siebtes kapitel
Lunzie schlug die Augen auf und schloß sie gleich wieder, weil ihr ein grelles Licht ins Gesicht schien.
»Entschuldigen Sie, Doktor«, sagte eine ruhige Männerstimme trocken. »Ich habe mir gerade Ihre Pupillen angesehen, als Sie aufgewacht sind. Hier …« Ein Tuch wurde ihr über die Hand gelegt, die die Augen bedeckte. »Sie müssen sich nach und nach an das Licht gewöhnen. Es ist nicht sehr stark.«
»Die Türklemme hat mich an der Brust getroffen«, erinnerte sich Lunzie. »Ich muß mir ein paar Rippen gebrochen haben, aber dann bin ich mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufgeschlagen, und … Ich schätze, dabei habe ich das Bewußtsein verloren.« Mit der freien Hand tastete sie sich den Brustkorb ab. »Das ist komisch. Sie fühlen sich nicht so an, als hätte ich etwas abbekommen. Stehe ich unter örtlicher Betäubung?«
»Lunzie?« fragte eine andere Stimme zaghaft. »Wie fühlst du dich?«
»Tee?« Lunzie riß das Tuch weg und setzte sich auf. Von der plötzlichen Änderung des Blutdrucks schwindelte ihr. Starke Arme fingen sie auf und hielten sie fest. Sie blinzelte ins grelle Licht, bis sie die beiden Gesichter deutlich erkennen konnte. Der Mann links war ein kleiner, kräftig gebauter Fremder, ein medizinischer Offizier, der ein Rangabzeichen der Flotte trug. Der andere war Tee. Er nahm ihre Hand in seine und küßte sie. Sie umarmte ihn und plapperte fassungslos vor sich hin.
»Was machst du hier? Wir sind zehn Lichtjahre von Astris entfernt. Moment mal … wo sind wir hier eigentlich?« Lunzie kam plötzlich wieder zu sich und sah durch den Untersuchungsraum, dessen Wände aus poliertem Edelstahl bestanden. »Das ist nicht die Ambulanz.«
Der Fremde antwortete ihr. »Sie befinden sich auf dem Flottenschiff Ban Sihde. Ihr Schiff ist havariert. Erinnern Sie sich daran? Sie wurden verletzt und in den Kälteschlaf versetzt.«
Lunzies Gesicht wurde leichenblaß. Sie bat Tee mit einem Blick um Bestätigung. Er nickte schweigend. Sie bemerkte, daß sein Gesicht etwas faltiger war als zu dem Zeitpunkt, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und seine Haut blaß. Die Veränderungen schockierten und besorgten sie. »Wie lang?«
»Zehn Jahre, drei Monate«, sagte der Flottenmediziner schroff. »Ihre Erste Offizierin wurde erst vor kurzem abgelöst. Sie und der Captain sind die ganze Zeit wach gewesen und haben das Signalfeuer gewartet. Wir hätten das Schiff um ein Haar übersehen. Es ist etwa sechzehn Prozent tiefer in die Atmosphäre von Carsons Riesen eingedrungen als zu dem Zeitpunkt, als der Notruf gesendet und die Fluchtkapseln gestartet wurden. Der Orbit wird immer enger. Es sieht jetzt wie ein riesiges Stück Schrott aus. Destiny hat entschieden, daß es nicht geborgen werden soll. In etwa fünfzig Jahren wird es in das Methan abstürzen. Schade drum. Es ist ein recht ansehnliches Schiff.«
»Nein!« keuchte Lunzie.
Der Mediziner klang fröhlich. »Sie haben nur ein bißchen Zeit verloren. Das passiert etwa einem Fünftel des Flottenpersonals einmal in seiner Karriere. Sie dürften keine Beschwerden haben. Was ist denn los?« Er schloß die Hand fest und professionell um ihr Handgelenk.
»Mir ist es jetzt das zweite Mal passiert«, stammelte Lunzie. »Ich hätte nicht gedacht, daß es mir noch einmal zustoßen könnte. Zwei Raumunfälle in einem Leben. Bei Muhiah!«
»Zweimal? Großer Gott, da hatten Sie wirklich mehr als Pech.« Er ließ ihre Hand los und fuhr mit einem Scanner über ihre Brust. »Alles normal. Sie haben sich schnell erholt. Sie müssen sehr stark sein, Doktor.«
»Du brauchst Essen und Bewegung«, sagte Tee. »Darf ich sie mitnehmen, Harris? Gut. Geh mit mir durchs Schiff. Wir haben alle siebenundvierzig Mannschaftsmitglieder gerettet, die zurückgeblieben sind, und zwei Passagiere. Einer von ihnen war dafür verantwortlich, daß wir nach dir gesucht haben.«
»Was? Wer ist denn mit uns an Bord geblieben?«
»Admiral Coromell. Komm. Gehen wir in die Messe, dann erzähl ich’s dir.
