drittes kapitel

 

»Haben Sie gut geschlafen?« fragte Satia ihre neue Freundin Lunzie am nächsten Morgen. Die Ärztin beugte sich durch die Tür zu Lunzies Kabine und erweckte mit einem Winken ihre Aufmerksamkeit.

Lunzie wandte sich vom Computerbildschirm ab und lächelte. »Nein. Ich habe überhaupt nicht geschlafen. Ich habe mir die halbe Nacht Sorgen um Fiona gemacht, und die andere Hälfte habe ich mich mit dem Synthesegerät herumgeschlagen, damit es mir eine Tasse Kaffee zubereitet. Es hat den Befehl aber nicht verstanden. Wer kann mir das Gerät reparieren?«

Satia lachte. »Ach, Kaffee! Meine Großmutter hat mir erzählt, was Kaffee ist, als ich sie auf Inigo besuchte. Ist sehr selten, nicht wahr?«

Lunzie runzelte die Stirn. »Nein. Von wo – oder besser von wann – ich komme, gab’s Kaffee an jeder Ecke. Einen ähnlichen Geschmack hat manchmal … Wollen Sie damit sagen, Sie haben noch nie Kaffee getrunken?« Lunzies Laune bekam einen Dämpfer. In den letzten Jahrzehnten hatte sich so viel verändert, aber es waren die kleinen Dinge, die ihr am meisten zu schaffen machten, vor allem wenn sie eine lebenslange Gewohnheit betrafen. »Ich brauche normalerweise etwas, damit ich morgens in Gang komme.«

»Oh, ich weiß durchaus, was Kaffee ist. Aber es trinkt ihn keiner mehr. Es gab Studien über die negativen Auswirkungen schwerer Öle und Coffein auf das Nerven- und Verdauungssystem. Wir haben heute andere Muntermacher.«

»Muntermacher?« Lunzie rümpfte abfällig die Nase. »Was soll das sein?«

»Ein ganz einfaches Stärkungsmittel. Ein mildes, völlig harmloses Stimulanz. Ich trinke es jeden Morgen. Es wird Ihnen gut tun.« Satia trat an das Synthesegerät, das in die Wand der Kabine eingebaut war, und kam mit einer vollen Kanne zurück. »Probieren Sie mal.«

Lunzie nippte an der Flüssigkeit und spürte ein Kribbeln, das ihr durch den ganzen Leib ging. Sofort vergaß ihr Körper, daß er eine ganze Schicht verkrampft in einer Haltung verbracht hatte. Sie keuchte. »Das ist äußerst wirkungsvoll.«

»Mhm. Manchmal komme ich anders einfach nicht aus dem Bett. Und es hat keine unangenehmen Nebenwirkungen, wie Kaffee sie laut meiner Großmutter hatte.«

»Na gut, damit feiere ich wohl meinen Einstand in der Zukunft.« Lunzie prostete Satia mit der Kanne zu. »Ach ja, das erinnert mich an etwas. Mit den Apparaten in der Küche komme ich nicht zurecht. Ich habe zwar herausgefunden, welcher davon der Müllschlucker ist, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wozu die anderen dienen.«

Satia lachte wieder. »Na gut. Darauf hätte ich von allein kommen können. Ich gebe Ihnen jetzt einen Crashkurs.«

Nachdem sie Lunzie mit den verschiedenen Haushaltsgeräten vertraut gemacht hatte, ließ Satia für beide eine Tasse Kräutertee zubereiten.

»Ich weiß zwar nicht so genau, wie dieser neumodische Kram funktioniert, aber wenigstens weiß ich jetzt, wozu er dient«, sagte Lunzie mit einem Anflug galliger Selbstironie.

Satia nippte an ihrem Tee. »All das gehört zu einer Zukunft, die uns das Leben angenehmer macht. Behauptet jedenfalls die Werbung. Aber was wollen Sie jetzt mit Ihrer Zukunft anfangen?«

»So wie ich die Sache sehe, habe ich zwei Möglichkeiten. Ich kann nach Fiona suchen, und ich kann mich mit Auffrischungskursen über den heutigen Stand der Medizin kundig machen und versuchen, sie dann zu finden. Ich habe den Computer nach Informationen über Forschungsgebiete recherchieren lassen, die kurz vor einem Durchbruch standen, als ich in den Kälteschlaf ging. Und heute sind diese Durchbrüche schon wieder ein alter Hut! Ich komme mir vor wie eine Primitive, die in einer Großstadt ausgesetzt wird und nicht einmal die Sprache beherrscht, um nach Hilfe zu fragen.«

»Vielleicht können Sie bei mir studieren. Ich beende gerade bei Dr. Banus meine Zeit als Assistenzärztin. Es kann sein, daß ich die Plattform verlasse und anderswo einen festen Posten antrete, um eine andere Perspektive von der Medizin zu bekommen. Ich beschäftige mich intensiv mit Pädiatrie, und dieses Gebiet ist in letzter Zeit ungemein wichtig geworden -wir erleben auf der Plattform gerade eine Bevölkerungsexplosion. Das würde natürlich bedeuten, daß ich meine Kinder zurücklassen müßte, und das möchte ich nicht. Nonya ist drei Jahre, und Omi ist erst fünf Monate alt. Sie machen mir soviel Freude, daß ich nichts von ihrer Kindheit versäumen will.«

Lunzie nickte traurig. »Wissen Sie, genau das ist mir passiert. Ich weiß nicht recht, was ich jetzt machen soll. Ich muß mir erst darüber klar werden, womit ich anfangen soll.«

»Begleiten Sie mich erst einmal.« Satia stand auf und stellte ihre Tasse in den Abfallschacht des Nahrungsprozessors. »Aiden, der 3d-Techniker, hat mir gesagt, er wollte Sie sprechen.« Lunzie stellte ihre Tasse weg und hastete Satia hinterher.

»In der letzten Schicht habe ich Ihre Anfrage nach Tau Ceti geschickt, Doktor«, sagte der Techniker, als sie ihn im Kommunikationszentrum ausfindig gemacht hatten. »Es dauert einige Wochen, bis wir hier draußen unter den Asteroiden eine Antwort erhalten. Aber ich wollte Ihnen sagen …« Der junge Mann tippte mit den Fingern auf der Konsole herum und strengte sein Gedächtnis an. »Ich glaube, ich habe Ihren Nachnamen schon einmal gelesen. Es ist mir gleich aufgefallen, aber ich weiß nicht mehr wo … doch, in einem der Nachrichtenartikel, die wir neulich empfangen haben. Vielleicht ist es ein Verwandter?«

»Wirklich?« fragte Lunzie interessiert. »Bitte zeigen Sie mir den Artikel. Ich müßte inzwischen in der ganzen Galaxis Großnichten und -neffen haben.«

Aiden tippte den Suchbefehl für den gesamten Tageseingang aller sechs Signalfeuer ein. »Da haben wir’s. Achten Sie auf den Suchbegriff.« Sie las das Wort Mespil in einer klaren Type, die einen offiziellen Eindruck machte, gefolgt von ›Fiona, MD, DV‹, darüber und darunter andere Worte in derselben Schriftart.

»Meine Tochter! Das ist ihr Name. Schauen Sie, Satia! Wo ist sie, Aiden? Was ist das für eine Liste?« fragte Lunzie und überflog die vielen Namen. »Ist eine Videonachricht zugeordnet?«

Der Techniker blickte von seiner Konsole auf, und seine Miene schlug in einen Ausdruck des Entsetzens um. »O Krims. Es tut mir leid, Doktor, aber das ist die FES-Liste. Die Kolonisten, die seit dem Überfall auf Phoenix vermißt werden.«

»Nein!« keuchte Satia. Sie stützte Lunzie, der für einen Moment die Knie weich wurden. Lunzie nickte dankbar, gab ihr aber mit einem Wink zu verstehen, daß sie wieder von allein stehen konnte.

