erstes kapitel

 

Die einzige Turbine, die in dem leeren, kugelrunden Erzfrachter in Betrieb war, wummerte hohl durch den Rumpf. Sie ließ die Decks und Schotts in einer Frequenz vibrieren, die man anfangs, je nach Stimmung, als beruhigend oder entnervend empfand. Nach vier Wochen an Bord des auf Tau Ceti registrierten Frachtschiffs Nellie Mine mußte Lunzie Mespil sich erst an das Summen erinnern, um es überhaupt wahrzunehmen. Als sie in ihrer Eigenschaft als neue Ärztin für die Bergbauplattform Descartes Nr. 6 an Bord gekommen war, hatte das Geräusch sie halb in den Wahnsinn getrieben. Es gab nicht viel zu tun, außer zu lesen, zu schlafen und zu horchen – oder besser, den Lärm der Turbine zu fühlen. Später fand sie heraus, daß das Geräusch das Einschlafen und die Entspannung förderte, so als befände man sich an Bord einer sanft schaukelnden Einschienenbahn. Ob ihre Kollegen es wußten oder nicht, einer der Hauptgründe dafür, daß die Bergbaugesellschaft Descartes bei Frachtflügen so wenige Meutereien und Duelle verzeichnete, war das friedlich stimmende Summen der Turbinen.

Die ersten Tage, die sie in der kleinen, schmucklosen Kabine verbrachte, die ihr zugleich als Schlafstelle und als Büro diente, verliefen ein wenig einsam. Lunzie blieben zu viele Stunden, um an ihre Tochter Fiona zu denken. Die vierzehnjährige Fiona, für Lunzies unbefangene Augen ein hübsches und frühreifes Mädchen, war in der Obhut eines Freundes zurückgeblieben, der als leitender medizinischer Offizier auf dem neu kolonisierten Planeten Tau Cetis arbeitete. Die Siedlung war für eine so junge Anlage erstaunlich komfortabel. Sie hatte ein gutes Klima, eine für Menschen günstige Biosphäre, unterscheidbare Jahreszeiten und viel fruchtbares Land, auf dem sowohl irdische wie hybride Pflanzen gediehen. Lunzie hoffte, sich dort selbst niederlassen zu können, wenn sie ihren Pflichtdienst auf der Plattform beendet hatte, aber sie war finanziell nicht unabhängig.

Fiona war wütend gewesen, weil sie ihre Mutter nicht auf die Plattform begleiten durfte, und hatte es nicht hinnehmen wollen. In den letzten Tagen vor Lunzies Abreise hatte sie sich geweigert, ein Wort mit ihr zu wechseln, und immer wieder störrisch die beiden Fünf-Kilo-Kleidersäcke ausgepackt, wie oft ihre Mutter sie auch wieder neu packte. Es war eine kindische Posse gewesen, aber eine, die Lunzie zeigte, wie sehr es Fiona verletzte, daß sie alleingelassen wurde. Seit ihrer Geburt war sie nie länger als einige Tage von ihrer Mutter getrennt gewesen. Lunzie machte die bevorstehende Trennung selbst zu schaffen, aber im Gegensatz zu Fiona sah sie ein, daß wirtschaftliche Zwänge ihr keine andere Wahl ließen, als einen medizinischen Posten auf einem so fernen Planeten anzunehmen und Fiona zurückzulassen.

Die Reisekosten nach Tau Ceti waren vom Wissenschaftsausschuß bezahlt worden, der darüber Aufschluß erhalten wollte, welche Zukunftsaussichten ein Clone-Zuchtzentrum auf einem neu kolonisierten Planeten hatte. Der Ethikausschuß war an Lunzie herangetreten, weil sie in ihrer Zeit an der medizinischen Fakultät als studentische Beraterin mit einem ähnlichen Projekt zu tun gehabt hatte, aus dem eine experimentelle Kolonie hervorgegangen war. Überraschenderweise waren die Daten dieses früheren Unternehmens selbst den Teilnehmern an dem Projekt nicht zugänglich. Auch ihr zeitweiliger Ehemann Sion hatte sich für sie ausgesprochen. Er genoß in Kreisen der Genetiker inzwischen hohes Ansehen und arbeitete hauptsächlich an der Überwachung menschlicher Schwerwelten-Mutationen.

Es fanden vier oder fünf Sitzungen des Ethikausschusses statt, die schnell zu dem Ergebnis kamen, daß selbst ein so altruistisches Projekt wie die Pflege eines überlebensfähigen Genoms binnen weniger Generationen in einer Sackgasse enden würde. Auf weitere Maßnahmen wurde deshalb verzichtet, und so saß Lunzie ohne Arbeit in einer Kolonie fest, die sie nicht mehr brauchte. Weil ihre Arbeit strenger Geheimhaltung unterlag, hatte sie ihrer Tochter nicht einmal erklären können, warum sie einen Posten nicht antreten konnte, der der eigentliche Grund für ihre Übersiedlung nach Tau Ceti gewesen war.

Nachdem sie ihre Taschen das fünfte oder sechste Mal neu gepackt hatte, wußte sie die wenigen Habseligkeiten auswendig, die sie mitnehmen würde, und schloß ihr Gepäck im Giftschrank des medizinischen Zentrums von Tau Ceti ein, damit ihre Tochter es nicht mehr in die Finger bekam.

Inzwischen waren Fionas Proteste zu einem bloßen Schmollen abgeflaut. Lunzie ließ ihr Zeit, sich an den Gedanken der Trennung zu gewöhnen, und hielt sich in ihrer Nähe auf, damit Fiona jederzeit mit ihr reden konnte, wenn sie das Bedürfnis hatte. Lunzie wußte aus Erfahrung, daß es keinen Sinn hatte, Fiona hinterherzulaufen. Sie mußte von allein kommen. Sie waren sich beide sehr ähnlich. Eine zu frühe Konfrontation zu erzwingen, wäre dasselbe gewesen, als häufe man eine kritische Masse radioaktiven Materials auf. Lunzie ging ihrer Arbeit im medizinischen Zentrum nach und assistierte ihren Kollegen bei laufenden Forschungsarbeiten, die die Kolonie gebilligt hatte.

