und ihre wahren Gefühle kannte sie offenbar kaum. So mußte der Körper sich melden, aber leider gab es niemanden in der Familie, der ihr geholfen hätte, den Sinn seiner Sprache zu entziffern. Nicht einmal ihre erwachsenen Kinder waren dazu bereit und in der Lage.

Anders erging es der Malerin. Sie spürte deutlich den Ärger auf ihre Mutter, als sie deren Reaktion auf die gut verkauften Bilder vernahm. Von da an erlahmte die Freude der Tochter für einige Monate, sie war unfähig zu malen und fiel wieder in ihre Depressionen. Sie beschloß, weder ihre Mutter zu besuchen noch die Freunde, die diese unterstützten. Sie hörte auf, den Zustand ihrer Mutter vor ihren Bekannten zu verstecken, fing an, sich mitzuteilen, und nun fand sie wieder ihre Energien und die Freude am Malen. Was ihr die Energien zurückgab, war das Zulassen der vollen Wahrheit über die Mutter und die schrittweise Aufgabe der Bindung, das heißt unter anderem des Mitleids und der Erwartung, sie könne die Mutter glücklich machen, damit sie sie eines Tages lieben könnte. Sie hat akzeptiert, daß sie diese Mutter nicht lieben kann, und sie wußte nun genau warum.

Geschichten dieser Art mit einem positiven Ausgang hört man eher selten, aber ich denke, daß sie sich mit der Zeit häufen werden, sobald es uns gelingt zu erkennen, daß wir den Eltern, die uns schwer verletzt haben, keine Dankbarkeit schulden und schon gar keine Opfer. Diese brachten wir ja nur den Phantomen, den idealisierten Eltern, die ja gar nicht existierten. Weshalb fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern? Warum bleiben wir an Beziehungen kleben, die uns an alte Qualen erinnern? Weil wir hoffen, daß sich dies eines Tages ändern wird, wenn wir nur das richtige Wort finden, die richtige Haltung einnehmen, das richtige Verständnis aufbringen. Aber das würde doch heißen, uns wieder so zu verbiegen, wie wir das in der Kindheit getan haben, um Liebe zu bekommen. Heute, als Erwachsene, wissen wir, daß unsere Bemühungen ausgebeutet wurden und daß dies keine Liebe war. Weshalb erwarten wir dennoch, daß Menschen, die uns, aus welchen Gründen auch immer, nicht lieben konnten, es letztlich tun werden?

Wenn es uns gelingt, diese Hoffnung aufzugeben, fallen auch die Erwartungen von uns ab und damit auch der Selbstbetrug, der uns unser Leben lang begleitet hat. Wir glauben nicht mehr, daß wir nicht liebenswert waren und beweisen müßten oder könnten, daß wir es sind. Es lag nicht an uns, es lag an der Situation unserer Eltern, an dem, was sie aus ihren Kindheitstraumen gemacht haben, wie weit sie in der Verarbeitung gekommen sind, und daran können wir nichts ändern, wir können nur unser Leben leben und unsere Einstellung verändern. Die meisten Therapeuten meinen, daß sich damit auch die Beziehungen zu den Eltern verbessern können, weil die reifere Haltung der erwachsenen Kinder die Eltern dazu bewegen würde, ihnen mehr Respekt zu zollen. Diese Auffassung kann ich nicht unbedingt bestätigen, ich habe vielmehr die Erfahrung gemacht, daß die positive Veränderung der erwachsenen Kinder selten positive Gefühle und Bewunderung in den einst mißhandelnden Eltern hervorruft. Sie reagieren im Gegenteil häufig mit Neid und Entzugserscheinungen und dem Wunsch, der Sohn oder die Tochter möge wieder so sein wie früher, das heißt unterwürfig, treu, tolerant für Mißachtungen und im Grunde depressiv und unglücklich. Das erwachte Bewußtsein ihrer erwachsenen Kinder macht vielen Eltern angst, und von der Verbesserung der Beziehung kann in vielen Fällen nicht die Rede sein. Es gibt aber auch Gegenbeispiele:

