Südkontinent
22.05.15 -03.08.15
Piemur betrat Torics Privatraum und sah mit einem schnellen Blick auf die Innenwand zu seiner Linken, daß die Karte des Siedlungsgebiets wie gewöhnlich abgedeckt war. Da Piemur viele der neuesten Eintragungen beigesteuert hatte, erheiterte ihn die paranoide Geheimnistuerei des Burgherrn. Saneter saß auf der Kante seiner Bank und rieb sich hektisch die geschwollenen Fingergelenke. Torics Miene verriet nichts, und das war ein schlechtes Zeichen, besonders da Piemur bei seiner Rückkehr von der Großen Lagune die gesamte Burg ganz außer sich vor Angst und Empörung vorgefunden hatte. Farli hatte ohne Sinn und Verstand etwas von feuerspeienden Drachen dahergeschnattert und war dann verschwunden. Piemur hatte zwar bemerkt, daß allgemein nur wenige Feuerechsen zu sehen waren, aber er hatte keine Zeit gehabt, sich weiter darum zu kümmern, da Toric ihn sofort zu sich befohlen hatte.
»Nun, was habe ich diesmal falsch gemacht?« fragte Piemur flapsig.
»Nichts, es sei denn, du hast ein schlechtes Gewissen«, gab Toric gereizt zurück, und sofort schaltete Piemur auf respektvolle Aufmerksamkeit um.
»Was könnte alle Drachenreiter zum Abzug bewegen?« fuhr der Burgherr fort.
»Sie sind abgezogen?«
Eigentlich sollte Toric darüber in lauten Jubel ausbrechen, dachte Piemur. Er warf einen fragenden Blick auf Saneter, aber der alte Harfner gab so verwirrende Fingersignale, daß der Junge daraus nicht klug wurde. Nach T'rons Tod hatte T'kul sich selbst zum Weyrführer erklärt, und von da an war es mit dem Südweyr rapide bergab gegangen. Von den anderen Bronzereitern hatte T'kul keiner die Herrschaft streitig gemacht, aber es war auch niemand glücklich über seine sprunghafte Art und seine übertriebenen Forderungen.
»Weit und breit ist kein Drachenmännchen zu sehen.«
Toric rieb sich nachdenklich das Kinn. »Nur Mardras Königin ist im Weyr, und sie ist eigentlich schon fast tot.«
Es kam selten vor, daß Toric ganz und gar nicht wußte, was er tun sollte. Seine Maßnahmen fanden nicht immer Saneters - und manchmal nicht einmal Piemurs - Billigung, aber im allgemeinen gewährleisteten sie die Sicherheit der Burg.
»Es ist kein Fädeneinfall angesagt«, fuhr der Burgherr fort, ohne seine Verachtung für die Drachenreiter des Südens zu verbergen, die sich so selten aufrafften, ihre herkömmlichen Pflichten zu erfüllen. »Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, warum alle Männchen einfach verschwunden sind.«
»Ich auch nicht«, stimmte Piemur zu. Seine Stimme hatte wohl ein klein wenig zu vergnügt geklungen, denn Toric warf ihm einen langen prüfenden Blick zu.
Piemur wartete geduldig. Toric hatte ganz offensichtlich etwas auf dem Herzen.
»Du bist doch gern hier?« fragte der Burgherr endlich.
»Ich bin in erster Linie meinem Gildemeister verpflichtet«, gab Piemur zurück, ohne Torics Blick auszuweichen. Bisher war es ihm gelungen, dieses oberste Gesetz weit genug auszulegen, um niemals direkt dagegen verstoßen zu müssen.
»Einverstanden.«
Toric akzeptierte die Antwort mit einem Fingerschnippen.
»Aber ich bin nicht in erster Linie diesen… dieser verhätschelten Schwesternhorde verpflichtet.«
»Einverstanden.«
Piemur grinste über diese Beschreibung der Alten, während die Anspielung auf die Inzucht unter den Drachenreitern Saneter einen halb erstickten Protestschrei entlockte.