Schließlich kam Fiona an einem sonnigen Tag nach der Arbeit vor dem medizinischen Zentrum auf sie zu und überreichte ihr ein kleines Paket. Es ähnelte einem harten Stück Rohr mit dreieckigem Querschnitt. Lunzie lächelte, als sie die Form erkannte. Unter dem Papier steckte ein brandneues Studiohologramm von Fiona, das sie in ihren Feiertagssachen zeigte, für die sie ihre Mutter um den Rest angebettelt hatte, der ihr noch fehlte, nachdem sie während ihres Aufenthalts auf einem anderen Planeten lange dafür gespart hatte. Lunzie fiel auf, wie sehr ihr Fiona ähnlich sah: die hervorstehenden Wangenknochen, die hohe Stirn, der sinnliche Mund. Die Wellen von weichem Haar waren sehr viel dunkler als ihre eigenen, dem Schwarz näher als Lunzies Goldbraun. Fiona hatte schmale, verträumte Augen und von ihrem Vater ein starkes Kinn geerbt, das ihrem Gesicht, schon als Säugling, einen entschlossenen, wenn nicht sogar starrsinnigen Ausdruck verlieh. Das rubinrote Kleid betonte die helle Haut des Mädchens und verlieh ihr etwas Exotisches und Reizvolles wie eine Blume. Der fließende, durchsichtige Umhang, der ihr zwischen den Schultern herabhing, entsprach der neusten Mode und funkelte von Lichtern, die wie ein Kometenschweif über Fionas Waden strichen. Lunzie blickte von dem Geschenk auf und ihrer Tochter in die Augen, die sie aufmerksam beobachteten, als frage sie sich, wie ihre Mutter reagieren würde. »Es gefällt mir sehr, Liebling«, sagte Lunzie, drückte sie an sich und steckte das Hologramm in ihren Beutel. »Ich werde dich furchtbar vermissen.«

»Vergiß mich nicht.« Lunzies Jacke dämpfte ein leises Schluchzen.

Lunzie nahm das tränenfeuchte Gesicht ihrer Tochter zwischen die Hände und prägte es sich tief ein.

»Das könnte ich gar nicht«, versprach sie ihr. »Und das werde ich auch nicht. Ich bin schneller wieder da, als du glaubst.«

Während ihrer letzten Tage auf dem Planeten hatte sie ihre Laborarbeit einem Mitarbeiter überlassen, damit sie jede Minute mit Fiona verbringen konnte. Sie besuchten die Orte, wo sie am liebsten gewesen waren, und brachten Fionas Habseligkeiten und den Rest ihrer eigenen gemeinsam aus ihrer vorübergehenden Unterkunft in die Wohnung des Freundes, der das Mädchen betreuen würde. Sie fragten sich gegenseitig, ob sie sich an dies oder jenes erinnerten, teilten ihre kostbarsten Erinnerungen, so wie sie auch die Erfahrungen gemeinsam gemacht hatten. Es waren herzliche, warme Stunden für sie beide, die für Lunzies Geschmack viel zu schnell vorübergingen.

Eine schweigende Fiona begleitete sie zur Landebucht, wo das Shuttle wartete, das sie zur Nellie Mine bringen würde. Tau Cetis blasser, lavendelblauer Himmel stand voller Wolken. Wenn der Himmel klar war, konnte Lunzie die Sonne oft auf den Flanken der Schiffe glitzern sehen, die im Orbit von Tau Ceti Halt machten, aber sie war ganz froh, daß ihr der Anblick an diesem Tag verwehrt blieb. Sie unterdrückte ihre Gefühle. Wenn es eine Möglichkeit gab, ihren eigenen Kummer nicht auf Fiona abzuladen, würde sie es tun. Lunzie versprach sich, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, wenn sie erst an Bord war. Für einen Moment war sie versucht, den Vertrag zu zerreißen, Descartes mitzuteilen, daß sie ihn sich sonstwo hinstecken könnten, und die Behörden von Tau Ceti anzuflehen, daß sie ihr irgendeinen Job, wie niedrig auch immer, geben sollten, nur damit sie bei ihrer Tochter bleiben konnte. Aber dann gewann die Vernunft wieder die Oberhand. Lunzie erinnerte sich an banale finanzielle Gesichtspunkte wie die Frage, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen sollte, und versicherte sich, daß sie nicht lang fortbleiben und mit den Einkünften hinterher ein komfortables Leben führen würde.

»Ich werde mich um Schürfrechte auf einem Asteroiden bemühen, sobald ich’s mir leisten kann«, brach Lunzie das Schweigen. »Vielleicht kann ich einen Profit machen.« Ihr Worte hallten von den gerillten Metallwänden des Raumhafens wider. Außer ihnen schien niemand hier zu sein. »Wir werden eine Menge Geld machen, hörst du? Du wirst auf jede Universität gehen können, die dir gefällt, oder dich in der Flotte zum Offizier ausbilden lassen wie mein Bruder. Was immer du willst.«

»Mhm«, war Fionas einziger Kommentar. Ihr Gesicht war zu einer so tragischen Maske erstarrt, daß Lunzie zum Lachen und Weinen zugleich zumute war. Fiona hatte kein Make-up aufgetragen, deshalb sah sie etwas kindlicher aus als der Teenager, den sie sonst so gern herauskehrte.

Paß auf, sie versucht dich zu manipulieren, dachte Lunzie. Ich muß unseren Lebensunterhalt verdienen, was soll sonst aus uns werden? Ich weiß, daß ich ihr Kummer bereite, aber ich werde doch nur zwei Jahre lang weg sein, höchstens fünf! Die Nase des Mädchens wurde rot, und sie hatte die blassen Lippen fest aufeinandergepreßt. Lunzie wollte noch etwas Tröstliches sagen, dann begriff sie aber, daß sie jetzt Fiona zu manipulieren und ihr legitime Gefühle auszureden versuchte. Ich will keine Szene machen, deshalb versuche ich zu verhindern, daß sie unglücklich erscheint. Sie preßte die Lippen aufeinander. Wir sind uns so ähnlich, das ist unser Problem, dachte sie und schüttelte den Kopf. Sie drückte Fionas Hand fester. Schweigend gingen sie zur Landebucht.

In Landebucht 6 lag eines der großen Frachtshuttles für Raumfahrer, die mehr Gepäck mitführten als gewöhnliche Passagiere. Dieses einst strahlend weiß lackierte Schiff, das ein breiter roter Streifen von der Nase bis zum Heck zierte, war zerkratzt und verbeult. Die Keramikbeschichtung unter der Nase war von Landeanflügen durch Planetenatmosphären stellenweise angesengt, aber ansonsten schien das Schiff gut gewartet und in guter Verfassung zu sein. Ein breitschultriger Mann mit schwarzem Kraushaar stand mitten in der Bucht, wedelte mit einem Klemmbrett und erteilte einer Handvoll Arbeitern in Overalls Befehle. Versiegelte Container wurden mit Gabelstaplern in die offene Frontluke des Shuttles befördert.