Eine junge Frau, die sich lange mit ihren Haßgefühlen gequält hat, sagte schließlich mit Angst und Herzklopfen zu ihrer Mutter: »Ich mochte diese Mutter nicht, die du für mich gewesen bist, als ich Kind war, ich haßte dich und durfte es nicht einmal wissen.« Die Frau war erstaunt, daß nicht nur sie selbst, sondern auch ihre schuldbewußte Mutter mit Erleichterung auf diese Mitteilung reagierte. Denn im stillen wußten sie ja beide, wie sie sich fühlten, aber jetzt war die Wahrheit endlich ausgesprochen. Von nun an konnte eine ganz neue, ehrliche Beziehung aufgebaut werden.

Eine aufgezwungene Liebe ist keine Liebe, sie führt höchstens zu einer Beziehung »als ob«, ohne echte Kommunikation, zu einem Vorspielen von Herzlichkeit, die nicht wirklich existiert, die wie eine Maske den Groll oder gar Haß zudecken soll, aber nie zu einer wahren Begegnung. Eines der Werke von Yukio Mishima heißt Geständnis einer Maske, Wie kann eine Maske wirklich erzählen, was der Mensch erlebt hat? Sie kann es nicht, und was sie bei Mishima erzählen konnte, war rein intellektuell. Er konnte nur die Folgen der Fakten zeigen, diese selber und die sie begleitenden Emotionen blieben aber seinem Bewußtsein verborgen. Die Folgen zeigten sich in krankhaften, perversen Phantasien, im sozusagen abstrakten Todeswunsch, denn die konkreten Gefühle des kleinen Kindes, das im Zimmer seiner Großmutter jahrelang gefangen war, blieben dem Erwachsenen unzugänglich.

Beziehungen, die auf einer maskenhaften Kommunikation beruhen, können sich nicht verändern, bleiben das, was sie schon immer waren: Fehlkommunikationen. Nur wenn es beiden Seiten gelingt, die Gefühle zuzulassen, sie zu erleben und diese ohne Angst mitzuteilen, ist eine echte Beziehung möglich. Es ist schön, wenn dies glückt, doch es geschieht selten, weil die Angst vor dem Verlust der bereits vertrauten Fassade und Maske auf beiden Seiten den echten Austausch verhindert.

Doch weshalb müßte man diesen Austausch ausgerechnet bei den alten Eltern suchen? Sie sind ja keine Partner im eigentlichen Sinne mehr. Die Geschichte mit ihnen ist in dem Moment abgelaufen, wo eigene Kinder da sind und die Auseinandersetzung mit dem Partner oder der Partnerin möglich ist. Der Friede, den sich so viele Menschen wünschen, kann nicht von außen geschenkt werden. Viele Therapeuten sind der Ansicht, daß man ihn durch Vergebung finden könne, doch diese Meinung wird immer wieder durch Fakten widerlegt. Wie wir wissen, beten alle Priester jeden Tag das »Vater unser«, sie bitten also um die Vergebung ihrer Schuld, mit dem Zusatz: »... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ...«, doch dieses hindert einige von ihnen nicht, dem Wiederholungszwang gehorchend, Kinder und Jugendliche zu vergewaltigen. Sie verdrängen, daß sie ein Verbrechen begehen. Damit schützen sie auch ihre Eltern und realisieren nicht, was diese an ihnen verbrochen hatten. Daher ist das Predigen der Vergebung hier nicht nur heuchlerisch und nutzlos, sondern auch gefährlich. Es verschleiert den Wiederholungszwang.