»Was geschieht mit den Leuten auf Planeten, die von Piraten überfallen wurden?« fragte sie tieferschüttert und versuchte sich nicht vorzustellen, welche schrecklichen Dinge ihrer armen Fiona zugestoßen sein könnten.

Der junge Mann schluckte. Es machte niemandem Spaß, schlechte Nachrichten zu überbringen, und er hätte viel dafür gegeben, diese nette Frau aufmuntern zu können. Sie hatte schon so viel durchgemacht. Er bedauerte es, daß er nicht gründlicher recherchiert hatte, bevor er nach ihr schickte. »Manchmal tauchen sie wieder auf, ohne sich daran zu erinnern, was mit ihnen geschehen ist. Manchmal arbeiten sie anderswo und haben keinen Schaden genommen, nur sind ihre Nachrichten nach Hause verlorengegangen. Das kommt bei Kommunikation über galaktische Entfernung häufig vor. Nichts funktioniert fehlerlos. Meistens aber hört man von diesen Menschen nie wieder etwas.«

»Fiona kann nicht tot sein. Wie erfahre ich, was aus ihr geworden ist? Ich muß sie finden.«

Der Techniker blickte nachdenklich drein. »Ich werde Chief Wilkins vom Sicherheitsdienst für Sie anrufen. Er müßte wissen, was Sie tun können.«

Chief Wilkins war ein kleiner Mann mit einem dünnen grauen Schnurrbart, der seine Oberlippe verdeckte, und braunen Augen, die wachsam schauten. Er bot ihr einen Platz in seinem kleinen Büro an, eine saubere, aufgeräumte Kabine, die viel über den Charakter des Mannes aussagte, der sie bewohnte. Lunzie erklärte ihm die Situation, aber er nickte so, als wüßte er schon alles über sie.

»Also, was wollen Sie tun?« fragte er.

»Ich werde natürlich nach ihr suchen«, sagte sie entschlossen.

»Schön.« Er lächelte. »Wo? Sie haben Ihre Nachzahlung erhalten. Sie haben genug Geld, um kreuz und quer durch die Galaxis zu reisen. Wo wollen Sie anfangen?«

»Wo ich anfangen will?« Lunzie blinzelte. »Ich … ich weiß nicht. Ich glaube, ich könnte mich zuerst auf Phoenix umschauen, wo sie zuletzt gesehen wurde …«

Wilkins schüttelte den Kopf und machte einen skeptischen Laut mit der Zunge. »Das wissen wir nicht mit Sicherheit, Lunzie. Sie wurde dort mit den übrigen Kolonisten erwartet.«

»Die EEC müßte doch wissen, ob sie auf Phoenix angekommen sind oder nicht.«

»Na gut. Es wäre zumindest ein Anfang. Aber es sind viele Lichtjahre bis dorthin. Was wollen Sie machen, wenn Sie sie dort nicht finden? Wo wollen Sie als nächstes suchen?«

»Äh …« Lunzie ließ sich in den Stuhl zurücksinken, der sich angenehm an ihr Rückgrat schmiegte. »Sie haben schon recht. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie ich sie finden will. In ihrer ganzen Kindheit konnte ich immer zu Fuß dorthin gehen, wo sie gerade war. Nichts war zu weit weg.« Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine Sternkarte der besiedelten Galaxis. Jeder Punkt stand für mindestens eine bewohnte Welt. Es würde Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, um von einem Sonnensystem zum anderen zu reisen und jeden Menschen in jeder Stadt zu fragen. Sie schlang die Arme um sich und fühlte sich klein und hilflos.

Wilkins nickte anerkennend. »Sie haben die erste Schwierigkeit bei einer derartigen Suche begriffen: die Entfernung. Die zweite ist die Zeit. Seit dieser Bericht noch eine Neuigkeit war, ist viel Zeit vergangen. Es wird noch mehr Zeit kosten, um Anfragen zu schicken und Antworten zu erhalten. Sie müssen am anderen Ende der Geschichte anfangen und herausfinden, wo sie gewesen ist. Wo sie aufgewachsen ist, wen sie geheiratet hat und mit wem sie befreundet war. Außerdem dürfte sie in ihrem Leben den einen oder anderen Arbeitgeber gehabt haben. Das könnte Ihnen Hinweise liefern, wo sie jetzt ist.

Um ein Beispiel zu nennen: in welcher Funktion hat sie an dieser planetaren Expedition teilgenommen? Als Siedlerin? Als Fachkraft? Oder als Beobachterin? Die EEC führt Archive. Ihnen ist sicher aufgefallen«, er schaltete den Bildschirm auf seinem Schreibtisch ein und drehte ihn Lunzie zu, »daß auf ihren Namen die beiden Abkürzungen MD und DV folgen.«

Lunzie widmete sich noch einmal der FES-Liste und versuchte, sie nicht als Dokument einer Katastrophe zu betrachten. »MD. Das heißt, sie ist Ärztin. DV …« Lunzie strengte ihr Gedächtnis an. »Das könnte bedeuten, daß sie sich auf Virologie spezialisiert hat.«

»Dann muß sie auch irgendwo an einer Universität studiert haben. Gut. Ich bin mir sicher, Sie hätten sie zu einer akademischen Ausbildung ermutigt. Was hat sie mit ihren Abschlüssen angefangen? Sie haben jetzt einige Hinweise, mit denen Sie arbeiten können, aber es wird viele Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis Sie Antworten erhalten. Das Beste wäre, wenn Sie von einem festen Standort aus arbeiten und Ihre Anfragen herumschicken.«

»Stev Banus hat den Vorschlag gemacht, ich sollte wieder in die Schule gehen und mich auf den neusten Stand bringen.«

»Ein vernünftiger Vorschlag. Wenn Sie es so machen, können Sie gleichzeitig Ihre Suche betreiben. Wenn ein Hinweis nicht weiterführt, gehen Sie einem anderen nach. Bitten Sie jede Agentur um Hilfe, die Ihnen nützlich sein könnte. Machen Sie sich keine Gedanken darum, daß Ihre Anstrengungen dadurch verdoppelt werden. Es kann gut sein, daß einem Unbeteiligten etwas auffällt, das Sie übersehen haben. Und es wird billiger, als wenn Sie sich in ein Schiff setzen und Hinweisen auf eigene Faust nachgehen. Es wird in jedem Fall eine kostspielige Suche, aber so bleiben Sie von der Kleinarbeit verschont und können versuchen, aus den Informationen, die Sie erhalten, Ihre Schlüsse zu ziehen, ohne darüber nachdenken zu müssen, aus welcher Perspektive diese Informationen gewonnen wurden.«

»Ich brauche eine Perspektive. Ich habe mich noch nie mit so umfangreichem Material beschäftigen müssen. Ihr Vater und ich haben regelmäßig miteinander korrespondiert, während sie aufwuchs. Ich habe mir nie Gedanken über die Übertragungszeit zwischen zwei Briefen gemacht, und es hat immer lang gedauert! Es geht schneller, mit FTL zu fliegen, aber wenn ich mir vorstelle, ich würde sie am Ende einer langen Reise doch nicht finden … Fiona ist mir zu wertvoll, als daß ich es mir erlauben würde, nüchtern darüber nachzudenken. Ich danke Ihnen für Ihre klaren Worte.« Sie stand auf. »Und, Wilkins? Danke, daß Sie nicht angedeutet haben, sie sei vielleicht schon tot.«

»Sie glauben doch nicht, daß sie tot ist. Eines Ihrer Indizien ist Ihr eigener Instinkt. Vertrauen Sie ihm.« Die Ränder des Schnurrbarts hoben sich zu einem aufmunternden Lächeln. »Viel Glück, Lunzie.«

 

* * *

 

Im Kindergarten herrschte ein fröhliches Durcheinander. Kleine Menschen jagten andere Kinder über den gepolsterten Boden, schrien durcheinander, sprangen von Schaumstoffmöbeln herunter und verfehlten nur knapp die beiden Erwachsenen, die in einem der Gesprächsringe hockten und versuchten, ihnen aus dem Weg zu bleiben.