»Und daß Ihre Siedler fest hinter Ihnen stehen, wissen Sie ja bereits«, fügte er hinzu, in der Meinung, Toric habe es auf diese Versicherung abgesehen.
»Aber natürlich!« Wieder schnippte der Burgherr ungeduldig mit den Fingern. »Aber ich möchte mich ganz offiziell von allem distanzieren, was dieser Haufen im Moment ausheckt.«
»Was könnten sie denn im Schilde führen?«
Es gab doch gar nicht mehr so viele Reiter im Süden, daß sie wirklich etwas zuwege bringen könnten: Männer wie Drachen waren alt, müde, eher bedauernswert als bedrohlich. Bis auf T'kul in letzter Zeit war vor diesem Schürzenjäger keine Frau mehr sicher.
»Wenn ich das wüßte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Wie die Dinge stehen, erkläre ich hiermit offiziell, in Anwesenheit zweier Harfnergesellen, keinerlei Ahnung von und keinen Anteil an irgendwelchen Aktivitäten der Drachenreiter des Südkontinents zu haben.«
»Gehört und bezeugt«, sagte Saneter, und Piemur wiederholte die alte Formel. »Aber ich finde, Sie sollten die Weyrführer unbedingt darüber informieren.
Schließlich kommen sie am besten mit anderen Drachenreitern zurecht.«
»Sie können und wollen nicht gegen die Alten vorgehen«, knirschte Toric wütend. »Das haben sie mir klipp und klar gesagt.«
»Wenigstens hält Benden Wort«, murmelte Piemur, wohl wissend, wieviel Spielraum sich Toric nach seinem Gespräch mit den Weyrführern von Benden vor zwei Planetenumläufen selbst zugestanden hatte. Als Toric ihm einen kalten, berechnenden Blick zuwarf, bat Piemur mit erhobenen Händen um Verzeihung für seine Unverschämtheit. »Ich könnte Farli - falls ich sie erwische - zu T'gellan schicken und ihm mitteilen lassen, daß die Alten sich aus dem Staub gemacht haben.
Eine Warnung sind Sie Benden schuldig.«
Toric überlegte mit finsterer Miene und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Ich habe die merkwürdigen Übungen gemeldet, die sie vor ein paar Tagen durchführten, die ständigen Sprünge ins Dazwischen und wieder heraus. Ich werde immer noch nicht schlau daraus, aber vielleicht kann Benden etwas damit anfangen.«
Piemur begriff, daß Toric sich wünschte, die Alten würden einen so unverzeihlichen Frevel begehen, daß die Weyr im Norden gar nicht mehr anders konnten, als sich mit ihnen zu befassen.
***
Keiner von beiden hätte freilich erraten können, was die Alten tatsächlich planten. Das wurde erst drei Tage später offenbar. Plötzlich erschien Mnementh über dem Südkontinent am Himmel, Ramoth folgte ihm eine Sekunde später, sie flogen dicht über die Burglichtung hinweg und schossen auf den Weyr zu. Das Auftauchen der beiden großen Benden-Drachen war an sich schon erstaunlich genug, aber als Piemur bemerkte, daß sie ohne ihre Reiter gekommen waren, begann sein Herz wild zu klopfen. Hatte sich in Benden eine unglaubliche Katastrophe ereignet? Was in aller Welt konnte Mnementh und Ramoth bewogen haben, allein hierher zu fliegen? Er rannte auf Torics Wohnung zu.
Der Burgherr und der alte Saneter standen vor dem Eingang und starrten fassungslos zum Himmel hinauf.
»Was in aller Welt haben reiterlose Drachen hier zu suchen?« fragte Toric, ohne den Blick von den Tieren zu wenden, die mit gesenkten Köpfen und grell orangefarben funkelnden Augen über dem Weyr kreisten. »Den Alten gehören sie jedenfalls nicht, dafür sind sie zu groß.«
»Es sind Ramoth und Mnementh«, erklärte Piemur, und seine Angst wuchs, als er die Farbe ihrer Augen bemerkte.