Was uns vor Wiederholung schützt, ist nur das Zulassen unserer Wahrheit, der ganzen Wahrheit, mit all ihren Aspekten. Wenn wir so genau wie möglich wissen, was unsere Eltern mit uns getan haben, sind wir nicht in Gefahr, deren Untaten zu wiederholen. Ansonsten tun wir es automatisch und haben die größten Widerstände gegen die Idee, man könne, dürfe und müsse die kindliche Bindung an die mißhandelnden Eltern auflösen, wenn man erwachsen werden und sein eigenes Leben in Frieden aufbauen will. Wir müssen die Verwirrung des kleinen Kindes aufgeben, die aus unserer einstigen Bemühung stammt, Mißhandlungen nachzusehen und einen Sinn daraus abzuleiten. Als Erwachsene können wir damit aufhören und auch verstehen lernen, auf welche Weise die Moral in den Therapien das Ausheilen der Verletzungen erschwert.

Einige Beispiele mögen im Konkreten illustrieren, wie sich das abspielt: Eine junge Frau ist verzweifelt, sowohl im Berufsleben als auch in ihren Beziehungen hält sie sich für eine Versagerin. Sie schreibt:

 

»Je mehr mir meine Mutter sagt, daß ich eine Null bin, daß ich nichts erreichen kann, desto mehr versage ich überall. Aber ich will doch meine Mutter nicht hassen, will Frieden mit ihr machen, will ihr vergeben, um mich endlich von meinem Haß zu befreien. Doch das gelingt mir nicht. Auch in dem Haß fühle ich mich durch sie gejagt, als ob sie mich hassen würde. Dabei kann das doch nicht stimmen. Was mache ich bloß falsch? Aber ich weiß, daß ich leiden werde, wenn es mir nicht gelingt, ihr zu vergeben. Denn meine Therapeutin sagte, wenn ich mit meinen Eltern Krieg führe, sei es das gleiche, als würde ich mit mir selbst Krieg fuhren. Natürlich weiß ich, daß man nicht vergeben soll, wenn man es nicht aus der Tiefe des Herzens tun kann, und ich fühle mich ganz verwirrt, denn es gibt Momente, in denen ich vergeben kann und Mitleid mit meinen Eltern fühle, und plötzlich werde ich wütend und lehne mich auf gegen das, was sie gemacht haben, und dann will ich meine Eltern gar nicht sehen. Ich will aber mein eigenes Leben leben, zur Ruhe kommen und nicht ständig daran denken, wie sie mich geschlagen, gedemütigt und fast gefoltert haben.«

 

Diese Frau ist überzeugt, daß sie sich in einen Krieg mit den Eltern begibt und dies das gleiche wäre wie einen Krieg mit sich selbst zu führen, wenn sie ihre Erinnerungen ernst nimmt und ihrem Körper treu bleibt. Das hat ihr die Therapeutin gesagt. Aber die Konsequenz dieser Aussage ist, daß diese Frau zwischen ihrem Leben und dem der Eltern überhaupt nicht unterscheiden kann, daß sie gar keine Identität haben und sich nur als Teil ihrer Eltern begreifen darf. Wie kommt die Therapeutin zu einer solchen Aussage? Ich weiß es nicht. Aber ich meine, in solchen Äußerungen die Angst der Therapeutin vor den eigenen Eltern wahrzunehmen. Es ist kein Wunder, daß die Klientin sich von dieser Angst und Verwirrung anstecken läßt und es nicht wagt, ihre Kindheitsgeschichte aufzudecken, um ihren Körper mit seiner Wahrheit leben zu lassen.