»Vigul!« rief Satia. »Laß Tlinks Tentakel los, dann läßt er auch deine Haare los. Sofort!« Sie klatschte laut in die Hände und ignorierte das enttäuschte ›Mmmmm‹ von beiden Kindern. Sie entspannte sich, behielt die beiden Raufbolde aber im Blick. »Normalerweise sind sie brav, aber manchmal übertreiben sie’s.«

»Vielleicht fühlen sie sich in Gegenwart einer Fremden besonders herausgefordert«, sagte Lunzie mit einem Lächeln.

Satia seufzte. »Ich bin froh, daß die Weber-Eltern das nicht gesehen haben. Er ist so jung, deshalb weiß er noch nicht, daß es in seinem Volk verpönt ist, in der Öffentlichkeit die Gestalt zu wechseln. Ich habe nichts dagegen, wenn er lernt, vor den anderen Kindern zu sich selbst zu stehen. Es beweist, daß er ihnen vertraut. Das ist gut.«

Neben Lunzie räkelte sich Satias kleiner Sohn Omi im Schlaf unruhig in seinem Kinderbett. Sie nahm ihn aus dem Bett, wiegte ihn sanft an ihrer Brust und barg seinen Kopf an ihrer Schulter. Er beruhigte sich wieder und saugte an seiner winzigen Faust, die er sich halb in den Mund gesteckt hatte. Lunzie lächelte ihn an. Sie erinnerte sich an Fiona in diesem Alter. Sie hatte zu dieser Zeit die medizinische Fakultät besucht und das Kind jeden Tag in den Unterricht mitgenommen. Lunzie genoß das Gefühl, das kleine Bündel nah bei sich zu tragen, Herzschlag an Herzschlag. Dieses makellose kleine Wesen, wie eine exotische Blume, die sie geschaffen hatte. Die Lehrer spielten mit einem Lächeln auf das jüngste Klassenmitglied an, das oft das erste Exemplar eines jungen Menschen war, das Studenten anderer Rasse überhaupt zu Gesicht bekamen. Fiona war so brav. Sie weinte nie während des Unterrichts, brummelte aber gelegentlich während einer Prüfung vor sich hin, weil sie Lunzies Anspannung spürte. Lunzie verdrängte mit Gewalt die Erinnerungen. Diese Tage waren längst vorbei. Fiona war inzwischen erwachsen, und Lunzie mußte lernen, sie so zu sehen.

Omi schmiegte sich an sie, zog die Faust aus dem Mund, um zu gähnen, und steckte sie wieder hinein. Lunzie legte die Arme um ihn und schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich weigere mich zu glauben, daß Fiona tot ist. Ich kann und will die Hoffnung nicht aufgeben.« Sie seufzte. »Aber Wilkins hat recht. Ich muß Geduld haben, aber es wird das Schwerste sein, was ich je getan habe.« Lunzie grinste betrübt. »In meiner Familie ist keiner mit Geduld gesegnet. Deshalb sind wir alle Ärzte geworden. Ich habe viel zu lernen und viel wieder zu vergessen. Die Schularbeiten werden mir helfen, meine Gedanken in Ordnung zu halten.«

»Ich werde dich vermissen«, sagte Satia. »Ich glaube, wir sind Freunde geworden. Du wirst hier immer ein Zuhause haben, wenn du eins brauchst.«

»Ich glaube nicht, daß ich je wieder ein Zuhause haben werde«, sagte Lunzie, als sie an die unübersichtliche Sternkarte dachte. »Aber danke für das Angebot. Es bedeutet mir sehr viel.« Vorsichtig legte sie das Kind in sein Bertchen zurück. »Weißt du, ich habe Jilet besucht, den Bergmann, den ich wegen Platzangst behandelte, bevor die Nelli Mine getroffen wurde. Er ist mit zweiundneunzig immer noch rüstig und gesund und wird bestimmt noch dreißig Jahre leben. Er hat weißes Haar, und seine Brust ist in den Bauch gerutscht, aber ich habe ihn trotzdem auf den ersten Blick erkannt. Min Romsey ist sein Enkel. Er hat fast fünfzig Jahre lang als Prospektor gearbeitet, nachdem sein Shuttle geborgen wurde, und jetzt arbeitet er als Deckaufseher. Ich habe mich gefreut, daß er noch so gut aussieht.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Er hat sich nicht mehr an mich erinnert.«

 

* * *

 

Die Universität Astris Alexandria nahm mit Vergnügen den Antrag auf Fortsetzung ihrer Ausbildung von einer ihrer früheren Studentinnen an, aber ihre Angestellten waren offensichtlich bestürzt, als Lunzie, lässig gekleidet und ihr Gepäck in der Hand, im Verwaltungsbüro erschien, um sich in die Seminare einzuschreiben. Lunzie entging nicht, daß die Sekretärin ihre Identifikationskarte mehrfach verstohlen ins Gerät steckte, um ihre Identität zu bestätigen.

»Entschuldigen Sie die etwas unhöfliche Begrüßung, Doktor Mespil, aber angesichts Ihres Alters haben wir, offen gestanden, eine Person von etwas reiferer Erscheinung erwartet. Wir wollten uns nur vergewissern, daß Sie es wirklich sind. Darf ich fragen, ob Sie sich einer radikalen Verjüngungskur unterzogen haben?«

»Was ist mit meinem Alter? Ich bin vierunddreißig«, entgegnete Lunzie schroff. »Ich habe im Kälteschlaf gelegen.«

»Ach so. Aber laut den Unterlagen sind seit Ihrer Geburt sechsundneunzig Jahre vergangen. Ich fürchte, Ihr ID-Armband und die Dokumente werden es bestätigen«, sagte die Registratorin voller Mitgefühl. »Wenn Sie wünschen, werde ich die Dateien mit einer Notiz versehen, die auf Ihr Schicksal und Ihr physisches Alter hinweist.«

Lunzie hob die Hand. »Nein, danke. So eitel bin ich nicht. Wenn es keine Verwirrung stiftet, würde ich gern ohne eine Fußnote leben. Es gibt aber etwas, wobei Sie mir behilflich sein könnten. Welche Unterkünfte bietet die Universität ihren Studenten? Ich suche nach einer möglichst preisgünstigen Unterkunft, die nur über Kommunikationseinrichtungen, einen Zugriff auf die Bibliothek und Lagerraum verfügen muß. Ich wäre sogar bereit, die sanitären Einrichtungen zu teilen. Ich habe wenig persönlichen Besitz, und ich komme gut mit anderen Leuten aus.«

Die Registratorin schien verwirrt. »Ich hatte angenommen … äh … Sie mieten sich ein Apartment oder eine Privatwohnung …«

»Unglücklicherweise nicht. Ich muß soviel Kapital wie möglich für eine Privatangelegenheit aufsparen. Ich verzichte auf alles, was nicht unbedingt nötig ist.«

Offensichtlich wurde die Sekretärin in ihrem Gefühl für die Würde und Fähigkeiten ehemaliger Studenten von Astris Alexandria durch Lunzies Verhalten herausgefordert. Sie war zu lässig gekleidet, achtete zu wenig auf sich. Ihre einzigen Gepäckstücke waren die beiden kleinen und schäbigen Kleidersäcke aus synthetischem Gewebe, die sie über die Rückenlehne des üppig gepolsterten Bürostuhls gehängt hatte, in dem sie saß. Das sah einer ehemaligen Absolventin dieser Eliteuniversität gar nicht ähnlich.