Du warst kaum weg, als ich anfing, mir Sorgen zu machen«, erklärte Tee und verabreichte Lunzie einen dringend benötigten Muntermacher. Sie programmierten den Synthesizer mit ihren Menüs und setzten sich an einen Tisch an einer Wand des großen Saals. Die Wände waren weiß gestrichen. Lunzie fiel auf, daß es in den Gemeinschaftsräumen der Flottenschiffe offensichtlich nur zwei verschiedene Einrichtungsstile gab, polierten Stahl oder mattes keramisches Weiß. Sie hoffte, daß die Kojen etwas wohnlicher waren. Langeweile rief ihre speziellen Weltraumkrankheiten hervor. »Ich wußte, daß etwas nicht stimmte, hatte aber keine Ahnung, was es sein mochte. In zwei Jahren hattest du mir nur einmal geschrieben. Der AT-Techniker sagte mir, es sei die einzige Nachricht gewesen, die in der ganze Zeit deinem Zugangscode berechnet wurde.«
Nachdem sie das milde Stimulans getrunken hatte, fühlte Lunzie sich schon viel munterer. »Wie hast du das gemacht? Die Astris Telekom gibt solche Informationen gewöhnlich nicht heraus.«
Tee lächelte, und seine warmen Augen strahlten. »Shof und ich sind Freunde geworden, während du weg warst. Er und Pomayla wußten, wie einsam ich ohne dich war, so wie sie auch. Ich habe ihm viel über die praktische Anwendung der Lasertechnik beigebracht, und dafür hat er mir Einblick in die Computertricks gegeben, die er und seine Freunde ausgetüftelt haben. Er hat sehr gern von mir gelernt. Ich glaube, er hat bei seinem Techniklehrer einige Punkte gutgemacht, weil er detaillierte Berichte über die frühesten Prototypen des Systems abliefern konnte. Oh, und ich sollte dir ausrichten, daß er mit Auszeichnung abgeschlossen hat.« Er seufzte. »Das ist natürlich schon acht Jahre her. Er hat mir zum Abschluß ein Ticket geschickt. Ich habe ihn mit dem Rest der Bande besucht, der noch studierte, und wir haben hinterher eine Party gefeiert, wo mit gutem Wein auf dich angestoßen wurde. Ich habe dich furchtbar vermißt.«
Lunzie bemerkte die leichte Betonung auf »habe«, beachtete sie aber nicht weiter. Es schien sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan zu haben, aber das war nach all der Zeit, die vergangen war, wohl nicht anders zu erwarten. Zehn verlorene Jahre bedeuteten nicht einen solchen Schock wie zweiundsechzig, denn immerhin konnte sie die verstrichene Zeit überschauen. »Freut mich, daß Shof es geschafft hat. Danke, daß du’s mir ausgerichtet hast. Aber wie bist du hierhergekommen?«
»Es lag an dem Video, das du mir geschickt hast, und die Tatsache, daß du danach nichts mehr geschickt hast. Das hat mich stutzig gemacht. Du bist mir so glücklich vorgekommen. Du hast von vielen Dingen erzählt, die dir an Bord aufgefallen waren. Die Kabine, in der du gelebt hast, war der Tagtraum eines Reichen. Die anderen Ärzte waren nette Leute und hatten eine professionelle Einstellung. Du hattest gerade in dem Salzwassermilieu unter Wasser ein Delphinbaby auf die Welt gebracht. Du hast mich vermißt. Das war alles. Wenn du mir hättest sagen wollen, daß du einen anderen kennengelernt hast und es mit uns vorbei ist, hättest du eine zweite Nachricht geschickt. Du bist manchmal schwer zu durchschauen, Lunzie, aber nie unhöflich.«
»Nun ja«, sagte Lunzie und führte einen Bissen Kartoffelgratin zum Mund. »Ich umgebe mich nicht gern mit Luxus, aber du hast recht. Dann haben mir also meine guten Manieren das Leben gerettet? Meine Güte, nach dem Essen auf der Destiny ist dieses Menü ein regelrechter Schock. Es ist nicht schlecht, will ich damit sagen.«
»Nicht schlecht, nur uninteressant. Wie ich die Kochecke in unserem Apartment vermisse!« Tee blickte zur Decke. »Solange ich lebe, werde ich mich nie ganz an Synthetiknahrung gewöhnen. Von der Wasserkultur oben bekomme ich manchmal etwas frisches Gemüse für uns. Ich weiß nie, wann ich das nächste Mal etwas auf den Teller bekomme, das richtig gewachsen und nicht aus Kohlenhydratmolekülen zusammengesetzt worden ist.«
»Für uns?« Erst jetzt wurde Lunzie darauf aufmerksam, daß Tee eine Uniform trug. »Bist du auf der Ban Sidhe stationiert, Tee?«
»Vorübergehend, ja, aber das kommt erst am Ende der Geschichte, nicht am Anfang. Ich erzähl dir erst, was sonst noch passiert ist:
Ich bin nicht informiert worden, als das Raumschiff vermißt gemeldet wurde. Immer, wenn ich mich bei Destiny erkundigte, warum ich keine Nachrichten mehr von dir erhielt, wurde mir gesagt, daß interstellare Post nun einmal langsam ist und du vielleicht zu beschäftigt warst, um mir zu schreiben. Das konnte ich eine Zeitlang hinnehmen. Es dauert eine Weile, bis ein Nachrichtenspeicher von Alpha auf Astris eintrifft. Aber nach über zwei Jahren hätte ich doch schon von dir erfahren müssen, wie dein Treffen mit Fiona gelaufen ist. Selbst«, fügte Tee unsicher hinzu, »wenn’s nicht mehr als ein Dankeschön für mich als deinem Sachbearbeiter gewesen wäre.«
»Wenn überhaupt jemand, dann hattest du ein Recht darauf, alles über unser Wiedersehen zu erfahren. Ich schulde dir viel mehr als das. Oh, ich habe dich vermißt, Tee. Großer Gott!« Lunzie faßte sich an den Kopf. »Wieder zehn Jahre verloren! Man hat mich erwartet. Fiona mußte vielleicht wieder zum Eridani aufbrechen! Ich muß Lars verständigen.«
Tee tätschelte ihre Hand. »Ich habe ihm schon eine Nachricht geschickt. Du müßtest bald eine Antwort bekommen.«
»Danke.« Lunzie rieb sich die Augen. »Ich bin immer noch etwas benebelt. Wahrscheinlich hatte ich eine Gehirnerschütterung, als man mich ins Eisfach gesteckt hat. Dein Doktor hätte am besten erst einmal den Schädel scannen sollen.«
»Brauchst du noch einen Muntermacher?« fragte Tee besorgt.
»O nein. Nein, danke. Einer reicht mir. Destiny meinte also, alles sei in Ordnung und nur die Post brauche ihre Zeit. Hörst sich so an, als hättest du es mit einem faulen Hund zu tun gehabt.«
Tee brachte ihre Tabletts weg und trug eine Kanne dampfenden Kräutertee an ihren Tisch. »Ja, ganz richtig, aber ich hatte keinen Beweis dafür. Ich habe ihm geglaubt, bis ich in einer 3d-Übertragung gesehen habe, daß die Destiny Calls in einem Ionensturm verschollen ist. Die Destiny Line hatte die Passagiere gerettet, die in Fluchtkapseln rausgeschossen wurden.
Einige wurden von den 3d-Sendern interviewt. Aber auch danach habe ich noch nichts von dir gehört. Von da an habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, was passiert ist. So wie es dir mit Fiona ergangen ist, habe ich eine Pleite nach der anderen erlebt. Niemand wußte, was mit der Destiny Calls geschehen ist, nachdem sie ihren ersten Zwischenstopp nach Astris verlassen hat. Die Mitarbeiter der Destiny Line behaupteten, sie würden mir gerne helfen, aber ich habe nie eine klare Auskunft von ihnen erhalten. Ich bestand darauf, daß sie für eine Suche bezahlen, um das Schiff zu bergen. Ich sagte ihnen, daß du noch an Bord sein mußt.«
»Das stimmt auch. Es sind viele Mannschaftsmitglieder verletzt worden, als alles zusammenbrach, und ich konnte sie nicht allein lassen.« Tee nickte. »Weißt du schon davon?« fragte Lunzie.