In einem anderen Fall schreibt eine sehr intelligente Frau, sie möchte nicht pauschale Urteile über ihre Eltern fällen, sondern die Dinge differenziert sehen. Denn obwohl sie als Kind geschlagen und sexuell mißbraucht wurde, hat sie doch auch gute Momente mit den Eltern erlebt. Die Therapeutin bestätigt sie darin, daß sie eben die guten und schlechten Momente gegeneinander abwägen sollte und als Erwachsene verstehen müsse, daß es keine perfekten Eltern geben könne und alle Eltern ihre Fehler machen müßten. Doch darum geht es ja nicht. Es geht darum, daß die nun erwachsene Frau die Empathie entwickeln müßte für dieses kleine Mädchen, dessen Leiden niemand gesehen hat, weil sie für die Interessen der Eltern gebraucht wurde, die sie, dank ihrer großen Begabung, perfekt erfüllen konnte. Wenn sie nun so weit ist, dieses Leiden zu spüren und dem Kind in sich eine Begleitung zu gönnen, sollte sie nicht die guten und die schlechten Momente gegeneinander aufrechnen, weil sie damit wieder in die Rolle des kleinen Mädchens schlüpft, das die Wünsche der Eltern erfüllen möchte: sie zu lieben, ihnen zu verzeihen, die guten Momente zu erinnern usw. Das Kind hat dies unentwegt versucht, in der Hoffnung, die Widersprüche der elterlichen Botschaften und Aktionen zu begreifen, denen es ausgesetzt war. Aber diese innere »Arbeit« hat seine Verwirrung nur noch verstärkt. Denn das Kind konnte unmöglich begreifen, daß die Mutter sich in einem inneren Bunker gegen die eigenen Gefühle verschanzt hatte und deshalb ohne Antennen für seine Bedürfnisse lebte. Und wenn die Erwachsene das begreift, sollte sie nicht das hoffnungslose Bemühen des Kindes fortsetzen, nicht versuchen, eine objektive Einschätzung zu erzwingen, das Gute dem Schlechten entgegenzuhalten, sondern nach ihren eigenen Gefühlen handeln, die wie alles Emotionale immer subjektiv sind: Was hat mich in meiner Kindheit gequält? Was durfte ich gar nicht fühlen?

Es geht nicht um eine pauschale Verurteilung der Eltern, sondern um das Auffinden der Perspektive des leidenden, sprachlosen Kindes und um die Aufgabe der Bindung, die ich als destruktiv bezeichne. Diese Bindung besteht, wie ich schon sagte, aus Dankbarkeit, Mitleid, Verleugnung, Sehnsucht, Beschönigung und zahlreichen Erwartungen, die stets unerfüllt bleiben und bleiben müssen. Der Weg zum Erwachsenwerden liegt nicht in der Toleranz für die erlittenen Grausamkeiten, sondern in der Erkenntnis seiner Wahrheit und im Wachsen der Empathie für das geschlagene Kind. Er liegt in der Realisierung, wie die Mißhandlungen das ganze Leben des Erwachsenen behindert haben, wie viele Möglichkeiten zerstört wurden und wieviel von diesem Elend an die nächste Generation ungewollt weitergegeben wurde. Diese tragische Feststellung ist nur möglich, wenn wir aufhören, die guten und die schlechten Seiten der mißhandelnden Eltern gegeneinander aufzurechnen, weil wir damit wieder in das Mitleid verfallen, in die Verleugnung der Grausamkeit, in der Annahme, dies sei eine differenziertere Auffassung der Dinge. Ich meine, daß es die kindliche Anstrengung ist, die sich hier spiegelt, und daß der Erwachsene diese Aufrechnung meiden muß, weil sie verwirrend ist und das eigene Leben behindert. Selbstverständlich brauchen Menschen, die in der Kindheit nie geschlagen wurden, nie sexuelle Gewalt über sich haben ergehen lassen müssen, diese Arbeit nicht zu machen, sie können ihre guten Gefühle in der Gegenwart ihrer Eltern genießen, diese auch ohne Einschränkung Liebe nennen und brauchen sich nicht zu verleugnen. Diese Bürde bleibt nur einst mißhandelten Menschen, und zwar dann, wenn sie nicht gewillt sind, den Selbstbetrug mit Erkrankungen zu bezahlen. Daß dies die Regel ist, erfahre ich beinahe täglich.

Eine Frau schreibt zum Beispiel im Forum, sie habe im Internet gelesen, man könne sich nicht wirklich helfen, wenn man die Eltern nicht mehr sehe. Dann würde man sich von ihnen verfolgt fühlen. Und genau das erlebe sie nun. Seitdem sie ihre Eltern nicht mehr besuche, müsse sie Tag und Nacht an sie denken und lebe in ständiger Angst. Das ist nur allzu begreiflich: Sie lebt in Panik, weil die angeblichen Experten im Internet ihre eigene Angst vor den Eltern bei ihr noch verstärkt haben. Die solcherart gepredigte Moral besagt, daß ein Mensch kein Recht auf sein eigenes Leben, seine Gefühle und Bedürfnisse habe. Vermutlich wird im Internet kaum etwas anderes zu finden sein, weil sich dort nichts anderes spiegelt als unsere Mentalität, die wir seit Tausenden von Jahren beibehalten: Ehre deine Eltern, damit du lange lebst.