»Was wollen sie hier?« Torics Stimme klang angespannt.
»Vielleicht will ich das gar nicht unbedingt wissen« gestand Piemur und legte die Hand über die Augen um besser sehen zu können, ob die erregt schillernden Drachenaugen sich nicht ein wenig beruhigten.
»Sie suchen den Weyr ab. Aber wonach?« murmelte Saneter beklommen.
Plötzlich riß Ramoth den Kopf hoch und stieß den durchdringendsten Klageschrei aus, den Piemur je gehört hatte. Nicht die Trauerklage, sondern ein unheimliches Heulen, das unerträgliche Qualen verriet. Trotz der Hitze überlief ihn ein Schauer, und auf seinen Armen entstand eine Gänsehaut. Sogar Toric erbleichte, und Saneter wimmerte leise. Nun ließ sich auch Mnemenths tiefere Stimme vernehmen, und die Disharmonie verstärkte den Eindruck des Jammers noch.
Dann verschwanden die Drachen so plötzlich, wie sie gekommen waren. Der Burgherr und die beiden Harfner standen wie erstarrt. Endlich seufzte Toric erleichtert auf. »Was hatte das alles zu bedeuten, Piemur?«
Piemur schüttelte den Kopf. »Was immer geschehen ist, es ist schlimm.«
»Diese verdammten Alten! Wenn sie mich in Verruf gebracht haben…« Toric drohte mit der Faust zum Weyr hinüber.
»Oh!« Saneters erstaunter Ausruf lenkte die Aufmerksamkeit auf die neun Bronzedrachen, die nun herangeschwebt kamen. Einer setzte zur Landung an, während die anderen Stück für Stück das Gelände absuchten. Dabei flogen sie so dicht über den Wäldern, daß sie mit den Pfoten die Kronen streiften und man fast den Eindruck hatte, als marschierten sie über das Blätterdach.
»Das sind Lioth und N'ton«, sagte Piemur. Er war erleichtert, als der Bronzereiter abstieg und zielstrebig auf sie zukam, doch angesichts seiner finsteren Miene überfiel den Harfner von neuem die Angst.
»Ramoth und Mnementh waren eben hier - reiterlos. Was ist geschehen?«
»Ramoths Königinnen-Ei wurde aus der Brutstätte gestohlen.«
»Gestohlen?« platzte Toric heraus und starrte den Bronzereiter ungläubig an. Saneter keuchte und schlug die Hände vors Gesicht. Piemur fluchte.
»Es ist bedauerlich, daß wir zögerten, Sie über ihr ungewöhnliches Verhalten in letzter Zeit zu informieren…« Toric hob beide Hände in einer stummen Bitte um Verzeihung. »Aber wer konnte damit rechnen, daß sie sich auf so frevelhafte Weise gegen die Weyr wenden würden?« Das klang ungewöhnlich kleinlaut. »Wie konnten sie nur hoffen… Was könnte ihnen das nützen? Wo könnten sie sich verstecken - nein, nicht hier!«
Wieder hob er die Hände, um jeden Verdacht einer Komplizenschaft von sich abzuwehren.
»Suchen Sie! Suchen Sie!« bat er mit weit ausholender Geste. »Suchen Sie, wo Sie wollen!«
»Es ist offensichtlich eher eine Frage des Wann,« erklärte N'ton grimmig. Piemur stöhnte auf, denn plötzlich wurde ihm klar, was die jüngsten Manöver der Alten zu bedeuten hatten: Sie hatten Sprünge zwischen den Zeiten geübt, ein gefährliches Unterfangen, selbst wenn man ausgezeichnete Gründe hatte - was für Lessas berühmten Ritt gelten mochte, für den Diebstahl eines Eis freilich nicht.
