»Nein, auf keinen Fall. Du wirst keine Mitose einleiten, bevor wir uns sicher sind, daß dein Zellkern sich erfolgreich replizieren kann.«

»… ausruhen … gut …«

Root sah Lunzie mit fröhlich gerunzelter Stirn an. »Ist es nicht schön, wenn ein Patient den Rat seines Arztes annimmt?«

Immer, wenn Root Dienst hatte, führten seine Studenten die ersten Untersuchungen und, wenn es ihre Fähigkeiten erlaubten, die Behandlung durch. Wie Lunzie gehörten auch die übrigen älteren Semestern an. Die meisten würden im nächsten Jahr in einer der ausbildungstauglichen Kliniken oder medizinischen Zentren irgendwo in der FES eine Assistenzstelle antreten. Lunzie plante, sich in jedem Semester neu an der Universitätsklinik zu bewerben, bis sie angenommen wurde oder ihre Suche nach Fiona sie zwang, den Planeten doch zu verlassen. Ihr Studienberater erinnerte sie daran, daß sie dem Lehrplan nicht so zu folgen brauche, als sei sie eine neue Studentin. Lunzie hielt dagegen, daß sie soviel Auffrischung brauchte, wie sie mitnehmen konnte, um ihre Fähigkeiten wiederzuerlangen. Eine strapaziöse Assistenzstelle war die schnellste Art, sich den Facetten der medizinischen Praxis anzunähern.

Das Komgerät der Klinik schrillte, als Dr. Root gerade vorführte, wie man die eitrige Wunde eines gepanzerten Wesens behandelte. Der schildkrötenartige Alien lag geduldig auf dem Behandlungstisch, umgeben von zahlreichen Sonden und angeschlossen an Schläuche und Kabel, die unter seinem Panzer hervorragten. Mit Hilfe einer langgriffigen Klemme und zwei unabhängigen Kauterisierungsgeräten trug Root vorsichtig eine Schicht neuer Kuristhaut auf die gerade gereinigte Stelle auf und beobachtete seine Fortschritte dabei in einem 3d-Feld, das vor ihm schwebte. Er reichte die Klemme einem seiner Studenten. »Reinigen bitte.«

»Ein Notfall«, gab Root seinen Studenten ohne Aufregung bekannt, nachdem er den Anruf entgegengenommen hatte. »Montagearbeiter vom Raumhafen. Sie werden per Luftschlitten aufs Dach transportiert. Einige schlimme Wunden, viel Blutverlust und Patienten, die unter Schock stehen. Auf eure Stationen, Ärzte.«

Lunzie und ihr brachianischer Laborpartner Rik-ik-it eilten in den Behandlungsraum C, säuberten sich und halfen einander in frische chirurgische Kleidung. Sie hatten gerade noch genug Zeit, die Vorräte und die Stromversorgung zu überprüfen, ehe sie das Geschrei hörten.

»Mulah, wer ist das denn?«

»Ich kann noch lauter schreien«, spottete Rik.

»Laß es lieber«, erwiderte Lunzie und lauschte. »Pst.«

Die Tür zu ihrem Behandlungszimmer glitt auf, und zwei riesige Männer stolperten herein, wobei einer den anderen stützte. Schwerweltler. Lunzie blickte entsetzt zu ihnen auf.

»Hilf mir«, zischelte Rik und sprang vor, um den schwerverwundeten auf den geneigten Tisch zu wuchten. Seine gewaltige Kraft ergänzte die des anderen Schwerweltlers, und gemeinsam brachten sie den Mann zum Liegen. Lunzie wollte ihnen zur Hand gehen, doch der andere Mann schob sie weg und half Rik, seinen Freund mit dem Gesicht nach unten auf die gepolsterte Oberfläche zu drehen.

Es war erstaunlich, daß der Schwerweltler es zu Fuß in die Klinik geschafft hatte. In seiner Rückenmuskulatur klaffte ein gewaltiger Riß. Eine Wade war offenbar von demselben herabgestürzten Objekt in der Mitte aufgeschlitzt worden. Aus beiden Wunden floß und spritzte Blut.

»Was ist passiert?« wollte sie wissen und drängte sich an den beiden anderen vorbei. Sie schnitt den schweren Stoff des Hosenbeins weg und säuberte die Wunde mit sterilen Tupfern. Rik riß mit roher Gewalt den Schlitz in der Jacke auf und untersuchte die Wunde mit einem mikroskopartigen Gerät. Lunzie warf die Stoffetzen in die Ecke und legte einen Druckverband an. Als das Blut zu spritzen aufhörte, befestigte sie mit einer elektronisch gesteuerten Klemme eine Schnellschiene. Die biegsame röhrenartige Schiene preßte die Wundränder zusammen, und der Riß würde nun von allein heilen.

