Siedlung im Norden von Telgar, Burg Igen
12.04.02
Vom Frühlingsfest auf Burg Igen hörte Thella bei einem ihrer nächtlichen Raubzüge in der Siedlung >Ende der Welt<, wo sie sich aus den Anzuchtbeeten Sämlinge für den kleinen Garten holen wollte, den sie gerade anlegte. Sie hatte sich hinter einigen Ballen Trockenfutter versteckt und belauschte ein Gespräch zwischen dem Stallmeister und dem Scheunenverwalter; beide waren trotz der Gefahren in einer Phase der Fädeneinfälle deutlich neidisch auf die Erwählten, die nach Igen reisen durften.
Die Kunde von einem bevorstehenden Fest war der abtrünnigen Tochter aus dem Telgar-Geschlecht hochwillkommen. Sie konnte nicht damit rechnen, Arbeitskräfte für ihre Bergfestung zu finden, solange die Grundversorgung nicht sichergestellt war, und das mußte auf legale Weise geschehen. Vermutlich brauchte sie nur einmal ein großes Fest zu besuchen, um sich alles Nötige zu beschaffen. Während sie noch wartete, daß die Männer sich entfernten, um dann in die Treibhäuser schleichen und die Sämlinge an sich nehmen zu können, schmiedete sie die ersten Pläne.
Sie hatte den ganzen ersten Planetenumlauf seit dem Wiedereinsetzen der Fädenfälle gebraucht, um ihre schreckliche Enttäuschung zu überwinden. Mißerfolge machten Thella immer schwer zu schaffen, und nun hatte sie nicht nur zwei von ihren schönen Rennern an diese ekelhaften Sporen verloren - die Tiere waren angesichts der am Himmel fliegenden Drachen in Panik geraten und in einen Abgrund gestürzt - sie hatte auch all ihre sorgfältig geplanten, ehrgeizigen Vorhaben aufgeben müssen.
Das Scheitern ihrer Hoffnungen hatte sie zutiefst deprimiert. Sie hatte alles so genau berechnet: wenn sich die Fäden nur noch einen Planetenumlauf Zeit gelassen hätten, könnte sie jetzt sicher in ihrer eigenen Festung sitzen.
Sie hatte das alte Anwesen auf einem ihrer Streifzüge in den Bergen entdeckt. Vor langer Zeit hatte hier jemand gelebt - und auch den Tod gefunden -, denn sie hatte zwölf Schädel entfernt, die einzigen Leichenteile, die sich für die Bergschlangen als unverdaulich erwiesen hatten. Wodurch die Siedler umgekommen waren, würde immer ein Rätsel bleiben, obwohl Thella natürlich Fälle kannte, in denen ganze Hausgemeinschaften durch ansteckende Krankheiten ausgelöscht worden waren.
Davon abgesehen war es den früheren Bewohnern offenbar nicht schlecht gegangen. In den Räumen standen immer noch Möbel aus Holz; der Tisch mit der massiven Platte und die Bettgestelle waren zwar ausgetrocknet und verstaubt, aber noch zu verwenden. Alle Beschläge und Werkzeuge aus Metall waren von einer dünnen Rostschicht überzogen, aber die ließ sich abschleifen. Wasserzisternen und Badebecken waren vorhanden. In den meisten der nach Süden gerichteten, von tiefen Laibungen geschützten Fensteröffnungen war das Glas noch erhalten. Die vier großen Feuerstellen zum Heizen und Kochen brauchten nur gesäubert zu werden.
Bei ihren ersten Erkundungen - damals, ehe es Sporen regnete, als Thella noch ein junges Mädchen voller Selbstvertrauen und mit hochfliegenden Plänen war - hatte sie in den steinernen Vorratstruhen der Schlafräume sogar uralte, brüchige Stoffe und im Stall Getreide gefunden.
Die mit Steinmauern umfriedeten Hochweiden würden genügend Schlachtvieh ernähren, und an einer Seite der Höhle befanden sich Verschlage für Geflügel. Thella wußte, daß der Herdenmeister über widerstandsfähige Rassen verfügte, die auch auf Bergwiesen gediehen.
Die Vorstellung, ihre Wohnraum mit Tieren zu teilen, sagte ihr zwar nie besonders zu, aber sie hatte gehört, daß sich auf die Weise zusätzliche Wärme erzeugen ließ, und dafür war man in dieser Höhe sicher dankbar.
