achtes kapitel
Während der kurzen Reise zum Alpha Centauri hatte sie keine Zeit, um sich über ihren neuen Ruf als Jonas Gedanken zu machen. Einige Mannschaftsmitglieder der Destiny Calls zeigten hysterische Symptome, die auf traumatischen Stress hindeuteten. Es kam unter ihnen zu einigen Streitigkeiten und handgreiflichen Auseinandersetzungen, die der Oberarzt des Schiffes als Reaktion auf die durchlittene Gefahrensituation diagnostizierte. Um Gewalttaten zu verhindern, wurde Lunzie von Dr. Harris damit beauftragt, eine Therapie zu entwickeln. Er hatte ihren Unterlagen entnommen, daß sie zur Behandlung von Geistesstörungen, wie sie im Weltraum vorkamen, ausgebildet war, deshalb vertraute er ihr die Patienten an.
»Jetzt, wo alles vorbei ist, fällt ihnen plötzlich ein, daß sie eine Reaktion zeigen müssen«, sagte Harris während einer Besprechung vertraulich zu Lunzie. »Das ist nach großen Belastungen nicht ungewöhnlich. Ich werde mich nicht in die Sitzungen einmischen. Ich werde nur beobachten. Die Leute kennen Sie und vertrauen Ihnen. Mir dagegen würden sie sich nicht richtig öffnen können. Vielleicht kann ich mir von Ihnen ein paar technische Kniffe abschauen.«
Lunzie veranstaltete Gruppensitzungen für die Mannschaftsmitglieder des Destiny Calls. Fast alle Überlebenden besuchten die täglichen Zusammenkünfte, wo sie mit einiger Leidenschaft über ihre Angstgefühle und ihren Unmut redeten. Lunzie hörte mehr zu, als daß sie selbst redete, machte sich Notizen und warf gelegentlich eine Frage oder eine Bemerkung ein, wenn das Gespräch ins Stocken geriet oder vom Thema abkam; und sie achtete darauf, welche ihrer Patienten noch eine ausgiebigere, persönliche Therapie benötigte.
Lunzie stellte fest, daß die Gruppensitzungen ihr ebensogut taten wie den übrigen Mannschaftsmitgliedern. Ihre eigenen Ängste und Befürchtungen kamen zur Sprache und wurden gründlich diskutiert. Zu ihrer Erleichterung schien niemand den Respekt vor ihr als Therapeutin zu verlieren, wenn sie über ihre eigenen Gefühle sprach. Die anderen hatten Mitgefühl mit ihr und schätzten es, daß sie sich um ihr seelisches Wohlergehen sorgte, nicht aus einer klinischen Perspektive, sondern als eine von ihnen.
Die Energieanlagen- und Triebwerktechniker hatten die stärksten Belastungen ertragen müssen, aber die schlimmsten paranoiden Störungen kamen bei den Serviceleuten vor. Sie klagten über das Gefühl der Hilflosigkeit während der Zeit, als sie wach geblieben waren und geholfen hatten, die Destiny Calls zu säubern, weil sie nichts tun konnte, um die Situation für sich und die anderen erträglicher zu gestalten. Im Interesse der geistigen Gesundheit der Mehrheit hatte Captain Wynline angeordnet, daß alle seelisch angeschlagenen Mannschaftsmitglieder in den Kälteschlaf versetzt wurden. Damit weiter effektive Arbeit an den Systemen geleistet werden konnte, von denen ihr Überleben abhing, mußten die Techniker von zusätzlichen Belastungen abgeschirmt werden.
»Eben noch hatten wir unsere Arbeit, und von einem Moment zum anderen wurden wir gerettet, während wir schliefen«, klagte Voor, eine der gurnsanischen Köchinnen, mit ihrer sanften Stimme. »Wir hatten keine Zeit, uns an die neuen Umstände zu gewöhnen.«
»Keine Übergangsphase, meinen Sie?« fragte Lunzie.
»Genau«, sagte einer ihrer Vorgesetzen, ein Mensch. »Einfach betäubt und weggepackt zu werden wie ein Stück Gepäck – so behandelt man doch keine empfindungsfähigen Wesen.«
Perkin und die anderen leitenden Techniker verteidigten die Maßnahmen ihres Captains.
»Ganz im Gegenteil. Im Interesse der allgemeinen psychischen Verfassung mußte Hysterie im Keim erstickt werden«, beharrte Perkin. »Ich hätte mich nicht konzentrieren können. Ein Kälteschlaf ist schließlich nicht tödlich.«
»Es kann passieren! Leben und Tod – mein Leben und mein Tod – sind mir aus den Händen genommen worden.«
Lunzie ging auf diese Bemerkung ein. »Das hört sich so an, als habe Sie weniger der Kälteschlaf gestört als der Befehl, sich in den Kälteschlaf zu begeben.«
»Nun ja …« Der Mann dachte für einen Moment darüber nach. »Ich nehme an, wenn der Captain um Freiwillige gebeten hätte, wäre ich dabeigewesen. Ich gehe nicht gern drauf.«
Captain Wynline räusperte sich. »In diesem Fall muß ich mich entschuldigen, Koberly. Ich bin auch nur ein Mensch, und ich war selbst starken Belastungen ausgesetzt. Ich bitte Sie um Verzeihung.«
Es wurden lautstarke Proteste geäußert. Viele von den anderen brüllten Koberly nieder, einige bestanden aber kämpferisch darauf, daß Wynline sich entschuldigen müsse.
»Sind Sie damit zufrieden?« fragte Lunzie aufmunternd.
Der Mann zuckte die Achseln und schaute zu Boden. »Ich schätze schon. Geben Sie mir das nächste Mal die Gelegenheit, mich freiwillig zu melden, ja?«
Wynline nickte ernst. »Sie haben mein Wort.«
»Was ist mit dem Gerücht, daß wir für unsere Ausfallzeit nicht bezahlt werden?« fragte Chibor den Captain.
Wynline ging fast automatisch in die Defensive. »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber weil das Schiff als verloren eingestuft wurde, ist das Paraden-Konzern der Ansicht, daß die Mannschaft unnötigerweise ihr Leben riskiert hat. Nur die Mannschaftsmitglieder, die aus den Fluchtkapseln geborgen wurden, werden rückwirkend bezahlt. Unser Vertrag endete an dem Tag, als die Versicherungsgesellschaft für den Verlust der Destiny Calls bezahlt hat.«
Die Betroffenen schrien laut auf. »Das können sie uns nicht antun!« protestierte Koberly. »Wir müssen die zehn Jahre bezahlt bekommen!«
»Wo ist Gerechtigkeit, wenn man sie mal braucht?«
Dr. Harris räusperte sich. »Der Captain will den Paraden-Konzern auf Erstattung der Kosten für die Rettungsaktion verklagen. Sie können die Klageschrift alle mit unterschreiben. Wir werden vor dem Vernehmungsautomaten unsere Aussagen machen, wenn wir Alpha Centauri erreichen.«
* * *
Lunzie und eine Handvoll Mannschaftsmitglieder von der Destiny Calls sahen sich im Freizeitraum die Aufnahmen einer Außenkamera an, als die Ban Sidhe in einen stationären Orbit um Alpha Centauri eintrat. Es war das erste Mal, daß sie dem Mittelpunkt der besiedelten Galaxis so nah gekommen war. Die Infrarotaufnahmen von der Nachtseite des Planeten zeigten eine fast lückenlose Wärmeabstrahlung auf den Landmassen und teilweise sogar unter dem Meer, was auf Bevölkerungszentren hindeutete. Lunzie hatte noch nie einen so dicht bevölkerten Planeten gesehen. Und irgendwo da unten auf dieser Welt lebte ihre Familie. Lunzie konnte es nicht abwarten, sie kennenzulernen.