»Ein Stück der Landebahn hat sich verzogen und ist auf uns runtergefallen«, sagte der andere Mann und faßte sich am Arm. »Zum Teufel, ich wußte doch, daß diese Streben nichts aushalten. Vertraut dem Plaststahl-Konzern, hat uns ihr Chef gesagt. So ein Schrott! Die Maschinen werden uns schon warnen, wenn ein Preßstück nicht hält. Ich lach mich tot!«

»Ich kann mich jetzt darum kümmern«, sagte Rik zu Lunzie.

Mit einem verständigen Nicken wandte sich Lunzie dem anderen Mann zu. Himmel, war der Kerl groß! Er knirschte hörbar mit den Zähnen. Lunzie wußte, daß er schreckliche Schmerzen haben mußte.

»Setzen Sie sich«, sagte sie rasch und schluckte ihre Nervosität hinunter. Ihr Magen bäumte sich auf. Sie wußte, daß sie nicht umhin kommen würde, ihn zu berühren, und sie hatte Angst davor. Diese zornigen Riesen kamen ihr mehr als menschlich vor: größer, lauter, eindringlicher. Sie erschreckten Lunzie. In den Tiefen ihrer Seele assoziierte sie Schwerweltler noch immer mit dem Verlust von Fiona, und sie war überrascht, wie nahe es ihr ging. Sie mußte sich an ihre Pflichten erinnern.

»Es ist mein Arm«, sagte der Schwerweltler und knöpfte seine Jacke auf. Lunzie unterdrückte ihre Gefühle und riß den magnetischen Saum entlang des Ärmels auf. Sie versuchte, die Schwellung am Oberarm nicht zu berühren, als sie den Stoff herunterzog und ihm half, den Ärmel über das verletzte Glied zu ziehen. Seine Hand, die neben ihrer riesig wirkte, zuckte zusammen, als sie die Manschette aufknöpfte, und das Kunstleinengewebe flatterte gegen den Brustkasten des Mannes.

Auf den ersten Blick sah sie, daß der rechte Oberarmknochen gebrochen und die Schulter ausgerenkt war. »Ich gebe Ihnen etwas gegen die Schmerzen«, sagte Lunzie und gab dem Hypo-Arm ein Zeichen. Der Servomechanismus schwenkte seinen mehrfach bestücken Injektionskopf herunter, und die LEDs an seinem Bedienfeld leuchteten auf. »Warum nicht?« fragte sie, als der Schwerweltler den Kopf schüttelte.

»Sie werden mich nicht außer Gefecht setzen. Ich traue euch Knochenbrechern nicht. Ich will sehen, was Sie da machen.«

»Wie Sie wollen«, sagte Lunzie und stellte das Gerät ein. »Wie war’s mit einer örtlichen Betäubung? Das macht Sie nicht schläfrig, nimmt Ihnen aber die Schmerzen.«

»Na gut.« Er streckte ihr unvermittelt den Arm entgegen, und Lunzie wich erschrocken zurück. Der Schwerweltler sah sie mit einem Stirnrunzeln an und zog mißtrauisch die Augenbrauen zusammen.

Seine mißbilligende Aufmerksamkeit machte Lunzie noch nervöser, und sie stammelte nur, als sie dem Hypo-Arm eine Anweisung erteilte. »Äh … Untersuche auf Allergien und Unverträglichkeiten. Nur örtlich, rechter Oberarm und Schulter. Jetzt.« Der Kopf wurde zielstrebig ausgestreckt und berührte die Haut des Mannes. Das Ventil zischte kurz, dann drehte sich das Gerät weg und wurde wieder eingezogen. Lunzie betastete vorsichtig den Arm und untersuchte den Bruch. Der Knochen würde durch die dicken Muskelpakete nur schwer zu richten sein.

»Nun machen Sie schon!« knurrte der Mann.

»Tut sonst noch etwas weh?« fragte Lunzie, und ihre Hände zuckten zurück.