Inzwischen hätte dieses Anwesen vollkommen instandgesetzt und ihr eigen sein können! Ihr eigen! Sie hätte nur einen oder zwei Planetenumläufe länger Zeit gebraucht.
Die alte Verfassung von Pern gab ihr da Recht dazu, und das Konklave der Burgherren mußt sie als Besitzerin anerkennen, sobald sie ihr Können unter Beweis gestellt hatte. Ihr Vater hatte ihr auf vorsichtige Fragen einmal erklärt, jedermann habe Anspruch auf eigenen Grund und Boden, man müsse nur glaubhaft machen, daß man in der Lage sei, ihn selbständig und fachmännisch zu bewirtschaften.
Und bei einer ebenso vorsichtigen Suche in den alten Archive hatte sie herausgefunden, daß dieser Berghof einst von einem Geschlecht mit Namen Benamin gegründet worden war, aber schon vor Anbruch der letzten Annäherungsphase leergestanden hatte.
Nur ihre feste Entschlossenheit, ihre Fähigkeiten zu beweisen und ihr Stolz auf ihre Stellung als älteste Tochter einer der vornehmsten Familien auf Pern, in direkter Linie vom Gründer der Sippe abstammend, ausgestattet mit den besten Eigenschaften des Geschlechts, nämlich Schönheit, Intelligenz und Tüchtigkeit -, hatten sie in jenem ersten Umlauf am Leben erhalten.
Aber es war ein Leben von der Hand in den Mund gewesen, wie es selbst das fahrende Volk verschmäht hätte. So sehr sie ihr Schicksal verwünschte, sie hatte in jenem ersten Winter ihre Bergfestung verlassen müssen, ehe der Schnee den einzigen Pfad ins Tal unter sich begrub, um nicht ebenfalls Schlangenfutter zu werden.
Eine weitere Kränkung blieb ihr nicht erspart.
Wieder geriet ganz Pern, gerieten Burgen, Höfe und Gildehallen in Abhängigkeit von diesen erbärmlichen Drachenreitern, die eigentlich längst zum alten Eisen gehörten.
Diese Ansicht hatte jedenfalls ihr Vater vertreten. Seit dem Ende der letzten Phase war kein Drachenreiter mehr durch Telgars Burg stolziert. All das wirkte wie eine einzige gigantische, gegen Thella von Telgar gerichtete Verschwörung. Aber sie würde ihre Ausdauer, ihre Anpassungsfähigkeit beweisen. Nicht einmal die Fäden würden sie letzten Endes aufhalten können.
Und so kam es, daß Thella einen geruhsamen Winter hinter sich hatte, als der zweite Frühling dieser völlig erwarteten - aber eben doch eingetretenen - Phase anbrach, denn sie hatte in drei kleinen, aber wetterfeien und gut versteckten Höhlen Unterschlupf gefunden.
Überall hatte sie Proviant zurückgelassen, um bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können. Inzwischen hatte sie Übung darin, sich aus kleineren Gehöften in Telgar und Lemos zu holen, was sie brauchte. Das einzige Problem waren Stiefel. Ihre Füße hatten eine ungewöhnliche Form - ziemlich lang, breit an den Ballen und mit schmalen Fersen - und wo immer sie auch gesucht hatte, sie hatte kein passendes Schuhwerk finden können. Früher hatte der Burgschuster ihren Bedarf gedeckt; sie hatte auf Telgar einen ganzen Schrank voll Stiefel und Schuhe zurückgelassen, und nun bereute sie, nicht besser vorgesorgt zu haben, denn das Leder ihres einzigen Paars war durch die starke Beanspruchung verschlissen. Aber sie hatte schließlich nicht damit gerechnet, fast zwei Planetenumläufe lang in der Wildnis leben zu müssen.
Alle anderen Kleidungsstücke hatten sich auftreiben lassen. In >Ende der Welt< und auf einem der nahegelegenen Anwesen gab es etliche hochgewachsene Männer und folglich auch ausreichend Kleidung. Natürlich nahm sie nur neue Hosen und Hemden - Thella von Telgar würde niemals so tief sinken, daß sie gebrauchte Kleidung trug. Sie hatte auch keine Schwierigkeiten, eine warme Jacke aus dichtem Winterfell und für jedes ihrer drei Schlupflöcher einen pelzgefütterten Schlafsack an sich zu bringen.