Zwei unvorstellbar lange Schichten später erhielt sie die Erlaubnis, im Landeshuttle hinunterzufliegen. Sie stopfte einen kleinen Reisesack mit Kleidungsstücken, Toilettenartikeln und Fionas Hologramm voll. Nachdem sie ihre neue Kurzhaarfrisur vor dem Toilettenspiegel hastig zurechtgemacht hatte, eilte sie in die Luftschleuse. Dort warteten bereits, umgeben von ihren Habseligkeiten, einige Köche von der Destiny Calls auf das Shuttle.
»Ich bleibe hier«, erklärte Koberly, »bis sich das Tribunal meine Vorwürfe gegen die Destiny Lines anhört. Ich werde es nicht zulassen, daß diese Gangster mich erst für zehn Jahre auf Eis legen und mir dann meine Rechte verweigern.«
»Ich bleibe einfach so«, sagte Voor und drückte den Koffer mit ihren Küchenutensilien an ihren erstaunlichen Doppelbusen. »Für gute Köche gibt’s auf besiedelten Planeten immer gute Jobs. Ich werde mich in den größten und besten Hotels in Alpha City vorstellen. Sie werden sich eine Pastetenbäckerin, die kurzfristig für die Bewirtung von zehntausend Leute sorgen kann, nicht entgehen lassen.«
Koberly schüttelte über die selbstgefällige Einstellung der Gurnsanerin mitleidig den Kopf. »Seien Sie nicht dumm. Sie sind eine Künstlerin, Mädchen. Sie sollten sich nicht um einen Job bewerben, nur weil Sie schnell sind oder Ihre eigene Milch mitbringen. Servieren Sie ihnen eine Kostprobe. Wenn man erst Ihre köstlichen Desserts probiert hat, wird man Ihnen alles geben, damit Sie zusagen. Alles.«
»Sie sind zu freundlich«, protestierte Voor zaghaft und schüttelte ihren breiten Kopf.
»Ich bin seiner Meinung«, fügte Lunzie aufrichtig hinzu. »Vielleicht sollten Sie eine Vorführung veranstalten und Ihre Dienste an den Interessenten mit dem höchsten Gebot verkaufen.«
»Wenn Sie mögen, werde ich das Geschäftliche für Sie regeln«, sagte eine Stimme hinter Lunzie. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten, während Sie warten? Ich habe jetzt auch einen Landurlaub vor mir.« Es war Tee, der in seiner weißen Ausgehuniform wie eine Nova strahlte. Lunzie und die anderen begrüßten ihn herzlich.
»Es wäre mir eine Freude, Fähnrich«, sagte Voor. »Sie haben mir das Leben gerettet. Ich werde mich immer freuen, Sie zu sehen.«
»Ich habe dich in den letzten Tagen nicht oft zu Gesicht bekommen«, sagte Lunzie und hoffte, daß es nicht wie ein Vorwurf klang.
Tee grinste und zeigte seine weißen Zähne. »Dafür habe ich dich gesehen! Du hast die Therapiesitzungen geleitet wie eine große Dirigentin. Ich habe hinten im Saal gestanden und zugehört, wie erst der eine das Wort ergreift, dann der nächste, und du am Ende ihre Probleme löst. Du bist so weise.«
Lunzie lachte. »In diesem Fall waren die Klagen leicht zu diagnostizieren. Ich habe dasselbe durchgemacht.«
Hinter der polierten Stahltür zischte etwas und Metall kreischte über Metall. Um den Rand der Luke fingen rote Lichter an zu blinken, und eine Sirene tönte. Lunzie und die anderen wichen erschrocken zurück.
»Es ist nur die Luftschleuse«, erklärte Tee. »Wenn ein echter Notfall einträte, wären wir ihr ohnehin zu nahe.«
Mit einem Zischen glitt die Tür zurück, und der Shuttlepilot erschien in der leeren Kammer. Er winkte die Passagiere herein. »Na los. Sind alle fertig?«
»Ja!« Der Pilot machte Platz, als seine Fluggäste sich an ihm vorbeizwängten.
* * *
»Frische Luft!« Lunzie trat aus dem Raumhafen in Alpha City und spürte zum ersten Mal, seit sie Astris verlassen hatte, den Hauch eines natürlichen Windes. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und holte tief Luft -und stieß sie keuchend in einem Hustenanfall gleich wieder aus.
»Wa … was ist denn mit der Luft los?« fragte sie, schnüffelte mißtrauisch und runzelte die Nase über den Geruch. Er erinnerte an Chemikalien und verrottende Vegetation. Lunzie blickte zum Himmel auf und bemerkte, daß die Sonne von einem gräulichen Schleier umgeben war, der über den Dächern der Stadt schimmerte.
»Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht, Doktor Lunzie«, erklärte ein Flottenfähnrich. »Die gute Nachricht ist, daß es natürliche Luft ist, die nicht eine Millionen Mal neu mit Sauerstoff angereichert wurde. Die schlechte Nachricht ist, daß die Menschen, die auf Alpha Centauri leben, sie seit Jahrtausenden verseuchen. Die Luft ist voller Abgase.«
»Uff! Wie können sie sich das selber antun?« klagte Lunzie und wischte sich die tränenden Augen mit einem Taschentuch ab. »Es ist die Luft, die sie armen!«
Tee nahm ihr Gepäck und winkte einen Bodenwagen heran. »Wenn wir weiter weg sind vom Raumhafen, dürfte es nicht mehr so schlimm sein. Na komm.« Er trieb sie die Betonrampe hinunter in den isolierten Wagen.
»Wohin fährt du?« wollte Lunzie wissen, als sie wieder sprechen konnte. Sie schnauzte laut in ihr Taschentuch.
»Wir fahren zusammen. Ich werde mir auf keinen Fall deine Wiedervereinigung mit deiner Familie entgehen lassen. Ich habe eine Einladung von Melanie.«
»Ihr Ziel bitte«, sagte die roboterhafte Stimme des Bodenwagens. »Mit oder ohne Reiseführer?«
Tee nannte eine Adresse. »Was meinst du, Lunzie? Soll er uns unterwegs etwas über die Sehenswürdigkeiten erzählen?«
Lunzie warf durch die Scheiben einen Blick auf das unüberschaubare Panorama aus grauen Gebäuden, grauen Straßen und grauer Luft. Die einzigen Farbtupfer waren die Kleidungsstücke der wenigen Fußgänger. »Ich glaube nicht. Es sieht kilometerweit in jeder Richtung alles gleich aus, und es ist düster. Ich will einfach schnell ans Ziel kommen und meine Familie kennenlernen. Ich frage mich, wie sie sich in den zehn Jahren verändert haben. Meinst du, ob schon wieder neue Kinder geboren wurden?«
»Aber bestimmt! – Kein Reiseführer«, befahl Tee.
»Bestätigt.«
Tee plauderte lebhaft mit ihr, als sie über die Autobahn auf Melanies Haus zuschwebten. Nachdem sie die Ban Sidhe hinter sich gelassen hatten, war Tee wieder ganz er selbst, mitteilsam und herzlich. Lunzie kam zu dem Schluß, daß die militärische Atmosphäre an Bord eines Flottenschiffs ihn daran hinderte, sein gewöhnlich gutgelauntes Wesen auszuleben. Sie war erleichtert, daß er sich besser fühlte.
Es dämmerte schon, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Der Bodenwagen spuckte sie in der Vorstadt Shaygo aus, nur zweihundert Kilometer von Alpha City entfernt. Lunzie hatte keinen Anhaltspunkt, wo die eine Stadt aufgehört und die andere angefangen hatte. Sie waren im Laufe der Jahre offensichtlich zusammengewachsen. Es gab keine offene Flächen, keine Parks, keinen freien Himmel, unter dem etwas wachsen konnte, nur verschlungene Straßen und Überführungen, über die Tausende ähnlicher, hülsenartiger Bodenwagen hinwegrasten. Die Triebwerkstrahlen von Flugzeugen überzogen den Himmel mit weißen Streifen zwischen den hohen Gebäuden. Lunzie fand den Anblick deprimierend.
