sechstes kapitel
»Passen Sie bitte auf, liebe Gäste. Diese Informationen könnten Ihnen eines Tages das Leben retten.«
Ein allgemeines Aufstöhnen ging durch den verschwenderisch ausgestatteten Speisesaal, als der Steward, ein Mensch, seinen oft gehaltenen Vortrag über Sicherheitsvorkehrungen und Evakuierungspläne an Bord eines Raumschiffs wiederholte. Er zeigte auf die Notausgänge, die zu den hinter Vakuumluken verankerten Rettungsbooten auf den Backbord- und Steuerbordseiten des luxuriösen Linienschiffs Destiny Calls führten. Auf holographischen Monitoren zu seiner Rechten und Linken wurde gezeigt, wie die Notbeatmungsausrüstung von den verschiedenen menschlichen und nichtmenschlichen Rassen benutzt werden mußte, die an Bord der Destiny reisten.
Keiner der fein herausgeputzten Gäste der Frühbewirtung für Sauerstoffatmer schien ihm nennenswerte Aufmerksamkeit zu widmen, mit Ausnahme einer Anzahl erschrocken wirkender, zweibeiniger Humanoider, die Lunzie von ihren Dienstbesprechungen als Stribaner kannte. Die meisten interessierten sich mehr für die in ihre Tische eingesetzten, rotierenden Holozylinder, in denen es solche erstaunlichen Dinge zu sehen gab wie Buketts, die binnen weniger Minuten von Knospen zu Blumen erblühten, einen Zauberstab, der Tricks vorführte, oder an Lunzies Tisch einen Bildhauer, der mit Hammer und Meißel an einer Alabasterstatue herumhämmerte. Der Steward hob die Stimme, um sich gegen das Gemurmel durchzusetzen, aber es wurde nur noch lauter. Lunzie mußte zugeben, daß der junge Mann sich gut in Szene setzte und eine angenehme Stimme hatte, aber die Rede war Wort für Wort dieselbe, die auf jedem Schiff beim Start gehalten wurde, und jeder, der häufig reiste, hätte sie mitsprechen können. Er beendeten sie mit dem ironischen Satz: »Danke für Ihre Aufmerksamkeit.«
»Dem Himmel sei Dank, daß es vorbei ist!« sagte Coromell, Admiral im Ruhestand, laut genug, daß der Steward es hören konnte. An den umstehenden Tischen kicherten einige. »Den Quatsch hört sich sowieso keiner mehr an. Für solche Vorträge kriegt man überhaupt nur noch beim Essen genug Leute zusammen. Da läuft keiner davon. Es sollten sowieso nur die überleben, die sich solche Informationen von allein beschaffen können. Die Schwachköpfe, die darauf warten, daß sie ein anderer rettet, sind sowieso so gut wie tot.« Er widmete sich wieder seiner vernachlässigten Vorspeise und kostete einen Löffel Fruchtsalat mit gesüßten Körnern. Der junge Mann packte seine Geräte zusammen und zog sich mit verstörtem Gesicht an einen Tisch im hinteren Teil des Saals zurück. »Wo war ich stehengeblieben?« fragte der alte Mann.
Lunzie legte ihren Löffel weg und rief ihm etwas ins Ohr. »Sie haben gerade von Ihrer Auseinandersetzung mit den Grünen Truppen aus dem antarischen Bürgerkrieg erzählt.«
»Ja, genau. Es gibt keinen Grund, zu schreien.« In großer Ausführlichkeit und mit entsprechender Lautstärke erzählte der Admiral den sieben Mitreisenden am Tisch von seinen Abenteuern. Coromell war ein großer Mann, der in seiner Jugend eine außerordentlich kräftige Figur gehabt haben mußte. Sein lockiges Haar war zwar grau und schütter, aber immer noch dicht. Er neigte dazu, die statistischen Daten jedes Manövers pedantisch zwei- oder dreimal zu wiederholen, damit die anderen ihn auch verstanden, ob sie nun an seiner Erzählung interessiert waren oder auch nicht. Er beendete seine Geschichte gerade noch rechtzeitig mit einer ausgiebigen Schilderung seines Triumphs, als die Suppe serviert wurde.
Lunzie war erstaunt, wieviel Arbeit noch von Kellnern aus Fleisch und Blut geleistet wurde statt von Servomechanismen und den Luken von Nahrungssynthesizern in der Tischplatte. Offensichtlich legten die Flugdirektoren wert darauf, daß niemand übersah, wie gründlich sie alles vorbereitet hatten, bis hin zu den Zutaten der einzelnen Gänge. Selbst wenn die Zutaten außer Sichtweite in der Küche synthetisiert wurden, gab eine persönliche Bedienung den Kunden das Gefühl, daß die Mahlzeiten mit importierten Gewürzen und exotischen Zutaten aus allen Teilen der Galaxis zubereitet wurden. Als sie an Bord gekommen war, hatte Lunzie die Lagerräume besichtigt, und sie staunte noch mehr als ihre Tischgenossen darüber, daß zum Salat Morcheln gereicht wurden, denn sie wußte, daß es sich um echte handelte.
Das vielfältige und reich garnierte Menü kam ihr wie ein verkleinertes Abbild des Schiffs selbst vor. Die verschiedenartigen Unterkünfte, die an Bord zur Verfügung standen, reichten von winzigen Kabinen der Touristenklasse, die tief im Innern des Schiffs lange Korridore säumten, bis zu ganzen Suiten aus eleganten Zimmern, die über große Bullaugen, durch die man ins All hinaussehen konnte, und 3d-Unterhaltungsanlagen verfügten und von eigenen Dienstboten betreut wurden.
Lunzie fand die Ausstattung ihrer eigenen Kabine phantastisch, um so mehr, weil sie nur ein Mitglied der Mannschaft war, eine von mehreren Ärzten an Bord der Destiny. Der Zahlmeister erklärte ihr, daß die Gäste auch außerhalb ihrer Dienstzeiten ihre Hilfe benötigen könnten. Die Illusion eines unerschöpflichen Reichtums durfte auf keinen Fall beeinträchtigt werden, und sei es um den Preis, daß man den Ärzten eine luxuriöse Unterkunft zubilligte, damit die reichen Passagiere nicht den Eindruck gewannen, es werde an irgendeiner Stelle gespart. Das war billiger, als mit den möglichen Folgen ihrer Verwirrung fertigwerden zu müssen. Lunzie war erstaunt, als sie feststellte, daß die Unterhaltungssysteme in ihrem Quartier ebenso komfortabel waren wie in den Kabinen der Ersten Klasse. Ihr stand eine Bar mit echten Weinbränden sowie ein Getränkesynthesizer zur Verfügung.