»Die Offizierin hat von dem Tag an, als der Strom auffiel, ein handschriftliches Logbuch auf Printfolien geführt und die Dateien in einem Textverarbeitungsprogramm gespeichert, sobald die Terminals wieder hochgefahren wurden. Als wir die Destiny erreichten, liefen die wichtigsten Systeme wieder, aber das Interface zwischen dem Maschinenraum und den Triebwerken war zerstört. Ich habe es mir selbst angesehen. Selbst für meine Begriffe war das System primitiv.«
»Wie konnte die Destiny Line ein Militärschiff dazu veranlassen, sich an der Suche nach einem kommerziellen Schiff zu beteiligen?« fragte Lunzie neugierig und pustete in ihre Tasse, um den Tee abzukühlen.
»Sie haben nicht darum gebeten. Ich hatte das Gefühl, daß etwas faul war an ihren Beteuerungen, die Suche käme gut voran. Mit Hilfe meiner eigenen Beziehungen – und einigen Tricks, die mir Shof beigebracht hat –, habe ich herausgefunden, daß der Paraden-Konzern die Versicherung der Destiny Calls in Anspruch genommen hat und sich dabei auf die Aussagen der geretteten Passagiere berief, um zu beweisen, daß das Schiff verunglückt ist. Die Suche war nur ein Vorwand, um die Versicherungsleute zu überzeugen! Der Konzern hatte die Leute bereits abgeschrieben, die sich noch an Bord befanden, darunter dich. Ich war wütend. Ich habe persönlich die Büros auf der anderen Seite von Astris aufgesucht und war entschlossen, alles kurz und klein zu schlagen, wenn nicht ernsthaft nach dem Schiff gesucht würde. Ich bin den ganzen Tag lang dort geblieben und habe jeden angeschnauzt, der hereinkam und einen Flug buchen wollte. Ich bin sicher, ich habe Dutzende potentieller Passagiere abgeschreckt. Sie wollten mich entfernen lassen, weil ich ihr Geschäft schädigte, aber ich sagte ihnen, daß ich nicht gehen würde. Wenn sie einen Ordnungshüter riefen, würde ich in meiner Aussage die ganze Geschichte erzählen, und es würde sich draußen schnell herumsprechen – was ihrem Geschäft noch größeren Schaden zugefügt hätte.
Ich war nicht der einzige, der auf die Idee gekommen ist, dort persönlich aufzutauchen. Am nächsten Morgen habe ich dort Commander Coromell getroffen.«
»Commander Coromell? Das ist der Sohn des Admirals! Ich hatte keine Ahnung, daß er sich auf Astris aufhält.«
»Es war das nächstgelegene Büro der Destiny Lines, als er die Nachricht erhielt. Er und ich haben auf gegenüberliegenden Seiten im Empfangszimmer Platz genommen und schweigend darauf gewartet, daß einer der Konzemlakaien uns neue Lügen auftischt. Gegen Mittag haben wir uns beraten und unsere Notizen verglichen. Die Menschen, die wir vermißten, befanden sich auf dem gleichen Schiff. Der Tag ging vorbei, und es wurde deutlich, daß der Manager der Destiny Lines uns nicht empfangen wollte. Daraufhin haben wir uns zusammengetan und beschlossen, rechtliche Schritte gegen den Konzern einzuleiten.
Aber es war leider schon zu spät. Die Versicherungsgesellschaft hatte bereits gezahlt, und der Konzern war nicht daran interessiert, die Kosten für eine Suchaktion aufzubringen. Man war lediglich bereit, uns den Höchstbetrag auszuzahlen, der uns für den Verlust eines Angehörigen zusteht, mehr aber nicht. Coromell war außer sich. Er hat politische Schläge ausgeteilt und sich auf die Heldentaten seines Vaters und sein eigenes Ansehen berufen, um die Flotte einzuschalten. Die Flotte hat schließlich die Ban Sidhe für die Suche abgestellt. Admiral Coromell ist ein großer Held, und der Gedanke, ihn zu verlieren, gefiel den Verantwortlichen nicht.«
»Tolle Arbeit. Du solltest dir ein paar seiner Geschichten anhören. Wie bist du an Bord gekommen? Ich dachte, du dürftest keinen Posten auf einem Raumschiff antreten.«
»Dazu waren noch einige politische Schachzüge erforderlich. Commander Coromell ist ein sehr einflußreicher Mann. Seine Familie blickt auf eine lange, ehrenvolle Geschichte in der FES-Flotte zurück. Er hat meine Dienstakte neu geöffnet und meine Beförderung arrangiert. Commander Coromell hat mir die Chance gegeben, in den Weltraum zurückzukehren. Von dieser Chance habe ich immer geträumt, aber nie gedacht, daß ich sie wirklich bekommen würde. Ich bin ihm sehr dankbar.«
»Ich auch. Ich hätte nie gedacht, dich so bald wiederzusehen«, sagte Lunzie und berührte Tees Hand.
»So bald war es auch nicht«, erwiderte Tee traurig. »Wir haben viele Sprünge durch dieses System unternommen und sind dabei dem mutmaßlichen Kurs der Destiny Calls gefolgt. Es war meine Freundin Naomi, die als erste den Magnesiumausstoß auf der abgewandten Seite des Planeten bemerkt und uns dazu veranlaßt hat, den Gasriesen zu untersuchen. Ihr hättet nicht dort sein dürfen«, tadelte er.
Lunzie hob empört die Augenbrauen. »Du weißt doch wohl, daß wir uns vor einem Ionensturm in Sicherheit bringen mußten«, erwiderte sie. »Es war ein kalkuliertes Risiko. Wenn wir nur ein wenig früher oder ein wenig später in dieses System gesprungen wären, hätte uns der Sturm nichts anhaben können.«
»Du hast wirklich Pech gehabt, aber jetzt bist du in Sicherheit«, sagte Tee sanft, stand auf und streckte eine Hand nach ihr aus. »Komm, es wird Zeit für dich, den Rest der Destiny-Mannschaft wiederzusehen.«
* * *
»Das Schiff ist völlig hinüber. Ohne ein Back-up vom Hauptrechner eines der anderen Schiffe wird uns die Kiste nicht verraten können, wo’s ihr weh tut, geschweige denn, was wir reparieren müssen«, erklärte Ingenieur Perkin trübsinnig.