Im ersten Teil dieses Buches zeigen die Biographien einzelner Schriftsteller, daß dies nicht immer der Fall ist, besonders bei Menschen, die als Kinder sehr sensibel und intelligent waren. Doch ein langes Leben ist auch noch kein Beweis dafür, daß die im Vierten Gebot enthaltene Drohung berechtigt ist. Ganz im Gegenteil: Es geht ja auch um die Qualität des Lebens. Es geht darum, daß sich die Eltern und Großeltern ihrer Verantwortung bewußt werden und nicht ihre Ahnen auf Kosten ihrer Kinder und Enkelkinder ehren, die sie gedankenlos sexuell mißhandeln, schlagen oder auf eine andere Art und Weise quälen, angeblich zu ihrem Besten. Oft können Eltern den eigenen Körper entlasten, wenn sie ihre überbordenden, ihren eigenen Eltern geltenden Gefühle an den Kindern abreagieren. Sie können allerdings schnell erkranken, wenn diese Kinder sich dann zumindest äußerlich entziehen.

Und die Kinder und Enkelkinder von heute dürfen merken, dürfen das glauben, was sie als Kinder sahen und spürten, und müssen sich nicht zur Blindheit zwingen. Denn sie bezahlten die aufgezwungene Blindheit mit körperlichen oder seelischen Erkrankungen, deren Ursachen so lange verschleiert waren. Wenn sie bei dieser Verschleierung nicht länger mitmachen, haben sie die Chance, die Kette der Gewalt und der Selbsttäuschung zu sprengen und keine Opfer von ihren Kindern mehr zu fordern.

Kürzlich wurden in einer Fernsehsendung Kinder gezeigt, die an Neurodermitis leiden, also am ständigen Jucken ihres ganzen Körpers. Die in dieser Sendung auftretenden Fachleute behaupteten übereinstimmend, diese Krankheit sei unheilbar. Von psychischen Ursachen dieses Juckens war überhaupt nicht die Rede, obwohl es auffallend war, daß Kinder, die mit ihren gleichaltrigen Leidensgenossen in der Klinik zusammentrafen, eine Besserung, wenn nicht Heilung aufwiesen. Schon diese Tatsache ließ mich als Zuschauerin vermuten, daß die Kontakte in der Klinik den Kindern das erleichternde Gefühl gaben, nicht der einzige Mensch mit diesem unverständlichen Symptom zu sein.

Kurz nach dieser Sendung lernte ich Veronika kennen, die während ihrer Therapie eine Neurodermitis entwickelte und mit der Zeit erkannte, daß gerade dieses Symptom es ihr ermöglichte, ihre frühe verhängnisvolle Bindung an den Vater aufzulösen. Veronika war das letzte Kind von fünf Mädchen; von ihren älteren Schwestern wurde sie sexuell ausgebeutet, ihre Mutter war Alkoholikerin und bedrohte mit unerwarteten Wutausbrüchen fortwährend die Existenz des Kindes. In dieser Situation gab sich das kleine Mädchen der vergeblichen Hoffnung hin, der Vater würde es einmal aus dieser Situation retten. Veronika idealisierte ihren Vater ihr Leben lang, obwohl gar kein Anlaß, keine Erinnerung bestand, die diese hohe Einschätzung jemals hätte bestätigen können. Der Vater war ebenfalls Alkoholiker und zeigte an seinen Töchtern lediglich sexuelles Interesse. Doch Veronika arrangierte sich mit ihrer Hoffnung, fünfzig Jahre lang blieb sie ihren Illusionen treu. Während ihrer Therapie litt sie allerdings unter einem starken Juckreiz, wenn sie mit Menschen zu tun hatte, denen sie sich nicht verständlich machen konnte und von denen sie Hilfe erwartete.