Das Computerterminal im angrenzenden Behandlungsraum war so programmiert, daß er ihr regelmäßig die medizinischen Profile aller Mannschaftsmitglieder und Gäste präsentierte. Obwohl es unwahrscheinlich war, daß sie einen nichtmenschlichen Passagier behandeln würde müssen, stand ihr ein vollständiger Satz von Schutzanzügen in ihrer Größe zur Verfügung, die es ihr bei Bedarf ermöglichten, sich in den verschiedenen Milieus zu bewegen, die man für Methanatmer, Wasserarmer und in extrem hohen oder extrem niedrigen Temperaturen lebende Spezies eingerichtet hatte. Natürlich gehörten auch die entsprechenden Übersetzungscomputer dazu.
Dr. Root hätte der Behandlungsraum gefallen. Er war mit sämtlichen Geräten ausgestattet, die Lunzie im medizinischen Katalog aufgelistet gesehen hatte. Ihr eigener Kolibri und ihre Sammlungen von Spezialinstrumenten waren in dieser Anhäufung von Technik überflüssig, und sie ließ beides in dem Koffer im Spind in ihrer Kabine liegen. Sie war begeistert von dem hochmodernen Chemielabor, das sie sich mit den anderen acht medizinischen Offizieren teilte. Die Destiny war sechs Tage in Astris’ Orbit geblieben, nachdem Lunzie und fünfzehn andere Mannschaftsmitglieder an Bord gekommen waren, deshalb hatte sie reichlich Zeit gehabt, die Profile ihrer Kollegen und der Gäste zu studieren. Die Dateien erwiesen sich als eine faszinierende Lektüre. Die Besitzer des Schiffs gingen keine Risiken ein, was Notfälle während einer Reise anging, und führten deshalb ausführliche medizinische Unterlagen. Sobald ein neuer Passagier an Bord kam, wurde ein vollständiges Profil an die persönliche Computerkonsole jedes Arztes übermittelt.
Lunzie wandte sich Baraki Don zu, dem persönlichen Adjutanten des Admirals, einem gutaussehenden Mann zwischen siebzig und achtzig, dessen silbergraues Haar sich über erstaunlich strahlend blauen Augen und schwarzen Augenbrauen wellten. »Ich will damit nicht andeuten, daß ich den Eingriff vornehmen will, aber hätte man sein Innenohr nicht wiederherstellen sollen? Wenn jemand seine Zuhörer anschreit, ist das gewöhnlich ein deutliches Anzeichen dafür, daß sein eigenes Gehör versagt. Wenn ich mich recht entsinne, wird in der Datei des Admirals erwähnt, daß er über hundert Standardjahre alt ist.«
Don tat die Bemerkung mit einem Wink ab und zog ein Gesicht, als blicke er auf lange, leidvolle Erfahrungen zurück. »Das hat nichts mit dem Alter zu tun. Er hat immer so gebrüllt. Wenn er auf der Brücke war, konnte ich ihn ohne Gegensprechanlage im Maschinenraum hören.«
»Was für ein alter Langeweiler«, sagte eine ihrer Tischgenossinnen in einem der seltenen Momente, wenn sich der Admiral mit seinem Essen beschäftigte. Sie war eine Menschenfrau mit schwarzem, grüngesträhntem und pompös hochtoupiertem Haar und trug ein phantastisches silbernes Kleid, das sich eng an ihre Figur schmiegte.
Lunzie lächelte bloß. »Es ist faszinierend, was der Admiral in seiner Karriere erlebt hat.«
»Wenn etwas davon stimmt«, sagte die Frau und rümpfte die Nase. Sie probierte ein Stück Fruchtsalat und verzog das Gesicht. »Igitt, das ist ja widerlich.«
»Aber Sie müssen sich doch nur die vielen Orden an seiner Uniformjacke ansehen. Ich glaube nicht, daß sie ihm für sein gutes Benehmen verliehen wurden oder weil er seinen Spind in Ordnung gehalten hat«, sagte Lunzie und gab einer flüchtigen Laune nach. »Wofür ist Ihnen dieser Orden aus grünem Metall mit dem Doppelstern verliehen worden, Admiral?«
Der Admiral richtete seine scharfen blauen Augen auf Lunzie, die ganz aufmerksam zuhörte. Die grünhaarige Frau stöhnte fassungslos. Coromell lächelte und berührte die kleine Verzierung der Dreierreihe an seiner Brust.
»Junge Dame, das konnte Sie interessieren, weil Sie Medizinerin sind. Ich habe damals einen Sondereinsatz geleitet, bei dem wir den Befehl erhielten, ein Serum nach Denby IX zu bringen. Offenbar war dort ein Forschungsraumschiff abgestürzt, und ein Besatzungsmitglied nach dem anderen hat sich mit einer Krankheit angesteckt, die sie verkrüppelte. Die meisten waren zu schwach, um sich zu bewegen, als wir dort eintrafen. Unsere Wissenschaftler fanden heraus, daß der Staub, den sie mit ihren Atmosphärenanzügen hereintrugen, Spurenelemente enthielt, die das Bindegewebe reizten, Fieber und Schwellungen hervorriefen und schließlich zum Tod führten. Die Partikel waren so klein, daß sie durch die Poren der Haut eindrangen. Auch einige unserer Leute sind erkrankt, bevor wir alles in Ordnung gebracht haben. Keiner war ernstlich krank, aber man hat uns allen Orden verliehen. Und an die Casper-Mission erinnert mich heute dieses kleine Ding …«
Die Frau blickte angewidert zur Decke und roch kurz an der geschliffenen Parfümflasche, die sie am Handgelenk trug. Eine Woge schweren Dufts rollte über den Tisch, und die anderen keuchten. Lunzie warf der Frau einen mitleidigen Blick zu. Privilegien und Reichtümer mußten etwas an sich haben, was das Leben langweilig machte. Und Coromell hatte ein solch bemerkenswertes Leben geführt. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was er sagte, dann war er mehr als ein Held.