»Gelten in diesem Fall die Bergungsrechte?« wollte einer der jungen Flottenoffiziere wissen und senkte verlegen den Blick, als sich ihm alle zuwandten. »Entschuldigung. Ich wollte nicht gierig klingen.«
»Zum Teufel, die Destiny Lines hatte uns doch schon aufgegeben«, sagte Sharu, die Erste Offizierin, und tat den Fauxpas mit einem Wink ab. »Nehmt euch, was ihr gebrauchen könnt, aber laßt uns bitte unsere persönliche Habe. Wir erhaben außerdem Anspruch auf Wertgegenstände, die von unseren Passagieren zurückgelassen wurden.«
»Ich … ich habe an frische Lebensmittel gedacht«, stammelte der Leutnant. »Mehr nicht.«
»Ach so.« Sharu grinste. »Die hydroponischen Anlagen sind noch intakt, Leutnant. Dort wächst genug, um Tausende Menschen zu ernähren. Die Grapefruits sind gerade reif. Außerdem die Papayas, Blattsalate, Stachelbeeren, Artischocken, Trauben, fünf Tomatensorten und etwa hundert verschiedene Kräuter. Und jeden Tag wird etwas Neues reif. Wir haben im Exil gut gegessen. Bedient euch.«
Die jungen Offiziere am Tisch jubelten, und einer warf seine Mütze in die Luft. Die älteren Offiziere lächelten nur.
»Wir nehmen Ihr freundliches Angebot gern an«, sagte der Flottenkapitän und lächelte freundlich. »Wie jedes andere Schiff, dessen Hauptanliegen es ist, keine überflüssige Fracht zu transportieren, beschränkt sich unsere Wasserkultur auf das, was zur Gesunderhaltung eines Organismus als unbedingt nötig erachtet wird.«
»Captain Aelock, wir schulden Ihnen viel mehr als ein paar Kisten Grünzeug. Ich bin mir sicher, wenn Captain Wynline mit Ihren Leuten vom Wrack der Destiny zurückkommt, wird er dasselbe sagen. Er wird vielleicht sogar persönlich dabei helfen, Aggregate auszubauen. Zu behaupten, daß er das Schiff nur sehr ungern aufgibt, ist eine maßlose Untertreibung. Ah, Lunzie! Geht’s Ihnen schon besser?« Sharu lächelte, als Lunzie und Tee eintraten, und bedeutete der Ärztin, sich neben sie zu setzen.
»Mir geht’s gut, danke.«
»Es scheint, wir verdanken unsere Rettung der Beharrlichkeit von Fähnrich Janos. Ist das richtig?«
»Teilweise«, sagte Tee bescheiden. »Eigentlich müssen wir uns bei Commander Coromell bedanken.«
»Ich bin allen dankbar. Ich habe einige der Fundstücke für Sie beiseite gelegt. Lunzie, würde Ihnen Madame Cholders Schmuck gefallen? Es ist eine armselige Entschädigung für den Verlust von zehn Jahren, aber er gehört Ihnen. Ich würde sagen, er ist zwischen einer halben und einer Million Credits wert.«
»Danke Sharu, das ist mehr als großzügig. Bin ich als letzte aufgewacht?« fragte Lunzie.
»Nein. Der Vater des Commanders und sein Adjutant sind als letzte aufgewacht«, antwortete Aelock. »Ich habe sie gebeten, sich zu uns zu gesellen, wenn sie im Kommunikationszentrum fertig sind.«
»Sie hätten mich fragen sollen«, sagte Lunzie etwas heiser. »Der Admiral ist herzkrank.«
»Das wußten wir schon von seinem Sohn«, entschuldigte sich Aelock. »Außerdem sind seine medizinischen Unterlagen in den Datenbanken der Flotte gespeichert.«
»Ah, da sind Sie ja«, sagte der alte Coromell mit voller Stimme, als er, gefolgt von seinem Adjutanten, den Raum betrat. »Wenn es je etwas geben sollte, das ich oder meine Nachkommen für Sie tun können, dann betrachten Sie es als unsere heilige Verpflichtung. Diese junge Dame hat mir das Leben gerettet, Captain. Ich habe es eben meinem Sohn erzählt.« Lunzie wurde rot. Der Admiral lächelte und fuhr fort: »Er ist sehr dankbar, daß ich noch lebe, aber nicht dankbarer als ich. Er hat sich furchtbar darüber aufgeregt, daß sein alter Herr mal wieder den Helden spielen mußte, und dann gesagt, daß er wahrscheinlich dasselbe getan hätte. Ich treffe ihn auf Tau Ceti. Ich übernehme die volle Verantwortung, wenn jemand fragen sollte, warum auf einem gesicherten Kanal ein so teures Gespräch geführt wurde.«
»Ich werde diese Angelegenheit vertraulich behandeln, Admiral, aber trotzdem Danke«, sagte Aelock gütig. »Und was geschieht jetzt mit Ihnen? Destiny hat Sie wohl abgeschrieben. Zumindest vorläufig. Ich würde die Gesellschaft vor ein FES-Gericht bringen, weil es ein Raumschiff auf unverantwortliche Weise im Stich gelassen hat.«
»Dürfte ich«, fragte Sharu, »mit Ihrer Erlaubnis unsere Zentrale anrufen? Weil ich es trotz ihrer Anstrengungen geschafft habe, noch zu leben, werden sich die Verantwortlichen vielleicht so sehr schämen, daß sie freiwillig für unsere Rettung und unsere Weiterreise von dort bezahlen, wo Sie uns absetzen werden.«
Captain Aelock nickte. »Natürlich.«
* * *
»Ach, und Doktor, über den FTL-Kanal ist eine Nachricht für Sie eingetroffen«, sagte der Admiral, als sich die Versammlung auflöste. »Sie möchten sie vielleicht ungestört anhören.« Mit einer so weichen Stimme hatte er sie noch nie angesprochen.
»Danke, Admiral.« Seine ungewöhnliche Behutsamkeit verwirrte Lunzie. Er lächelte und marschierte mit Captain Aelock den Korridor hinunter. Don und Aelocks Offiziere folgten ihnen.