Veronika erzählte mir, daß es für sie lange ein Rätsel blieb, weshalb sie immer wieder von grausamen Juckanfällen geplagt wurde und nichts dagegen tun konnte, außer wütend zu sein, daß sie sich kratzen mußte. In diesem Schrei ihrer Haut verbarg sich, wie sich später zeigte, die Wut auf ihre ganze Familie, aber vor allem auf den Vater, der für sie niemals vorhanden war, dessen Retterrolle sie sich aber ausgedacht hat, um die Einsamkeit in der mißhandelnden Familie auszuhalten. Daß diese Rettungsphantasie fünfzig Jahre lang überdauerte, machte die Wut natürlich noch größer. Aber mit Hilfe der Therapeutin fand sie schließlich heraus, daß sich der Juckreiz stets dann einstellte, wenn sie ein Gefühl zu unterdrücken versuchte. Es ließ sie nicht in Ruhe, bis sie das Gefühl zulassen und erleben konnte. Dank ihrer Gefühle merkte sie schließlich immer deutlicher, daß sie eine Phantasie um ihren Vater herum baute, die keinerlei reale Fundamente hatte. In allen ihren Beziehungen mit Männern lebte diese Phantasie auf. Sie wartete, daß der geliebte Vater sie vor der Mutter und den Schwestern in Schutz nehmen und ihre Not verstehen würde. Daß dies nicht geschah und nicht geschehen konnte, wäre für jeden Außenstehenden leicht erkennbar gewesen. Nur für Veronika selbst war gerade diese realistische Sicht völlig undenkbar, sie fühlte sich, als müsse sie sterben, wenn sie die Wahrheit zulassen würde.

Das ist verständlich, denn in ihrem Körper lebte das ungeschützte Kind, das ohne die Illusion, der Vater würde helfen, hätte sterben müssen. Doch als Erwachsene konnte sie diese Illusion aufgeben, weil das Kind nicht mehr allein mit seinem Schicksal war. Von nun an existierte in ihr der erwachsene Teil, der es beschützen konnte, der das tun konnte, was der Vater nie getan hatte: das Kind in seiner Not zu verstehen und es vor Mißbrauch zu bewahren. Das erlebte sie im Alltag immer wieder, da es ihr endlich gelang, nicht mehr wie früher die Bedürfnisse ihres Körpers zu ignorieren, sondern diesen voll und ganz ernst zu nehmen. Der Körper signalisierte diese Erfordernisse später nur mit einem leichten Juckreiz, der ihr jeweils klarmachte, daß das Kind ihren Beistand brauchte. Obwohl Veronika einen verantwortungsvollen Beruf ausübte, hatte sie die Tendenz, sich an Menschen zu binden, denen sie im Grunde gleichgültig war, und ihnen total hörig zu werden, solange sie nicht das wahre Verhalten ihres Vaters durchschaute. Das hat sich nach der Therapie vollständig verändert. Sie fand in ihrem Körper einen Verbündeten, der wußte, wie sie sich helfen kann. Und genau das sollte meines Erachtens das Ziel jeder Therapie sein.

Dank der hier geschilderten und ähnlicher Entwicklungen, die ich in den letzten Jahren beobachtet habe, wurde mir eines klar: Die so früh durch unsere Erziehung übernommene Moral des Vierten Gebotes muß ausgeschaltet werden, um einen positiven Therapieausgang zu gewährleisten. Aber leider führt in allzu vielen Therapien die Moral der Schwarzen Pädagogik entweder von Anfang an Regie oder wird irgendwann im Laufe der Therapie eingesetzt, weil der Therapeut sich von diesen Zwängen noch nicht befreit hat. Häufig wird das Vierte Gebot mit den Geboten der Psychoanalyse gekoppelt. Sogar dann, wenn dem Klienten eine Zeitlang geholfen worden war, die erlittenen Verletzungen und Mißhandlungen endlich zu sehen, wird, wie ich oben ausgeführt habe, früher oder später darauf hingewiesen, daß ein Elternteil auch gute Seiten gehabt und dem Kind auch vieles gegeben habe, für das der Erwachsene jetzt dankbar sein müsse. Schon ein solcher Hinweis genügt, um den Klienten wieder total zu verunsichern, denn es ist gerade diese Bemühung, die guten Seiten der Eltern zu sehen, die ihn zum Verdrängen seiner Wahrnehmungen und Gefühle geführt hat, wie Kertész es so eindrucksvoll in seinem Buch beschrieben hat.