Das Reihenhaus stand am Ende eines kleinen, ansteigenden Grundstücks. Zwischen zwei Baumreihen führte ein Gehweg zur Tür. Ein Geflirre winziger Lämpchen neben der Tür ergab den Namen ›Ingrich‹. Von den Gärten abgesehen waren alle Häuser identisch. Melanies Garten war ein Meer farbiger Blüten und hochwachsender Kräuter, die ihre Beete in dem gestutzten Rasen überwucherten, ein Tupfer von Individualität in einer Straße der Gleichförmigkeit.
»Bei Muhiah, hier möchte ich nicht betrunken nach Hause kommen«, sagte Lunzie und schaute die endlose Reihe auf und ab. Auf der anderen Straßenseite sah es genauso aus. Drei Geschosse mit verhangenen Fenstern ragten über ihnen auf.
»Das Robotertaxi würde dich sicher nach Hause bringen«, versicherte ihr Tee.
Sie hörte Geräusche aus dem Haus, als sie näher kamen, und plötzlich öffnete sich die Tür zu einem leuchtenden Rechteck. Eine füllige Frau mit weichem roten Haar stürmte heraus und faßte sie an der Hand. Lunzie erkannte sie sofort. Es war ihre Enkeltochter.
»Du bist Lunzie, nicht wahr?« Die Frau strahlte. »Ich bin Melanie. Willkommen! Endlich bist du da! Und Bürger Janos. Ich bin so froh, Sie zu sehen.«
»Tee«, sagte Tee und ließ sich umarmen.
»Wie schön, dich endlich kennenzulernen«, rief Lunzie. »Ich bin dir so dankbar, daß du deine Einladung aufrecht erhalten hast, nachdem ich euch das letzte Mal versetzt habe.«
»Aber natürlich. Wir wollten dich doch kennenlernen. Komm rein. Alle haben auf dich gewartet.« Melanie schlang einen Arm um Lunzies Hüfte und führte sie ins Haus. Tee folgte ihnen mit einem amüsierten Lächeln. »Mutter war so enttäuscht darüber, daß du beim letzten Mal nicht erschienen bist. Aber als wir von dem Unglück erfuhren, waren wir sehr traurig darüber, daß sie mit dem falschen Eindruck abgereist war. Ich habe eine Nachricht nach Eridani geschickt, damit sie weiß, was geschehen ist und daß es dir gut geht, aber der Planet ist so weit weg, daß die Nachricht immer noch unterwegs sein könnte. Ich habe keine Ahnung! Nur die Götter des Chaos wissen, wann die Nachricht sie erreichen wird. Es gab in letzter Zeit viele Probleme mit der Übermittlung. Und keine Erklärung von den Verantwortlichen.«
Sie führte ihre Gäste in ein hell erleuchtetes Zimmer mit weißen Wänden und Teppichen, dekoriert mit farbigen Wandbehängen, die von einem guten künstlerischen Geschmack zeugten, und ausgestattet mit gemütlichen Polstermöbeln. An einer Wand stand ein elektronischer Herd, an der anderen eine 3d-Zuschauerplattform, umlagert von einigen Teenagern, die sich eine Sportveranstaltung anschauten. Lunzie bemerkte, daß das holographische Bild klarer und schärfer war als alles, was sie je gesehen hatte. Die Projektionstechnik hatte offenbar erhebliche Fortschritte gemacht, während sie im Kälteschlaf gelegen hatte.
Zwei schmächtige Männer mit dunklem, lockigem Haar, identische Zwillinge, und zwei Frauen, alle mittleren Alters, die sich unterhalten hatten, als Lunzie eintrat, standen auf und traten vor.
»Was habt ihr nur für ein schönes Haus«, sagte Lunzie begeistert und schaute sich um. »Ist das dein Mann?«
Der große Mann, der auf einem Sofa die Beine ausgestreckt hatte, legte sein Lesegerät weg, stand auf und streckte die Hand aus. »Für immer und ewig. Ich heiße Dalton. Wie geht’s dir, Großmutter?«
»Sehr gut, danke«, sagte sie und schüttelte ihm die Hand. Dalton hatte einen festen Händedruck, aber nicht so schmerzhaft kräftig, wie sie anfangs befürchtete, als sie die hervorstehenden Sehnen an seinen Handgelenken bemerkte. »Aber nenn mich doch bitte Lunzie.«
»Ich werde allen sagen, wie’s dir am liebsten ist, aber Lars wird sich vielleicht nicht danach richten. Er kann sehr steif und spießig sein.«
»Ich habe sie alle sofort verständigt, als du uns mitgeteilt hast, daß du angekommen bist. Sie werden bald hier sein«, sagte Melanie eifrig und schob sie in den Gemeinschaftsraum hinein. »Darf ich dir etwas bringen, bevor ich dir dein Zimmer zeige? Etwas zu trinken vielleicht?«
»Ein Fruchtsaft wäre nett. Die Luft ist … ziemlich dick, wenn man nicht dran gewöhnt ist«, sagte Lunzie diplomatisch.
»Allerdings. Es gab heute eine Smogwarnung. Ich hätte dich warnen sollen, als wir miteinander gesprochen haben. Aber wir sind alle daran gewöhnt.« Melanie eilte davon.
»Das sieht ihr ähnlich, daß sie vergißt, die anderen vorzustellen«, sagte Dalton nachsichtig, als seine Frau das Zimmer verließ. Er umarmte Lunzie und deutete mit einem Wink auf die anderen Anwesenden. »Hört mal her! Das ist Lunzie. Sie ist endlich da!« Die Kinder, die die 3d-Übertragung verfolgten, standen auf, um sie zu begrüßen. Lunzie lächelte sie nacheinander an und versuchte sie anhand der Erinnerungen zu identifizieren, die sie von den zehn Jahre alten Hologrammen hatte. Sie konnte allen außer zweien einen Namen zuordnen. »Es sind nicht alles unsere Kinder«, erklärte Dalton, »aber wir haben die Enkelkinder oft zu Gast, weil unser Haus das größte ist. Lunzie, das sind meine Söhne Jai und Thad, und das ihre Frauen Ionia und Chirli.« Die Frauen, die eine mit einem kurzen roten Zopf, die andere mit glänzendem blonden Haar, lächelten sie an. »Drew arbeitet noch, aber er kommt zum Abendessen.«
Die Zwillinge schüttelten ihr feierlich die Hand. »Du kommst mir eher vor wie eine Schwester als wie … was? Eine Urgroßmutter?« sagte einer der beiden.
»Du mußt uns verzeihen, wenn wir mal aus der Rolle fallen sollten und dir nicht den Respekt erweisen, der deinem Alter gebührt«, sagte der andere ausgelassen.
»Ich nehm’s euch nicht übel«, sagte Lunzie, umarmte sie und drückte auch die beiden Frauen an sich. Dann wollten die Kinder an die Reihe kommen. Es waren insgesamt neun, vier Mädchen und fünf Jungen. Lunzie stellte fest, daß sie alle ihr selbst und Fiona ähnlich sahen. Sie war so überwältigt vor Freude, daß sie innerlich fast platzte.
»Wie alt bist du?« fragte das jüngste Kind, ein Junge, der etwa elf oder zwölf Standardjahre alt war.
»Pedder, das ist keine höfliche Frage«, sagte Jais rothaarige Frau streng.
»Drew ist der Jüngste«, erklärte Dalton mit seiner tiefen Stimme über die Köpfe der Bagage hinweg, die sich um Lunzie versammelt hatte.
»Entschuldigung, Tante Ionia. Tut mir leid«, murmelte der Junge mit verdrießlicher Stimme.