Diese Dinge sowie die Nahrungsmittel, die sie entwendete, waren schließlich nur ein bescheidener Teil dessen, was der Familie eines Burgherrn an Abgaben zustand, deshalb bediente sie sich ohne Gewissensbisse; sie wollte nur nicht dabei gesehen werden - noch nicht. Aber Stiefel… Stiefel waren etwas anderes, und sie wäre unter Umständen sogar von ihren Grundsätzen abgewichen, um an ein anständiges Paar zu kommen.
Eine Reise nach Igen zu einem Fest wäre die beste Möglichkeit, um das Problem mit dem Schuhwerk zu lösen und ein paar weitere Kleinigkeiten zu erstehen, um die Grundversorgung künftiger Pächter sicherzustellen. Vielleicht konnte sie einen geeigneten Herdenaufseher anheuern, vorzugsweise mit Familie, denn sie brauchte schließlich Mägde. Die ganze Sippschaft konnte im Stallbereich unterkommen, dann wurde sie selbst nicht gestört. Aus ihrer näheren Umgebung wollte sie niemanden beschäftigen, und ein Fest war eine ausgezeichnete Gelegenheit, passende und zuverlässige Leute zu finden.
Das Fest in Igen sollte in zehn Tagen stattfinden. Auf den Karten, die sie von Telgar mitgenommen - und sich fest eingeprägt hatte waren alle Höhlenlagerplätze auf dem Weg durch das Tal von Lemos bis nach Igen verzeichnet, die Hinreise sollte also weiter keine Schwierigkeiten bereiten. Nach allem, was sie belauscht hatte, würde es einen Fädeneinfall geben - im Norden, über den Bergen von Telgar - und sie würde noch einen zweiten über Keroon und Igen abwarten müssen.
Nicht zum ersten Mal in den vergangenen achtzehn Monaten wünschte sie sich, genau zu wissen, wann mit Fäden zu rechnen war. Ein paarmal war sie nur ganz knapp entronnen - einerseits den Sporen selbst, aber auch den Bodentrupps und den Patrouillenreitern.
Noch paßte es nicht in ihre Pläne, daß irgend jemand Verdacht schöpfte, wo sie sich aufhielt und was sie vorhatte.
Sie nahm ihre beiden Renner mit und ritt sie abwechselnd, um schneller voranzukommen. Die Reisenden von >Ende der Welt<, denen sie unterwegs nicht begegnen wollte, hatte sie auf diese Weise bald hinter sich gelassen, obwohl sie früher aufgebrochen waren. Einer der angesteuerten Lagerplätze erwies sich als voll besetzt, und sie mußte sich eine andere Übernachtungsmöglichkeit suchen. Ihre Wut darüber legte sich jedoch schnell, als sie eine bislang nicht verzeichnete Höhle mit einem kleinen Bach entdeckte, der an der Innenwand einen Teich bildete - sie konnte die Renner im Höhleninneren anbinden und sich den Luxus eines Bades gönnen.
Am nächsten Morgen versah sie die Stelle mit einer unauffälligen Markierung, um sie mit Hilfe ihres untrüglichen Ortsgedächtnisses wiederfinden zu können.
Von da an suchte sie gezielt nach solchen abseits gelegenen Höhlen und vermied dadurch unnötige Begegnungen.
Erstaunlich viele Leute waren unterwegs - verständlich, da dies offenbar das erste Frühlingsfest seit Beginn der neuen Phase war.
Am letzten Abend lagerte sie so dicht vor Igen, daß sie die Burg zu Fuß in einer Stunde erreichen konnte.
Im Morgengrauen tränkte sie ihre Renner am breiten Fluß, legte ihnen Fußfesseln an und ließ sie in einer kleinen Schlucht ohne Ausgang zurück, an deren Hängen schon die ersten grünen Wüstenpflanzen dieses Frühlings sprießten. Ihr Gepäck versteckte sie hinter einem Felsen.
Nun zog sie das weite Gewand der Wüstenbewohner an, das sie von einer unachtsamen Kleinbäuerin entwendet hatte, und versteckte ihr sonnengebleichtes Blondhaar unter dem Kopfschleier, den sie mit einem passenden Band befestigte. Um ihre Züge härter wirken zu lassen, rieb sie sich Schmutz ins Gesicht und zog sich die Augenbrauen mit Holzkohle nach.