Der Schwarzhaarige bemerkte sie und kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Sind Sie die neue Ärztin?« fragte er und drückte Lunzies Hand freundschaftlich. »Ich bin Captain Cosimo von der Bergbaugesellschaft Descartes. Es freut mich, Sie bei uns zu haben. Hallo, junge Dame.« Es sah fast wie eine Verbeugung aus, als Cosimo Fiona zunickte. »Sind das ihre Taschen, Doktor? Marcus! Bring die Taschen der Frau Doktor an Bord!«

Lunzie hielt Cosimo den kleinen Memokubus hin, der ihren Vertrag und ihre Weisungen enthielt. Cosimo steckte ihn ins Klemmbrett. »Alles in Ordnung«, sagte er und überflog die Anzeige auf dem Bildschirm. »Wir starten in zwanzig Minuten. Die Luken schließen bei T minus zwei.« Mit einem letzten Lächeln für Fiona begab er sich wieder zu seinen Leuten. »Paß auf, Nelhen, das ist ein Gabelstapler, kein Spielzeug!«

Lunzie wandte sich Fiona zu. Ihre Kehle zog sich zusammen. Alles, was sie hatte sagen wollen, kam ihr banal vor im Vergleich zu dem, was sie in diesem Augenblick empfand. Sie räusperte sich und versuchte, nicht zu weinen. Fionas Augen waren tränenfeucht. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»O Mama.« Fiona brach in ein Schluchzen aus. »Ich werde dich so vermissen!« Die fast erwachsene Fiona, die alles Kindliche verachtete und ihre Mutter seit früher Kindheit Lunzie nannte, verfiel von einem Moment zum anderen auf den Namen, den sie seit Jahren nicht ausgesprochen hatte. »Ich werde dich auch vermissen, Fi«, gestand Lunzie und war gerührter, als sie sich eingestehen wollte. Sie hielten einander in den Armen und vergossen ehrliche Tränen. Lunzie ließ alles heraus und fühlte sich hinterher besser. Letztlich konnten weder Lunzie noch jemand aus ihrer Familie je unehrlich sein.

Als das Signalhorn tönte, löste sich Fiona mit einem letzten feuchten Kuß von ihr und trat zurück, um den Start zu beobachten. Lunzie fühlte sich ihr näher als je zuvor. Sie prägte sich fest ein, wie Fiona ihr zuwinkte, als das Shuttle abhob und über den blauvioletten Himmel von Tau Ceti davonflog.

Mit Ausnahme ihrer Tagesuniform, einer Musikdiskette und dem Hologramm war ihr Gepäck inzwischen mit dem aller anderen sicher in dem kleinen Lagerraum hinter den Duschen verstaut. Lunzie hatte sich wie die meisten Mannschaftsmitglieder einen praktischen Kurzhaarschnitt zugelegt. Sie vermißte den warmen, frischen Wind, sie vermißte es, sich aus den einheimischen Pflanzen ihr Essen selbst zu kochen, und natürlich vermißte sie Fiona.

Weil sie sonst nichts zu tun hatte, vertrieb sich Lunzie die Zeit damit, daß sie die medizinischen Akten ihrer künftigen Mitarbeiter und medizinische Texte über die typischen Verletzungen und Unpäßlichkeiten studierte, an denen Asteroiden-Bergleute litten. Sie freute sich auf ihren neuen Posten. Vom Aufenthalt im Weltraum hervorgerufene Traumata interessierten sie. Agoraphobie und Klaustrophobie waren an Bord einer Raumstation keine Seltenheit, häufig gefolgt von paranoiden Anfällen. Seltsamerweise litten Patienten häufig an mehreren Symptomen dieser Art gleichzeitig. Sie rätselte über die Ursachen und wollte genug Datenmaterial sammeln, um die Aussagen ihres Professors über Behandlungsmöglichkeiten zu beweisen oder zu widerlegen.

Die Angaben in den medizinischen Akten hatten ihr geholfen, ihre fünfzehn Schiffskameraden besser kennenzulernen. Bergleute waren eine verschworene Gemeinschaft und legten großen Wert auf Kameradschaft, aber sie brauchten viel Zeit, um sich an Fremde zu gewöhnen. Private und berufliche Tragödien schweißten sie eng zusammen. Lunzie aber blieb nicht lang eine Fremde. Ihre Kameraden fanden bald heraus, daß sie sich aufrichtig um das Wohlergehen jedes einzelnen sorgte und daß sie eine gute Zuhörerin war. Von da an bemühte sich jeder, im gemeinsamen Speise- und Aufenthaltsraum einmal allein mit ihr reden zu können oder tauchte zwischen den Schichten in ihrem Büro auf, so daß sie sich sehr willkommen fühlte. Mit der Zeit öffneten sie sich ihr. Lunzie erfuhr von der unglücklichen Liebe des einen Kameraden, von den Plänen einer anderen Kameradin, mit ihren Ersparnissen auf einem Satelliten ein Lokal zu eröffnen, und von dem Nachwuchs, den zwei liierte Flugwesen erwarteten, die der Rasse der Ryxi angehörten und von der Plattform befristet als Spezialisten angestellt worden waren. Und die anderen erfuhren von ihrem bisherigen Leben, ihrer medizinischen Ausbildung und ihrer Tochter.

Sie hielt das dreieckige Hologramm von Fiona in der Hand, als sie in ihrem Büro am Schreibtisch saß und einem Bergmann namens Jilet zuhörte. Laut seiner Akte hatte Jilet zwölf Jahre in kryogenischem Tiefschlaf verbracht, nachdem Asteroiden den Antrieb eines Erzfrachters beschädigt hatten, in dem er mit vier anderen Kameraden flog. Sie hatten ihre Stationen evakuieren müssen, und Jilet war in eine Fluchtkapsel neben dem Frachtraum gestiegen, während sich die anderen in eine zweite Kapsel neben den Turbinen retteten. Die anderen vier waren bald gerettet worden, Jilet aber wegen einer Fehlfunktion des Signalfeuers seiner Kapsel über ein Jahrzehnt verschollen geblieben. Es überraschte nicht, daß er wütend, verängstigt und gereizt war. An Bord der Nellie Mine arbeiteten drei weitere Männer, die schon mindestens einmal im Kälteschlaf gelegen hatten, Jilets Schlaf war aber der längste gewesen. Lunzie hatte Mitleid mit ihm.

»Ich weiß, daß diese Jahre vergangen sind, während ich im Kälteschlaf gelegen habe, Doktor, aber es bringt mich um, daß ich mich nicht an sie erinnern kann. Ich habe so viel verloren – meine Freunde, meine Familie. Es ist alles ohne mich weitergegangen, und ich weiß nicht, wie ich wieder neu anfangen soll.« Der stämmige, schwarzhaarige Bergmann rutschte auf der Turbulenzliege hin und her, die Lunzie als Psychologencouch verwendete. »Ich habe das Gefühl, als hätte ich auch einen Teil von mir verloren.«

»Sie wissen, daß das nicht stimmt, Jilet«, sagte Lunzie und stützte sich auf die Ellbogen. »Das Gehirn bewahrt seine Erinnerungen auch unter sehr widrigen Umständen. Was Sie erlebt haben, ist immer noch da drin gespeichert.« Sie tippte sich mit der breiten Spitze eines schlanken Fingers an die Stirn. »Die Forschung hat bewiesen, daß das Erinnerungsvermögen während eines Kälteschlafs nicht nachläßt. Sie müssen darauf vertrauen, was Sie sind und wer Sie sind, nicht was Ihre Umgebung Ihnen einreden will. Ich weiß, daß Sie verwirrt sind … gut, ich habe es noch nicht selbst durchgemacht, aber ich habe viele Patienten behandelt, denen es ähnlich ging. Sie müssen nur akzeptieren, daß Sie ein Trauma durchgemacht haben, und lernen, Ihr Leben wieder neu zu leben.«