Lunzie war froh, daß sie ihre Koffer bei Vakuumtemperaturen im Lagerraum der Plattform untergebracht hatte, wo weder Witterung noch Parasiten den wertvollen Naturfasern etwas anhaben konnten. Es war ihr gleichgültig, welches Auftreten die Universität von ihr erwartete. Jetzt, da sie über ihre Ziele Klarheit gewonnen hatte, konnte sie ihr Leben wieder selbst bestimmen, so wie sie es immer getan hatte. Sie hatte nichts gegen Einfachheit. Sie bevorzugte eine karge Umgebung. Auf der Plattform Descartes hatte sie sich, so freundlich auch alle mit ihr umgegangen waren, hilflos gefühlt. Hier dagegen bewegte sie sich auf vertrautem Gelände. Hier wußte sie genau, wieviel Macht die Autoritäten hatten und was nur leere Einschüchterungsversuche waren. Sie behielt einen neutralen Gesichtsausdruck bei und wartete geduldig.

»Also gut«, sagte die Frau schließlich. »Wir haben da einen Viererschlafsaal, der zur Zeit nur von drei Webern bewohnt wird. Dann ein Doppelzimmer, in dem bald etwas frei wird. Der Mieter macht gerade seinen Abschluß und wird das Zimmer innerhalb von zwei Wochen räumen, wenn das neue Semester beginnt. Außerdem ein Zimmer in einer Sechsersuite in einem gemischtrassigen Wohnflügel …«

»Was ist am billigsten?« unterbrach Lunzie die Registratorin. Sie bedachte ihre ärgerlich gerunzelte Stirn mit einem freundlichen Lächeln.

Mit einem Ausdruck heftigen Widerwillens im Gesicht tippte die Sekretärin den Suchbefehl in ihren Computer. Der Bildschirm wurde unscharf, dann erschienen zentriert einige blinkende Textzeilen. »Da hätten wir einen Platz in einem universitätseigenen Apartment. Die anderen beiden Mieter sind Menschen. Aber es ist ziemlich weit weg vom Campus.«

»Das ist mir gleich. Solange ich ein Dach über dem Kopf und einen Platz zum Schlafen habe, bin ich zufrieden.«

 

* * *

 

Lunzie balancierte einen Armvoll Memokuben mit gespeicherten Dokumenten, Formulare aus Schreibfolie und ihre beiden Taschen, als sie das kleine Foyer ihres neuen Zuhauses betrat. Das Gebäude war alt und schon vor Lunzies erster Studienzeit gebaut worden. Sie hatte das angenehme Gefühl, heimzukehren, als sie endlich etwas sah, das sich nicht nennenswert verändert hatte. Auf der altmodischen Texttafel in der Eingangshalle blinkten persönliche Nachrichten für die Studenten, die hier wohnten, und unten war bereits eine neue Zeile hinzugekommen, die mit ihrem Namen versehen war und einen Willkommensgruß erhielt, gefolgt von einer typisch bürokratischen Mahnung, so schnell wie möglich ihre Eignungstests einzureichen. In dem Gebäude war es ziemlich ruhig. Die meisten Bewohner besuchten wahrscheinlich gerade Seminare oder hatten zu arbeiten.

Ihre Unterkunft lag im neunten Geschoß des fünfzigstöckigen Gebäudes. Der Turbolift sauste mit einem satten Brummen empor und hielt mit einem leichten Ruck und einem lauten Klirren vor ihrer Schwelle an, nicht so leise wie die nervigen Aufzüge an Bord der Plattform. Keiner ihrer Mitbewohner war zu Hause. Das Apartment war nicht zu klein, sauber, aber – wie nicht anders zu erwarten – unordentlich. Die Regale waren mit den typischen Habseligkeiten von Teenagern beladen. Lunzie hatte hier fast das Gefühl, als lebte sie wieder mit Fiona zusammen. Einer der Mieter beschäftigte sich offenbar mit Modellbau. Einige Basteleien hingen so tief von der Decke herunter, daß Lunzie froh war, nicht zehn Zentimeter größer zu sein.

Sie sah sich ein wenig um und stellte fest, daß die freie Schlafkammer die kleinste war und dem Nahrungssynthesizer am nächsten lag. Sie packte aus und legte ihre verschwitzte Reisegarderobe ab. Das Wetter – das hatte Lunzie immer an Astris Alexandria gemocht – war in der Universitätsprovinz die meiste Zeit des Jahres mild und warm, deshalb trennte sie sich gern von den schweren Hosen, die sie während der Reise getragen hatte, und legte sich einen leichten Rock raus.

Die Hosen waren völlig zerknittert und mußten unbedingt gewaschen werden. Lunzie hatte das Gefühl, daß sie auch eine anständige Dusche gebrauchen konnte. Sie ging davon aus, daß im Bad die üblichen Hygieneeinrichtungen zur Verfügung standen. Sie kramte Toilettenartikel, Wäsche und ihre staubigen Stiefel zusammen.

Lunzie konnte nicht fassen, welchen Luxus sie im Badezimmer vorfand. Statt der vertrauten Einrichtungen sah sie nagelneue vor sich. Offenbar waren im ganzen Gebäude die alten Sanitäranlagen durch nagelneue ersetzt worden, noch moderner und eigenartiger als die, mit denen Descartes seine Wohnquartiere ausstattete. Hätte Satia ihr auf der Plattform nicht geduldig geholfen, dann hätte sie nicht die geringste Ahnung gehabt, womit sie es hier überhaupt zu tun hatte. Zum Glück hatten die Armaturen auf der Plattform mit diesen hier genug gemeinsam, daß Lunzie sie benutzen konnte, ohne eine mittlere Katastrophe zu verursachen.

Während ihre Sachen gereinigt wurden, schlüpfte sie in frische Wäsche und setzte sich an die Konsole in ihrem Schlafzimmer. Sie loggte sich ins Bibliothekssystem ein und forderte eine ID-Nummer an, die ihr von jeder Konsole auf diesem Planeten Zugriff auf die Bibliothek gestatten würde. Bei dieser Gelegenheit beantragte sie gleich eine Vergrößerung des standardmäßigen, langfristigen Speicherplatzes, der Studenten zustand, von 320k auf 2048k, und legte sich ein Benutzerkonto für das Programm GBI an. Wenn über Fiona irgendwo Daten gespeichert waren, würde der Galaktische Bibliotheksindex, wie die Software offiziell hieß, sie finden. Als Glücksbringer stellte Lunzie Fionas Hologramm auf die Konsole.

Auf dem Bildschirm erschien die Meldung GBI LOGIN (2851,0917 Standard).

Lunzie tippte * Anfrage nach vermißter Person* NAME * Fiona Mespil* GEBURTSTAG/RASSE/GESCHLECHT/HEI MATPLANET *2775,0903/Mensch/weiblich/Astris Alexandria*. Fiona war hier an der Universität zur Welt gekommen, deshalb galt dies als ihr Heimatplanet. „Aktuellen Aufenthaltsort ermitteln* LETZTER BEZEUGTER AUFENTHALTSORT? Lunzie überlegte einen Moment lang, dann gab sie ein: * Letzter nachgewiesener Aufenthaltsort: Kolonie Tau Ceti, 2789.1215. Letzter vermutlicher Aufenthaltsort: Kolonie Phoenix, 2851,0421.* Der Bildschirm wurde für einige Sekunden dunkel, während GBI ihre Anfrage bearbeitete. Lunzie tippte einen Befehl, der das Programm anwies, alle Fundstellen an ihren zugewiesenen Speicherplatz zu kopieren, und war schon im Begriff, wieder auszuloggen.