Dann legte sie sich den traditionellen Wasserschlauch der Wüstenbewohner quer über die Schultern und überquerte, noch ehe sie die Festflagge auf dem Trommelturm der Burg Igen erkennen konnte, im Laufschritt die Hochebene oberhalb des Flusses.
Bald überholte sie aufgeregt schwatzende Grüppchen, die in die gleiche Richtung gingen, und erwiderte ihren Gruß mit einem abweisenden Knurren. Wüstenbewohner waren meist schweigsam, also würde niemand von ihr erwarten, daß sie Konversation machte.
Und da sie sich zum Laufen entschlossen hatte, zog sie an allen vorbei, die in weniger anstrengendem Tempo ihrem Ziel zustrebten.
Als sie eintraf, war es heller Morgen, und auf dem Festplatz von Igen herrschte bereits reges Treiben. Willig opferte sie eine Viertelmarke für etliche heiße Brotteigtaschen, die auf einem Blech über einem knisternden Ölstrauchfeuer frisch gebacken wurden. Ein paar Scheiben Weichkäse zwischen das Brot gelegt, und schon hatte man ein ausgiebiges Frühstück.
Ein wenig verärgert war sie, als man ihr für einen schlecht geformten Tonbecher für den Klah einen drastisch überhöhten Preis abforderte. Aber es hieß bezahlen oder verzichten, und sie hatte so lange keinen Klah mehr bekommen, daß sie dem Geruch nicht widerstehen konnte. Bisher hatte sie auf einem Fest nie eigenes Geschirr gebraucht, da sie immer im Saal des Burgherrn gespeist hatte, und so hatte sie nicht daran gedacht, etwas dergleichen aus ihrem Reisebündel mitzunehmen. Zum Glück war wenigstens der Klah ganz frisch und hatte nicht die ganze Nacht über auf dem Herd gestanden. In der Nähe waren Köche damit beschäftigt, Fleisch von einem Dutzend Herdentieren auf Spieße zu stecken und über schwelende Feuergruben zu hängen. Bald würde der Duft die Festbesucher daran erinnern, wie ausgezeichnet man auf Igen den Braten zu würzen verstand.
Gesättigt schlenderte sie auf die großen, farbenprächtigen Festzelte zu und registrierte mit kritischem Blick jede Knitterfalte und jedes kürzlich verstopfte Tunnelschlangenloch. Ein Fest auf Igen erforderte ungewöhnliche Vorbereitungen. Da die Sonne am Mittag fast so heiß schien wie am Äquator, hätten die Händler die sengenden Strahlen nicht ertragen, deshalb wurden die Stände unter einem Zeltdach mit Korridoren aus Segeltuch errichtet, deren Seitenwände man aufrollen konnte. Das sorgte für Durchzug und ermöglichte ein schnelles Verlassen des Marktes.
Thella bemerkte ein paar verhungert aussehende Gören, die ständig hinein- und hinausschlüpften. Am ersten Eingang an der Ecke wurden unter Aufsicht des Festverwalters die Pfosten für einen Baldachin gegen die glühende Mittagssonne in den Boden gerammt. Drinnen war es nach der frostigen Wüstennacht noch kühl. Viele Stände hatten bereits geöffnet, und die Gesellen lockten die vereinzelten Festbesucher an, die auf dem überdachten Platz umherschlenderten.
Mit einem flüchtigen Blick auf die Gerberbude stellte Thella fest, daß dort eine Werkbank aufgestellt und die verschiedensten Leisten und Werkzeuge zurechtgelegt waren, man würde also auch Schuhe nach Maß anfertigen. Ein paar Lehrlinge waren noch dabei, unter den Augen des Meisters die Reisekörbe auszupacken, während dieser seine Waren gefällig ausbreitete und ein älterer Geselle umständlich die am Zeltpfosten angebrachten Preistafeln zurechtrückte.
Im Weitergehen begriff Thella plötzlich die Bedeutung eines Schildes, das verkündete, das Leder des Meisters sei fädensicher. Sie schnaubte. Fädensicher, von wegen!