Jilet verzog das Gesicht. »Als ich jünger war, wollten meine Freunde und ich im Weltraum leben, weg von dem Krach und den vielen Menschen. Ha! Das werden Sie heute bestimmt nicht mehr von mir hören. Ich wünsche mir nur noch, mich in einer der permanenten Kolonien niederzulassen und meinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, daß ich Flugzeuge und Industrieroboter repariere. Aber ohne meinen 02-Obulus, ganz zu schweigen von dem Zuschlag, wenn ich eine Familie – eine neue Familie – gründen will, kann ich’s mir nicht leisten, also bleibe ich beim Bergbau. Etwas anderes kann ich nicht.«

Lunzie nickte. ›02-Obulus‹ war ein Jargonausdruck für die Kosten, die anfielen, wenn eine Person in die Biosphäre einer bestehenden Kolonie von Sauerstoffatmern an einem Standort ohne eigene Atmosphäre eingegliedert wurde. Es war ein sehr kostspieliges Verfahren: die Eindämmungskuppeln mußten erweitert und Untersuchungen angestellt werden, ob die Lebenserhaltungssysteme ein weiteres Individuum bewältigen konnten. Außer Luft brauchte ein Mensch Wasser, Sanitäranlagen, einen gewissen Platz für seine Unterkunft und Nahrungssynthesizer oder Anbaufläche für seine Ernährung. Sie hatte diese Möglichkeit selbst einmal ins Auge gefaßt, aber die Risiken lagen ihrem Empfinden nach noch nicht innerhalb vertretbarer Grenzen, um unter solchen Umständen ein Kind aufzuziehen.

»Wie wär’s mit einer Ansiedlung auf einem Planeten?« fragte Lunzie. »Meine Tochter ist auf Tau Ceti sehr glücklich. Der Planet hat eine gesunde Atmosphäre, und Gemeinschaftsunterkünfte oder freies Ackerland, was immer Sie bevorzugen. Ich will mich an der Ausbeutung eines Asteroiden beteiligen, damit Fiona und ich ein bequemes Auskommen haben.« Es war bei den Bergbaugesellschaften gängige Praxis, daß sie nicht-kommerziellen Gemeinschaften von ihren eigenen Plattformen die unabhängige Ausbeutung von Himmelskörpern erlaubten, solange sie nicht ihre eigentlichen Geschäfte behinderten. Lunzie hatte sich ausgerechnet, daß sie zwei oder drei Jahre Geld beiseitelegen mußte, um ein Bergbauschiff für eine nennenswerte Zeit nutzen zu dürfen.

»Entschuldigen Sie, Doktor Mespil, aber unter einem offenen Himmel ist es mir zu bequem und einfach, zu … zu gefällig. Ja, das ist das richtige Wort. Für solche Kolonisten ist das Leben zu einfach. Ich würde lieber an einem Ort leben, wo man noch echten Pioniergeist kennt, als auf der Erde. Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich mir wünschen, daß sie mit einer Herausforderung aufwächst … daß sie nicht so verweichlicht wie ihr alter Herr … Bei allem Respekt, Doktor«, sagte Jilet und warf ihr einen bekümmerten Blick zu.

Lunzie schob den Gedanken beiseite, daß er ihre Courage angezweifelt hatte. Sie vermutete, daß er nicht bereit war, sich der unüberdachten Oberfläche eines Planeten auszusetzen. Platzangst war ein tückisches Leiden. Die freie Atmosphäre würde ihn zu sehr an den freien Weltraum erinnern. Er brauchte jemanden, der ihm versicherte, daß sein Mut, ebenso wie seine Erinnerungen, noch vorhanden und unbeschadet waren. »Keine Sorge. Und bitte nennen Sie mich Lunzie. Wenn Sie mich ›Doktor Mespil‹ nennen, bin ich immer versucht, mich nach meinem Mann umzusehen. Und dieser Vertrag ist vor Jahren abgelaufen. In aller Freundschaft natürlich.«

Der Bergmann lachte erleichtert. Lunzie studierte die medizinischen Daten, die auf dem im Schreibtisch eingelassenen Monitor angezeigt wurden. Jilet mußte sich seine Wut von der Seele reden. Eine weitere Fehlfunktion der Rettungskapsel, in der er im Kälteschlaf gelegen hatte, war dafür verantwortlich gewesen, daß er halb bewußtlos und unter Drogen tagelang durchs Backbordfenster hinausgestarrt hatte, ehe die kryogenischen Prozesse Wirkung zeigten. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn das zur Platzangst beigetragen hätte. Dieser große, kräftige Mann strahlte etwas Verzweifeltes aus, das ihn spürbar behinderte und seine Einsatzfähigkeit beschränkte. Sie fragte sich, ob es ihm helfen würde, wenn sie ihm die Grundlagen der Selbstdisziplinierung beibrachte, entschied sich aber dagegen. Er brauchte nicht zu wissen, wie man seine Adrenalinausschüttung steuerte; er mußte lernen, wie er verhindern konnte, daß es überhaupt zu einem Adrenalinschub kam. »Erzählen Sie mir, wie das ist, wenn Sie wieder Angst bekommen.«

»Morgens ist es nicht so schlimm«, begann Jilet. »Ich habe zuviel mit meiner Arbeit zu tun. Waren Sie schon einmal auf einer Bergbauplattform?« Lunzie schüttelte den Kopf. Die Winkel von Jilets dunklen Augen legten sich in heitere Falten. »Dann haben Sie noch etwas, worauf Sie sich freuen können. Ich hoffe, Sie haben Sinn für Humor. Die Jungs machen gern Witze. Gewöhnen Sie sich nicht zu sehr an dieses große Büro. In den Unterkünften ist der Platz knapp, deshalb muß man sich schnell aneinander gewöhnen. Gut, es ist nicht so, als wären wir alle auf Anhieb Kameraden«, fügte er traurig hinzu. »Viele von den jungen, die neu dazukommen, sterben schnell. Ein Fehler genügt … und schon ist man erfroren, erstickt oder Schlimmeres. Viele von ihnen lassen auch junge Familien zurück.«

Lunzie schluckte, als sie an Fiona dachte, und spürte, daß sich ihr das Herz in der Brust zusammenzog. Sie hatte keinen Grund zur Annahme, daß die Dichtungen und Instrumente ihres Atmosphärenanzugs nicht intakt waren, aber sie nahm sich vor, ihn noch einmal sorgfältig in Augenschein zu nehmen, wenn Jilet gegangen war. »Was genau sind Ihre Aufgaben?«

»Wir erledigen abwechselnd, was gerade anfällt, Doktor. Ich habe ein Gespür für lohnende Vorkommen, wenn ich Spähdienst habe, also versuche ich das so oft wie möglich zu machen. Es gibt einen Bonus für gute Funde.«

»Vielleicht werde ich Sie anheuern, wenn ich für meine Tochter ein Vermögen verdienen will«, lächelte Lunzie.