Der schwarzgewandete Oberkellner erschien am Kopfende des Speisesaals und schlug mit einem Porzellanklöppel eine winzige silberne Glocke an. »Verehrte Gäste, das Dessert!«
»He, was?« Zur Erleichterung einiger Tischgenossen unterbrach die Ankündigung Coromell mitten in einer wortgewaltigen Schilderung. Er machte eine Pause, während ein Kellner ihm einen Teller mit edlem Gebäck servierte, und kostete einen Bissen. Er steckte seine Gabel ins Dessert und strahlte seinen Adjutanten zufrieden an. »Kosten Sie, Don. Einfach köstlich.«
»In der Küche gibt’s gurnsanische Blätterteigrollen.« Lunzie lächelte ihn an und führte einen Bissen köstlicher Cremetorte an den Mund. Er war der interessanteste Mann, den sie je kennengelernt oder in 3d-Sendungen gesehen hatte. Ihr fiel auf, daß er nur wenige Jahre älter war als sie. Vielleicht hatte er in seiner Jugend Kipling oder Service gelesen.
»Ja, ja, ich muß schon sagen, wirklich gut. Dagegen ist die Flotten Verpflegung ein Dreck, was, Don?«
»Sie sagen es, Admiral.«
»Gut, sehr gut«, murmelte der Admiral zwischen den Bissen, während ihre Tischgenossen aufaßen und gingen.
»Ich sollte jetzt auch gehen«, entschuldigte sich Lunzie und wollte aufstehen. »Ich habe nach dem Essen Sprechstunde.«
Der Admiral blickte von seinem Teller auf, und seine Augenwinkel legten sich in Falten, als er sie ansah. »Sagen Sie mir, Frau Doktor. Haben Sie zugehört, weil es Sie interessierte, oder nur, um einen alten Mann zu verulken? Mir ist nicht entgangen, daß diese grünhaarige Frau über mich gelästert hat.«
»Ich habe Ihnen wirklich gern zugehört, Admiral«, sagte Lunzie aufrichtig. »Ich stamme von einer langen Ahnenreihe erfolgreicher Flottenoffiziere ab.«
Coromell war erfreut. »Tatsächlich! Sie müssen sich später unbedingt zu uns gesellen. Während der zweiten Schicht trinken wir immer einen guten Likör im Holosaal. Sie können uns von Ihrer Familie erzählen.«
»Es wäre mir eine Ehre«, erwiderte Lunzie, und lächelnd machte sie sich auf den Weg.
* * *
»Das sieht schlimm aus«, sagte Lunzie, als sie den Techniker untersuchte. Sie zog das Hosenbein weg, betastete die zerkratzte Haut ober- und unterhalb des Knies, drückte einen Finger seitlich gegen die Patellasehne und runzelte die Stirn.
»Au!« knurrte der Techniker und zuckte zusammen. »Das tut weh.«
»Sie ist nicht abgerissen, Perkin«, versicherte Lunzie ihm und klappte den Ultraschallschirm über das Bein herunter. »Schauen wir’s uns mal an.« Auf dem Bildschirm hoben sich Sehnen und Knochen von dunklen Muskelmassen ab. Dünne Linien, Venen und Arterien, in denen Blut pulsierte. In der Nähe des Knies waren die Venen angeschwollen, miteinander verwoben und unnatürlich geweitet. »Wenn Sie das schon schlimm finden, warten Sie mal ein paar Tage ab. Es gibt einige intramuskuläre Blutungen. Das kann nicht von einem gewöhnlichen Sturz herrühren – der Knochen ist auch angerissen. Wie ist das passiert?« Lunzie griff unter den Bildschirm, um das Knie in eine andere Position zu drehen, und sah neugierig zu, wie die Muskeln auf den Rücken ihrer skelettartigen Hände zuckten. Es waren erstklassige Geräte.
»Aber nicht fürs Protokoll, ja, Doktor?« sagte Perkin zögernd und schaute durchs Untersuchungszimmer.
Auch Lunzie sah sich um, dann schaute sie dem Mann ins Gesicht und versuchte herauszufinden, was ihn so nervös machte. »Eigentlich geht das nicht, aber wenn Sie’s mir anders nicht sagen wollen …«
Der Mann gab einen Seufzer der Erleichterung von sich. »Also nicht fürs Protokoll. Ich habe mir das Bein in der Luke eines Lagerraums eingeklemmt. Sie hat sich unerwartet geschlossen. Das Ding ist sechs Meter hoch und fast fünfzehn Zentimeter dick. Es hätten eine Sirene tönen und Lampen blinken müssen. Aber nichts.«
»Wer hat sie ausgeschaltet?« fragte Lunzie und hatte plötzliche eine irrationale Angst um die Schwerweltler. Vielleicht war eine Intrige gegen den Admiral im Gange.
»Das war nicht nötig, Doktor. Wissen Sie nicht, wem die Destiny Cruise Line gehört? Dem Paraden-Konzern.«
Lunzie schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, weiß ich nichts über sie. Ich glaube, ich habe den Namen schon einmal gehört, aber das ist schon alles. Ich bin nur befristet angestellt, bis wir in vier Monaten den Orbit von Alpha Centauri erreichen. Was ist denn mit dem Paraden-Konzern?«
Der Techniker verzog die Lippen. »Ich hoffe, daß es in diesem Raum keine Wanzen gibt. Der Paraden-Konzern läßt seine Schiffe so lang wie möglich verkehren, ohne sie zur Generalüberholung ins Dock zu bringen. Geringfügige Wartungsarbeiten werden zwar vorgenommen, aber größere Reparaturen werden so lang hinausgeschoben, bis sich jemand beschwert. Und derjenige wird sofort gefeuert.«
»Das hört sich ziemlich verantwortungslos an.« Lunzie war schockiert.
»Ganz zu schweigen von der Gefahr für Besatzung und Passagiere, Lunzie. Aber es war schon immer lukrativer, wenn man’s einfach darauf ankommen läßt. Der Konzern gehört der Familie Parchandris, und die ist bekannt dafür, daß sie den größtmöglichen Profit aus ihren Investitionen quetscht. Die Destiny Line ist nur einer ihrer Aktivposten.«
Lunzie hatte von den Parchandris gehört. »Wollen Sie damit andeuten, daß dieses Raumschiff nicht raumtauglich ist?« fragte sie nervös. Jetzt fürchtete sie sich vor Abhörgeräten.