Doch plötzlich piepste der Bildschirm, und eine lange Liste von Datumsangeben und weiteren Informationen erschien, die mit folgenden Zeilen anfing:

MESPIL, FIONA

AUSBILDUNGSNACHWEIS (AKTUELLES ZUERST)

2802 ABSCHLUSSZEUGNIS IN BIOTECHNIK,

UNIVERSITÄT ASTRIS ALEXANDRIA 2797 ABSCHLUSSZEUGNIS IN VIROLOGIE,

UNIVERSITÄT ASTRIS ALEXANDRIA 2795 UNIVERSITÄT ASTRIS ALEXANDRIA,

ABSCHLUSS MIT AUSZEICHNUNG,

DOKTOR DER MEDIZIN (ALLGEMEIN) 2792 ALLGEMEINES ABSCHLUSSZEUGNIS,

SCHULBEHÖRDE MARSBASIS 2791 SCHULBEHÖRDE TAU CETI, VERSETZT 2787 GRUNDSCHULBEHÖRDE CAPELLA,

ABSCHLUSS

Es folgte eine Liste ihrer Kurse und Zensuren. Lunzie gab einen Freudenschrei von sich. Gleich hier in Astris Alexandria existierten Dokumente! Sie hatte nicht damit gerechnet, daß sie so schnell auf etwas stoßen würde. Sie wollte nur das Fundament für ihre Nachforschungen legen. Dabei trug die Suche jetzt schon Früchte. * Speichern*, befahl sie dem Computer.

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Nach all den Lobeshymnen, die ich auf diese Universität gesungen habe, hätte ich mir denken können, daß sie nach Astris kommen würde.« Der erste nennenswerte Erfolg bei ihrer Suche! Zum ersten Mal hatte Lunzie wieder Vertrauen in sich. Sie schaute durchs Apartment und ging mit einem Lächeln auf den Nahrungssynthesizer zu.

»Und jetzt«, sagte sie und rieb die Hände ineinander. »Jetzt werde ich dir beibringen, wie man Kaffee kocht.«

Eine Stunde später hatte sie eine Kanne voll mit einem trüben Gebräu, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Kaffee hatte, aber so bitter schmeckte, daß sie eine ordentliche Portion Süßstoff hinzugeben lassen mußte. Jedenfalls enthielt das Zeug Coffein. Sie war einigermaßen zufrieden, aber immer noch betrübt darüber, daß die Formel für Kaffee in den letzten sechzig Jahren in Vergessenheit geraten war. Aber es gab eine Fakultät für Lebensmittelkunde an der Universität. Irgend jemand hatte sicher immer noch Daten über Kaffee gespeichert. Sie überlegte, ob sie sich eine Mahlzeit bestellen sollte, aber sie entschied sich dagegen. Wenn das Essen hier noch ungefähr so schmeckte, wie sie es in Erinnerung hatte, dann hatte sie keinen großen Hunger. Synthetisierte Lebensmittel schmeckten für sie immer etwas fade, und die Synthesegeräte in Lehranstalten waren berüchtigt. Sie hatte keinen Grund zur Annahme, daß sich ihr Ruf -und ihre Leistungsfähigkeit – während ihrer Abwesenheit verbessert hatten.

Sobald es ihre Zeit zuließ, beschloß Lunzie, würde sie etwas auf diesem Planeten Gewachsenen essen gehen. Astris Alexandria hatte immer schmackhafte Hülsenfrüchte und grünes Gemüse produziert, und vielleicht, dachte sie hoffnungsvoll, kultivierte die Ackerbaukommune inzwischen sogar Kaffeesträucher. Wie alle zivilisierten Bürger der FES ernährte Lunzie sich ausschließlich vegetarisch und lehnte Fleisch als das Überbleibsel einer barbarischen Vergangenheit ab. Sie hoffte, daß sich keiner ihrer Mitbewohner als Rückfälliger herausstellte, vertraute aber darauf, daß der Wohnungsausschuß solche Studenten aus Rücksicht von den anderen isolierte.

Indem sie den Anweisungen auf den Printfolien folgte, loggte sie sich ins Computersystem der Universität ein und schrieb sich für eine Serie von Tests ein, die helfen sollten, ihre Fähigkeiten und Begabungen zu bewerten. Die Tastatur war angenehm zu bedienen, und Lunzie tippte bald zügig vor sich hin. Eine der Vorschriften, die es zu ihrer Zeit noch nicht gegeben hatte, sah eine Zugangsbeschränkung vor: für gewisse Seminare durfte sich nur einschreiben, wer sich vorher durch Prüfungen dafür qualifiziert hatte. Lunzie stellte mit einer gewissen Verärgerung fest, daß einige der Seminare, die sie besuchen wollte, in diese Kategorie fielen. Die vernünftige Begründung, die sich hinter dem bürokratischen Jargon verbarg, bestand darin, daß in diesen Seminaren extremer Platzmangel herrschte und die Universität garantieren wollte, wenigstens den Studenten, die sich für sie eingeschrieben hatten, das Bestmögliche zu bieten. Selbst wenn sie die Prüfungen bestand, hatte Lunzie keine Garantie, daß sie sofort teilnehmen konnte. Sie zuckte resigniert die Achseln. Solange sie keine heiße Spur von Fiona hatte, hing sie hier fest. Aber sie hatte keine Eile. Sie trug sich für die erste Prüfung ein.

»Hallo?« fragte eine zaghafte Stimme von der Tür.

»Ja?« erwiderte Lunzie und lugte über den Rand der Konsole.

»Friede, Kommilitonin! Wir sind deine Mitbewohner.« Der Sprecher war ein schlanker Junge mit glattem, seidig schwarzem Haar und runden blauen Augen. Er sah nicht älter als fünfzehn Standardjahre aus. Hinter ihm stand ein lächelndes Mädchen mit weichem braunen Haar, das sie auf dem Kopf zu einer flauschigen Haarrolle hochgesteckt hatte. »Ich bin Shof Scotny von Damarkis. Das ist Pomayla Esglar.«

»Willkommen«, sagte Pomayla mit warmer Stimme und hielt ihr die Hand hin. »Du hast das ›Privat‹-Schild nicht an die Tür gehängt, deshalb dachten wir uns, wir dürften reinkommen und dich begrüßen.«

»Danke«, erwiderte Lunzie, stand auf und schlug ein. Pomayla legte ihre andere Hand auf ihre. »Freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin Lunzie Mespil. Nennt mich Lunzie. Äh … stimmt etwas nicht?« fragte sie, als ihr der verwunderte Blick auffiel, den Shof und Pomayla wechselten.

»Nein«, antwortete Shof locker. »Du siehst nur nicht aus wie sechsundneunzig. Ich habe erwartet, daß du wie meine Großmutter aussiehst.«

»Oh, vielen Dank. Und du siehst nicht alt genug aus, um schon auf die Universität zu gehen, mein Junge«, revanchierte sie sich amüsiert. Sie überlegte, ob sie die Registratorin nicht bitten sollte, ihre Unterlagen mit einer kurzen Erklärung zu versehen.

Shof seufzte gequält. Er hörte das offensichtlich nicht zum ersten Mal. »Ich kann nichts dafür, daß ich in so zartem Alter schon so überragend bin.« Lunzie grinste ihn an. Er war hoffnungslos süß und wahrscheinlich daran gewöhnt, auch mit den größten Dummheiten durchzukommen.

Pomayla stieß Shof mit dem Ellbogen in die Rippen, und er gab ein gepreßtes Uff! von sich. »Er ist die Bescheidenheit in Person. Leider bekommen angehende Computerwissenschaftler keinen Benimmkurs, weil die Maschinen sich nicht an schlechten Manieren stoßen. Ich nehme am Programm für interplanetares Recht teil. Und was studierst du?«

»Medizin. Ich mache einige Auffrischungskurse. Ich war … die letzten Jahres etwas weg vom Schuß.«

»Darauf könnte ich wetten. Aber das ist kein Problem, alte Dame«, sagte der Junge und strich sich eine Locke aus der Stirn. »Wir fangen augenblicklich an, dich wieder auf den neusten Stand zu bringen.«

»Shof!« Pomayla schob ihren unverschämten Mitbewohner durch die Tür. »Wie war das mit deinem Benehmen?«

»Habe ich schon etwas Falsches gesagt?« fragte Shof in aller Unschuld, während er in den Turbolift bugsiert wurde.

Lunzie folgte ihnen mit einem Kichern.