»Nein, aber wie Sie da rumfummeln, macht mich verrückt. Legen Sie mal einen Zahn zu!«

Lunzie war gekränkt und machte eine kurze Pause, um mit Hilfe ihrer mentalen Disziplin genug Kräfte tief aus sich herauszuholen, damit ihre Abneigung gegen den Schwerweltler sie nicht negativ beeinflußte. Sie würde es nicht zulassen, daß sie auf eine feindselige Weise reagierte. Ihr Atem verlangsamte sich soweit, daß er flach und gleichmäßig ging. Sie war schließlich Ärztin. Viele Leute hatten Angst vor Ärzten. Das war nichts Unnatürliches. Dieser Mann war durch den Unfall und die Schmerzen traumatisiert; es gab keinen Grund, sein Verhalten persönlich zu nehmen. Aber Lunzie sah dauernd die Videoaufnahmen von Phoenix vor sich, die kahle Senke, wo das menschliche Lager gestanden hatte …

Der für Disziplinierungstechniken typische Adrenalinschub schoß ihr durch die Adern, dämpfte ihre normalen Reaktionen, kompensierte ihre Schwächen und stärkte ihre Kräfte weit über das übliche Maß hinaus. Sie preßte beide Hände gegen die Muskelpakete des Schwerweltlers, spreizte die Finger und packte zu.

Der Schwerweltler schrie und stieß sie mit der freien Hand von sich, daß sie gegen die Wand taumelte. »Jetzt reicht’s aber! Loslassen! Bei Krim, holen Sie mir einen Arzt, der mich wie ein menschliches Wesen behandelt, verdammt noch mal!« heulte er. Er faßte sich an die verwundete Schulter, und Schweiß strömte ihm über das vor Schreck kreideweiße Gesicht.

»Gibt’s hier ein Problem?« fragte Rik-ik-it und sah kurzsichtig auf Lunzie herunter. Seine Augen mit den silbernen Pupillen blinzelten verwirrt, als er ihr aufhalf.

Der wütende Schwerweltler deutete mit dem Kinn auf Lunzie. »Dieses Weib da ist die reinste Metzgerin. Sie hat mir den Arm auseinandergerissen!«

Immer noch in der Trance, die ihre Selbstdisziplinierung hervorgerufen hatte, zog Lunzie sich zurück. Sie hatte sich nicht verletzt. Der Zorn des Schwerweltlers ängstigte sie nicht, Solange sie ihre Gefühle mit eiserner Beherrschung im Zaum hielt. Was war schief gegangen? Mit Hilfe ihres fotografischen Gedächtnisses ging sie noch einmal ihre Bewegungen durch. Zwei schnelle Drehungen, eine von hinten nach vorn, die andere in einem nach links gerichteten Bogen. Sie wußte, als hätte man eine Ultraschallaufnahme vor ihr in die Luft projiziert, daß die Schulter wieder eingerenkt und der gebrochene Knochen gerichtet war. Mentale Disziplin förderte auch die Sensibilität ihrer fünf Sinne.

Rik untersuchte den Arm sorgfältig und las die Anzeigen des Hypo-Arms. »Hier ist alles in Ordnung«, sagte er. »Die Frau Doktor hat Ihren Arm sauber eingerenkt. Er wird problemlos heilen. Das einzige Problem war, daß die Betäubung noch nicht gewirkt hat.« Er warf einen Blick auf die Wanduhr. »Die Wirkung müßte jetzt einsetzen.«

»Ich hätte den Zeitfaktor bedenken müssen«, tadelte Lunzie sich später selbst, als sie mit Tee allein war. »Aber ich habe die ganze Zeit nur daran gedacht, ihn möglichst schnell loszuwerden. Es war ein dummer Fehler, dumm und peinlich.« Sie fuchtelte hilflos mit den Händen, während sie auf und ab ging. Sie konnte nicht lang irgendwo sitzenbleiben. »Rik sagt, daß ich überreagiere. Er meint, ich hätte eine … eine Phobie gegen Schwerweltler, sonst hätte ich den Zeitfaktor nicht vergessen.« Mieser Laune ließ sie sich vom Nahrungssynthesizer eine Tasse Kaffeersatz zubereiten. »Weißt du, ich entwickle mich zurück. Vielleicht sollte ich in Therapie gehen. Ich war in Trance; ich hätte dem Mann den Arm abreißen können.« Sie schluckte den Kaffee und zog ein schiefes Gesicht.

»Aber du hast es nicht getan«, sagte Tee voller Mitgefühl und zog sie zu sich auf das breite Sofa hinunter, das im großen Zimmer seines Apartments stand. Sie sah weg, als er seine Hand um ihre schloß. Sie konnte das Mitleid in seinen Augen nicht ertragen.