Perkin seufzte. »Wahrscheinlich schon. Sehr wahrscheinlich sogar. Aber die Wartung ist schon lang überfällig. Sie hätte schon durchgeführt werden müssen, als wir das letzte Mal auf Alpha waren. Der Hafenmeister hat uns nur widerwillig starten lassen. Das war schlecht für die Moral, kann ich Ihnen sagen. Wir alten Haudegen erzählen den neuen Mannschaftsmitgliedern gewöhnlich nichts von unseren Sorgen – wir haben Grund zur Befürchtung, daß sie entweder Konzernspione sind, die für Lady Paraden arbeiten, oder daß sie zuviel Angst haben, um an Bord zu bleiben.«
»Gut, aber wenn etwas schiefgeht, werden Sie mich doch sicher warnen, ja?« Sie sah seinem Gesicht an, daß er plötzlich vor ihr dicht machte. »Oh, bitte«, flehte sie ihn an. »Ich bin keine Spionin. Ich bin auf dem Weg zu meiner Tochter. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit sie ein Kind war. Ich will nicht, daß mir etwas dazwischenkommt. Ich hatte schon einmal einen Unfall.«
»Ganz ruhig«, sagte Perkin. »Ein Blitz schlägt selten zweimal an derselben Stelle ein.«
»Es sei denn, daß man ein Blitzableiter ist!«
Perkin wurde wieder locker und schämte sich ein wenig dafür, daß er sie verdächtigt hatte. »Ich halte Sie auf dem laufenden, Lunzie. Sie können auf mich zählen. Aber was ist nun mit meinem Knie?«
Sie deutete auf die Verfärbung seiner Haut. »Also, abgesehen von diesem Nordlicht – und davon braucht außer Ihnen und Ihren Mitbewohnern niemand etwas zu erfahren –, wird nichts zurückbleiben, was auf Ihren … Ihr kleines Mißgeschick hindeutet«, sagte Lunzie und drückte die magnetischen Säume wieder zu. »Es bleiben keine dauerhaften Schäden zurück. Das Bein wird steif bleiben, bis die Blutergüsse zurückgehen, und Sie könnten ein wenig Schmerzen haben. Wenn die Schmerzen zu stark werden, nehmen Sie das Analgetikum, mit dem ich den Synthesizer in Ihrer Kabine programmiere, aber nicht mehr als eine Tablette pro Schicht.«
»Macht mich das Zeug high?« fragte der Techniker und drückte sich vom Tisch hoch, wobei er besonders auf sein verletztes Bein achtgab.
»Ein wenig. Aber was wichtiger ist: es stopft stärker als ein Haferbrei-Bananen-Sandwich«, sagte Lunzie und zwinkerte ihm zu. »Ich verschreibe diese Mischung niemals einem jungen Seti. Sie haben ohnehin schon genug Probleme mit von Menschen bestimmten Speiseplänen.«
Perkin kicherte. »Darauf können Sie wetten. Es hat einmal einer für mich gearbeitet. Er hat ständig gelitten. Der Köche haben für ihn Senna gezogen. Aber viel mehr weiß ich nicht über ihn. Ich kenne keine andere Spezies, die so verschlossen ist.«
»Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen auch eine Salbe, mit der Sie nach einem heißen Bad Ihr Bein einreiben können.«
»Danke, Lunzie.« Perkin nahm den kleinen Plastikbeutel, den Lunzie ihm hinhielt, und humpelte durch die Tür an dem nächsten Patienten vorbei, der auf die Doktorin wartete.
Von diesem Tag an fielen Lunzie immer häufiger Dinge auf, die mit dem Schiff nicht in Ordnung waren. Unter all dem Prunk konnte man es leicht übersehen, aber wer sich aufmerksam umschaute, stieß schnell auf Anzeichen dafür, daß Perkin recht hatte und die Schiffssysteme tatsächlich einer Wartung bedurften. Aus dem Methan-Milieu drang ständig etwas in die umliegenden Decks, und mehrere Passagiere beschwerten sich über den Geruch im Flur zum Fitness-Zentrum. Perkin und die anderen Techniker zuckten die Achseln, als sie die Risse provisorisch abdichteten, und versprachen, das Problem unter Kontrolle zu halten, bis sie den nächsten Raumhafen mit Wartungseinrichtungen erreichten. Doch bis Alpha Centauri waren es noch Monate.
Lunzie machte sich Sorgen, daß das Schiff auf dem Weg nach Alpha Centauri havarieren könnte. Die Aussichten, zweimal in einem Leben in einen Unfall im Weltraum verwickelt zu werden, standen eins zu einer Million, aber es machte ihr trotzdem zu schaffen. Es konnte ihr doch nicht noch einmal passieren, oder? Sie hoffte, Perkin hatte mit seinen Befürchtungen übertrieben. Mit dem unangenehmen Gefühl, daß ihr jeden Moment etwas Schreckliches zustoßen könne, gewöhnte Lunzie sich an, den Anweisungen zur Evakuierung aufmerksamer zuzuhören. Sie hielt ihr Versprechen und verriet niemandem, was Perkin ihr anvertraut hatte, aber sie hielt die Augen offen.
Die Sitzordnung im Speisesaal hatte sich im Laufe der letzten Monate geändert. Lunzie, Admiral Coromell und Baraki Don hatten Plätze am Tisch des Captains erhalten, eine Etage höher als ihre früheren Plätze beim Ersten Offizier, einer auffälligen dunkelhäutigen Frau, die wahrscheinlich im selben Alter war wie Commander Don. Sharu, die Erste Offizierin, war von sehr kleiner Statur. Ihr Scheitel reichte Lunzie gerade bis zum Kinn. Sharu trug ein enganliegendes Kleid im selben Purpurrot wie ihre Uniform. Ihr militärisches Gebaren deutete an, daß sie in der Flotte gedient hatte, ehe sie zu den Destiny Cruise Lines gewechselt war. Das goldene Zierband um den einzigen Ärmel verriet ihren Rang und verbarg einen kleinen, leistungsfähigen Kommunikator, mit dem sie während des Essens mit der Schiffsbrücke Kontakt hielt. Der andere Arm, um den sie einen funkelnden Diamantarmreif trug, war nackt bis zur Schulter. Zu Lunzies Überraschung hatte auch Sharu etwas für abenteuerliche Geschichten übrig, so daß Coromell ein dankbares Publikum für seine Geschichten fand.
Aber offenbar wußte er es nicht besonders zu schätzen. Er war manchmal ziemlich mürrisch und schnauzte die beiden an, daß sie sich nicht über einen alten Mann lustig machen sollten. Nach einiger Zeit gab Lunzie es auf, ihre Unschuld zu beteuern, und drehte den Spieß um.