»Ich wäre stolz, Ihr Vertrauen zu genießen, Dok … äh … Lunzie. Aber warum warten Sie nicht erstmal ab, ob ich’s auch drauf habe? Wissen Sie, in jedem Asteroiden, ob klein oder groß, steckt Erz, aber man verschwendet seine Zeit nicht mit allem, auf das man trifft. Die Sensoren in einem Spähschiff funktionieren nur in einer Richtung. Wenn man etwas gesehen hat, das einem vielversprechend erscheint, entweder über die Außenkameras oder im Detektornetz, kann man sich eine detaillierte Auflistung der Asteroidenbestandteile abrufen. Spähschiffe sind nicht groß. Sie haben nur Platz für einen, deshalb sollte es nur jemand sein, der es Tage oder Wochen, sogar Monate mit sich allein aushält. Das ist nicht einfach. Man muß lernen, sofort hellwach zu sein, wenn das Alarmsignal des Detektornetzes einen aufweckt, um Zusammenstöße zu vermeiden. Wenn man ein potentielles Vorkommen findet, beansprucht man es im Namen der Gesellschaft für sich, bis eine Computerrecherche ergeben hat, ob nicht schon anderweitige Schürfrechte bestehen. Wenn es ein kleines, kristallines Gebilde ist, kann man es einfach selbst zur Plattform zurückschleppen. Und es lohnt sich auch, denn für Kristalle gibt es immer einen Bonus. Man will nicht riskieren, daß ein anderer den Fund für sich beansprucht. Die mittleren Brocken läßt man von einem Schlepper holen. Für die großen kommt eine Mannschaft raus und beutet sie vor Ort aus. Es macht mir nichts aus, wenn ich in einem Spähschiff sitze, denn ich schaue einfach durch den ›Korridor‹ zwischen den Feldern im Netz, und außerdem ist es in dem Schiff so eng, daß ich mich wohl fühle. Schlimm wird es nur, wenn ich eine der rotierenden Scheuertrommeln repariere oder etwas anderes draußen im freien Fall zu tun habe.« Als Jilet den letzten Satz beendet hatte, zog er die Augenbrauen herunter und verschränkte die Arme fest vor der Brust.

»Konzentrieren Sie sich auf die Geräte, Jilet. Versuchen Sie, nicht in den Weltraum hinauszustarren. Er war schon vor Ihnen da. Früher hat er sie nicht gekümmert. Lassen Sie sich jetzt auch nicht von ihm beunruhigen. Wichtig ist nur, woran Sie im Moment arbeiten.« Lunzie gab sich alle Mühe, ihn zu beruhigen. Sie wollte, daß er die positiven Aspekte seines Jobs aussprach. Es war unmöglich, die Seele zu heilen, ohne daß man ihr etwas Positives gab, woran sie sich festhalten konnte, einen Grund, sich heilen zu lassen. Die halbe Schlacht war schon gewonnen, ob Jilet sich dessen bewußt war oder nicht. Er hatte die Nerven, seinen Posten auf der Bergbauplattform wieder anzutreten, wieder auf das Pferd zu steigen, das ihn abgeworfen hatte. »Wonach halten Sie Ausschau, wenn Sie in einem Spähschiff sitzen?«

Jilets Körper entspannte sich nach und nach, und er betrachtete durch seine drahtigen schwarzen Augenbrauen die Decke. »Was ich finden kann. Je nachdem, was gerade einen guten Preis ergibt, wird auf Asteroiden von Diamanten über Kobalt bis Eisen alles abgebaut. Wenn die Verarbeitung nicht wichtig ist, wird der Brocken mit Lasern zerschnitten und die Bruchstücke zur Aufbereitung in die Scheuerrutschen befördert. Wenn die Verarbeitung einen Unterschied macht, wird der Brocken von einem Prisenkommando zerlegt. Soviel wie möglich wird im Vakuum erledigt, aus Sicherheitsgründen, um Sauerstoff zu sparen und um zu verhindern, daß das Material sich ausdehnt oder zusammenzieht, weil es zu starken Temperaturunterschieden ausgesetzt ist. Das Erz läßt sich nur noch schwer verschiffen, wenn es einmal aufgetaut ist. Es zerspringt und explodiert in tausend Scherben, wenn es zu schnell aufgewärmt wird. Ich habe erlebt, wie Kameraden auf diese Weise umgekommen sind. Es ist furchtbar, Doktor. Ich will nicht im Bett sterben, aber ich will auch nicht, daß es mich so erwischt.«

Mit einem traurigen Lächeln, das ihrer präzisen klinischen Vorstellungskraft galt, verdrängte Lunzie alle Überlegungen, wie man den zerfetzten Körper eines Bergmanns wiederherstellen könne. Dies war das Leben, auf das sie sich mit knapp unter Lichtgeschwindigkeit zubewegte. Du wirst nicht jeden Patienten retten können, du Idealistin, dachte sie. Hilf den Männern, denen du helfen kannst. »Wie sieht ein Kristallvorkommen aus? Wie findet man es?«

»Ich verrate doch nicht meine ganzen Tricks, nicht einmal einer so netten Seelenklempnerin wie Ihnen.« Jilet hob neckisch eine Augenbraue. Lunzie grinste ihn freundlich an. »Gut, ich gebe Ihnen einen Tip. Sie sind im Innern leichter als die anderen. Der Querschnitt auf dem Sonar macht den Eindruck, als sei der Brocken innen fast hohl und die Kruste reflektiere die Scannerstrahlen hin und her. Manchmal ist er wirklich hohl. Ich hatte mal einen, der meinen Strahl in hundert verschiedene Richtungen abgelenkt hat. Als die Mannschaft ihn auseinanderschnitt, stellte sie fest, daß er mit Metallnadeln gespickt war. Für Kommunikationsanlagen war es wertlos, aber irgendein reicher Senator hat damit die Wände seines Hauses geschmückt.« Jilet spuckte in die Richtung des namenlosen Staatsmanns.

Sie kamen vom Thema ab. Nur widerwillig, weil Jilet sich bei ihr wirklich entspannte, kam Lunzie wieder zur Sache. »Sie haben auch über Schlaflosigkeit geklagt. Erzählen Sie mir davon.«

Jilet zappelte herum, beugte sich vor und massierte seine Stirn mit beiden Händen. »Es ist nicht so, daß ich nicht schlafen kann. Ich … ich will einfach nicht einschlafen. Ich habe Angst, wenn ich es tue, werde ich nicht wieder aufwachen.«

›»Schlaf, der Bruder des Todes‹«, zitierte Lunzie. »Homer, oder aus jüngerer Zeit, Daniel.«

»Ja, genau. Ich … ich wünschte, wenn ich nicht sterben müßte, würde man mich hundert Jahre oder mehr schlafen lassen, damit ich als völlig Fremder wiederkehre und alles verändert vorfinde«, brach es aus Jilet in einem plötzlich so leidenschaftlichen Ton heraus, daß es ihn selbst überraschte. »Nach ein paar Dutzend Jahren bin ich einfach aus dem Tritt. Ich erinnere mich an Dinge, die meine Freunde längst vergessen haben, für die sie mich auslachen, aber sie sind alles, woran ich mich klammern kann. Sie hatten ein Jahrzehnt, um ohne mich weiterzukommen. Sie sind jetzt älter. Ich bin für sie ein Verrückter, weil ich so jung bin. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre gestorben.«