»Du kannst ruhig fragen«, erwiderte Lunzie und erweckte gleich die Bewunderung des Jungen. »Ich wurde 2755 geboren, wenn dir das etwas sagt.«
»Mei … meine Güte«, sagte Pedder beeindruckt. »Das ist aber alt. Ich meine, du siehst gar nicht so aus.«
»Brend und Corrin«, sagte Dalton und zeigte mit dem Finger auf sie, »sind Pedders ältere Brüder und, hoffe ich, etwas taktvoller oder zumindest weniger neugierig. Evan, der Älteste, ist nicht da. Er arbeitet noch. Anthea, Dierdres Jüngste, ist in der Schule.«
»Es freut mich sehr, euch alle kennenzulernen«, sagte Lunzie glücklich. »Ich habe mir die Holos immer wieder angesehen.« Sie drückte Brends Hand und zerwühlte Corrin das Haar. Die Jungen wurden rot und ließen ihre Cousins und Cousinen vor.
»Ich bin Capella«, sagte ein attraktives Mädchen mit schwarzem Haar, das sie zu phantastischen Wellen und Schleifen auf dem Kopf hochgesteckt trug. Für Lunzies Geschmack hatte das Mädchen zuviel Makeup aufgetragen, und die mit Leuchtdioden besetzten Ohrringe blendeten sie fast.
»Du hast dich sehr verändert, seit das Bild aufgenommen wurde, das ich von dir gesehen habe«, sagte Lunzie diplomatisch.
»Oh, wirklich?« kicherte Capella. »Es ist zehn Jahre her, nicht? Damals war ich noch ein kleiner Hüpfer.« Tee, der hinter Capella stand, lächelte breit und richtete den Blick zur Decke. Lunzie erwiderte sein Grinsen.
Pedders Aufmerksamkeit wurde von der 3d-Sendung abgelenkt, als es einer Mannschaft gelang, einen hellroten Ball an der Verteidigung der gegnerischen Mannschaft vorbei ins Netz zu schießen. »Zeigt’s ihnen, Centauri! Das war Spitze!«
Eine schlanke junge Frau mit langem Haar, das sie zu einem Band geflochten hatte, stand von der anderen Seite des Holofeldes auf und kam unsicher, mit ausgestreckter Hand auf Lunzie zu. Sie war schwanger. »Wie geht’s dir, Lunzie? Ich bin Rudi.«
Lunzie begrüßte sie herzlich. »Lars’ erste Enkeltochter. Es freut mich, dich kennenzulernen. Wann ist es denn soweit?«
»Oh, ziemlich bald«, erwiderte Rudi lächelnd. »In zweieinhalb Monaten. Weil es der erste Urenkel wird, hilft mir jeder, die Tage zu zählen. Das hier ist Gordon. Er ist schüchtern, aber das gibt sich. Schließlich gehörst du zur Familie.« Lars’ einziger Enkel war ein untersetzter Achtzehnjähriger, dessen kurzes, mausbraunes Haar eng an seinem glatten Schädel anlag.
Lunzie faßte ihn an der Hand, drehte ihn sich zu und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Gordon.« Der Junge wurde rot, zog seine Hand zurück und lächelte verlegen.
Mit dem nächsten Tor war das Spiel offenbar beendet. Dalton beugte sich über die Kinder und schaltete das 3d-Feld den enttäuschten Jungs vor der Nase aus. »Das reicht jetzt! Keine Holos mehr. Wir haben Besuch.«
Cassia und Deram, die im Abstand von zwei Tagen zur Welt gekommen waren, nahmen die Plätze zu beiden Seiten von Lunzie ein, als sie es sich mit einem hohen Glas Fruchtsaft in dem tiefen Sofa bequem machte.
»Weißt du, damit sind wir fast Zwillinge«, erklärte Deram stolz. »So wie unsere Väter.« Er und Cassia sahen sich tatsächlich bemerkenswert ähnlich, soweit es bei einem jungen Mann und einer jungen Frau überhaupt möglich war.
»Wir sind von Geburt an immer die besten Freunde gewesen«, fügte Cassia hinzu.
»Also so was!« Lona, Derams jüngere Schwester, eine schlaksige Siebzehnjährige, fuhr hoch und strich ihr langes, glattes schwarzes Haar zurück. »Wie könnt ihr nur so lügen? Ihr streitet euch die ganze Zeit wie zwei Tokme-Vögel.«
»Lona, so etwas sagt man nicht«, tadelte Cassia und warf Lunzie einen nervösen Blick zu, aber die Teenagerin starrte sie mit störrischer Geringschätzung an.
Von allen Enkelkindern sah Lona ihrer Fiona am ähnlichsten. Lunzie fühlte sich im Laufe des Abends immer mehr zu dem Mädchen hingezogen und hatte dabei das Gefühl, als spreche sie mit ihrer eigenen, lang verschollenen Tochter. Die anderen Cousins und Cousinen wurden deswegen ein wenig neidisch und fanden, daß Lona die Aufmerksamkeit ihrer geschätzten neuen Verwandten nicht für sich allein beanspruchen sollte.
Lunzie hörte die geflüsterten Streitereien mit und erkannte, daß sie im Begriff war, einen Familienkrach auszulösen. Sie lenkte die Aufmerksamkeit behutsam auf ein anderes Thema und widmete sich nacheinander jedem ihrer Enkel. Alle lächelten zufrieden, als schließlich die Erwachsenen eintrafen.
Lars begrüßte sie und Tee mit großen Gesten. »Fünf Generationen unter einem Dach!« rief er. »Großmutter Lunzie, es ist uns eine Freude, dich bei uns zu haben. Willkommen!«
Lars war ein untersetzter Mann, der Fionas kantigen Kiefer und eine etwas kleinere Ausführung ihrer Augen geerbt hatte, die einen vertrauten widerspenstigen Ausdruck hatten, den Lunzies als ein Familienmerkmal erkannte. Sein Haar war dünn geworden, und Lunzie schätzte, daß er seinen siebzigsten Geburtstag völlig kahl feiern würde. Seine Frau Dierdre war modisch schlank, hatte aber einen knochigen Hals. Sie hatte sich nicht sehr verändert, seit Lunzie das erste Hologramm gesehen hatte. Drew, Melanies dritter Sohn, war eine stämmigere Ausführung seines fröhlichen älteren Bruders. Er begrüßte Lunzie mit einem schmatzenden Kuß auf die Wange.
»Wir haben auch eine Überraschung für dich«, fügte Lars hinzu und trat von der Tür weg, um noch jemanden einzulassen. »Unser Bruder hat erst letzte Woche Landurlaub bekommen.«
Dougal war ein stattlicher Mann. Er hatte Fionas gutes Aussehen und einige Gene von Lunzies Großvater mütterlicherseits geerbt, der auch groß und schlank gewesen war und breite Schultern gehabt hatte. Er ähnelte Lunzie mit seinem mittelbraunen Haar und den grünen Augen und hatte ihre kurze, gerade Nase. Seine Flottenuniform war makellos weiß wie die von Tee, aber er trug mehr Bänder um die Handgelenke und auf der linken Brustseite eine Reihe von Orden.
»Willkommen, Lunzie. Fiona hat mir viel über dich erzählt. Ich hoffe, es wird ein langer Besuch und der erste von vielen weiteren.«
Lunzie sah sich nach Tee um, der die Achseln zuckte. »Tja, ich weiß es nicht. Es gibt einige Dinge, um die ich mich wahrscheinlich kümmern muß. Aber ich werde so lang bleiben, wie ich kann.«
»Gut!« Dougal schloß sie so fest in die Arme, daß sie quietschte. »Ich habe mich schon darauf gefreut, daß du mir Geschichten erzählst.«
Lars wollte seinem Bruder Vorwürfe machen, aber Melanie ging dazwischen.