»Vielleicht mache ich mich wirklich nur über Sie lustig«, sagte sie leichthin zu Coromell, der mitten in seinem Redeschwall verstummte und sie fassungslos anstarrte. »Ich habe schon Vorlesungen besucht, wo intensivere Wortwechsel geführt wurden, als Sie sie zulassen. Wir haben auch unsere Meinungen. Von Zeit zu Zeit würde ich meine gern äußern.«
»Oho, oho! Methinks I do protest too much, was?« lachte Coromell beifällig. »Das ist von Shakespeare, falls ihr zu jung seid und ihn nicht mehr gelesen habt. Nun gut. Vielleicht habe ich ein Alter erreicht, in dem ich vom Wohlwollen meiner Umgebung abhängig bin, in einer Welt, in der ich nicht mehr viel zu sagen habe, und es gefällt mir nicht. Ich komme mir vor wie diese armen Schwerweltler.«
Lunzie sprang sofort auf die Bemerkung an. »Was ist mit den Schwerweltlern, Admiral?«
»Bei meinem letzten Kommando haben ein paar unter mir gedient. Wie lang ist das her, Don? Acht Jahre? Zehn?«
»Vierzehn, Admiral.«
Coromell schob den Kiefer vor und zählte die Jahre an der Decke. »Genau. Diese verdammten Schreibtischjobs. Man verliert einfach jedes Zeitgefühl. Schwerweltler! Was für eine törichte Idee. Man sollte Menschen nicht an fremde Welten anpassen. Man sollte fremde Welten an Menschen anpassen. So hat Gott es schließlich gewollt!«
»Terraformen dauert zu lang, Admiral«, gab Sharu zu bedenken. »Von der Schwerkraft abgesehen, sind sie Welten, auf denen die Schwerweltler leben, gut für menschliche Besiedlung geeignet. Diese Menschen wurden dafür geschaffen, sich an solche Bedingungen anzupassen.«
»Ja, geschaffen! Es wurde eine Minderheit geschaffen, das ist alles«, ereiferte sich der Admiral. »Wir haben in der Politik schon genug Probleme mit Vetternwirtschaft. Gerade wenn man alle Gruppierungen unter einen Hut bekommen hat, kommt eine neue dazu, und der ganze Ärger fängt wieder von vorn an. Man hört die Leute über die Katastrophe auf Phoenix jammern, daß die Schwerweltler auf den Gräbern der Leichtgewichte tanzten, die vor ihnen dort waren, aber man kann darauf wetten, daß sie jedem einen beträchtlichen Obolus gezahlt haben, der ihnen bei der Landung geholfen hat – wahrscheinlich einen nennenswerten Prozentsatz ihres Exporteinkommens.«
»Ich habe gehört, daß die Planetenpiraten die erste Kolonie zerstört haben«, sagte Lunzie und dachte voller Groll an die qualvollen beiden Jahre zurück, die sie in der Annahme verbracht hatte, Fiona sei unter den Todesopfern auf Phoenix gewesen.
»Doktor, Sie können es glauben. Wahrscheinlich haben sie erst ihre Kommunikation zur Außenwelt abgeschnitten und dann ihre Lebenserhaltungsanlagen, Handelsschiffe und so weiter zerstört. Sobald die Bevölkerung eines Planeten sich nicht mehr selbst versorgen kann, gehen ihre Rechte an die nächste Gruppe über, die dazu imstande ist. Mein Schiff empfing einen Notruf von einem Handelsschiff, das außerhalb des Eridani-Systems von Piraten verfolgt wurde. Es war ziemlich schwer beschädigt, hatte aber immer noch Ionen im Schlepptau, als wir dazukamen. Mein Kommunikationsoffizier war drei Wochen lang ständig mit der Brücke in Kontakt, bis wir die Mannschaft retten konnten. Wer seinen Mut verliert, verliert den Krieg, sage ich immer!«
»Haben Sie die Piraten gefangengenommen?« fragte Lunzie interessiert und beugte sich vor.
Der Admiral schüttelte mit Bedauern den Kopf. »Zum Himmel, leider nicht. Das hätte mir einen schönen Stern auf dem Bug eingebracht. Wir haben sie in einen Kampf verwickelt, als sie gerade das Handelsschiff angreifen wollten. Die armen Teufel auf dem Handelsschiff haben dem Himmel dafür gedankt, daß wir aufgetaucht sind, und schnell das Weite gesucht, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Das Piratenschiff hatte keine Wahl. Es konnte uns nicht ignorieren. Es hat ein Loch in unser Schiff geschossen, aber wir hatten keine Verluste. Die Piraten hatten nicht so viel Glück. Ich habe Rumpfplatten und andere Bruchstücke mit ausgefransten, gewellten Rändern von ihrem Schiff wegfliegen sehen. Es muß eine Atmosphärenkammer explodiert sein, also hat es Besatzungsmitglieder erwischt. Ich bete zum Himmel, daß keine Gefangenen darunter waren.
Was immer sie in ihren Triebwerken hatten, unsere waren jedenfalls besser. Wir haben sie in den Strahlungsgürtel hinausgejagt, vorbei an den Kometen. Sie sind ein paar Runden auf einem Spiralkurs geflogen und dann wieder zu einem geradlinigen Kurs übergegangen, aber mein Geschützoffizier hat sie noch einmal erwischt. Das hat ihnen den Rest gegeben. Als wir ihnen zufunkten, daß wir sie mit einem Prisenkommando entern wollten, haben sie ihr Schiff selbst gesprengt.« Der Admiral streckte die Hände aus, als wollte er nach etwas Unsichtbarem greifen. »Ich war so nah dran! Es ist noch keinem Captain gelungen, ein Piratenschiff zu entern. Vielleicht schmeichele ich mir damit, aber wenn ich es nicht geschafft habe, dann schafft es keiner.«
»Sie schmeicheln sich nicht, Admiral«, bemerkte Sharu vorlaut. »Aber sehr wahrscheinlich haben Sie recht.«
Nachdem sie ihren Ambulanzdienst absolviert hatte, gesellte Lunzie sich abends gern zu dem Admiral und seinem Adjutanten im Holosaal. Coromell hatte zwei Lieblingshologramme, die er in dem kleinen Nebenraum abrief, in dem er und Don die Stunden bis zum Schlafengehen verbrachten. Das erste war die Brücke seines Flaggschiffs, der Federation. Das zweite schien er vorzuziehen, wenn Lunzie den Eindruck hatte, daß er in einer nachdenklichen Stimmung war. Es stellte ein prasselndes Feuer in einem breiten, gekachelten Kamin mit verziertem Kupferabzug in einer Backsteinmauer dar.