 

* * *

 

In den nächsten Wochen förderte der GBI nichts Nennenswertes zutage. Lunzie vertiefte sich in ihre neuen Seminare. Ihre Mitbewohner waren gesellig und freundlich und bestanden darauf, daß Lunzie an allem teilnahm, was sie interessierte. Ohne es recht zu wollen, wurde sie von ihnen und ihrer ›Bande‹, wie sie sich selbst nannten, zu studentischen Feiern und Konzerten mitgeschleift. Die ›Bande‹ war ein loser Haufen von Studenten aller Altersstufen und aller Rassen aus der ganzen Universität. Sie schienen nichts gemeinsam zu haben als ihre gute Laune und ihre Neugier. Ihre Ausflüge waren für Lunzie eine willkommene Erholung von den langen Studienstunden.

Kein Thema war der Bande heilig, weder die physische Erscheinung, noch das Verhalten, das Alter oder die Gewohnheiten eines anderen. Lunzie war es bald über, von Wesen als Oma bezeichnet zu werden, die selbst mit Sicherheit nicht einmal ihre vierunddreißig Standardjahre erreicht hatten. Ihr Kälteschlaf und die anschließende Suche waren immer noch ein zu traumatisches Thema, um es öffentlich zu diskutieren, deshalb lenkte sie das Gespräch immer von persönlichen Angelegenheiten ab. Sie fragte sich, ob Shef von ihrer Suche wußte. Schließlich hatte er schon in ihre Bewerbungsunterlagen Einsicht genommen. Wenn er davon wußte, verhielt er sich ungewöhnlich taktvoll und brachte die Sache nicht zur Sprache. Vielleicht war es Lunzie auch gelungen, ihre GBI-Datei vor seinen neugierigen Augen zu verbergen. Vielleicht hielt er die Sache auch einfach nicht für interessant genug. Wenn jemand versuchte, sie auszufragen, lenkte sie das Gespräch, zur Belustigung der Bande, die Lunzie gern in Aktion erlebte, immer wieder geschickt auf private Aspekte im Leben ihres Gegenübers.

»Du hättest Strafrecht studieren sollen«, meinte Pomayla. »Ich würde ungern im Zeugenstand sitzen, wenn ich etwas vor dir verbergen müßte.«

»Nein, danke. Ich bin lieber Doktor McCoy als Rumpole von der Bailey.«

»Wer?« fragte Cosir, der ein Seminar mit ihr belegte, ein affenähnlicher Brachianer mit weichem, pupurrotem Fell und funkelnden weißen Pupillen. »Wer ist dieser Rompul?«

»Wahrscheinlich jemand aus einem 3d-Film«, spekulierte Shof.

»Vielleicht eine historische Gestalt«, beschwerte sich Frega, die ebenfalls zur Bande gehörte, und polierte ihre schwarzlackierten Fingernägel am Ärmel ihrer Jacke.

»Jedenfalls keine, von der ich schon gehört habe«, erwiderte Cosir. »Dieser Name ist im Forum seit mindestens hundert Standardjahren nicht mehr gefallen.«

»Da liegt ihr nicht ganz falsch«, sagte Lunzie ernst. »Man könnte sagen, daß ich etwas von einem Altertumsforscher habe.«

»Und das in deinem Alter!« lachte Shof. Er verschränkte die Hände über seinem flachen Bauch, schlug mit einer Faust auf die Bauchdecke und tat so, als lausche er dem Echo. »Hm, klingt ziemlich hohl. Gehen wir was essen.«

Die Vorlesungen war im allgemeinen so langweilig, wie Lunzie sie in Erinnerung hatte. Nur zwei Seminare hielten ihr Interesse wach. Ihr Praktikum in Diagnostik war interessant, so wie auch der vorgeschriebene Kurs in mentaler Disziplin.

Die Diagnostik hatte enorme Fortschritte gemacht, seit sie Medizin praktiziert hatte. Die computerisierten Tests, denen sich die Patienten unterziehen mußten, waren weniger unangenehm und zugleich umfassender, als sie je für möglich gehalten hatte. Ihre Mutter, von der Lunzie ihre ›heilenden Hände‹ geerbt hatte, war immer der Ansicht gewesen, daß ein guter Arzt nichts als gründliche Kenntnisse in der Diagnostik und ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen für den Patienten brauchte. Ihre Mutter wäre so erfreut wie sie darüber gewesen, daß Fiona der Familientradition gefolgt war und eine medizinische Karriere eingeschlagen hatte.

Die diagnostischen Instrumente waren nicht mehr so sperrig wie noch zu ihrer Zeit. Die meisten Geräte konnte man in einer Umhängetasche unterbringen, was in Notfällen Zeit und Platz sparte. Lunzies Favorit war der ›Kolibri‹, ein kleiner medizinischer Scanner, der keine manuelle Bedienung erforderte. Mit Hilfe von Antigravitationstechniken schwebte er einfach über den Patienten umher und zeigte seine Werte an. Das Gerät war besonders bei Nullgravitation sehr nützlich. Es war sehr beliebt bei Ärzten, die sich auf Patienten spezialisiert hatten, die sehr viel größer waren als sie selbst, und bei nichtmenschlichen Ärzten, die intime manuelle Untersuchungen als unhöfliche Annäherung empfanden. Lunzie mochte das Gerät, weil es ihre Hände für die Betreuung des Patienten frei hielt. Sie setzte den ›Kolibri‹ auf die Liste der Instrumente, die sie kaufen würde, wenn sie wieder praktisch tätig wurde. Er war teuer, aber nicht unerschwinglich für sie.

Wenn der moderne Arzt erst einmal Daten über den Zustand seines Patienten gesammelt hatte, standen ihm so mächtige Werkzeuge wie Computeranalysen zur Ermittlung möglicher Behandlungsmethoden zur Verfügung. Das Programm war ausgefeilt genug, um einem Arzt eine ganze Palette von Therapien anzubieten. In extremen, aber nicht unmittelbar lebens-bedrohlichen Situationen konnten rekombinantes Gen-Splicing, chemische Behandlungen und invasive oder nicht-invasive Chirurgie vorgeschlagen werden. Die Entscheidung, was im vorliegenden Fall am besten war, lag beim Arzt. Bestimmte Formen progressiver Therapie, die inzwischen gebräuchlich waren, machten viele Behandlungen überflüssig, die man früher für unabdingbar gehalten hatte, um das Leben eines Patienten zu retten.

Lunzie bewunderte die neuen Werkzeuge, aber ihr gefiel nicht, wie sich die Einstellung zu medizinischen Behandlungen in den letzten sechs Jahrzehnten verändert hatte. Zuviel von der realen Arbeit eines Arztes war dem Praktiker aus den Händen genommen und Maschinen überantwortet worden. Sie wandte sich offen gegen die Meinung ihrer Professoren, daß die neue Methode für die Patienten verträglicher sei, weil die Gefahr einer Infektion oder eines ärztlichen Kunstfehlers geringer war.