»Komm«, sagte Tee. »Es ist leicht zu finden. Du solltest dich allmählich mit dem Grundriß des Schiffs vertraut machen.« Sie standen vor dem Sitzungssaal in einem Korridor von etwa zweieinhalb Metern Breite. »Das ist der Hauptdurchgang des Schiffs. Er führt von der Brücke bis hinten zum Maschinenraum. Man hielt es für unklug«, fügte er amüsiert hinzu, »den Maschinenraum direkt hinter der Brücke einzurichten. Eine Explosion dort würde alle Steuerpulte in Brand setzen, mit denen das Schiff gelenkt wird.«
»Das hört sich vernünftig an«, sagte Lunzie.
»Ich führe dich später überall herum. Hören wir uns erst einmal an, was Lars zu sagen hat.«
Es kam zu einem kleinen Tumult, als Tee Lunzie in die Kommunikationszentrale führte.
»Dann war das wohl die Dame, die tausend Rettungskapseln gestartet hat, was?« fragte ein Offizier mit einem Augenzwinkern und zwirbelte die Enden seines schwarzen Schnurrbarts.
»Das ist Lunzie, Stawrt«, bestätigte Tee mit einem unbehaglichen Unterton in der Stimme.
»Ist mir ein Vergnügen«, sagte Lunzie und schüttelte viele Hände. Es waren drei Offiziere im Dienst, der Kommunikationschef Stawrt und die beiden Weber, Fähnrich Huli und Fähnrich Vaer. Huli trug keine der standardmäßigen menschlichen Uniformen, die Weber in Gegenwart von Menschen bevorzugten, sondern hatte acht oder zehn tentakelartige Arme mit je zwei Fingern ausgestreckt, mit denen er das komplizierte Instrumentenpult vor sich bediente.
Huli tippte ihr mit einem der dünnen Finger seiner fünften Hand auf die Schulter. »Würden Sie jetzt gern Ihre Nachricht sehen? Dann gehen Sie bitte in eine der Kabinen.« Eine weitere Hand schnellte vor und zeigte auf eine Tür in einer Innenwand.
»Tee, hörst du sie dir mit an?« fragte Lunzie. Ihr war plötzlich unwohl zumute.
Die Kabine war eine äußerst enge Nische mit dicker, beiger Schallschutzisolierung an den Wänden, der Decke und auf dem Boden. Jedes Wort, das gesprochen wurde, schien von den perforierten Wandtafeln verschluckt zu werden. Mitten im Raum stand ein standardmäßiger Holoprojektor, umgeben von einigen Stühlen. Lunzie setzte sich, und Tee nahm neben ihr Platz. Sie rechnete fast damit, daß er ihre Hand nahm, aber er berührte sie nicht. Seit sie ihm nach dem Erwachen in die Arme gesunken war, hatte er sie überhaupt noch nicht angefaßt.
»Drück diesen roten Knopf, um anzufangen«, erklärte Tee und deutete auf ein kleines Tastenfeld auf der Armlehne. »Der schwarze unterbricht die Übertragung, der gelbe hält das Bild an, der blaue spielt alles wieder von vorn ab.«
Lunzie war sehr nervös, als sie den roten Knopf berührte.
Im Holofeld erschien ein Bild von Lars. So wie Tee war er leicht gealtert. Sein Haar war dünner, er hatte um die Hüften zugelegt, und die Falten in seinen Mundwinkeln waren tiefer.
»Liebe Großmutter«, begann Lars mit einer Verbeugung. »Ich bin froh zu hören, daß du gerettet worden bist. Als du nicht planmäßig eingetroffen bist, haben wir uns große Sorgen gemacht. Fähnrich Janos war so freundlich, mir die ganze Geschichte zu erzählen.
Es tut mir sehr leid, dir sagen zu müssen, daß Mutter nicht mehr hier ist. Sie ist planmäßig zwei Jahre später eingetroffen, nachdem wir von dir gehört hatten.« Das verdrießliche Gesicht lächelte bei dem Gedanken. »Sie hatte sich so gefreut, als wir ihr die Nachricht schickten, daß wir dich erwarteten. Sie hat noch achtzehn Monate auf dich gewartet, Großmutter. Weil wir nichts mehr von dir gehört haben, mußten wir schließlich annehmen, daß du es dir anders überlegt hattest. Heute weiß ich, daß es ein schlimmer Irrtum war, und es tut mir leid. Du bist immer noch mehr als willkommen auf Alpha Centauri. Meine Enkelkinder haben mich gebeten, zu erwähnen, daß sie dich auch gern kennenlernen würden. Also, die Einladung gilt auch in ihrem Namen.
Bevor sie nach Eridani abgereist ist, hat Mutter das folgende Hologramm für dich aufgenommen.« Lars’ Bild verblaßte und wurde durch ein größeres Bild von Fionas Kopf und Schultern ersetzt, was bedeutete, daß man das Hologramm an einer Kommunikationskonsole aufgezeichnet hatte. Deutlicher als je zuvor konnte Lunzie jetzt die Ähnlichkeit zwischen der älteren Fiona und dem Kind erkennen. Das Alter hatte ihre schönen Gesichtszüge nur weicher gemacht, nicht entstellt. Die beschatteten Augen zeugten von Lebenserfahrung und Selbstvertrauen und einer tiefen, bohrenden Trauer, die Lunzie ans Herz ging. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als Fiona zu reden anfing.
»Lunzie, ich nehme an, daß du nicht kommst. Warum hast du es dir anders überlegt?
Ich wollte dich sehen. Wirklich. Es hat mir furchtbar weh getan, daß du mich als Kind zurückgelassen hast. Ich habe schon verstanden, warum du gehen mußtest, aber das hat es mir nicht leichter gemacht. Onkel Edgard hat mich nach dem Schiffsunglück abgeholt und auf die Marsbasis mitgenommen. Es war schön. Ich habe mit meinen Cousinen Yonata und Immethy, seinen beiden Töchtern, in einem Zimmer gewohnt. Ich habe mir viele Sorgen um dich gemacht, aber die Zeit verging, und irgendwann hörte ich damit auf, mir Sorgen zu machen, und führte mein eigenes Leben. Du weißt inzwischen, daß ich auch Medizin studiert habe.« Das Bild grinste, und Lunzie erwiderte das Lächeln. »Die Familientradition. Ich habe hart gearbeitet, gute Abschlüsse gemacht, und ich glaube, ich habe mir den Respekt meiner Professoren verdient. Ich hätte alles darum gegeben, um von dir zu hören, daß du stolz auf mich bist. Am Ende mußte ich stolz auf mich selbst sein.« Fiona hatte offenbar Schwierigkeiten, diese Worte über die Lippen zu bringen. Auch ihre Augen glänzten von Tränen.