Die leistungsfähige holografische Anlage war sowohl mit visuellen wie auch mit Geruchs- und Temperaturkomponenten ausgestattet. Lunzie konnte die brennenden Hartholzscheite riechen und die Hitze der Flammen spüren, als sie in dem dritten der drei tiefen, gepolsterten Armstühle Platz nahm, die in dem Nebenraum standen. Don stand auf, als er sie kommen sah, und bedeutete einem Kellner, ihr einen Drink zu bringen. Wie sie erwartet harte, saß Coromell ruhig da, hatte einen Ellbogen aufs Knie gestützt, ein Weinglas in der anderen Hand, starrte in das Licht- und Schattenspiel und lauschte der leisen Musik im Hintergrund. Er hatte ihr Erscheinen nicht bemerkt. Lunzie wartete eine Weile und beobachtete ihn. Er sah nachdenklich und ziemlich traurig aus.
»Woran denken Sie, Admiral?« fragte Lunzie mit weicher Stimme.
»Hm? Ach, Doktor. An nichts. Nichts Wichtiges. Ich habe nur an meinen Sohn gedacht. Er ist im Dienst. Er muß auch weit raus, und er macht seine Sache gut.«
»Sie vermissen ihn«, sagte sie, weil sie instinktiv spürte, daß der alte Mann reden wollte.
»Verdammt, ja. Er ist ein prächtiger junger Mann. Sie sind ungefähr in seinem Alter, würde ich sagen. Sie … haben Sie auch Kinder?«
»Nur eins, eine Tochter. Ich treffe sie auf Alpha Centauri.«
»Ein kleines Mädchen, was? Sie sehen so jung aus.« Coromell hustete in einem Anfall von Selbstverachtung. »Natürlich, in meinem Alter sieht jeder jung aus.«
»Admiral, ich bin eher in Ihrem Alter als im Alter Ihres Sohnes.« Lunzie zuckte die Achseln. »Es steht alles in den Schiffsdateien, wenn Sie mehr wissen wollen. Ich habe im Kälteschlaf gelegen. Mein kleines Mädchen wird an ihrem nächsten Geburtstag achtundsiebzig.«
»Na so was! Deshalb verstehen Sie also die ganzen historischen Anspielungen, die ich von mir gebe. Sie waren dabei. Wir sollten uns mal über alte Zeiten unterhalten.« Der Admiral warf ihr einen Blick einsamer Qual zu, der Lunzie ans Herz ging. »Es gibt nur noch wenige Menschen, die sich an damals erinnern. Ich würde es als einen persönlichen Gefallen betrachten.«
»Admiral, ich würde es aus reinem Eigennutz tun. Ich bin erst seit zwei Jahren in diesem Jahrhundert.«
»Hm! Ich habe das Gefühl, als sei ich schon so lang auf diesem Schiff. Wohin sind wir unterwegs?«
»Zum Planeten Sybaris. Es ist eine Luxus …«
»Ich weiß Bescheid«, unterbrach Coromell sie ungeduldig. »Noch so ein Abstellplatz für nutzlose Reiche. Pah! Wenn ich einmal so hilflos sein sollte, können Sie einen Nachruf auf mich schreiben.«
Lunzie lächelte. Der Kellner verbeugte sich neben ihr und hielt ihr ein tiefes, rundliches Weinglas hin, das dem des Admirals ähnelte und einen Fingerbreit mit einer aromatischen, bernsteinroten Flüssigkeit gefüllt war. Es war ein hervorragender, seltener Weinbrand. Aus dem Glas stiegen ihr zarte Düfte in den Kopf, als die Hitze des Feuers das Getränk aufwärmte. Lunzie kostete einen Schluck und hatte das Gefühl, daß die Hitze ihre Kehle hinabfloß. Sie schloß die Augen.
»Schmeckt’s Ihnen?« knurrte Coromell.
»Sehr gut. Normalerweise trinke ich solche starken Sachen nicht.«
»Mhm. Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Ich habe nie im Dienst getrunken.« Coromell bedeckte das Glas mit seiner großen Hand und schwenkte es sanft unter der Nase, ehe er es sich an die Lippen setzte. »Aber heute bin ich ein wenig nachsichtig mit mir.«
Lunzie bemerkte auf einmal, daß sich die Hintergrundmusik geändert hatte. Das leise Geklimper wurde nun von einem diskreten Klingeln begleitet, das ein Passagier vielleicht für einen technischen Fehler gehalten hätte. Mannschaftsmitglieder warnte es jedoch vor einer bevorstehenden Katastrophe. Lunzie stellte ihr Glas ab und sah sich in den Schatten um.
»Chibor!« Sie winkte eine Kollegin aus Perkins Personal zu sich, die gerade durch den geräumigen Saal ging. Die Frau blickte auf, als sie Lunzies Stimme hörte, und winkte.
»Ich habe dich gesucht, Lunzie. Perkin hat mir gesagt …«
»Ja! Der Alarm. Was ist denn los? Du kannst vor dem Admiral offen reden. Er hat so leicht vor nichts Angst.«
Coromell straffte sich und stellte sein Glas weg. »Nein, wirklich nicht. Was gibt’s?«
Chibor gab ihr mit einer Geste zu verstehen, daß sie nicht zu laut reden sollten, und beugte sich ihr entgegen. »Du weißt doch, daß wir Probleme mit dem Triebwerk hatten. Es hat einige seltsame harmonische Schwingungen erzeugt, deshalb mußten wir es abschalten und den Warpraum früher verlassen. Bis es überprüft ist, können wir einige Zeit nicht wieder in den Warpraum zurück, und wir sind jetzt ausgerechnet einem Ionensturm in die Quere geraten. Er kommt ziemlich schnell auf uns zu. Der Navigator hat uns versehentlich in seinen Randbereich treiben lassen, und er läßt das Antimaterietriebwerke ganz schön verrückt spielen. Wir werden hinter dem Gasriesen dieses Systems Schutz suchen, um uns gegen den Sturm abzuschirmen.«
»Ob das funktioniert?« fragte Lunzie mit großen, besorgten Augen. Sie kämpfte gegen den Knoten der Furcht in ihren Eingeweiden an.