»Nein, nein. Der Tod ist nie so gut, wie seine Advokaten Sie glauben machen wollen. Sie haben in Ihrem Beruf bereits neue Freundschaften geschlossen. Sie treten bald eine neue Stelle an, wo Sie Ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen können, und Sie können neue Techniken lernen, die es noch nicht gab, als Sie mit dem Bergbau angefangen haben. Geben Sie den positiven Aspekten eine Chance. Denken Sie nicht an den Weltraum, wenn Sie zu schlafen versuchen. Lenken Sie Ihre Gedanken nach innen, vielleicht auf eine Erinnerung aus der Kindheit, die Ihnen angenehm ist.« Eine Glocke ertönte, die darauf hinwies, daß Jilets Sprechzeit abgelaufen war und er wieder an die Arbeit gehen mußte. Lunzie stand auf und wartete, bis Jilet sich erhoben hatte. Er überragte sie um gut dreißig Zentimeter. »Besuchen Sie mich wieder in Ihrer nächsten Freizeit«, empfahl Lunzie. »Ich möchte mehr über den Kristallabbau erfahren.«

»Sie und die Hälfte der Neulinge, die zu den Plattformen hinausfliegen«, erwiderte Jilet gutgelaunt. »Aber Doktor … ich meine Lunzie, wie soll ich schlafen, ohne daß mir diese Sache weiter zu schaffen macht? Wir sind immer noch so weit draußen, trotzdem halten mich diese Gefühle die ganze Zeit wach.«

»Ich gebe Ihnen besser keine Psychopharmaka, aber ich werde es mir noch einmal überlegen, wenn Sie meine Ratschläge beherzigt haben und es trotzdem nicht besser wird. Vorläufig konzentrieren Sie sich erst einmal auf das Hier und Jetzt. Wenn Sie im Erholungsraum sind, schauen Sie nicht zum Fenster hinaus, sondern immer auf die Wand daneben.« Lunzie lächelte und drückte warm Jilets Hand. »Es wird nicht lang dauern, dann langweilt die Wand Sie so sehr, daß Sie aus reiner Sehnsucht nach etwas Neuem wieder zu den Sternen hinaussehen werden.«

Nachdem Jilet gegangen war, holte sich Lunzie eine Karaffe mit frischem heißen Kaffee aus dem Synthesespender im Korridor und kehrte in ihr Büro zurück. Solange sie noch ihre Eindrücke von Jilets Fall frisch im Gedächtnis hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch, um die Daten in ihre vertraulichen Dateien einzugeben. Sie war davon überzeugt, daß er mit der Zeit vollständig genesen würde. Nach seinem Erwachen aus dem Kälteschlaf war er offensichtlich von Experten beraten worden. Wer immer die Psychologen gewesen waren, die ihn betreut hatten, sie verstanden unzweifelhaft etwas von Rehabilitationsarbeit.

Jilets Platzangst war von einem Arbeitsunfall ausgelöst worden. Lunzie fragte sich unbehaglich, wie viele latente Agoraphobien unter den Raumfahrern vorkamen, die einfach noch nicht dem entsprechenden Reiz ausgesetzt worden waren, um sich bemerkbar zu machen. Andere Mannschaftsmitglieder konnten schon am Rande eines Zusammenbruchs stehen. Hatten andere schon Symptome gezeigt?

Lunzie schob den Gedanken sofort beiseite. Sie kam verdrießlich zu dem Schluß, daß sie sich selbst Angst machte. »Ich muß mich bald selbst wegen Paranoia behandeln lassen, wenn ich nicht aufpasse.« Aber das Unbehagen blieb. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Lunzie, daß Fiona bei ihr wäre. Sie hatte immer alles mit Fiona besprochen, selbst als sie noch ein Kleinkind war. Lunzie drehte das Hologramm in ihren Händen. Der Mädchen wurde größer und veränderte sich. Sie war schon so groß wie ihre Mutter. »Sie wird eine Frau sein, wenn ich zurückkomme.« Lunzie vermutete, ihre Unzufriedenheit rührte daher, daß ihr ein gutes Gespräch fehlte. In ihrer entlegenen Kabine war es zu einsam. Wenn ihre ›Bürostunden‹ vorüber waren, ging sie gern in den Erholungsraum, um zu sehen, ob noch jemand Pause machte.

Auf einmal bemerkte Lunzie, daß das unaufhörliche Summen der Triebwerke schriller klang. Das übliche Surren hatte einen fast panischen Unterton angenommen. Zwei weitere grollende Töne kamen hinzu, die die Vibrationen derart verstärkten, daß Lunzie die Zähne klapperten. Die Mannschaft versuchte das Dorsal- und das Ventraltriebwerk zu zünden!

»Achtung an alle«, dröhnte Captain Cosimos Stimme. »Dies ist ein Notalarm. Wir laufen Gefahr, mit einem unbekannten Objekt zu kollidieren. Bereitet euch auf eine Evakuierung vor. Keine Panik. Begebt euch alle ruhig auf eure Stationen. Wir versuchen ein Ausweichmanöver, aber es könnte uns mißlingen. Dies ist keine Übung.«

Lunzie riß die Augen auf und wandte sich dem Monitor auf ihrem Schreibtisch zu. Der Computer schaltete automatisch auf die Bugkameras um und zeigte, was der Pilot auf der Brücke sah: ein halbes Dutzend unregelmäßig geformter Asteroiden. Zwei davon näherten sich von zwei Seiten dem Schiff wie die Backen einer Zange oder wie ein Hammer, der auf einen Amboß niederfuhr, und trieben eine Wolke Bruchstücke vor sich her. Das riesige Schiff, das nur mit einem seiner drei Haupttriebwerke flog, hatte nicht genug Platz, um allen auszuweichen. Normalerweise ließen sich die Flugbahnen von Asteroiden vorausberechnen. Der Flugplan eines Schiffes berücksichtigte allen bekannten Weltraumschutt. Bei der letzten Überprüfung war diese Route frei gewesen. Diese Asteroiden mußten zusammengestoßen sein und dabei abrupt ihre Flugbahn in Richtung der Nellie Mine geändert haben. Der riesige Frachter war zu schnellen Wenden nicht in der Lage, und es gab keine Möglichkeit, sämtlichen Bruchstücken auszuweichen. Ein Zusammenstoß mit den taumelnden Felsbrocken stand unmittelbar bevor.

Einer der Asteroiden geriet außer Sicht der Fernkameras, und Lunzie wurde aus ihrem Stuhl geschleudert, als das riesige Schiff alle Steuerbord-Booster zündete, um eine Kollision zu vermeiden. Ein Krachen hallte durch den Korridor, und der Boden erbebte. Eins der kleineren Bruchstücke mußte das Schiff getroffen haben.