»Ich war stolz auf dich, mein Mädchen«, flüsterte Lunzie mit trockenem Mund. »Bei Muhiah, ich wünschte, du wüßtest das.«
»Ich habe meine Arbeit ziemlich gut gemacht«, fuhr Fiona fort. »Ich bin der EEC beigetreten und habe mir eine respektable Personalakte erarbeitet. Jermold, der Bruder deiner Mutter, hat mich angestellt. Ich glaube, er hat immer noch denselben Schreibtischjob in der Personalverwaltung, selbst in seinem fortgeschrittenen Alter. Ich war in der ganzen Galaxis im Einsatz, obwohl ich vor allem die neuen Kolonien in ihrer schlimmsten Verfassung gesehen habe – als sie unter epidemischen Krankheiten litten! –, aber es war eine tolle Zeit, und ich habe sie sehr genossen. Meine Vorgesetzten glauben wohl, sie tun mir einen Gefallen damit, wenn sie mir einen Schreibtischjob zuteilen.
Lunzie, es gibt tausend Dinge, die ich dir sagen will, all die Dinge, die ich gedacht habe, als du fortgegangen bist. Das meiste davon war das wütende Gejammer eines Kindes. Damit will ich dich verschonen. Aber es gab auch schöne Dinge, die ich entdeckte und gern mit dir geteilt hätte. Ich wünschte, du hättest meinen Mann Garmol kennengelernt. Ihr wärt gut miteinander ausgekommen. Aber vor allem solltest du wissen, daß ich dich liebe. Ich habe dich immer geliebt und werde dich immer lieben.
Ich muß jetzt nach Eridani abreisen und trete dort mein Amt als Chefchirurgin an. Ich habe meine neuen Kollegen so lang auf mich warten lassen, wie es ging, aber jetzt muß ich gehen.
Lunzie …« Fionas Stimme wurde sehr heiser, und sie hörte auf zu schlucken. Sie räusperte sich und hob entschlossen das Kinn. Ihr Blick traf Lunzie über Lichtjahre hinweg. »Auf Wiedersehen, Mutter.«
Lunzie schwieg eine ganze Zeit und starrte noch in das leere Holofeld, als das Bild längst verblaßt war. Mit einem tiefen Seufzer schloß sie die Augen und schüttelte den Kopf. Sie wandte sich Tee zu, fast blind und in ihren eigenen Gedanken verloren.
»Was soll ich jetzt machen?«
Er hatte sie beobachtet. Sie konnte ihm anmerken, daß Fionas Nachricht auch ihn tief berührt hatte, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig.
»Was du tun sollst?« wiederholte Tee spöttisch. »Ich bin nicht für dein Leben verantwortlich. Du mußt eine eigene Entscheidung treffen.«
Lunzie rieb sich die Schläfen. »Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich kein unmittelbares Ziel, auf das ich hinarbeiten kann. Ich habe die Schule verlassen. Fiona hat mich aufgegeben. Wer könnte ihr einen Vorwurf daraus machen? Aber jetzt hänge ich in der Luft.«
Tees Gesicht wurde weicher. »Es tut mir leid. Du mußt dich schrecklich fühlen.«
Lunzie runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Weißt du, ich sollte mich schrecklich fühlen. Aber ich fühle mich nicht so. Natürlich bin ich bekümmert, aber ich fühle mich nicht so vernichtet, wie ich … wie ich eigentlich sollte.«
»Du solltest deine Enkelkinder besuchen. Hast du nicht gehört? Sie wollen dich sehen.«
»Wie komme ich denn jetzt dorthin, Tee?« fragte Lunzie mit leiser Stimme. »Wo setzt die Ban Sidhe uns ab?«
»Wir warten auf unsere Befehle. Sobald ich es weiß, werde ich dir Bescheid geben.«
* * *
Captain Aelock hatte bereits die Flugbefehle für die Ban Sidhe erhalten und teilte Lunzie gern die Einzelheiten mit. »Wir sind für unbestimmte Zeit in den Zentralsektor versetzt worden, Lunzie. Zum Teil ist es dem Einfluß des Admirals zu verdanken, aber es kommt auch unserer Mission entgegen, daß wir erst nach Alpha Centauri und dann Richtung Sol fliegen. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir Sie dort absetzen? Es wäre unser erster Zwischenstopp.«
Lunzies Augen strahlten vor Dankbarkeit. »Danke, Sir. Das nimmt mir eine große Last von der Seele.
Ich muß zugeben, daß ich mir Sorgen darum gemacht habe.«
»Dafür gibt’s keinen Grund mehr. Der Admiral hat fest darauf bestanden, daß Ihnen alle Wünsche erfüllt werden. Er ist sehr beeindruckt von Ihren Fähigkeiten und erzählt, daß Sie ihm das Leben gerettet haben. Sie können unseren medizinischen Offizieren assistieren, während wir unterwegs sind. ›Keiner soll untätig bleiben‹, lautet unser Motto.«
»Davon habe ich gehört.«
»Mit den Flüchtlingen von der Destiny an Bord wird’s etwas eng, aber ich nehme Rücksicht auf meine Offiziere. Sie und Sharu teilen sich eine Kabine in den Offiziersunterkünften. Wenn es Probleme gibt«, Aelock lächelte sie väterlich an, »steht meine Tür Ihnen immer offen.«
* * *
»Ich habe mich noch nie so gefreut in meinem Leben wie in dem Moment, als wir hinter der dunklen Seite des Planeten hervorkamen und der Zerstörer aus dem Warpraum fiel«, sagte Sharu am nächsten Morgen, als sie mit einigen Unteroffizieren der Bau Sidhe an einem Tisch in der Messe saß, und nippte an einem Glas mit frischem Fruchtsaft. Lunzie saß zwischen der Ersten Offizierin und Captain Wynline. Tee hatte in dieser Schicht Dienst. »Wir hatten schon ein Magnesiumfeuer vorbereitet, das wir vor dem Panoramafenster auf dem Aussichtsdeck zünden wollten. Ich habe es entzündet und mich dann schnell davongemacht, weil es in silbernen Flammen wie eine Supernova hochging. Das Schiff war bereits tief in den Gravitationsschacht des Planeten gesunken und umkreiste ihn auf einer instabilen Umlaufbahn. Weil Carsons Riese so schnell rotiert, blieb uns wenig Zeit, auf uns aufmerksam zu machen. Unser Signal mußte schon spektakulär ausfallen.«
»Magnesium?« fragte Fähnrich Riaman. »Kein Wunder, daß das Deck verschlackt ist. Es hat wahrscheinlich Stunden später noch geglüht.«
»Ganz richtig. Ich hatte Brandwunden an Gesicht und Armen. Sie verheilen jetzt erst«, sagte Sharu und zeigte ihre Handgelenke. »Sehen Sie?«
»Das war’s wert«, sagte Captain Wynline anerkennend. »Es hat doch funktioniert, nicht? Man hat Sie gesehen.«
»Und ob wir sie gesehen haben«, fügte Leutnant Naomi hinzu, eine blonde Frau Anfang Dreißig. »Ein kleiner Funken auf den Wolken des Planeten, wo eigentlich nichts sein sollte. Sie hatten Glück.«
»Oh, ich weiß«, gab Sharu zu. »Ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen als Ihr Schiff, als es auf uns zukam. Wir haben so viele Schiffe vorbeifliegen sehen, die uns nicht bemerkten. Wir haben alles getan, außer auf und ab zu hüpfen und mit den Armen zu wedeln, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Wir hatten sehr viel Glück, daß Sie zur richtigen Zeit in die richtige Richtung geschaut haben.«
»Wir hätten auch Planetenpiraten sein können«, gab Fähnrich Tob zu bedenken.