»Vielleicht ja«, antwortete Coromell ruhig und unterbrach Chibor. »Vielleicht auch nicht.«
»Wir bereiten uns darauf vor, auf Notaggregate umzuschalten. Perkin sagte, du solltest es wissen.« Chibor nickte und eilte davon. Lunzie sah ihr hinterher. Niemand sonst achtete auf sie, als sie den Holo-Raum verließ. Alle widmeten sich ihren eigenen Beschäftigungen.
»Ich gehe besser nach oben und erkundige mich, was los ist«, sagte Lunzie. »Entschuldigen Sie mich, Admiral.«
Der Gasriese des Carson-Systems war so gewaltig und spektakulär wie versprochen. Der schnell rotierende Planet verfügte über einen festen Kern tief in einer Tausende Kilometer dicken Hülle aus Gaswirbeln. Eine Handvoll Mitreisende hatte sich auf der Schiffsgalerie versammelt und beobachtete ihn durch die dicke Quarzluke.
Der Captain der Destiny Calls beschleunigte sein Schiff, um es der zweistündigen Umdrehungsdauer des Planeten anzupassen und einer auffälligen Stelle in der Gashülle zu folgen, dem Ausgangspunkt eines Paars horizontaler Streifen, die zur sonnengerichteten Seite des Planeten führten, wo das Schiff auf Abstand ging und eine Position hinter der schützenden Masse des Planeten einnahm. Der grüngelbe Riese war beinahe selbst ein Stern, und es fehlte ihm nur wenig Masse, um das nukleare Feuer zu zünden. Er umkreiste seine Sonne auf einer weit engeren Umlaufbahn, als es bei Gasriesen üblich war, und die Sonne selbst brannte in einem aktinischen Weiß auf den Bildschirmen. Die Telemetrie warnte vor ausschlagenden magnetischen Turbulenzen, die von der Gasoberfläche ausgingen. Es war der einzige ausgebildete Planet dieses Systems, und Schiffe, die hier entlangkamen, orientierten sich an ihm, wenn sie zum letzten Sprung durch die sternarme Region bis nach Sybaris antraten. Seine schnelle Rotation und die massiven magnetischen Felder, die er erzeugte, sorgten dafür, daß er selbst auf der dunklen Seite große Mengen an Gas und Strahlung emittierte. Lunzie vermutete, daß sie dem Planeten, der die halbe Aussichtsluke ausfüllte, näher waren als üblich, sagte aber nichts. Andere Passagiere, die offenbar mehr Reiseerfahrungen hatten, schienen ebenso besorgt zu sein. Der Captain erschien wenige Minuten später, und sein gezwungenes Lächeln strafte seine Versuche Lügen, die Passagiere zu beruhigen.
»Liebe Gäste«, sagte Captain Wynline gequält und sah zu, wie der Gasriese unter ihm rotierte. »Aus technischen Gründen waren wir gezwungen, an dieser Stelle den Warpraum zu verlassen. Dafür können wir Ihnen aber einen einzigartigen Anblick bieten, den seit seiner Entdeckung nur wenige genossen haben: Carsons Riese. Dieser Gasriese hätte eine zweite Sonne werden können und dieses System zu einem Doppelstemsystem ohne Planeten gemacht, doch die nukleare Reaktion hat nie eingesetzt, und so blieb uns ein galaktisches Wunder zum Studieren und Spekulieren zurück. Öh … und es sollte bitte niemand ein Streichholz fallenlassen.«
Die Passagiere, die den riesigen Planeten beobachteten, lachten vergnügt und flüsterten untereinander.
Die Destiny wartete hinter dem Gasriesen, bis feststand, daß der ungewöhnlich heftige Ionensturm vorbeigezogen war und die Ekliptik verlassen hatte. Der erste Ausläufer des Sturms, vor dem eine unbemannte Sonde in dem Moment gewarnt hatte, als sie wieder in den Normalraum eingetreten waren, erfüllte den dunklen Himmel um den Riesen mit einem tanzenden Nordlicht.
»Captain!« Telemetrieoffizier Hord betrat die Galerie und blieb neben dem Captain stehen. »Noch eine große Protuberanz auf der Sonnenoberfläche! Das wird die Magnetfelder des Planeten ziemlich durcheinanderbringen«, erklärte er leise und machte eine Pause, um die Reaktion des Captains abzuwarten. Der Captain schien nicht allzu besorgt. »Das wird die Auswirkungen des Ionensturms verstärken, Sir«, fügte er hinzu, als eine Antwort ausblieb.
»Ich bin mir der Komplikationen bewußt, Hord«, versicherte ihm der Captain und tippte an sein Kragenmikro. Er sprach mit deutlich gesenkter Stimme. Lunzie bemerkte seinen ernsten Ton, trat näher und hörte zu. Der Captain beobachtete sie, sah in ihr aber nur ein weiteres Mannschaftsmitglied und fuhr mit seinen Befehlen fort. »Helm, versuchen Sie uns von den schlimmsten Ausbrüchen wegzumanövrieren. Benutzen Sie alle Triebwerke, die einsatzfähig sind. Telemetrie, geben Sie uns Bescheid, wenn der Sturm weit genug vorbeigezogen ist, daß wir uns wieder rauswagen können. Mir gefällt die Sache überhaupt nicht. Computersysteme, beschafft uns schnellstens die keramischen Back-up-Speicher unserer Programmierung. Nur für den Fall, daß wir sie brauchen. Informiert die Technik. Hard, wie lang dauert es, bis uns magnetische Turbulenzen von der Sonne erreichen?«
»Neun Stunden, Sir. Aber die Protuberanzen folgen ziemlich dicht aufeinander. Ich schätze, daß einige uns bald erreicht haben. Wir können es nicht genau sagen. Von der Sonde kommt zuviel Rauschen, um aus den Daten etwas Vernünftiges schließen zu können.« Beide Offiziere machten inzwischen einen besorgten Eindruck. Das Komgerät am Kragen des Captains piepste. »Technik hier, Captain. Wir haben starke magnetische Interferenzen in den Triebwerken. Die Antimaterie-Einschließung wird instabil. Ich bringe transportable Einheiten rein, um sie zu verstärken.«
Der Captain wischte sich die Stirn ab. »Es geht also schon los. Wir können uns nicht mehr auf die Einschließungssysteme verlassen. Bereiten Sie die Evakuierung des Schiffs vor. Lösen Sie den Alarm aus, aber starten Sie noch nicht. Liebe Gäste!« Alle Anwesenden auf der Galerie blickten erwartungsvoll auf.