Toric sah N'ton fragend an, als erwarte er eine Erklärung; dann warf er Piemur einen eindringlichen Blick zu.
»Toric hat nichts zu verbergen, N'ton«, erklärte Piemur feierlich. Er hatte sich gerade noch rechtzeitig an das jüngste Gespräch und an Torics Bitte erinnert.
»Das können Saneter und ich beschwören!«
N'ton nickte ernst, kehrte zu Lioth zurück und schwang sich auf den Rücken des Bronzedrachen. Toric und die beiden Harfner sahen ihm nach, bis alle Drachen in der Ferne verschwanden, um verzweifelt die umliegenden Wälder abzusuchen.
»Was tun wir jetzt?« fragte Toric leise.
»Wir können nur hoffen«, gab Piemur zurück. Nun wünschte er von ganzem Herzen, Farli losgeschickt zu haben, als das noch möglich war. Andererseits, wer hätte ahnen können, daß diese gewissenlosen Narren vor nichts haltmachen, daß sie wahnsinnig genug sein würden, ein Ei von Ramoth zu stehlen? Wie hatten überhaupt fremde Drachen in die Brutstätte von Benden gelangen können? Ramoth ließ ihre Eier doch nur selten allein. Und wie hatten sie den Weyr wieder verlassen können, ohne abgefangen zu werden?
Die nächsten Stunden waren eine Zeit tiefster Ungewißheit. Doch gerade als Piemur sich die Folgen - für die Alten wie für die Burg des Südens - so drastisch ausgemalt hatte, daß ihm ganz übel war, erschien Tris, N'tons braune Feuerechse, mit einer Botschaft für den jungen Harfner am Bein. Außerdem trug der Kleine eine komplizierte Markierung am Hals, die so frisch war, daß die Farbe noch glänzte.
Piemur entrollte die Botschaft, während er zu Torics Arbeitsraum rannte.
»Alles in Ordnung, Toric! Das Ei ist wieder da!«
»Was? Wie? Laß sehen!«
Toric riß Piemur das Blatt aus den Händen und las, ungewöhnlich freimütig für seine Verhältnisse, die eng geschriebenen Worte laut vor.
»Das Ei wurde zurückgebracht - niemand weiß, auf welchem Wege. Ramoth hatte das Gelege verlassen, um zu fressen. Drei Bronzedrachen erschienen, und ehe der Wachdrache ihre Absicht erkannte, waren sie bereits in die Brutstätte geflogen. Ramoth schrie, aber die Bronzedrachen verschwanden mit dem Königinnen-Ei im Dazwischen, ehe sie handeln konnte. Wie Sie vielleicht schon vermuteten, hatten Ramoth und Mnementh die Alten im Verdacht und flogen sofort zum Süd-Weyr, ohne jedoch eine Spur zu finden. Nun war klar, daß die flüchtigen Drachen einen Sprung zwischen den Zeiten gemacht hatten, um ihre Beute in Sicherheit zu bringen. Ehe man zu disziplinarischen Maßnahmen greifen konnte, wurde das Ei von einem Atemzug zum anderen in die Brutstätte zurückgebracht. Die Schale ist jedoch verhältnismäßig hart, ein Umstand, der die Weyrherrin sehr erbost, weil er darauf schließen läßt, daß das Ei sich ziemlich lange in einer anderen Zeit befunden haben muß. Über das Wo ist nichts bekannt.
Man hat die Alten im Verdacht, denn welcher andere Weyr würde stehlen, was er selbst produzieren kann?
Meister Robinton hat dringend zu Vorsicht und Besonnenheit geraten und sich sogar gegen Strafmaßnahmen ausgesprochen, worauf er kategorisch aufgefordert wurde, den Benden-Weyr zu verlassen. N'ton.«
»So!« sagte Toric, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trommelte mit der Nachrichtenrolle auf den Tisch.