Die Buden der Weber und Schmiede beachtete sie vorerst nicht, sondern blieb stehen, um sich den verpfuschten Becher mit Fruchtsaft füllen zu lassen. Trotz des Luftzugs erwärmte sich das Zelt allmählich, denn nun drängten zunehmend Leute herein, um ihre Einkäufe zu erledigen, ehe die Hitze zu groß wurde und alle zur Mittagsruhe zwang. Thella ging den ganzen Marktplatz ab, dann hob sie, um ihrem Zorn auf den wucherischen Töpfer Luft zu machen, einen Stein auf, mit dem jemand die Zeltpfosten eingeschlagen hatte, und schleuderte ihn mit einer schnellen Bewegung über die Schulter auf seinen Stand. Als sie ins Zelt zurückhuschte, hörte sie ein befriedigendes Klirren und einen gequälten Aufschrei und lächelte.
Ihr Groll hatte sich gelegt, und sie war bereit, sich um ihre Stiefel zu kümmern. Als der Gerbermeister sie höflich an seinen Gesellen verwies, um selbst einige besser gekleidete Kunden zu bedienen, schäumte sie wieder und überlegte schon, wie sie ihm diese Taktlosigkeit heimzahlen könne. Der Geselle, ein Mann mit sanfter Stimme und großen Händen voller Narben von Ledermesser und Nadel, zeigte sich jedoch so ehrerbietig und tüchtig, daß sie sich beschwichtigen ließ.
Er probierte ihr sofort ein Paar derbe, bis zur Wade reichende Fellstiefel und ein Paar knöchelhohe Halbschäfter aus Wherleder an, dann nahm er sorgfältig Maß für lange Reitstiefel und versprach, sie noch vor Mittag fertigzustellen. Sie bezahlte ihm die Fellstiefel, die sie gleich anzog, und die Halbschäfter, die sie an ihren Wasserschlauch band, und entrichtete die Hälfte des Preises für das dritte Paar. Auf diese Weise würde sie nicht allzu viele Marken einbüßen, falls sich ihre Pläne änderten und sie die Stiefel doch nicht abholen konnte.
Sie wartete noch, während er einem Lehrling auftrug, nach dem eben angefertigten Muster die Sohle zuzuschneiden, dann verließ sie zufriedengestellt den Stand.
***
Er fiel sogar auf einem Fest aus dem Rahmen - und aus dem Rahmen fielen auch seine abgerissene Kleidung und die dumpfe Wut in seinem Gesicht, die jeden veranlaßte, sich auf Armeslänge von ihm fernzuhalten. Seine demonstrativ zur Schau getragene Unnahbarkeit hatte fast etwas Rührendes, so als rechne er fest damit, von allen gemieden zu werden.
Nur zögernd trennte er sich von einer Viertelmarke für ein paar Brottaschen, wobei er sich umständlich die größten Stücke auf dem Backblech aussuchte und dann wartete, bis sie fertig waren. Aber er war sehr kräftig, und das nahm sie für ihn ein. Sie würde kräftige Männer brauchen, und am besten solche, die ihr sehr zu Dank verpflichtet wären, wenn sie bei ihr unterkämen.
Plötzlich fiel ihr auf, daß sich auf diesem Fest ungewöhnlich viele Gestalten herumtrieben, die so verwahrlost aussahen, als hätten sie keine Bleibe. Nur wenige wagten sich überhaupt in das Festzelt, was auch besser war, wenn sie keine Marken hatten, aber sie schlenderten ganz zwanglos draußen in der Menge umher. Thella hatte ihre prallgefüllte Gürtelbörse mit der guten Telgar-Währung unter ihrem weiten Gewand verborgen, aber sie schob sie trotzdem unauffällig unter ihr Hemd und sah sich gleichzeitig nach den Wachen um, die Baron Laudey eigentlich zum Schutz gegen Unruhestifter und Taschendiebe aufgestellt haben sollte. Dieses Frühlingsfest war ausnehmend gut besucht, immerhin war es das erste seit dem Wiedereinsetzen der Fädenfälle.
Ja, daran lag es, erkannte sie.
Während einer Annäherungsphase gab es immer mehr Heimatlose. Burgherren besaßen innerhalb ihrer Mauern absolute Befehlsgewalt und vergewisserten sich, daß jeder, den sie in so harten Zeiten unterstützten, seinen Unterhalt auch wirklich verdiente. Jeder Besitzer eines kleineren oder größeren Hofes konnte Reisenden selbst dann ein Obdach verweigern, wenn die Fädenfront schon ganz nahe war.