Die roten Alarmleuchten im Korridor gingen aus. »Evakuieren!« rief die Stimme des Captains. »Wir bekommen die Triebwerke nicht an. Alle raus hier!«

Als das Signalhorn tönte, versuchte Lunzie sich auf ihre mentale Disziplin zu besinnen. Sie schärfte sich ein, daß sie ruhig bleiben und sich an alles erinnern mußte, was sie für Alarmstufe Rot gelernt hatte. Die Checkliste lief an ihrem geistigen Auge vorbei wie über einen Computerbildschirm. Vergewissere dich, daß alle Verletzten und alle, die zu jung sind, um für sich selbst zu sorgen, in Sicherheit sind, dann rette dich selbst – aber vor allem: verschwende keine Zeit! Lunzie hielt gerade lang genug inne, um Fionas Hologramm vom Schreibtisch zu greifen und in eine Tasche zu stecken, bevor sie in den Korridor hinausstürzte und auf die Fluchtkapsel für ihr Deck zulief.

Das Mannschaftsdeck war ein gebogener Bereich von einem Deck Höhe hoch über dem Äquator des kugelförmigen Frachters. Wenn das Schiff Fracht transportierte, konnten achtzig Besatzungsmitglieder in den zwanzig kleinen Schlafkabinen untergebracht werden, von denen je zehn auf beiden Seiten der Gemeinschaftsräume lagen. Im Korridor führten in regelmäßigen Abständen runde Luken in festverankerte Fluchtkapseln. Lunzies Büro befand sich am äußersten linken Ende des Mannschaftsdecks.

Ein Ruck durchfuhr das Schiff. Es war noch einmal getroffen worden, diesmal von einem größeren Bruchstück. Mit einem lauten Rauschen brachten Sauerstoffgebläse und Kompressoren wegen eines Risses im Rumpf die Luft in Bewegung. Schotts knallten zu. Alle Lichter im Korridor gingen aus, und an einer Wand blinkten hellrote LEDs um die Luke der Fluchtkapsel, die sich zu einem grellen Lichtspalt öffnete, als Lunzie darauf zulief.

Sie verharrte an der Luke und blickte durch den langen Korridor zum Zentrum des Mannschaftsdecks, um zu sehen, ob jemand ihr an Bord dieser Kapsel folgen wollte. Ihr Herz pochte vor Angst und Ungeduld. Die Irisluke der Kapsel schloß sich automatisch und löste den Start aus, wenn nach dreißig Sekunden niemand mehr in die Kapsel stieg, also zwang sich Lunzie, zu warten. Sie wollte sichergehen, daß sich niemand in diesem Bereich aufhielt, den sie zurücklassen würde, wenn sie in dieser Kapsel allein startete.

Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch den Korridor, dann ein Donnern wie ein Gewitter. Ein Felsbrocken von der Größe ihres Kopfes durchschlug dreißig Meter weiter das Schott und schnitt Lunzie vom Rest der Mannschaft ab. Lunzie duckte sich unter die Splitter weg und packte mit beiden Händen den Rand der Luke, als das Vakuum die Schiffsatmosphäre durch den Riß in der Hülle hinaussaugte. Mit aufeinandergebissenen Zähnen klammerte sie sich an die Metallkante und sah Möbel, Kleidung, Kaffeetassen und Atmosphärenanzüge auf den Riß zufliegen. Die Temperatur sank unter den Gefrierpunkt, und binnen Sekunden schlug sich Reif auf Lunzies Ringe und Manschetten und auf ihre Augenbrauen, Wangen und Lippen nieder. Ihre Hände wurden taub vor Kälte. Lunzie hatte keine Ahnung, wie lang sie sich noch halten konnte, bis auch sie durch dieses Loch in den Weltraum hinausgesaugt wurde. Sie würde sterben, daran hatte sie keinen Zweifel. Doch dann geschah ein Wunder.

Sie hörte ein lautes Reißen, und ihr Stuhl und Schreibtisch flogen aus der Bürotür, prallten kurz hintereinander von der gegenüberliegenden Wand ab und klirrten auf den Riß in der Hülle. Die Büromöbel ließen die orkanartigen Winde für einen Moment abflauen. Lunzie ergriff die Gelegenheit, sich selbst zu retten. Sie tauchte mit dem Kopf voran durch die Luke, kauerte sich zusammen und landete unverletzt zwischen den Reihen von Dämpfungssitzen. Sie rappelte sich auf, schlug mit der Faust auf die manuelle Steuerung neben der Tür und kroch zum Steuerpult. Sie machte sich nicht die Mühe, sich erst anzuschnallen, ehe die Kapsel in den Weltraum hinausjagte.

Die Kapsel schoß aus der Flanke der Nellie Mine hervor. Lunzie wurde in der winzigen Kabine umhergewirbelt. Sie bekam die Handschlaufen zu fassen, zog sich in den Pilotensitz und schnallte sich an.

Der massige Rumpf des Frachtschiffs sah vor dem Hintergrund der Sterne wie ein weiterer Asteroid aus. Auf dem kurzen Streifen der Mannschaftsunterkünfte, der einen 60°-Abschnitt der Schiffsmitte umspannte, blitzten Lichtfunken auf, als der Rest der Mannschaft in Kapseln wie ihrer evakuiert wurde. Sie bedauerte, daß niemand Gelegenheit gehabt hatte, sich zu ihr in die Fluchtkapsel zu retten, um ihr Gesellschaft zu leisten, bis sie geborgen wurde. Aber wenn im Weltraum der Alarm tönte, mußte man einfach los oder sterben.

Sie sah jetzt, wo der riesige Asteroid die Nellie getroffen hatte. Er hatte einen großen Teil der Mannschaftsunterkünfte auf der anderen Seite weggerissen, die Hülle zerbeult, und war auf einem tangentialen Kurs davongetrudelt. Der zweite Asteroid, der fast die Größe eines Mondes hatte, würde noch größeren Schaden anrichten. Das Schiff, das immer noch vom Autopiloten gesteuert wurde, zündete alle Lenkdüsen auf einer Seite, damit der ausgezackte Felsen es nur streifte und nicht frontal mit ihm zusammenstieß. Lunzie sah fasziniert und entsetzt zu, wie die beiden gewaltigen Körper sich berührten und miteinander verschmolzen.

Ihre kleine Kapsel wurde mit zunehmender Geschwindigkeit hinausgeschleudert, doch die Druckwelle der Explosion war noch sehr viel schneller, als die überlasteten inneren Triebwerke die Täfelung der Mannschaftsunterkünfte sprengten, die Isolation explodieren ließ und die Trümmer aus dem steuerlosen Rumpf blies. Bruchstücke rotglühender Rumpfverkleidung schossen an Lunzie vorbei, von denen einige ihr kleines Boot nur um wenige Meter verfehlten. Der Planetoid wurde nur leicht von seinem Kurs abgelenkt.