»Die Alten haben sich also nur selbst in Verruf gebracht. Das erleichtert mich sehr.«
»Wenn Sie es so sehen…«, murmelte Piemur, stand unvermittelt auf und verließ das Gebäude.
Mochte Toric seine Erleichterung genießen, Piemur war keineswegs wohl bei der Sache. Der Meisterharfner aus Benden verbannt? Das war ein verdammtes Unglück. Je mehr er über die Folgen einer solchen Entfremdung nachdachte, desto niedergeschlagener wurde er. Man war haarscharf an der schlimmsten Katastrophe vorbeigegangen, die über Pern hereinbrechen konnte - einem Kampf Drachen gegen Drachen.
Diese verfluchten Alten! Samt und sonders ausgemachte Idioten! Besonders T'kul, in dessen Kopf dieser sinnlose Plan doch gewiß entstanden war. Sie würden für ihre Tat büßen müssen, und Piemur hoffte nur, daß die Zukunft der Burg des Südens - und Torics ehrgeizige Vorhaben - nicht gefährdet waren. Doch seine größte Sorge galt Meister Robinton, der sich in nie dagewesenen Schwierigkeiten befand.
Die Alten kehrten am Spätnachmittag zurück. Piemur ging in Torics Auftrag auf Kundschaft und empfand eine gewisse Genugtuung, als er die tiefe Schwermut und die matte Farbe der einzelnen Drachen bemerkte. Die Tiere waren von ihrem mißglückten Unternehmen so erschöpft, daß sie nicht einmal fressen wollten, und die meisten Reiter gaben sich alle Mühe, sich sinnlos zu betrinken.
»Das ist nichts Neues«, erklärte Toric, als Piemur ihm Meldung machte. »Splitter und Scherben, ich glaube, Drachenreiter bleibt Drachenreiter, ob aus dem Norden oder aus dem Süden«, fuhr er fort, während er mit langen Schritten in seinem Arbeitsraum auf und ab ging und gar nicht zu bemerken schien, wie er Möbel beiseite stieß und mit seinen ungeduldigen Gesten Gegenstände von den Tischen fegte. Den ganzen Tag über hatte er sich beherrscht, doch nun mußte sich die Anspannung irgendwie Luft machen. »Aber wie hätte ich ahnen sollen, daß sie so etwas vorhatten, wie Ramoths Königinnen-Ei zu rauben? Glaube mir, mein Junge, T'kul und seine geilen Reiter haben dieses Ei gestohlen.
Davon bin ich völlig überzeugt.«
Piemur nickte zustimmend und hoffte, Toric würde die Sache vorerst einfach auf sich beruhen lassen. »Allerdings hätte ich mir denken können, daß sie verzweifelt eine Königin brauchten, solange einer ihrer Bronzedrachen noch genug Energie hatte, um sie zu fliegen. Ich schätze, sie haben zu lange gewartet! Wer Ramoths Ei zurückgebracht hat, weiß ich nicht, aber bei Faranth, ich bin ihm dankbar.
»Das war heute wirklich knapp, mein Junge. Verdammt knapp. Diese Drachen aus dem Norden hätten Burg und Weyr in Schutt und Asche legen können.« Mit einer weit ausholenden Handbewegung wischte Toric einen Stapel Dokumente zu Boden. »Ich mag die Alten nicht, aber nicht einmal ich möchte erleben, wie Drachen gegen Drachen kämpfen.«
»Sie sollten so etwas nicht einmal denken, Toric«, sagte Piemur schaudernd. Die Gefahr war erschreckend nahe gewesen.
»Eine Weile glaubte ich, alles, was ich in zwanzig Planetenumläufen aufgebaut hatte, gehe in Trümmer.«
Wieder holte Toric aus, und diesmal riß er einen Leuchtkorb aus dem Wandhalter und vergoß seinen Inhalt über die Aufzeichnungen. Piemur brachte sie in Sicherheit, schloß den Korb und trat die brennende Flüssigkeit aus. »Ich werde die Alten Tag und Nacht überwachen lassen, Piemur. Saneter soll einen Dienstplan aufstellen. Ich darf nicht zulassen, daß noch etwas passiert. Ich hatte gehofft, ein paar Worte mit F'lar reden zu können…«
Piemur verschluckte sich fast bei dieser Anmaßung.