»Es hat sich etwas Neues ergeben. Kehren Sie bitte sofort in Ihre Unterkünfte zurück und warten Sie auf die Durchsagen. Sofort bitte.«
Als sich die Galerie geleert hatte, befahl der Captain dem Kommunikationsoffizier, über die schiffsweiten Kommunikationssysteme eine Erklärung abzugeben. Als Lunzie sich der Tür der Galerie zuwandte, um in den Holosaal zurückzukehren, wurde plötzlich alles dunkel, und das Schiff schaltete auf Batteriestrom um. Für einen kurzen Augenblick glühte in den Ecken und um die Luke rot die Notbeleuchtung.
»Was, zum Teufel, war das?« fragte der Captain, als es wieder hell wurde.
»Eine Überlastung, wahrscheinlich durch die Protuberanzen«, rief Hord, der die Werte auf seinem transportablen Fernsteuermodul verfolgte. »Wir werden die Daten in den Computerspeichern verlieren, wenn das noch einmal passiert. Aufpassen, da kommt noch eine!«
Lunzie hetzte durch flackernde Lichter in ihre Kabine zurück. Interstellare Reisen sind sicherer, als ein Bad zu nehmen; Unfälle kommen in weniger als einem von einer Million Fällen vor, sprach sie sich selbst immer wieder die Werbesprüche vor. Niemand wird je in zwei Unfälle verwickelt, nicht in unserem modernen Zeitalter. Jedes Schiff, selbst ein so altes wie die Destiny, wird doppelt überprüft und verfügt für jeden Schaltkreis über drei Ersatzschaltungen.
»Achtung bitte«, unterbrach die ruhige Stimme des Kommunikationsoffiziers die Hintergrundmusik und alle Video- und 3d-Programme. »Achtung. Bitte verlassen Sie unverzüglich Ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort und begeben Sie sich in die nächste Rettungsbootstation. Bitte verlassen Sie unverzüglich Ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort und begeben Sie sich in die nächste Rettungsbootstation. Dies ist keine Übung.
Benutzen Sie auf keinen Fall die Turbolifte, sie könnten steckenbleiben. Ich wiederhole: benutzen Sie nicht die Turbolifte.«
Die Stimme wurde gelegentlich von einem Knistern unterbrochen und verstummte schließlich ganz.
»Was war das?« Ein Passagier bemerkte Lunzies Uniform und hielt sie am Arm fest. »Das Licht ist ausgegangen. Da stimmt doch etwas nicht, oder?«
»Bitte, Sir. Gehen Sie sofort in die Rettungsbootstation. Wissen Sie noch Ihre Mannschaftsnummer?«
»Fünf B. Ja, es war fünf B.« Der Mann riß die Augen weit auf. »Wollen Sie damit sagen, es ist ein echter Notfall?«
Lunzie fuhr zusammen. »Ich hoffe nicht, Sir. Bitte gehen Sie. Man wird Ihnen sagen, was los ist, wenn Sie dort sind. Beeilen Sie sich!« Sie drehte sich um und lief mit ihm ins Deck mit dem Speisesaal.
Die Durchsage wurde immer wieder über die Lautsprecher wiederholt.
Die Korridore füllten sich augenblicklich mit Hunderten von Menschen, die in alle Richtungen davonliefen. Manche schienen nicht nur vergessen zu haben, welchen Stationen sie zugeteilt waren, sondern auch, wo der Speisesaal lag. Die Kette der Notblinklichter war unterbrochen, aber sie wiesen den erschrockenen Passagieren trotzdem ungefähr den Weg, den sie gehen mußten. Es wurde geschrien und gestöhnt, während die Passagiere herauszufinden versuchten, was los war.
Die Menschen drängten sich in dem riesigen Holosaal vor den Metalltüren zum Speisesaal zusammen, wogten richtungslos hin und her und schrien ängstlich durcheinander. Der Holosaal war der größte offene Raum auf diesem Deck und bot genug Platz, um Tausende von Besuchern zu unterhalten. An einem Ende des Saals wehrten einige Dutzend Menschen, die von dem Durcheinander nichts mitbekommen hatten, mit echt wirkenden Schwertern holografische Räuber ab. In einer Höhle unmittelbar neben den Türen zum Speisesaal drängte sich ein Haufen kostümierter Höhlenbewohner um ein Holzfeuer zusammen. In diesem Moment fielen die Illusionsprojektoren in den Nebenräumen aus, was die Zuschauer zu lauten Protesten provozierte, weil ihre Phantasiewelten verschwanden. Der Saal wurde zur nackten, geisterhaft grauen Schale mit wenigen echten Möbelstücken. Die kostümierten Gestalten standen auf, hielten nach Schiffspersonal Ausschau, das den Schaden beheben sollte, und sahen die Menschenmenge, die ihnen den Platz im Saal streitig machte. Sie brachen in Panik aus und drängten zu den Ausgängen. Weitere Passagiere tauchten auf und versuchten schreiend, sich an ihnen vorbei in den Speisesaal zu schieben. Es brachen Kämpfe zwischen ihnen aus, in die die Kinderbetreuer mit ihren Schützlingen hineingerieten. Der Leiter der Kinderbetreuung, ein dünner Mann, sprach durch einen transportablen Lautsprecher und forderte pauschal alle Eltern auf, ihren Nachwuchs abzuholen.
»Hört zu!« Coromell trat mit Don im Gefolge aus seinem Nebenraum. »Hört zu!« Seine tiefe Stimme setzte sich gegen das Geschrei und das mechanische Heulen der überlasteten Lebenserhaltungsanlagen durch. »Alle zuhören! Beruhigt euch doch. Beruhigt euch, sage ich! Ihr habt alle die Vorschriften für Notfälle ignoriert. Wer von euch weiß, was zu tun ist, begibt sich auf seine Station, aber sofort! Und wer es nicht weiß, hält die Klappe, damit er die Anweisungen aus den Lautsprechern hört. Das war’s! Los jetzt!«
»Die Türen sind geschlossen! Wir kommen nicht durch!« jammerte eine Frau.
»Fangen Sie nicht an zu weinen! Sehen Sie! Die Türen öffnen sich doch schon.«