»Abendessen, Jungs.« Sie sah die beiden auf eine Weise an, die Lunzie nur als vielsagend beschreiben konnte, und führte sie ins Eßzimmer.
* * *
»Melanie, ich muß schon sagen, du hast das Kochtalent meiner Mutter geerbt. Das war einfach köstlich«, sagte Lunzie. Sie und Tee saßen sich an einem Ende des langen Tischs rechts und links von Dalton gegenüber. Lars saß am anderen Ende und nickte väterlich über den Wein hinweg. »Womit war dieses Karottenpürree gewürzt? Und die Sellerie-Kräuter-Suppe war ein Genuß.«
Melanie strahlte über Lunzies Lob. »Gewöhnlich sage ich, daß die Rezepte ein Familiengeheimnis sind, aber vor dir kann ich sie wohl nicht verbergen, was?«
»Ich hoffe nicht. Ich würde wirklich gern mal einen Blick in deine Rezeptdatei werfen. Dafür kann ich dir einige meiner Tricks verraten.«
»Nimm sie beim Wort«, mischte sich Tee ein und wedelte mit dem Löffel. »Laß es nicht zu, daß sie es sich anders überlegt, Melanie. Lunzie ist eine hervorragende Köchin. Was mich angeht, habe ich jetzt viele Jahre lang synthetische Nahrung gegessen, und da ist das hier wie eine Offenbarung.«
»Ich weiß, was du meinst, Bruder«, sagte Dougal und kratzte geräuschvoll die letzten Reste des würzigen Käse- und Bohnengerichts vom Teller. »Je nachdem, wie lang sie unterwegs ist, vergißt die Mannschaft erst ihre Lieben, die sie zurückgelassen hat, dann die frische Luft und zuletzt das Essen. Zwischen den Einsätzen träume ich von gutem Essen, vor allem, wenn meine Schwester kocht.«
»Danke, Dougal«, sagte Melanie erfreut. »Es ist immer schön, wenn du nach Hause kommst.«
»Ich habe Nachtisch gemacht«, sagte Lona und stand auf, um die Teller abzuräumen. »Hat schon jemand Appetit?«
»Na klar!« riefen Pedder und seine Brüder im Chor und setzten sich hoffnungsvoll aufrecht, aber ihre Mutter schüttelte den Kopf. Sie seufzten schwer und ließen sich zurücksinken.
»Sollen wir den Nachtisch im Gemeinschaftsraum essen, Lona?« fragte Melanie.
»Gern. Gute Idee«, sagte Lona. »Da kann ich alles künstlerisch arrangieren.«
»Ach, wen kümmert das?« fragte Corrin schroff und stieß sich vom Tisch ab. »Es wird sowieso alles gekaut und runtergeschluckt.«
»Es fällt alles in ein schwarzes Loch!« Lona schlug mit einer leeren Kasserolle nach ihm, aber er wich ihr aus und flüchtete sich in den Gemeinschaftsraum. Lona schickte ihm ein Hohnlächeln hinterher und stapelte weiter Teller übereinander. Lunzie stand wie selbstverständlich auf und half beim Abräumen.
»Aber nicht doch, Lunzie«, ging Lars dazwischen. »Bitte, du bist unser Gast. Komm mit und setz dich. Laß die Gastgeberinnen abräumen. Ich kann’s nicht abwarten, mehr über deine Abenteuer zu erfahren.« Er hakte sich bei Lunzie unter und dirigierte sie in den Gemeinschaftsraum.
»Nachtisch!« rief Lona und schob ein Schwebetablett ins Zimmer.
Die Beine des Tabletts schwebten eine Handbreit über dem Teppich, bis Lona einen Knopf berührte und es langsam auf den Boden sank.
»Na also.« Melanie wirbelte um das Tablett herum und verteilte Besteck und Serviettenstapel an den Seiten. »Es ist schön, Liebling.«
Lunzie nahm die Gelegenheit wahr, sich vor Lars’ unermüdlichem Verhör zu retten, stand auf und sah sich an, was auf dem Tablett stand. Lona hatte kleine Obsttörtchen in einem Regenbogen von Farben vorbereitet. Sie waren zu einer Spirale arrangiert, die sich um drei Schalen mit Sahne wand. »Liebe Güte, was für eine Pracht. Das sieht aus wie Carmen Mirandas Hut!«
»Wessen Hut?« fragte Melanie verständnislos.
»Na, also …« Lunzie konnte sich gerade noch davon abhalten, daß sie sagte: Jemand in deinem Alter erinnert sich doch bestimmt noch an Carmen Miranda. »Ach, das ist schon lang her. Eine Frau, die berühmt geworden ist, weil sie Obst auf dem Kopf getragen hat. Sie war in den alten 2d-Filmen zu sehen, die Fiona und ich uns immer angeschaut haben.«
»Das ist doch blöde«, bemerkte Pedder. »Wie kann man nur Obst auf dem Kopf tragen …«
»Oh, wir schauen uns keine 2d-Filme an. Flache Bilder sind einfach nicht lebendig genug«, erklärte Melanie. »Ich ziehe Holografien vor.«
»Es gibt einige große 2d-Klassiker. Für mich war es immer so, als würde ich ein Buch lesen, in dem Bilder die Wörter ersetzen«, sagte Lunzie. »Besonders bei den alten monochromen 2ds. Ganz einfach, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat.«
»Oh, ich verstehe. Nun ja, ich lese auch nicht viel. Ich habe keine Zeit dafür«, sagte Melanie heiter. »Ich habe einen vollen Terminkalender. Hier treffen sich alle, und ich muß sie bewirten. Lunzie, du mußt unbedingt diese grünen Früchte kosten. Die Soße besteht aus süßen Aprikosen, Sauerkirschen und Schokolade. Lona hat die Füllung selbst zubereitet. Sie schmeckt köstlich.«
»Ein echtes Kunstwerk, in jeder Hinsicht«, lobte Dougal. »Das wird mich auf der nächsten Reise vom Essen träumen lassen. Du bist als Köchin bald so gut wie deine Großmutter.«
Lona warf sich in Pose und strahlte. »Danke, Onkel Dougal.«
»O nein, nenn mich nicht Großmutter«, flehte Melanie und wischte sich unsichtbare Krümel vom Kleid. »Da fühle ich mich so alt.«
»Und denkt nur, wie Lunzie sich dabei erst fühlen muß«, sagte Lars mit mehr Gefühl für die Wahrheit als für den Takt. Lunzie warf ihm einen scharfen Blick zu, aber er schien es nicht zu bemerken.
»Wie läuft’s in der Fabrik?« wurde Lars von Drew gefragt, der sich mit einem Glas Wein zurücklehnte.
»Ach, immer dasselbe. Momentan protestiert eine Abordnung des Alienrats für Freiheit und Einigkeit vor den Toren.«
»Der ARFE?« erwiderte Drew schockiert. »Können sie euch den Laden nicht dichtmachen?«
»Sie können es versuchen. Aber wir werden auf substantielle Verluste verweisen, die weit über die Einkünfte aus den Produktverkäufen hinausgehen, und sie können nicht mehr tun, als anzunehmen, was wir ihnen anbieten.«
»Warum protestieren sie denn?« fragte Lunzie beunruhigt.
Lars tat es mit einem Wink als unbedeutend ab. »Sie vertreten die Ssli, die wir letzten Monat aus den Unterwasser-Produktionsstätten entlassen haben. Sie sind für den Job nicht geeignet.«
»Aber die Ssli sind Meeresbewohner. Warum sollten sie ungeeignet sein?«
»Das würdest du nicht verstehen. Sie sind zu anders. Sie können sich nicht an die anderen Angestellten anpassen. Und es gibt Probleme, sie zu versichern. Wir müssen für jeden mobilen Tank, den sie als Unterkunft auf das Gelände mitbringen, einen Fahrer anstellen. Und dann gibt’s noch etwas: sie leben unmittelbar auf dem Firmengelände. Wir hätten ihretwegen fast unseren Versicherungsschutz verloren.«
»Nun ja, sie können nicht jeden Tag aus dem Meer auftauchen«, bemerkte Tee bissig.