»Viele haben keinen Lebenswillen mehr, weil es ihnen an persönlicher Fürsorge mangelt«, bemerkte Lunzie zu einem Professor für Kardiovaskuläre Mechanik, als sie sich mit ihm privat in seinem Büro unterhielt. »Die Methode, um geschädigtes Herzgewebe zu reparieren, ist technisch perfekt, ja, aber was ist mit den Gefühlen eines Patienten? Die Stimmung und die seelische Verfassung Ihres Patienten sind ebenso wichtig wie die wissenschaftliche Behandlung seines Leidens.«

»Sie sind hinter der Zeit zurück, Doktor Mespil. Es ist die bestmögliche Behandlung für Herzpatienten, die unter schwachen Arterienwänden leiden, die sich krankhaft erweitern könnten. Der Robotechniker kann mikroskopische Maschinen durch den Blutkreislauf des Patienten schicken, um das Nachwachsen geschädigten Gewebes zu stimulieren. Er braucht sich keine Gedanken darum zu machen, was in dem Patienten vorgeht.«

Lunzie verschränkte die Arme und richtete einen tadelnden Blick auf ihn. »Es ist Ihnen also gleichgültig, was mit Ihrem Patienten geschieht? Natürlich gibt es Patienten, die ausschließlich mit unsensiblen Ärzten zu tun gehabt haben. Ich nehme an, in Ihrem Fall würde es keinen Unterschied machen.«

»Das ist ungerecht, Doktor. Ich will nur das Beste für meine Patienten.«

»Und ich will mehr, als nur die Maschinen betreuen, die die Patienten betreuen«, erwiderte Lunzie gereizt. »Ich bin Ärztin, keine Mechanikerin.«

»Und ich bin Chirurg, kein Psychologe.«

»Sehen Sie! Es überrascht mich nicht im mindesten, daß der Psychologieprofessor Ihrer Auffassung hundertprozentig widerspricht! Sie verbessern die Überlebenschancen Ihres Patienten nicht, wenn Sie ihn behandeln wie ein bewußtloses Stück Technik, das repariert werden muß.«

»Doktor Mespil«, sagte der Kardiologe verkniffen. »Wie Sie zurecht bemerkten, ist die seelische Verfassung eines Patienten ein wesentlicher Faktor für seine Genesung. Es ist seine Entscheidung, ob er leben oder sterben will, nachdem er eine qualifizierte medizinische Behandlung erhalten hat. Ich weigere mich, ihm den freien Willen abzusprechen.«

»Das ist eine lächerliche Ausflucht.«

»Ich nehme an, mit Ihrer altmodischen Ausdrucksweise wollen Sie andeuten, daß ich mich vor meinen Pflichten drücke. Ich bin mir bewußt, daß Sie in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert haben und über Hintergrundwissen in medizinischer Ethik verfügen. Ich kann mich rühmen, daß ich Ihre Artikel in älteren Ausgaben des Bioethik-Journals gelesen habe. Aber darf ich Sie an Ihre Stellung erinnern? Sie sind meine Studentin, und ich bin Ihr Lehrer. Solange Sie in meinem Seminar sitzen, lernen Sie von mir. Und ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie künftig darauf verzichten würden, mir vor Ihren Kommilitonen Vorträge zu halten. Es ist ganz allein Ihre Sache, von wie vielen Händen Sie auf die Schulter geklopft werden wollen, wenn Sie meinen Unterricht verlassen. Guten Tag noch.«

Nach diesem unerfreulichen Gespräch stürmte Lunzie in die Sporthalle und legte eine ausgiebige Übungsstunde in Mentaler Disziplin ein.

Mentale Disziplin war ein obligatorisches Studienfach für hochqualifizierte Ärzte, medizinische Techniker und alle, die an Weltraumexpeditionen teilnehmen wollten. Die Tests hatten Lunzies natürliche Begabung zur Selbstdisziplinierung bewiesen, aber es war ihr zuwider, daß sie sich eigens Stunden freihalten mußte, um den Kurs zu beenden. Sie hatte schon vor Jahren den Grundunterricht beendet und war zur Adeptenausbildung übergegangen. Mentale Disziplin war nicht nur zeitraubend, sondern auch anstrengend. Sie war entsetzt, als sie erfuhr, daß ihr Lehrer auf täglich mindestens sechs Stunden für Übungen, Meditation und Konzentrationstechniken bestand. Daneben blieb wenig Zeit für andere Aktivitäten. Die Zeit, die seit ihren letzten Unterrichtsstunden vergangen war, zeigte sich in abgeschlafften Muskeln und einer verkürzten Aufmerksamkeitsdauer.

Nach einigen Wochen stellte sie erfreut fest, daß die Übungen ihrer Gang elastischer gemacht und ihre Abhängigkeit von ihrem Kaffee-Ersatz verringert hatten. Sie kam jeden Morgen ohne Mühe aus dem Bett, selbst wenn sie wenig geschlafen hatte. Sie hatte vergessen, wie gut man sich fühlte, wenn man in Form war. Meditationstechniken sorgten für einen erholsameren Schlaf, weil sie es ihr möglich machten, ihre Sorgen um Fiona vorübergehend durch bewußte Anstrengung in ihren Hinterkopf zu verdrängen.

Ihre Gedächtnisleistung besserte sich merklich. Sie fand es einfach, neue Informationen wie die aktuellen politischen Strömungen und Gepflogenheiten sowie die neuen Stile und Alltagsausdrücke aufzunehmen, ganz abgesehen von ihrem Lehrstoff. Außerdem gab es keinen Zweifel, daß sie körperlich so gut in Form war wie seit Jahren nicht mehr. Ihr Hintern war um eine Kleidergröße geschrumpft, und ihre Bauchmuskeln hatten sich gestrafft. Sie berichtete Pomayla von ihren Beobachtungen, die gleich darauf ansprang und mit ihr neue Kleider einkaufen ging.

»Es ist ein dummer Vorwand. Ich wollte es bisher nicht erwähnen, Lunzie, aber deine Sachen sind hoffnungslos altmodisch. Wir waren uns nicht sicher, ob man sich auf deinem Heimatplaneten so anzieht oder ob du dir nichts Neues leisten kannst.«

»Wie kommst du darauf, daß ich’s mir jetzt leisten kann?« fragte Lunzie ruhig.

Pomayla wurde rot und hatte Mühe, ihr die Wahrheit zu gestehen. »Es war Shof. Er sagt, du hättest jede Menge Credits. Weißt du, er kann wirklich gut mit Computern umgehen. Äh …« Sie wandte sich einem Synthesizegerät zu und ließ sich einen Muntermacher herstellen. Sie verbarg ihr Gesicht vor Lunzie, als sie zugab: »Er hat deine persönlichen Unterlagen eingesehen. Er wollte wissen, warum du für dein Alter so jung aussiehst. Hast du wirklich sechzig Jahre lang im Kälteschlaf gelegen?«

Lunzie war nicht schockiert. Sie hatte damit gerechnet, daß dergleichen früher oder später passieren würde. »Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht an das Geringste erinnern, aber gegen die Tatsachen komme ich wohl nicht an. Dieser verdammte Shof. Meine Unterlagen waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«

»Man kann nichts vor ihm verbergen. Wir kommen als Zimmergefährten gut miteinander aus, weil ich ihn genauso behandle wie meinen kleinen Bruder, seine Fähigkeiten respektiere und sein Ego ignoriere. Es ist ein Glück, daß er ein gesundes moralisches Empfinden hat, sonst könnte er jede Menge Credits scheffeln. Na, komm schon, kauf dir doch mal was. Du gibst dein Geld doch sonst nur für deine mysteriösen Nachforschungen aus. Die Mode hat sich sehr verändert, seit du dir dieses Outfit zugelegt hast. Keiner trägt mehr Hosen bis zu den Waden. Glaub mir, du wirst dich in neuen Sachen besser fühlen.«

»Na gut …« Offenbar war Shof noch nicht auf ihre GBI-Datei gestoßen. Gott sei Dank. In ihren Unterlagen standen noch andere Dinge, die sie nicht an die große Glocke hängen wollte, unter anderem, daß sie als Studentin einer Ethikkommision für eine Klon-Kolonie angehört hatte. Die beschönigten Details des abgebrochenen Projekts waren inzwischen sicher an die Öffentlichkeit gedrungen, aber sie wußte nicht recht, wie die anderen reagieren würden, wenn sie von ihrer Beteiligung erfuhren. Klonen war für die meisten Menschen ein Reizthema. Lunzie wog den Preis einiger neuer Kleidungsstücke gegen die Kosten einer Datenrecherche ab. Vielleicht hatte sie zu streng auf ihren Kontostand geachtet. Obwohl sie den faden Geschmack von synthetischen Nahrungsmitteln verabscheute, hatte sie ausschließlich Synthetisches gegessen, um die Kosten für echte Mahlzeiten einzusparen. Jeder Bruchteil eines Credits mußte für ihre Suche nach Fiona zur Verfügung stehen. Vielleicht ließ sie es zu, daß ihre Obsession ihr ganzes Leben bestimmte. Bei dem Interesse, das ihr Vermögen erweckte, machte es sicher nicht viel aus, wenn sie ein wenig für sich selbst ausgab.