»Nein, das war wohl nicht der richtige Moment dafür«, fügte der Burgherr hinzu und schüttelte bedauernd den Kopf. »Dein Meisterharfner hat übrigens gute Ideen. Ich würde mich gern einmal mit ihm unterhalten.« Toric wandte sich um und sah Piemur scharf an.
Der Junge wich dem Blick aus, räusperte sich und kratzte sich verlegen den Kopf. Er wollte nicht erwähnen, wie gering Meister Robintons Einfluß auf die Weyrführer von Benden gerade jetzt war.
»Ich habe mir die Drachen genau angesehen, Toric, und ganz ehrlich, ich glaube, die Zeit arbeitet für Sie.
Der Raub des Eis, und ich bin wie Sie der Meinung, daß sie ihn begangen haben, auch wenn Benden es nicht beweisen konnte, hat sie fast ihre letzten Kräfte gekostet. Sie haben völlig recht, wir sollten sie unauffällig überwachen. Am einfachsten wäre es, wenn man die Feuerechsen in die Nähe des Weyrs schicken könnte, aber Farli schnattert immer noch etwas von Drachen, die sie mit ihrem Feuer versengen. Was sagen denn Ihre Tiere?«
»Ich hatte heute noch keine Zeit, mich um Feuerechsen zu kümmern, schließlich haben mir ausgewachsene Drachen aus dem Norden ihren Feuersteingestank direkt ins Gesicht geblasen«, gab Toric bissig zurück.
»Diesmal werden wir Benden also sofort informieren wenn wir etwas Verdächtiges bemerken«, fuhr Piemur munter fort und hoffte, den Burgherrn damit erst einmal von Meister Robinton abgelenkt zu haben. »Ich muß gestehen, Toric, Ihr Verhalten N'ton gegenüber war wirklich bewundernswert!«
»Vielen Dank«, sagte Toric sarkastisch.
»Gern geschehen«, fauchte Piemur im gleichen Ton zurück.
Dann grinste er selbstgefällig und bemerkte mit genau berechneter Unverschämtheit: »Sie wären allerdings sehr viel schlechter dagestanden, wenn Saneter und ich nicht für Sie gebürgt hätten!«
Toric reagierte zuerst mit einem starren Blick und dann mit schallendem Gelächter auf diesen Hinweis.
»Ja, du und der alte Saneter, ihr habt tatsächlich mitgespielt, und dafür bin ich euch aufrichtig dankbar, Harfnergeselle.«
»Sogar verpflichtet«, deutete Piemur mit schiefem Lächeln an.
»Noch etwas…«
Toric setzte sich auf die Kante seines Arbeitstisches - das Lachen hatte seine Spannung ein wenig gelöst - und verschränkte die Arme. Die rechte Hand spielte mit dem Burgherrenemblem auf seiner Schulter.
»Du bist schon öfter auf einem Drachen geflogen. Was glaubst du, wieviel sie wirklich gesehen haben?«
Piemur schnaubte. »Splitter und Scherben, Toric, sie suchten nach einer Stelle, wo ein Ei heranreifen konnte, oder nach den Braunen und den Bronzedrachen der Alten. Sie waren so aufgeregt, daß sie sonst bestimmt nichts bemerkt haben. Nun, vielleicht mit Ausnahme von T'bor, aber Sie haben sich ja sehr genau überlegt, wo die vielen Neuankömmlinge ihre Siedlungen errichten durften.«
Piemur grinste verschmitzt.