Lunzie ließ den Atem ab, den sie angehalten hatte. Die Katastrophe hatte sich so schnell ereignet. Seit dem Alarm waren nur wenige Minuten vergangen. Ihre mentale Disziplin hatte ihr gute Dienste geleistet – sie hatte schnell und entschlossen gehandelt. Sie wurde von ihren Meistern als eine geborene Kandidatin eingeschätzt, die schon sehr viel aus eigenem Antrieb erreicht hatte. Eine Grundausbildung in mentaler Disziplin wurde allen Ärzten und Flottenoffizieren mit Befehlsgewalt und darüber empfohlen, vor allem jenen, die mit gefährlichen Situationen konfrontiert wurden – so wie dieser. Im Laufe der Jahre hatte Lunzie den Adeptenrang erreicht. Es war ein Jammer, daß sie nach ihrer Ankunft auf Tau Ceti ihren Unterricht nicht hatte fortsetzen können. Lunzie war dankbar für die Unterweisung, die ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, aber ihr war auch klar, daß ihre Kapsel noch mindestens zwei Wochen Reisezeit von der Bergbauplattform entfernt war. Sie schaltete das Komgerät ein und beugte sich über das Mikro.

»Mayday, Mayday. Hier ist die Nellie Mine, Shuttle Nr. NM-EC-02. Ich wiederhole, Mayday.«

Aus dem Lautsprecher knisterten statische Entladungen. Doch darunter mischte sich eine Stimme. Das Knistern ließ allmählich nach, und sie hörte deutlich einen Mann sprechen. »Ich höre Sie, EC-02. Hier ist Captain Cosimo in EC-04. Sind Sie das, Lunzie?«

»Ja, Sir. Haben es alle überstanden?«

»Ja, verflucht. Alle sind erfaßt worden, mit Ausnahme von Ihnen. Wir dachten schon, wir hätten Sie verloren, als der Schadensdienst einen Durchbruch in Ihrem Bereich meldete. Das war vielleicht ein Knall. Ich habe gewußt, daß es eines Tages passieren würde. Die arme alte Nellie. Sind Sie in Ordnung?«

»Mir ist nichts passiert.«

»Gut. Wir haben Signale gesendet, aber es ist niemand in unmittelbarer Reichweite. Vor der Explosion haben wir Descartes 6 verständigt, daß man jemand nach uns schicken soll. Stellen Sie Ihr Signalfeuer auf 34.8.«

Lunzie fand die Knöpfe und tippte das Kommando ein. »Wie lang wird es dauern, bis sie uns erreichen, Cosimo?«

Es knisterte wieder aus dem Lautsprecher, und die Stimme des Captains klang hinterher leiser. »… Interferenzen von dem brennenden Asteroiden. Es wird mindestens zwei Wochen dauern, bis die Nachricht sie erreicht, und ich schätze, sie werden noch vier Wochen brauchen, um uns zu finden. Ich befehle unseren Leuten, in den Kälteschlaf zu gehen, Doktor. Irgendwelche Anmerkungen oder Einwände?«

»Nein, Sir. Ich bin Ihrer Meinung. Es wäre eine zu große emotionale Belastung, wenn so viele Menschen sechs Wochen lang bei vollem Bewußtseins so eng aufeinanderhocken müßten, selbst wenn die Synthesegeräte und Recycler so lang funktionieren.«

»Ganz sicher. Es sind zwei Kameraden in diesem Shuttle, darunter ein Ryxi, der dauernd über seine verdammten Eier und Klaustrophobie schwafelt. Ich wünschte, Sie wären hier, um die Kälteschlafprozedur zu überwachen, Doktor. Hypodermische Kompressoren machen mich nervös.« Cosimo klang nicht im mindesten beunruhigt, aber Lunzie war ihm dankbar, daß er sie bei Laune hielt.

»Halb so wild«, sagte sie. »Nicht vergessen, immer mit der Spitze nach unten.«

Mit einem herzhaften Lachen unterbrach der Captain die Verbindung.

Der Medizinschrank des Shuttles enthielt einige Ampullen mit Medikamenten: Beruhigungs- und Stärkungsmittel und die Kälteschlafmischung einschließlich ihres Gegenmittels. Lunzie entfernte den Injektor aus seiner Halterung und legte eine Ampulle mit der kryogenischen Substanz ein. Sie würde nur wenige Augenblicke warten müssen, bis die Mischung wirkte, deshalb legte sie einige Wärmedecken übereinander und stopfte sich einige weitere als Kissen unter den Kopf. Sie tippte Anweisungen in den Schiffscomputer ein und hinterließ für ihre Retter Angaben über ihre Identität, Allergien, Angehörige und ihren Heimatplaneten. Als alles vorbereitet war, legte sich Lunzie auf die Decken nieder. Sie spürte, daß der Adrenalinschub, den sie ihrer mentalen Disziplinierung verdankte, langsam nachließ. Binnen Sekunden war sie erschöpft und ausgelaugt, ihre ganze Kraft verflogen. In einer Hand hielt sie den Injektor, in der anderen das Hologramm ihrer Tochter.

»Computer«, befahl sie. »Überwache Lebenszeichen und initiiere die Kälteschlafprozedur, wenn mein Puls Null erreicht.«

»Verstanden«, erwiderte die mechanische Stimme. »Wird erledigt.«

Ihr Befehl war unnötig, denn das Modul war darauf programmiert, die Kälteschlafprozedur allein zu beenden, aber Lunzie wollte unbedingt eine andere Stimme hören, die Standard sprach. Sie wünschte, im Korridor des beschädigten Frachtschiffs wäre ihr jemand nah genug gewesen, um mit ihr in die Kapsel zu steigen. Nach ihrer theoretischen Ausbildung würde dies das erste Mal sein, daß sie die kryogenische Prozedur selbst durchmachte. Lunzie betrachtete mit einem Lächeln das Hologramm ihrer Tochter. »Da werde ich dir von einem Abenteuer erzählen können, wenn ich dich wiedersehe, mein Liebling.« Sie drückte sich die Mündung des Injektors an die Hüfte. Es zischte, und die Droge breitete sich zügig in ihrem Körper aus. Wo sie wirkte, fühlte sich Lunzies Gewebe bleischwer und die Haut heiß an. Obwohl es ein unangenehmes Gefühl war, wußte sie, daß die Prozedur keinen Schaden anrichten konnte. »Initiiere Kälteschlaf«, nuschelte sie dem Computer zu. Ihre Zunge und ihren Unterkiefer konnte sie schon nicht mehr richtig bewegen. Lunzie spürte, wie ihr Puls sich verlangsamte und ihre Nervenreaktionen immer träger wurden. Selbst ihre Lungen wurden zu schwer, um Luft ein- oder auszuatmen.

Ihre letzten bewußten Gedanken galten Fiona, und sie hoffte, daß das Rettungsshuttle nicht zu lang brauchen würde, um auf den Notruf zu antworten.

Alle Lichter des Shuttles, mit Ausnahme der äußeren Blinklichter und des Leuchtfeuers, gingen aus. Im Innern füllte kalter kryogenischer Dunst die winzige Kabine aus und umwirbelte Lunzies reglose Gestalt.