 

Laura hat sich auf einen Therapeuten eingelassen, der ihr zunächst ermöglichte, zum ersten Mal ihre Maske abzulegen, ihre Härte als künstlich zu erkennen und sich einem Menschen anzuvertrauen, der ihr half, den Zugang zu ihren Gefühlen zu finden und auch ihre kindliche Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit zu erinnern. Laura hatte ähnlich wie Veronika die Rettung vor der Kälte ihrer Mutter beim Vater gesucht; im Unterschied zu Veronikas Vater jedoch zeigte er ein viel größeres Interesse an dem kleinen Mädchen und spielte manchmal sogar mit ihm, so daß er Hoffnung auf eine gute Beziehung im Kind aufrechterhielt. Doch Lauras Vater hatte von den Züchtigungen der Mutter gewußt und trotzdem das Kind bei ihr gelassen, hat es nicht geschützt, hatte keine Verantwortung für das Kind übernommen. Und was das Schlimmste war, er hat im Kind die Liebe geweckt, die er eigentlich nicht verdiente, schrieb sie mir. Mit dieser Liebe lebte die junge Frau bis zu einer Erkrankung, deren Sinn sie mit Hilfe von Therapeuten zu verstehen versuchte. So schien ihr Therapeut erst sehr vielversprechend zu sein, mit seiner Hilfe gelang es Laura, die Mauer der Abwehr in sich abzubauen, doch schließlich begann er, mehr und mehr eine Mauer aufzubauen, als in Lauras Gefühlen der Verdacht der inzestuösen Ausbeutung durch den Vater auftauchte. Er sprach dann plötzlich von ödipalen Wünschen des Kindes, und damit verwirrte er Laura in ähnlicher Weise, wie ihr Vater das mit ihr getan hatte. Er opferte sie seiner eigenen Schwäche und seinen unverarbeiteten, weil verdrängten Erinnerungen. Er bot ihr die analytische Theorie statt der Empathie eines Wissenden Zeugen an.

Laura konnte zwar dank ihrer Belesenheit die Flucht des Therapeuten durchschauen, aber sie wiederholte mit ihm das gleiche Muster, da ihre Beziehung zum Vater unaufgelöst blieb. Sie war dem Therapeuten und dem Vater weiterhin dankbar für das, was sie von ihnen erhalten hatte, gehorchte auf diese Weise der traditionellen Moral und konnte ihre kindliche Bindung in beiden Fällen nicht auflösen. So bestanden die Symptome weiter, trotz der Primär- und Körpertherapie, die sie dann versuchte. Den Sieg schien die Moral davonzutragen, der ihre Geschichte und ihr Leiden in vielen Therapien geopfert wurde, bis es Laura mit Hilfe einer Gruppentherapie möglich wurde, ihre unbegründete Dankbarkeit und ihre Schuldgefühle aufzugeben, das Versagen ihres Vaters in ihrer Kindheit mit allen Folgen wahrzunehmen und zu sehen, daß hier ihre eigene Verantwortung für ihr Leben lag.

Von da an hat sie buchstäblich, dank des Zulassens ihrer Wahrheit, ein neues, kreatives Leben führen können. Sie wußte nun, daß ihr heute keine Gefahr mehr droht, wenn sie merken darf, daß ihr Vater ganz einfach ein Schwächling war, daß er ihr nie geholfen hat, weil er es gar nicht wollte und weil er sie dazu gebraucht hatte, seine eigenen Verletzungen an ihr abzureagieren, um sie nie spüren zu müssen. Und der Körper fühlte sich durch dieses Merken offenbar beruhigt, denn der Tumor, den die Ärzte unbedingt operieren wollten, hat sich sehr schnell zurückgebildet.