»Hamians Bergwerk würde aus der Luft im Grund nicht anders aussehen als früher; die übrigen Stollen sind schließlich nichts als Löcher im Boden; der Kai und das Gebäude am Inselfluß dürften vom Himmel aus nicht zu erkennen sein; die Siedlung an der Großen Lagune ist groß, gewiß, und wahrscheinlich waren auch ein paar Fischerboote draußen…«
Piemur zuckte die Achseln.
»Könnte sein, daß T'bor oder F'nor oder sonst jemand, der sich im Süden auskennt, später ein paar peinliche Fragen stellt, aber ich bezweifle es. Das Verbot ist noch immer in Kraft. Sie wollten das Ei zurückholen. Es tauchte ganz von selbst auf. Da zogen sie wieder ab.«
Piemur hatte bereits einen leisen Verdacht, wer das Ei zurückgebracht haben könnte, aber er konnte nicht den geringsten Beweis dafür liefern.
»Und wir müssen uns weiter mit den verdammten Alten herumschlagen.« Torics Tritt gegen das Tischbein fiel jedoch nicht mehr ganz so heftig aus.
»Sie haben Ihre Pläne doch bisher nicht allzu sehr behindert, nicht wahr?« fragte Piemur spöttisch. »Was sie nicht wissen, tut ihnen nicht weh. Ich würde einfach abwarten, Toric.«
»Dann stehst du auf meiner Seite?«
»Wenn ich das heute nicht bewiesen habe, weiß ich nicht mehr, was ich noch tun soll«, antwortete Piemur und legte den Kopf schief. Er mochte Toric, er bewunderte ihn sogar, aber er traute ihm nicht so ganz. Das war nur gerecht. Auch Toric traute Piemur nicht ganz, schon gar nicht, wenn er zu oft in Sharras Gesellschaft war. Es war Piemur nicht entgangen, wie sehr Toric sich bemühte, sie voneinander fernzuhalten; eben erst hatte der Burgherr seiner Schwester nach langem Zögern gestattet, eine abenteuerliche Wanderung nach Süden zu unternehmen, die über Hamians Bergwerke hinausführen sollte.
»Sollte sich die Aufregung bis morgen gelegt haben, dann würde ich mir gern die Gegend hinter der Landspitze östlich des Inselflusses ansehen. Vielleicht komme ich sogar bis zu der Bucht, die Menolly entdeckte, als sie und der Meisterharfner vorn Sturm abgetrieben wurden.«
In Torics Augen blitzte es wachsam auf. Dieser spontane Ausflug kam dem Burgherrn verdächtig vor, und er hatte den Aussagen Menollys und Robintons, wie weit sie gekommen waren, nie so ganz geglaubt, obwohl er nicht leugnen konnte, daß sie wirklich in einen Sturm geraten waren, und daß nur Menollys seemännisches Können das kleine Boot vor dem Kentern bewahrt hatte.
»Kein Drache kann durchs Dazwischen an einen unbekannten Ort fliegen«, erinnerte Piemur den Südländer. »Und kein Mann kann besitzen, was er gar nicht kennt! Meinen Sie nicht auch, Toric?«
***
Piemur stapfte hinter Dummkopf durch das Unterholz.
Der kleine Renner bahnte mit seinem kräftigen Körper einen Pfad durch die wild wuchernden Pflanzen, und weder Äste noch Dornen konnten seinem Fell etwas anhaben. Von oben gab Farli gute Ratschläge, und der Harfner schlug mit der breiten Klinge, die Hamian ihm geschmiedet hatte, hinderliche Ranken und Zweige ab.
Sie kamen an einem zum Meer hin abfallenden Strand heraus, und dahinter erstreckte sich eine hellgrüne, vom Küstenwind aufgewühlte Wasserfläche mit weißen Wogenkämmen.
Seufzend bewunderte Piemur die herrliche Aussicht, dann schaute er zurück zum Wald, wo ihm die dicken Bäume mit ihren Blättern und Wedeln zuwinkten.