»Das sagen sie.« Lars tat die Ssli mit einem Stirnrunzeln ab. Tees Sarkasmus war ihm völlig entgangen. »In ein paar Tagen haben wir die Sache geregelt. Wenn sie nicht gehen, müssen wir die Produktionsstätte ganz schließen. Sie werden andere Arbeit finden. Wir haben angeboten, für sie unseren Vermittlungsdienst auszuweiten.«
»Ach so, ich verstehe«, sagte Lunzie zögernd. »Das ist sehr großzügig von euch.« Sie verlangte von der Firma zwar nicht, daß sie sich der Gerechtigkeit zuliebe in den Bankrott wirtschaftete, sie fand aber, daß Lars die moralischen Aspekte dieser Situation völlig zu mißachten schien.
Lars richtete einen wohlwollenden Blick auf sie. »Danke, Großmutter, freut mich, das von dir zu hören.«
Melanie und Lars’ Frau strahlten über ihr Lob. Auch ihnen waren die zynischen Untertöne völlig entgangen.
»Wird es heutzutage als altmodisch betrachtet, wenn man Bücher liest?« fragte Lunzie Tee später, als sie allein im Gästezimmer waren. »Seit ich das erste Mal aus dem Kälteschlaf aufgewacht bin, war ich bisher nur auf der Plattform und auf Astris. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Gesellschaft als Ganzes entwickelt hat.«
»Hast du dir darüber Gedanken gemacht?« fragte Tee, als er die Uniformjacke auszog. »Nein. Das Lesen ist in den letzten Jahren nicht aus der Mode gekommen, auch nicht in den Jahren davor, in denen du wach warst, und auch nicht in den Jahren, als du im Asteroidengürtel geschlafen hast. Deine Verwandten setzen sich einfach nicht gerne tiefgründigen Gedanken aus. Sie könnten sonst von ihnen beeinflußt werden.«
Lunzie zog ihre Stiefel aus und ließ sie auf den Boden fallen. »Was hältst du von ihnen?«
»Von deinen Verwandten? Sehr nett. Ein wenig protzig, sehr konservativ, würde ich sagen. Konservativ in jeder Hinsicht, außer daß sie uns zusammen in dieses Gästezimmer gesteckt haben, statt uns an gegenüberliegenden Enden des Hauses unterzubringen. Ich bin aber froh, daß sie es getan haben. Ich würde mich kalt und einsam fühlen, wenn ich nur diese trockenen Moralapostel um mich hätte.«
»Ich auch. Ich weiß nicht recht, ob ich mich über sie freue oder von ihnen enttäuscht bin. Sie zeigen so wenig Esprit. Alles, was sie tun, geschieht aus kleinlichen Motiven. Sie sind so seicht. Typische Bodenbewohner, einer wie der andere.«
»Außer das Mädchen, glaube ich«, sagte Tee nachdenklich und setzte sich auf einen flauschigen Stuhl neben dem Bett.
»O ja, Lona. Ich muß mich dafür entschuldigen, daß ich sie mit dem Rest dieser … dieser engstirnigen Bande in einen Topf geworfen habe. Sie ist die einzige mit ein bißchen Mumm. Ich hoffe, sie ist vernünftig und verschwindet von hier, sobald sie kann.«
»Das sollten wir auch.« Tee setzte sich hinter Lunzie und begann ihr den Nacken zu massieren.
Lunzie seufzte, entspannte ihren Rücken und lehnte sich gegen ihn. Er legte einen Arm um ihre Schultern und küßte ihr Haar, während er mit einer Hand ihre Muskeln knetete. »Ich glaube, ich werde nicht lang höflich bleiben können. Wir sollten ein paar Tage bleiben und uns dann eine Entschuldigung ausdenken, um abzureisen.«
»Wie du möchtest«, sagte Tee leise und spürte, wie sich die Knoten der Verspannung in ihrem Rücken lösten. »Ich hätte auch nichts dagegen, von hier zu verschwinden.«
* * *
Lunzie ging auf Zehenspitzen die Rampe von den Schlafzimmern in den Gemeinschaftsraum und das Speisezimmer hinunter. Es war kein Geräusch zu hören außer das ferne Summen der Luftaufbereitung. »Hallo?« rief sie leise. »Melanie?«
Lona tauchte vom Untergeschoß auf der Rampe auf. »Nein, das bin nur ich. Guten Morgen!«
»Guten Morgen. Müßtest du nicht in der Schule sein?« fragte Lunzie und lächelte über die Neugier des Mädchens. Lona war gleichermaßen hübsch wie lebhaft und sah eher wie ein Rückfall in Lunzies eigene Familie aus als wie eine Angehörige von Melanies konservativer Centauri-Sippschaft.
»Ich habe heute keinen Unterricht«, erklärte Lona und ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen. »Ich mache eine Ausbildung in Kommunikationstechnik, weißt du noch? Unsere Kurs finden alle zwei Tage statt, dazwischen absolvieren wir Praktiken in Firmen oder Sendeanstalten. Ich hab heute frei.«
»Gut«, sagte Lunzie und sah sich um. »Ich habe mich schon gefragt, wo alle sind.«
»Ich bin dein Empfangskomitee. Melanie ist gerade einkaufen. Dalton arbeitet normalerweise zu Hause, aber er hat heute morgen eine Sitzung. Wo ist Tee?«
»Er schläft noch. Sein Schlafrhythmus ist auf eine Schicht eingestellt, die später anfängt.«
Lona schüttelte den Kopf. »Bitte mach dir keine Mühe, es mir zu erklären. Ich habe in Biologie geschwänzt. Ich habe mich auf Kommunikationstechnik spezialisiert. Ach ja, Melanie hat dir etwas dagelassen, das du dir anschauen sollst.« Lona zog etwas hervor, das in einen schwarzen Plastikbeutel eingepackt war. Lunzie wickelte es neugierig aus und fand ein Plastikkästchen, auf dem ihr Name gedruckt stand.
»Sie sind von Fiona. Sie hat sie liegengelassen, als sie abgereist ist«, erklärte Lona „und schaute ihr über die Schulter, als Lunzie das Kästchen öffnete. Es enthielt zahlreiche 2d- und 3d-Bilder auf Bildfolien.
»Es sind ihre ganzen Babyfotos«, keuchte Lunzie. »Und meine auch. Ich dachte, sie seien verloren gegangen!« Sie nahm eines in die Hand, dann noch eines und plapperte vor Begeisterung.
»Nein, sind sie nicht. Melanie sagte, daß Fiona diese Sachen auf die Marsbasis mitgebracht hat. In den meisten Fällen wissen wir nicht, wer die Leute auf den Bildern sind. Würdest du mir sagen, wer wer ist?«
»Es sind deine Vorfahren und einige Freunde, die ich vor langer Zeit hatte. Setz dich, und ich zeige sie dir. Bei Muhiah, schau dir das an! Das bin ich mit vier Jahren.« Lunzie betrachtete mit zusammengekniffenen Augen ein kleines 2d-Bild, als sie sich aufs Sofa setzten und das Kästchen auf die Knie stellten.
»Dein Haar hat zu Berge gestanden wie bei Gordon«, sagte Lona mit einem Kichern.
»Seins sieht besser aus.« Lunzie legte das Bild ins Kästchen zurück und nahm das nächste. »Das ist meine Mutter. Sie war auch Ärztin. Sie wurde in England auf der alten Erde geboren, eine echte Sassenach, wie sie seit jeher in den Yorkshire Dales gelebt haben.«
»Was ist ein Sassenach?« fragte Lona und betrachtete das Bild einer zierlichen Frau mit schönen Haaren.