Er wurde von seinen Kameraden niedergebrüllt. »Halt den Mund, Tob.« – »Wer könnte so dumm sein und uns mit denen verwechseln?« – »Das ist eine Beleidigung für die Flotte.«
»Sie sind doch verwundet worden, als das Schiff evakuiert wurde«, wandte Fähnrich Riaman sich an Lunzie, die gerade einen Klecks Marmelade auf eine Scheibe Toast strich. »War es ein Schock, als Sie aufwachten und feststellen mußten, daß Sie im Kälteschlaf gelegen hatten?«
»Eigentlich nicht. Ich bin schon einmal im Kälteschlaf gewesen«, erklärte Lunzie.
»Wirklich? Aus welchem Grund? Für ein Experiment? Oder eine Operation?« fragte Riaman eifrig. »Meine Tante hat zwei Jahre im Kälteschlaf gelegen, bis ein Ersatz für eine geschädigte Herzklappe gezüchtet werden konnte. Meine Familie hat ein seltenes Antikörpersystem. Ein Transplantat hätte sie abgestoßen.«
»Nein, nichts dergleichen«, sagte Lunzie. »Meine Familie ist guter Durchschnitt, wenn es um Organ- und Antikörperverträglichkeit geht. Ich war schon einmal in einen Unfall verwickelt, auf dem Weg zu einer Bergbauplattform des Descartes-Konzerns, wo ich eine neue Stelle antreten sollte.«
Zu ihrer Überraschung glotzte der junge Fähnrich sie fassungslos an und widmete sich gleich wieder seinem Essen. Sie sah die anderen an, die mit am Tisch saßen. Einige starrten sie an und schauten schnell weg, als sie es bemerkte. Die anderen waren eifrig mit ihrem Frühstück beschäftigt. Erschrocken und verwirrt machte auch sie sich ans Essen.
»Jonas«, hörte sie jemanden flüstern. »Sie muß ein Jonas sein.« Aus dem Augenwinkel versuchte Lunzie den Sprecher auszumachen. Ein Jonas? Was sollte das bedeuten?
»Lunzie«, sagte Sharu, um das Schweigen zu brechen. »Unsere Habseligkeiten werden in den nächsten Stunden an Bord gebracht. Würden Sie mich bitte begleiten und die Wertsachen aussortieren, die im Safe des Zahlmeisters zurückgelassen wurden? Wenn wir wieder im Orbit sind, werden wir zusammenpacken, was wir nicht für uns beanspruchen.«
»Natürlich, Sharu. Ich mach mich frisch und warte dann auf Sie.« In der Hoffnung, daß sie nicht so unbehaglich klang, wie sie sich fühlte, tupfte Lunzie ihre Lippen mit der Serviette ab und eilte zur Tür.
»Das Unglück kommt immer dreifach«, sagte eine Stimme hinter ihr, als sie durch die Tür ging, doch als sie sich umdrehte, sah niemand sie an.
»Es ist meine Schuld. Ich hätte Sie warnen sollen, nichts über das letzte Unglück zu erzählen«, entschuldigte sich Sharu, als sie und Lunzie allein waren. Vor ihnen standen Dutzende versiegelte Kisten aus dem Tresorraum des Zahlmeisters und einhundert leere Frachtkartons. »Ich war selbst einmal in der Flotte, deshalb weiß ich noch, wie das ist. Ein Unfall im Weltraum liegt im Bereich des Möglichen. Zwei zeugen von einer verhängnisvollen Pechsträhne. Niemand ist so abergläubisch wie ein Raumfahrer.«
»Sharu, was ist ein Jonas?«
»Haben Sie das gehört? Jonas war eine Gestalt aus der Alten Bibel von der Erde. Immer wenn er auf einem Schiff mitsegelte, bekam es Probleme. Einer der Seefahrer kam zu dem Schluß, daß Jonas ihren Gott Jehova gekränkt haben mußte und er deshalb mit einem Pechsträhne gestraft werde, die das ganze Schiff in Gefahr brachte. Sie warfen ihn über Bord, um sich selbst zu retten. Er wurde von einem Seeungeheuer verschluckt.«
»Huch!« Lunzie schluckte nervös und ließ eine Kette unbezahlbarer Perlen in einen gepolsterten Umschlag fallen. »Aber man würde mich doch nicht über Bord werfen? Ich meine, im Weltraum aussetzen?«
»Ich bezweifle es.« Sharu runzelte die Stirn, während sie den Schmuck sortierte. »Aber man wird Ihnen tunlichst aus dem Weg gehen. Erwähnen Sie es nie wieder, dann geht’s vielleicht vorbei.«
Lunzie steckte den Umschlag in einen Karton und versah ihn mit dem Warnschild Zerbrechlich – Keinen extremen Temperaturen aussetzen, was sie an Illin Romsey erinnerte, den Kristallbergmann von Descartes, der sie gerettet, und den Thek, der ihn begleitet hatte. Sie hatte seit Monaten nicht mehr an diesen Thek gedacht. Es war Lunzie immer noch ein Rätsel, warum sich ein Thek für sie interessiert hatte.