»Ich sollte aufhören. Vielleicht kann ich in die Forschung gehen, wo ich’s nicht mit Lebewesen zu tun habe, die größer als eine Mikrobe sind.« Ihre Mundwinkel zitterten, während sie ein mattes Grinsen beizubehalten versuchte und auf Tees Knie starrte. »Ich kann’s einfach nicht ertragen, wenn ich es mit Idioten zu tun habe, vor allem wenn ich selbst einer bin.«

»Das hört sich nicht wie meine Lunzie an, die sich mit beiden Händen in dieser neuen Welt festgehalten hat, die mir eingeschärft hat, nicht den Mut zu verlieren, wenn kleine Jungs mehr über mein mühselig erlerntes Handwerk wissen als ich.«

Damit versetzte er Lunzies Selbstmitleid einen Schlag, und sie mußte lächeln. Zum ersten Mal sah sie Tee in die Augen. »Der arme Mann hat dauernd geschrien, ich soll mich beeilen, seinen Arm verarzten und mich zum Teufel scheren. Ich weiß, er hatte Angst vor mir, weil ich eine Ärztin bin, aber ich hatte noch mehr Angst vor ihm! Wie groß er auch gewesen sein mag, er war vor allem ein menschliches Wesen! Der Vater meiner Tochter war an der genetischen Evolution der Schwerweltler beteiligt. Lang nach unserer Trennung habe ich von Sion noch Intersystempost erhalten, in der er mir berichtete, welche Maßnahmen er und die anderen Forscher ergriffen haben, um ihre Forschungsobjekte besser an Planeten mit hoher Schwerkraft anzupassen. Ich weiß eine Menge über ihre technische Entwicklung, aber nichts über ihre Gesellschaft. Es ist schon seltsam, daß die Menschheit als einzige Spezies grundlegende Änderungen an sich selbst vornimmt. Einen Ryxi würde man nicht dabei erwischen, daß er an seinem Federkleid auch nur eine Daune ändert.«

»Niemals. Es muß an unserer Neugier liegen, was man mit einem gegebenen Rohmaterial, einschließlich uns selbst, anfangen kann«, überlegte Tee. »Mach dir nicht solche Vorwürfe. Es ist doch sinnlos.«

Lunzie wischte sich die Augenwinkel mit dem Ärmel ab. »Nein, es ist nicht sinnlos. Ich habe meine Kenntnisse mißbraucht, und ich kann es nicht vergessen -ich darf’s nicht vergessen! Ich betrachte mich normalerweise nicht als bigott. Ich bin ein Rückfall. Ich gehöre nicht in dieses Jahrhundert.«

»O nein, da irrst du dich aber«, sagte Tee, nahm ihr die halbleere Tasse aus der Hand und stellte sie auf die schwebende Scheibe am anderen Ende des Sofas. »Es war ein Unfall, und es tut dir leid. Du hast dich nicht an seinem Schmerz geweidet. Du bist eine gute Ärztin und ein guter Mensch. Wer sonst wäre mit mir so liebevoll und geduldig umgegangen wie du? Du kannst diesen armen, ignoranten Menschen der Zukunft eine Menge beibringen.« Er legte sanft die Arme um sie und drückte sie fest an sich. Zwischen zärtlichen Küssen flüsterte er ihr ins Ohr: »Du gehörst hierher. Du gehörst zu mir.«

Lunzie schlang die Arme um seinen Brustkasten und legte den Kopf an seine Schulter. Sie schloß die Augen und fühlte sich geborgen und begehrt. Die Anspannung des Tages löste sich von ihrem Hals und ihren Schultern wie ein Blätterregen von einem Apfelbaum, als Tee mit zarten Küssen ihren Hals emporwanderte und ihr Ohr berührte. Er knetete die Muskeln in ihren Lenden mit seinen starken Fingern, und sie seufzte vor Wohlbehagen. Seine Hände umschlossen ihre Hüfte, streichelten aufwärts, öffneten Verschlüsse und schoben Stoff beiseite, bis sie nackte Haut berührten. Lunzie streichelte auch ihn und bewunderte das Muskelspiel seiner Schulter. Eine elastische Spirale dunklen Haars auf seiner Brust faszinierte sie durch ihren seidigen Glanz.

Tee faßte sie unters Kinn. Er hob ihr Gesicht. Seine tiefliegenden, dunklen Augen blickten ernst und besorgt. »Bleib immer bei mir, Lunzie. Ich liebe dich. Bitte bleib bei mir.« Er neigte den Kopf und strich immer wieder zärtlich mit seinen über ihre Lippen.

»Ich bleibe bei dir«, murmelte sie und ließ sich mit ihm in die tiefen Kissen zurücksinken. »Ich werde bleiben, so lang ich kann.«