»Na gut, wir gehen ein wenig einkaufen, und danach kannst du mich beim 3d-Forum absetzen. Ich will mir die heutigen Nachrichten ansehen.«

Lunzie hatte sich Wilkins Rat zu Herzen genommen und nutzte jede Informationsquelle, die ihr zur Verfügung stand. Im EEC-Büro füllte sie Hunderte von Antragsformularen aus, um Zugriff auf alle Dokumente über Fiona zu erhalten, und erkundigte sich, was sie mit der verfluchten Kolonie auf Phoenix zu tun hatte.

›Verflucht‹ war nicht übertrieben. In der Zeit, seit sie den ersten Bericht über Phoenix gesehen hatte, war ein Schiff unabhängiger Kaufleute auf dem Planeten gelandet, um mit den Kolonisten zu handeln, und hatte seine Geschichte an die 3d-Produzenten verkauft. Das Handelsschiff hatte Videokuben mitgebracht, in denen Aufnahmen des Geländes gespeichert waren, die ein ›rauchendes Loch‹ an der Stelle zeigten, wo das Lager der Leichtgewichte gestanden hatte. Die Kaufleute hatten außerdem versichert, daß die menschlichen Schwergewichte, die dort jetzt lebten, über keine Waffen dieser Größenordnung verfügten und unmöglich für die Zerstörung der Kolonie verantwortlich sein konnten. Lunzie, die eine Abneigung gegen Schwerweltler entwickelte, welche sie selbst überraschte, mißtraute einer solchen leichtfertigen Versicherung, aber die Kolonisten hatten unter Eid geschworen, daß der Planet bei ihrer Ankunft unbewohnt gewesen war. Auf jeden Fall hatten sie die Lebensfähigkeit ihrer eigenen Siedlung bewiesen und nun Anspruch auf FES-Privilegien und -Schutz. Der GBI berichtete ihr ungefähr dasselbe.

Die Schwerweltler hatten auch ihre Enttäuschungen erlebt. Der ursprüngliche EEC-Erkundungsbericht, der zwölf Jahre vor der ersten Kolonisierung abgefaßt wurde, hatte behauptet, daß Phoenix über reiche Vorkommen an radioaktiven Erzen verfügte, die problemlos ausgebeutet werden konnten, weil sie in zutage liegenden Verwerfungen leicht zugänglich waren. Die Geigerzähler knatterten allerdings nur leise. Die Kruste des Planeten war weitgehend frei von Transuranen. Wenn die Siedler auf Phoenix gehofft hatten, mit einer neuen Quelle dieser stets knappen Erze zu einer bedeutenden Handelsmacht in der FES aufzusteigen, wurden sie bitter enttäuscht. Statt den Mangel den unbekannten Anderen anzukreiden, wie es die 3d-Talkshow-Moderatoren taten, vermutete die FES, daß der Erkundungsbericht fehlerhaft gewesen sei. Lunzie bezweifelte es. Ihre Abneigung vor den unbekannten Planetenpiraten wuchs. Ihre Hoffnung, Fiona lebend wiederzufinden, schwand stetig.

Das 3d-Forum der Universität war eine öffentliche Einrichtung, die von jedem gebührenfrei benutzt werden konnte. Abgesehen von Freiluftkonzerten und 3d-Übertragungen gab es auf Astris kaum bezahlbare Unterhaltungsangebote, und die 3d-Übertragungen fanden als einzige bei jedem Wetter statt. Das Projektionsfeld schwebte einige Meter über dem Boden in einer hohen sechseckigen Kammer, die mit terrassenförmig angelegten Sitzbänken ausgestattet war. Das Forum war selten bis zum letzten Platz besetzt, außer wenn wichtige Sportereignisse übertragen wurden, aber es war auch nie völlig leer. Tag und Nacht wurden Nachrichtensendungen und interessante Berichte übertragen. Die Kommentare wurden im FES-Standard gesprochen, die Einspielungen lokaler Ereignisse in Standard untertitelt. Die Autoritäten der Universität versuchten zu verhindern, daß das Forum zum Zufluchtsort für Obdachlose wurde, und verwiesen die Unglücklichen an Gemeinschaftsunterkünfte, aber selbst bei Nacht sahen sich gewöhnlich einige Bürger die Übertragungen an: Leute, die an Schlaflosigkeit litten, Nachtmenschen, ein paar Studenten, die sich die Zeit zwischen den Nachtseminaren vertrieben, oder andere, die den Tag einfach nicht vorübergehen lassen wollten. Lunzie fiel auf, daß die meisten, die das Forum nutzten, älter und reifer waren als der Durchschnitt. Für die jüngeren, die sich nicht für das Tagesgeschehen interessierten, waren Unterhaltungsforen eingerichtet worden.

Lunzie besuchte das Forum immer, wenn sie nicht schlafen konnte, gewöhnlich aber sah sie sich die 3d-Nachrichten kurz vor dem Mittagessen an. Etwa ein Dutzend regelmäßiger Besucher lächelte oder begrüßte sie auf andere Weise, als sie nach dem Einkaufen mit Pomayla eintraf. Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie ihren üblichen Platz fand. Sie gestand sich nur ungern ein, daß sie allmählich süchtig nach 3d-Übertragungen wurde. Lunzie schaute sich alle Nachrichten an, menschlich interessante Geschichten ebenso wie sachliche Dokumentationen. In den zweiundsechzig Jahren, die ihr entgangen waren, hatte sich nicht viel verändert außer die Namen. Piraterie, Politik, Katastrophen, Freude, Tränen, Leben. Neue Entdeckungen, neue Wissenschaftszweige, neue Vorurteile, die an die Stelle der alten traten. Neue Namen für alte Dinge. Am meisten bereitete ihr Schwierigkeiten, was aus den politischen Führern und Prominenten ihrer Zeit geworden war. So viele waren an Altersschwäche gestorben, und sie war immer noch vierunddreißig. Sie hatte das Gefühl, als täte sie etwas Unmoralisches, wenn sie diese Menschen aus der Perspektive ihrer eigenen verlängerten Jugend betrachtete. Sie nahm sich vor, daß sie nicht mehr jeden Morgen ins Forum gehen würde, wenn sie sich mit den Ereignissen ihrer verlorenen Jahre genügend vertraut gemacht hatte. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob sie dieses Versprechen halten würde.

Der Tagesrückblick auf die jüngsten Schlagzeilen wurde mittags gesendet. Lunzie wartete immer bis dahin ab, um zu erfahren, ob irgendeine Geschichte etwas mit Fionas Schicksal zu tun haben könnte, und machte sich dann wieder an ihr Tagwerk. Heute war sie später als üblich im Forum eingetroffen. Die Zusammenfassung ging gerade zu Ende, als sie die abgedunkelte Arena betrat. »Seit gestern gab’s nichts Neues«, flüsterte einer der regelmäßigen Besucher, ein Mensch, ihr zu, als er aufstand, um zu gehen.

»Danke«, murmelte Lunzie. Das 3d-Feld tauchte den Raum in Licht, als eine weitere Textdatei eingeblendet wurde, und bei dieser Gelegenheit sah sie dem Mann in die Augen. Er lächelte zu ihr herunter und schob sich zwischen den Bänken zum Ausgang. Lunzie machte es sich zwischen ihren Einkaufstaschen bequem. Sie hatte nichts dagegen, sich Wiederholungen früherer Sendungen anzuschauen. Sie betrachtete die 3d-Übertragungen als ein außerplanmäßiges Seminar über die Beziehungen lebendiger Wesen. Die Geschichte, die in dem Projektionsfeld inszeniert wurde, fesselte sie augenblicklich.