In solchen Zeiten arbeiteten die Mensche fleißiger und gehorchten aufs Wort, oder sie verloren ihre Zuflucht. Und das war auch ganz richtig so, Thella war voll damit einverstanden.
Wenn ihr nur etwas mehr Zeit geblieben wäre, dann hätte auch sie sich auf diese altehrwürdigen Rechte berufen können. Aber sie würde nicht aufgeben, und wenn sie dabei zugrundeging. In einer Hinsicht konnten sich die Fädeneinfälle sogar zu ihrem Vorteil auswirken. Für ein schützendes Dach und steinerne Mauern würden sich genug Leute danach drängen, selbst auf einem einsamen Hof hoch oben in den Bergen zu arbeiten.
Sie begann sich dafür zu interessieren, welches Gewerbe die Schulterknoten der Heimatlosen anzeigten, und versuchte abzuschätzen, wie stark und wie verzweifelt die einzelnen waren. Bisher war ihr Anwesen eher bescheiden, aber es ließ sich ausbauen.
Noch einmal wanderte sie an den Ständen und Buden vorbei, vergewisserte sich mit einem Blick, daß ihr drittes Paar Stiefel Fortschritte machte, und spitzte die Ohren, um Neuigkeiten oder nützliche Informationen aufzuschnappen.
Was sie hörte, war aufregender als jedes Harfnermärchen. Vieles war geschehen, seit die ersten Fäden wieder auf Pern gefallen waren. Der Benden-Weyr hatte sich verbissen bemüht, mit dem Niederschlag fertigzuwerden. Dann hatte sich Lessa, die Reiterin Ramoths, Bendens einziger Drachenkönigin, zu einer Tat aufgeschwungen, die selbst für das an Helden reiche Pern unvergleichlich war, und ihr Leben und das ihres Drachen aufs Spiel gesetzt, um die fünf verlorenen Weyr von Pern aus der Vergangenheit zu holen. Vierhundert Planetenumläufe war sie zurückgegangen, in eine Zeit, als es noch sechs voll besetzte Weyr gab, und hatte die Drachenreiter überredet, der allem Anschein nach dem Untergang geweihten Gegenwart zu Hilfe zu kommen.
Thella konnte an dieses Kunststück nicht so recht glauben, aber es mußte wohl stattgefunden haben, denn überall tauchten prahlerische Drachenreiter mit den Farben der Weyr von Telgar, Ista und Igen, aber auch von Benden auf. Und es ließ sich nicht übersehen, daß Burg und Gildenhalle ihnen in allem zu Willen waren.
Als sie bei einem späteren Rundgang den Lehrling in demütiger Pose mit einem Drachenreiter von Ista sprechen sah, warf sie ihm einen strengen Blick zu. Der junge Mann erbleichte, entschuldigte sich und stichelte an ihrem halbfertigen Stiefel weiter. Schon die Vorstellung, daß er die Arbeit für eine Telgar hintanstellte…
Thella mußte sich widerwillig eingestehen, daß sie sich nicht mehr auf diesen Rang berufen konnte und stolzierte aufgebracht davon.
Diese Drachenreiter! Führten sich auf, als habe man das Fest nur ihnen zu Gefallen veranstaltet. Die meisten waren von Mädchen umschwärmt, und den anderen lasen junge Burschen ehrfürchtig jedes Wort von den Lippen ab! Hinterhältiges Gesindel! Trotz ihrer Ernüchterung entging es Thella freilich nicht, daß zwischen den Reitern von Benden und denen der drei anderen Weyr ein Unterschied bestand. Die -wie hatte man sie noch genannt? Alte? -, die Alten zeigten das unverkennbar forsche Auftreten von Menschen, die von ihrer Bedeutung völlig überzeugt sind, während die Benden-Reiter ebenso deutlich eine beflissene, ja fast schüchterne Artigkeit an den Tag legten.
Keine der beiden Haltungen fand Thellas Billigung. Ohne die Unterstützung der Burgherren hätte der Weyr - die Weyr, verbesserte sie sich sofort, obwohl es ihr immer noch schwerfiel, an deren Wiederherstellung zu glauben - nicht weiterbestehen können.