In einer ihrer früheren Therapien wurde Laura die Methode der Visualisierung angeboten, auf die sie damals große Hoffnungen setzte. Als es ihr einmal gelang, eine Szene zu erinnern, in der ihr ansonsten idealisierter Vater sie mit siebzehn Jahren aus Eifersucht geschlagen hatte, meinte die Therapeutin, sie sollte sich ihren Vater jetzt als freundlich vorstellen und versuchen, durch dieses positive Bild das alte, negative zu ersetzen. Das half Laura tatsächlich, ihre Idealisierung des Vaters noch auf einige Jahre auszudehnen. Inzwischen wuchs der Tumor in ihrer Gebärmutter, bis sie sich entschloß, sich der Wahrheit, die ihre echte Erinnerung ihr signalisierte, zu stellen.

Solche und ähnliche Techniken werden in Therapien angeboten, um, wie es heißt, negative Gefühle in positive umzuwandeln. Diese Manipulation dient gewöhnlich der Verstärkung der Verleugnung, die seit jeher dem Klienten geholfen hat, sich dem Schmerz seiner (von den authentischen Emotionen angedeuteten) Wahrheit zu entziehen. Der Erfolg solcher Methoden kann daher nur von kurzer Dauer sein und ist sehr problematisch. Denn die ursprüngliche negative Emotion war ein wichtiges Signal des Körpers. Wenn ihre Botschaft ignoriert wird, muß der Körper neue Botschaften ausschicken, um angehört zu werden.

Künstlich erzeugte positive Gefühle sind nicht nur von kurzer Dauer, sie belassen uns auch im Zustand des Kindes, mit dessen kindlichen Erwartungen, die Eltern würden eines Tages nur ihre guten Seiten zeigen und wir bräuchten nie Wut auf sie oder Angst vor ihnen zu fühlen. Doch wir müssen (und können) uns ja gerade von diesen kindlichen illusorischen Erwartungen befreien, wenn wir erwachsen werden und in unserer heutigen Realität leben wollen. Dazu gehört, daß wir auch die sogenannten negativen Emotionen leben dürfen und diese in sinnvolle Gefühle umwandeln können, indem wir deren wirkliche Ursachen ausmachen, anstatt sie so schnell wie möglich aus der Welt schaffen zu wollen. Gelebte Emotionen dauern nicht ewig. (Trotzdem können sie in dieser kurzen Zeit blockierte Energien befreien.) Nur in der Verbannung nisten sie sich im Körper ein.

Massagen zur Entspannung und allerlei Körpertherapien können zeitweise eine große Erleichterung bringen, indem sie zum Beispiel Muskeln und Bindegewebe vom Druck der verdrängten Emotionen befreien, Spannungen lindern und so Schmerzen beseitigen können. Doch dieser Druck kann sich schon am nächsten Tag wieder einstellen, wenn die Ursachen dieser Emotionen unbekannt bleiben, weil die Straferwartung des Kindes in uns noch sehr stark ist und wir daher Angst haben, die Eltern oder ihre Ersatzpersonen zu verärgern.

Ebenso wenig wirksam sind die so häufig empfohlenen Übungen zum »Herauslassen« der Wut, vom Kissenschlagen bis zum Boxen, solange die Personen geschont werden müssen, denen diese Wut in erster Linie gilt. Laura hat viele solcher Übungen ausprobiert, immer mit nur temporärem Erfolg. Erst als sie bereit war, das ganze Ausmaß ihrer Enttäuschung über ihren Vater wahrzunehmen und nicht nur die Wut, sondern auch den Schmerz und die Angst zu spüren, hat sich ihr Uterus ohne Entspannungsübungen wie von selber vom lästigen Tumor befreit.