»Ein altes Dialektwort für einen zänkischen Engländer. Mutter war, was man eine willensstarke Frau nennen könnte. Sie hat mich mit den Werken von Rudyard Kipling vertraut gemacht, der immer mein Lieblingsschriftsteller gewesen ist.«
»Hast du ihn je kennengelernt?«
Lunzie lachte. »Aber nein, Kind. Warte mal, welches Jahr haben wir?«
»Vierundsechzig.«
»Also, dann nähert sich nächstes Jahr zum tausendsten Mal sein Geburtstag.«
Lona war beeindruckt. »Oh. Das ist sehr alt.«
»Das sollte dich aber nicht davon abhalten, ihn zu lesen«, mahnte Lunzie. »Er ist zu gut, als daß man es sich leisten könnte, ihn nie gelesen zu haben. Kipling war ein weiser Mann und ein guter Schriftsteller. Er hat Abenteuer- und Kindergeschichten und Gedichte geschrieben, aber am meisten mochte ich an ihm seinen Scharfsinn. Er konnte eine Situation ins Auge fassen und die Wahrheit darin erkennen.«
»Ich werde in der Bibliothek nach Büchern von Kipling suchen«, versprach Lona. »Wer ist dieser Mann?« fragte sie und zeigte auf ein Bild.
»Das ist mein Vater. Er war Lehrer.«
»Sie sehen nett aus. Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt, so wie ich dich jetzt kennenlerne.«
Lunzie legte einen Arm um Lona. »Du hättest sie gemocht. Und sie wären ganz vernarrt in dich gewesen.«
Sie gingen das ganze Bilderkästchen durch. Lunzie blieb bei einem Bild hängen, das Fiona als kleines Kind zeigte, und betrachtete die Bilder des Mädchens aus der Zeit, als sie zur Frau reifte. Es waren Bilder von Fionas verstorbenem Mann und allen Babies darunter. Schon als Säugling hatte Lars einen ernsten, eingebildeten Gesichtsausdruck gehabt, der sie beide zum Kichern brachte. Lona zog das untere Schubfach des Kästchens heraus und entnahm ihm Lunzies Universitätsdiplome.
»Warum heißt du Lunzie Mespil und nicht einfach nur Lunzie?« fragte Lona, als sie die verschlungenen Buchstaben auf dem plastikbeschichteten Pergament las.
»Was hast du gegen Mespil?« wollte Lunzie wissen.
Lona zog verächtlich die Lippen hoch. »Nachnamen sind barbarisch. Sie veranlassen Leute, jemanden nach seinen Ahnen oder nach seinem Beruf zu beurteilen, nicht nach seinem Verhalten.«
»Möchtest du eine ehrliche Antwort hören oder eine, die deinem Onkel Lars lieber wäre?«
Lona grinste verschlagen. Sie teilte offenbar Lunzies Meinung, daß Lars ein rückständiger, alter Wichtigtuer sei. »Die Wahrheit.«
»Die Wahrheit ist, daß ich als Studentin eine befristete Ehe mit Sion Mespil eingegangen bin. Er war ein engelhafter, gutaussehender Charmeur, der die medizinische Schule zur selben Zeit besuchte wie ich. Ich war sehr in ihn verliebt, und er wohl auch in mich. Wir wollten zu dieser Zeit keine dauerhafte Ehe eingehen, weil wir beide noch nicht wußten, wie es nach der Schule mit uns weitergehen würde. Ich habe Psychologie studiert, und er Genetik und Reproduktionsmedizin. Es hätte sein können, daß wir zu entgegengesetzten Enden der Galaxis aufgebrochen wären – und so ist es auch geschehen. Wenn wir zusammengeblieben wären, hätte es natürlich eine dauerhafte Ehe werden können. Ich habe seinen Nachnamen behalten und ihn an Fiona weitergegeben, damit sie irgendwann in der Zukunft nicht aus Versehen einen ihrer Halbbrüder heiratet.« Lunzie lachte. »Ich schwöre, Sion hat nur deshalb Gynäkologie als Hauptfach belegt, damit er seinen eigenen Nachwuchs auf die Welt bringen kann. Mit Ausnahme der Zeit, als wir verheiratet waren, habe ich niemals einen Mann mit einem derart aktiven Liebesleben erlebt.«
»Wolltest du nicht, daß er Fiona mit aufzieht?« fragte Lona.
»Ich habe mich durchaus imstande gefühlt, allein auf sie aufzupassen. Ich habe sie sehr geliebt, und, um die Wahrheit zu sagen, Sion war besser darin, Kinder zu zeugen als sie aufzuziehen. Er war ganz froh darüber, daß ich mich darum gekümmert habe. Außerdem hat mein Fachgebiet es erforderlich gemacht, daß ich viel reiste. Ich konnte nicht von ihm erwarten, daß er ständig mit uns in Kontakt blieb. Es ist so schon für Fiona schwer genug gewesen.«
Lona saugte Lunzies Geschichte mit jeder Pore ein, als handle es sich um ein 3d-Abenteuer. »Hast du nach der medizinischen Schule je wieder von ihm gehört?« wollte sie wissen.
»O ja, natürlich«, versicherte Lunzie ihr mit einem Lächeln. »Fiona war sein Kind. Er hat uns jedesmal zehn K Daten geschickt, wenn er erfuhr, daß wieder eine Sammelnachricht für unsere System zusammengestellt wurde. Wir haben dasselbe getan. Natürlich mußte ich seine Briefe an Fiona bearbeiten. Ich glaube nicht, daß es in diesem Alter gut für sie gewesen wäre, wenn sie Einzelheiten über das Liebesleben ihres Vaters erfahren hätte, aber seine genetische Arbeit war interessant. Weißt du, er hat an den Schwerwelt-Mutationen mitgearbeitet. Ich glaube, er hatte nicht weniger Einfluß als ich darauf, daß sie sich der Medizin zuwandte.«
»Ist er das?« Lona zeigte auf einen der Männer auf Lunzies Abschlußfoto der medizinischen Schule. »Er sieht gut aus.«
»Nein. Er da.« Lunzie hielt die hohle Hand hinter Sions Hologramm, um es hervorzuheben. »Er hatte das Gesicht eines mildtätigen Geistes, aber sein Herz war so schwarz wie sein Haar. Er hat die bei weitem schlimmsten Scherze in der Galaxis angestellt. Einmal hat er in der Anatomiestunde mit einem Leichnam etwas wirklich Ekliges angestellt … Na ja, vergessen wir’s.« Lunzie zuckte zusammen, wenn sie daran dachte.
»Erzähl’s mir!« bettelte Lona.
»Diese Geschichte ist wirklich zu widerlich.«
»Bitte!«
Je klarer sie sich an die abstoßenden Details erinnerte, um* so entschlossener wurde sie, nichts davon zu verraten. »Nein, auf keinen Fall. Es gibt viele andere Geschichten, die ich dir erzählen kann. Wann mußt du nach Hause?«
Lona tat die Frage mit einem Wink ab. »Zu Hause erwartet mich niemand. Ich hänge immer hier herum. Daran sind sie gewöhnt. Melanie und Dalton sind die einzigen interessanten Leute. Die anderen Cousins und Cousinen sind total langweilig, und ihre Eltern …« Lona verschluckte den Rest des Satzes und ließ vielsagend die Augen rollen.
»Das ist nicht sehr freundlich von dir. Schließlich sind sie deine Familie«, bemerkte Lunzie mit neutraler Stimme, obwohl sie Lona insgeheim zustimmte.