Auf dem überdachten Platz wurde es allmählich stickig, aber während sie unter den in der Nähe der Feuergruben errichteten Baldachine ihr Mittagsmahl einnahm, wurden ihre Stiefel zum letzten Mal gewienert Der Gerbermeister drückte seinen Stempel auf das fertige Produkt, und sie bezahlte die zweite Hälfte des Preises. Man überreichte ihr die Stiefel ordentlich verpackt in einem groben Tuchbeutel, den sie sich zu ihren anderen Paketen über die Schulter hängte.
Während ihres Rundgangs hatte Thella Samen für spät reifendes Wurzelgemüse gekauft, die laut Garantie des zuständigen Saatzuchtmeisters einen guten Ertrag bringen sollten. Auch Gewürze erstand sie, ein paar kleine Säckchen würden ihre Renner nicht allzu sehr belasten, und bei der Zubereitung von wildem Wherfleisch würde man froh darum sein. Nun brannte die Mittagssonne auf das Zeltdach nieder, und darunter wurde es unangenehm heiß. Alles drängte zu den Ruhezonen, um dort die schlimmste Hitze abzuwarten.
Thella spielte mit dem Gedanken, das Fest zu verlassen, obwohl sie noch keine Arbeiter für ihre Festung angeworben hatte, aber zu dieser Tageszeit konnte sie sich unmöglich auf den Weg machen. So suchte sie sich ein Plätzchen im Westgang des Festzelts, legte sich ihre neuen Stiefel als Kissen unter den Kopf und machte es sich trotz ihrer Bedenken wegen aller möglichen Gefahren einigermaßen bequem. Der Anblick patrouillierender Wachen zum Schutz der Schläfer beruhigte sie, und sie nickte ein.
Sie erwachte, weil sie neben ihrer ausgestreckten Hand eine Bewegung spürte. Im letzten Planetenumlauf hatte sie gelernt, auf das leiseste Geräusch, sogar auf die fast lautlose Annäherung der Tunnelschlangen zu reagieren. Als sie die Augen aufschlug, sah sie dicht hinter sich eine kleine Gestalt, die sich, ein Messer in der schmutzigen Hand, über einen schlafenden Mann beugte und gerade nach seiner prallgefüllten Börse greifen wollte.
Wie dumm, einen Dieb derart in Versuchung zu führen, dachte sie. Im Nu hatte sie ihr eigenes Messer in der Hand und zielte auf den Gebeugten. Die Klinge drang in den fleischigen Teil eines Schenkels ein, Thella hörte ein gedämpftes Zischen, und dann huschte die Gestalt davon und schlüpfte unter der Zeltbahn hindurch nach draußen. Sie warf einen Blick auf den Besitzer der Börse, der mit runden, weit aufgerissenen Augen ihre blutige Klinge fixierte.
»Sie sind wirklich flink«, sagte er, schob die Börse unter sein Hemd und ordnete seine Kleider so, daß die Ausbuchtung nicht zu sehen war. Sein Schulterknoten wies ihn als Herdenaufseher aus Igen aus.
»Das hätten Sie besser vor dem Einschlafen getan«, murrte Thella und wischte ihr Messer am Umhang irgendeines Nachbarn blank. Sie haßte es, aus tiefem Schlummer gerissen zu werden. Die Hitze lag wie eine erstickende Decke über dem Zelt, obwohl ein leichter Wind die Eingangsklappe bewegte. Hier würde sie nie wieder einschlafen können, und es war immer noch zu heiß, um an eine Rückkehr zu ihren Rennern auch nur zu denken.
»Ich hatte mich daraufgelegt, aber ich habe mich im Schlaf umgedreht«, gab der Herdenaufseher ebenso mürrisch zurück und fächelte sich mit einer Hand Luft zu. »So ein grüner Junge bin ich nun wieder nicht, glauben Sie mir. Ich habe mir einen Platz zwischen lauter anständigen Männern und Frauen gesucht«, quengelte er beleidigt weiter. »Sehen Sie sich den Wächter an, er ist im Stehen eingeschlafen.« Aber noch während er sprach, merkten sie, daß der Wächter sie beide beobachtete. »In diesen Zeiten wird es immer schwieriger, anständige Leute« - er deutete auf die anderen Schläfer, an den brandneuen Emblemen als Besitzer kleinerer Anwesen in Igen und Keroon erkennbar, die in ihren Festkleidern in der Tat recht wohlhabend aussahen -»bei Festen zu beschützen, wo sich so viel heimatloses Gesindel herumtreibt. Man sollte sich beschweren, eine derartige Verletzung der Privatsphäre ist schockierend.