»Natürlich, Sharu. Ich stecke nie bewußt den Kopf in den Rachen eines Löwen. Man weiß nie, wann er mal niesen muß.«
Unter den Juwelen und anderen Wertgegenständen fand sie das durchsichtige Hologramm von Fiona. Lunzie war schockiert, als sie feststellte, daß sie sich inzwischen an das Bild der erwachsenen Frau Fiona gewöhnt hatte und dieses liebe, lächelnde Kind eine Fremde war, eine längst verblaßte Erinnerung. Ganz behutsam versiegelte sie es in einem Plastikpolster und legte es weg.
Drei Tage später wartete Lunzie vor der Brücke, bis schließlich die Silbertür seiner Nische aufglitt. Captain Aelock hatte in ihrer Kabine eine Nachricht hinterlassen, daß er sie sprechen wollte. Bevor sie über die Schwelle trat, hörte sie ihren Namen und hielt inne.
»… Sie bringt dem Schiff Unglück, Sir. Wir sollten sie weit vor Alpha Centauri auf einem Planeten absetzen. Wenn wir’s nicht tun, kommen wir vielleicht nie dort an.« Die Stimme gehörte Fähnrich Riaman. Der junge Offizier hatte sie in der Messe konsequent ignoriert und in den Korridoren hinter ihrem Rücken über sie geredet.
»Unsinn«, schnauzte Captain Aelock. Es klang so, als sei dies das Ende einer langen Auseinandersetzung und seine Geduld endgültig erschöpft. »Außerdem haben wir unsere Befehle, und die werden wir befolgen. Sie brauchen sich nicht mit ihr abzugeben, wenn Sie Ihnen unangenehm ist, aber für mich ist sie eine angenehme Gesellschaft. Ist das klar?«
»Ja, Sir«, erwiderte Riaman in einem demütigen Ton, der seinen Widerwillen nicht verhehlte.
»Dann weggetreten.«
Riaman verabschiedete sich mit einem zackigen Salut, aber Aelock hatte sich bereits wieder dem Sichtschirm zugewandt. Sichtlich zusammengestaucht marschierte der Fähnrich von der Brücke, vorbei an Lunzie, die beschlossen hatte, daß sie sich offen zeigen sollte, statt den Eindruck zu erwecken, sie belausche die anderen. Als ihre Blicke sich trafen, wurde er puterrot und stürzte aus dem Raum, als habe ihm jemand einen Tritt verpaßt. Lunzie zog trotzig ihre Schultern hoch und trat vor den Captain. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und bot ihr einen Platz neben dem Kommandostuhl im hinteren Teil der Brücke an.
»Dieser Jonas-Quatsch ist natürlich nur heiße Luft«, sagte er bestimmt. »Sie sollten sich keine Gedanken darum machen.«
»Ich verstehe, Sir«, sagte Lunzie. Dem Captain schien es peinlich zu sein, daß einer seiner Offiziere sie ins Gerede gebracht hatte, deshalb gab sie ihm mit einem offenen Lächeln zu verstehen, daß alles in Ordnung sei. Er nickte.
»Wir waren zu Manövern draußen, um mit den Planetenpiraten Schritt zu halten, und meine Leute sind immer noch nicht von ihrem Adrenalinschub runter. Nach einer Weile haben wir hinter jedem Asteroiden Radarschatten gesehen. Es wurde Zeit, daß wir wieder einen banaleren Auftrag bekamen. Vielleicht sogar ein bißchen Landurlaub.« Aelock seufzte und deutete mit einem Achselzucken auf die Tür, durch die der Fähnrich eben gegangen war. »Alpha Centauri wäre allerdings nicht meine erste Wahl. Ein wenig zu industrialisiert für meinen Geschmack. Ich würde gern die Naturschutzgebiete auf der Erde besuchen, aber meine Kameraden finden es dort langweilig.«
»Haben die Piraten wieder zugeschlagen?« fragte Lunzie entsetzt. »Der letzte Überfall, von dem ich gehört habe, geschah auf Phoenix. Ich habe anfangs befürchtet, meine Tochter sei von den Angreifern getötet worden.«
»Was, Doktor Fiona?« fragte Aelock und lächelte, als Lunzie der Unterkiefer herabsackte. »Es wird Sie vielleicht überraschen, Dr. Mespil, daß ich vor fünfzehn Jahre das Vergnügen hatte, die Dame und ihren Lebensgefährten zu Gast zu haben. Sie ist ebenso charmant wie Sie, muß ich sagen. Die Familienähnlichkeit ist nicht zu übersehen.«
»Wie klein ist doch die Galaxis«, sagte Lunzie und schüttelte den Kopf. »Das ist vielleicht ein Zufall.«
»Eigentlich nicht, wenn Sie bedenken, daß sie und ich demselben Teil der FES-Bevölkerung dienen. Wir werden beide vornehmlich von neuen Kolonien gebraucht, die gerade die Schwelle zur Selbständigkeit überwunden haben und daher unter dem FES-Protektorat stehen. Das medizinische Notpersonal, dem sie angehört, benutzt unsere Schiffe, weil sie die einzigen sind, die schnell genug zu Hilfe eilen können.«
»Zum Beispiel gegen die Planetenpiraten?«
Aelock wirkte beunruhigt. »Nun ja, es war in letzter Zeit sehr ruhig. Zu ruhig. Sie haben sich seit Monaten nicht sehen lassen – der letzte Vorfall liegt fast ein Jahr zurück. Ich glaube, sie planen einen neuen Schlag, aber ich weiß nicht wo. Wenn wir Alpha Centauri erreichen, hoffe ich, von einem meiner Kontaktleute zu hören, dem Freund eines Freundes eines Freundes eines Lieferanten, der an die Piraten verkauft. Wir wissen immer noch nicht, wer sie sind oder wer ihnen einen Basis, Wartungsanlagen, Docks und dergleichen zur Verfügung stellt. Ich hoffe, daß ich einen Durchbruch erzielen werde, bevor jemand die Kette meiner Informanten zu mir zurückverfolgt. Leute, die ihre Nase in die Angelegenheiten der Piraten stecken, überleben das meistens nicht.«
Lunzie schluckte und dachte an Jonas und die Luftschleuse. Der Captain schien ihre Gedanken zu ahnen und lachte.
»Ignorieren Sie die Abergläubischen in meiner Mannschaft. Es sind anständige Leute, und sie werden sich um Sie kümmern, solange Sie an Bord sind. Wir werden Sie wohlbehalten abliefern, und ehe Sie sich’s versehen, werden Sie wieder die versmogte Luft von Alpha Centauri atmen.«