»Mag sein, daß du sie als deine Familie betrachtest, aber für mich sind es nur Verwandte. Immer wenn ich darüber rede, daß ich einen Job im Weltraum annehmen könnte, führen sie sich auf, als hätte ich Piraterie oder öffentliche Unzucht getrieben! Was für ein Theater. In unserer Familie geht niemand in den Weltraum, mit Ausnahme von Onkel Dougal. Er hält sich nicht an Onkel Lars’ Vorschriften.«
Lunzie nickte verständig. »Du leidest an der Familienkrankheit. Sie treten dir auf die Füße. Aber gut, du mußt nirgendwo bleiben, wo du nicht bleiben willst. Du führst dein eigenes Leben.« Lunzie unterstrich ihre Sätze, indem sie mit ausgestrecktem Finger in die Luft stach, und ignorierte die Regung ihres Gewissens, das sie davor warnte, sich nicht in Dinge einzumischen, die sie nichts angingen.
»Warum hast du Fiona verlassen?« fragte Lona plötzlich und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ich habe mich immer gefragt warum. Ich glaube, deswegen haben alle so große Bedenken dagegen, daß Verwandte in den Weltraum ziehen. Sie kommen nie zurück.«
Es war eine Frage, die gestern abend unausgesprochen zwischen ihr und den anderen in der Luft gehangen hatte. Lonas ehrliche Einschätzung ihrer Familiensituation überraschte Lunzie nicht, und sie nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken.
»Ich habe mir immer wieder gewünscht, ich hätte es nicht getan«, antwortete sie nach einiger Zeit und drückte die Finger des Mädchens. »Ich konnte sie nicht mitnehmen. Das Leben auf einer Plattform oder in einer jungen Kolonie ist gefährlich. Aber sie zahlen horrende Summen für gute, qualifizierte Mitarbeiter, und wir brauchten Geld. Ich habe nie vorgehabt, länger als fünf Jahre draußen zu bleiben.«
»Ich habe schon gehört, daß die Bezahlung gut ist. Ich werde mich einer Bergbaukolonie anschließen, sobald ich meinen Abschluß habe«, sagte Lona und akzeptierte Lunzies Ausführungen mit einem scharfen Nicken. »Mein Freund ist Biotechniker mit Schwerpunkt Botanik. Der ursprüngliche grüne Daumen, wenn du mir die archaische Formulierung verzeihst. Was sage ich da nur?« Lona riß in gespielter Verlegenheit die Augen auf, und Lunzie lachte. »Wie auch immer, ich kann fast alles reparieren. Wir würden uns problemlos qualifizieren. Es heißt, man kann in einer neuen Kolonie reich werden. Wenn man überlebt. Fiona sagte immer, die, Chancen ständen fünfzig zu fünfzig.« Lona runzelte die Nase, während sie die Bilder sortierte und wegsteckte. »Natürlich gibt’s ein Problem mit dem 02-Obolus. Wir haben beide kein eigenes Guthaben.«
Lunzie dachte einige Minuten angestrengt darüber nach, bevor sie wieder etwas sagte. »Lona, ich glaube, du solltest tun, was du tun mußt. Ich gebe dir das Geld.«
»Oh, das kann ich nicht annehmen«, keuchte Lona. »Es ist zuviel. Ein guter Posten würde einige hunderttausend Credits verschlingen.« Aber in ihren Augen funkelte ein Keim von Hoffnung.
Lunzie bemerkte es. Sie wurde sich plötzlich der vielen Generationen bewußt, die zwischen ihnen lagen. Sie hatte so viele Jahre verschlafen, daß dieses Mädchen, das vom Alter her ihre eigene Tochter hätte sein können, in Wirklichkeit die Enkeltochter ihrer Enkeltochter war. Sie betrachtete Lona ganz genau und bemerkte die Ähnlichkeit zwischen ihr und Fiona. Dieses Kind war im selben Alter, in dem Fiona gewesen wäre, wenn auf Descartes alles gut gegangen und sie rechtzeitig zurückgekehrt wäre. »Wenn dir nur das im Wege steht, wenn du unabhängig genug bist, um die Meinung deiner Familie und unerwünschte Ratschläge zu ignorieren, dann tu ich es gern. Es würde mich nicht arm machen, das versichere ich dir. Ganz und gar nicht. Ich habe von Descartes sechzig Jahre nachgezahlt bekommen, und ich weiß kaum, was ich mit dem ganzen Geld anfangen soll. Tu mir den Gefallen und nimm dieses Geschenk an – sagen wir, als Investition in zukünftige Generationen.«
»Gut, wenn dir das soviel bedeutet …«, begann Lona ernst, konnte aber ihren feierlichen Gesichtsausdruck nicht lang beibehalten. Als sie zu lachen anfing, lachte Lunzie mit.
»Deine Eltern werden mir sicher sagen, daß ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern soll«, seufzte Lunzie, »und aus ihrer Sicht hätten sie recht. Ich bin nicht mehr als eine Fremde für euch.«
»Wen kümmert es, was sie sagen?« erklärte Lona trotzig. »Ich bin volljährig. Sie können nicht mein Leben für mich führen. Also abgemacht, Lunzie. Ich bin einverstanden. Ich verspreche dir, die Investition an mindestens eine Folgegeneration weiterzugeben. Und vielen Dank. Ich werde es dir nie vergessen.«
»Einen schönen guten Morgen!« sagte Tee, als er mit wuchtigen Schritten die Rampe in den Gemeinschaftsraum herunterkam. Er küßte Lunzie und beugte sich über Lonas Hand. »Ich habe euch lachen gehört. Sind heute alle bei guter Laune? Darf ich auf ein Frühstück hoffen? Wenn ihr mir den Nahrungssynthesizer zeigt, bediene ich mich selbst.«
»Keine Chance!« tadelte Lona ihn. »Melanie würde mir die Wimpern ausreißen, wenn ich dir in ihrem Haus synthetische Nahrung servieren würde. Komm mit, ich koch dir etwas.«
* * *
Lonas Eltern waren nicht erfreut darüber, daß ihre Urahnin ein solches Interesse an der Zukunft ihrer Tochter zeigte. »Du solltest sie nicht zu etwas ermutigen, das die Stabilität gefährdet«, klagte Jai. »Sie will sich einfach davonmachen, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.«
»Einen Posten im Weltraum anzutreten, gefährdet nicht die Stabilität«, erwiderte Lunzie. »Das ist die Grundlage des interstellaren Handels.«
»Wie auch immer. Wir wollen jedenfalls nichts davon wissen. Und bei allem Respekt, Lunzie, erlaube es, daß wir unsere Kinder so aufziehen, wie wir es für richtig halten, ja?«
Lunzie nahm den Vorwurf mit wortloser Verärgerung hin, aber Lona hob hinter dem Rücken ihres Vaters den Daumen. Offensichtlich wollte das Mädchen Lunzies Geschenk nicht erwähnen. Sie selbst würde es auch nicht tun. Es würde alle überraschen, wenn Lona sich eines Tages verabschiedete, aber Lunzie sah keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Es verhielt sich schließlich nicht so, daß sie nicht vorgewarnt wurden.
Nach drei weiteren Tagen hatte Lunzie genug von ihren Nachkommen. Sie erklärte beim Abendessen, daß sie noch am selben Abend abreisen würde.
»Ich dachte, du würdest bleiben«, jammerte Melanie. »Wir haben reichlich Platz, Lunzie. Bitte bleib hier. Wir hatten kaum Zeit, uns aneinander zu gewöhnen. Bleib wenigstens noch ein paar Tage.«
»Das geht leider nicht, Melanie. Tee muß auf die Ban Sidhe zurück, und ich auch. Aber ich weiß dein Angebot zu schätzen«, versicherte Lunzie ihr. »Ich verspreche, euch zu besuchen, wenn ich in der Nähe bin. Vielen Dank für eure Gastfreundschaft. Die Erinnerung an deine Familie wird mich immer begleiten.«