So etwas muß aufhören, man muß ein Exempel statuieren. Je mehr von uns den Mund aufmachen, desto früher werden solche Verhaltensweisen verschwinden. Sie stellen sich doch gewiß als Zeugin zur Verfügung?« Seine Stimme war mit jedem Satz lauter geworden, und einige der Schläfer regten sich. Der Wächter bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, weniger Lärm zu machen.
»Als Zeugin?«
Thella war einen Moment lang erstaunt über diese Dreistigkeit.
»Nein.«
Als sie sah, daß sie ihn gekränkt hatte, fügte sie hinzu.
»Wenn es dunkel wird, bin ich schon unterwegs. Aber Sie haben natürlich recht, es ist schockierend.«
Ein bißchen Entgegenkommen kostete schließlich nichts.
Seine Entschlossenheit geriet ins Wanken.
»Haben Sie weit nach Hause?«
Sie nickte und legte sich wieder hin, um zu zeigen, daß sie weiterschlafen wollte.
»Gehen Sie vielleicht nach Norden, am Westufer entlang?«
Thella sah ihn überrascht an. Sie hatte im Moment ganz vergessen, daß man sie ihrer Kleidung und Größe nach durchaus für einen Mann halten konnte.
»Schon möglich.« Sie dachte an die Börse, die vor Marken fast platzte. Er war viel älter als sie und sah nicht aus, als sei er besonders gut in Form. Du gehst ein Stück mit ihm, bis du außer Hörweite bist, gibst ihm eins über den Schädel, und schon gehört dir die Börse und alles, was er in seinem Reisesack hat, ohne daß du dich groß anzustrengen brauchst.
»Wenn Sie mich bis zu meinem Hof begleiten, soll es Ihr Schaden nicht sein«, fuhr er fort und zwinkerte ihr vielsagend zu. »Wir könnten dort sein, ehe die Monde untergehen. Eine halbe Harfnermarke bar auf die Hand wäre mir Ihre Gesellschaft schon wert.«
»Hm, dafür laufe ich gern neben Ihnen her«, willigte Thella nach kurzem Überlegen ein. Wie leicht sich ein anständiger Mann doch täuschen ließ, er hielt alle anderen für ebenso ehrlich, dachte sie, nickte ihm zu und schloß dann die Augen. Sie brauchte noch ein wenig Schlaf.
Als es ringsum wieder lebendig wurde, erwachte sie zum zweiten Mal. Sie trat mit dem Herdenaufseher aus Igen in den kühlen Abend hinaus und strebte den Latrinengruben zu. Als jeder in dem allgemeinen Gedränge nach einem ungestörten Platz suchte, konnte sie ihm entwischen. An den Waschbecken fand sie ihn wieder.
Auf dem Tanzplatz spielten bereits die Harfner auf, auch wenn sich jetzt wohl noch niemand im Takt der Musik bewegte. Die Abendluft war geschwängert mit den verlockenden Düften des Würzbratens, und Thella und der Herdenaufseher stellten sich in stummem Einvernehmen in die Reihe, die auf eine Scheibe Fleisch wartete. Der Herdenaufseher spendierte ihr einen Becher Wein.
»Zum Dank für die Rettung in der Not. Haben Sie jemanden gesehen, der hinkt?« fragte er. Thella schüttelte den Kopf, aber sie hatte auch gar nicht nach dem Schuldigen gesucht. Statt dessen hatte sie beobachtet, wie der Hüne, der ihr schon früher aufgefallen war, sich ein heruntergefallenes Stück Fleisch schnappte und damit davonlief. Hungrig genug, um es mit Sand und Dreck hinunterzuschlingen, dachte sie, verärgert über den Anblick. Festgäste sollten ihre Mahlzeiten ohne solche Störungen genießen können. Immerhin, wenn dieser Mann trotz seiner Kraft und Wendigkeit so tief gesunken war… sie wünschte, sie hätte nicht versprochen, den Herdenaufseher zu begleiten.
Sie bezahlte eine zweite Runde Wein, denn sie wußte, daß solche Gesten auf einem Fest auch von flüchtigen Bekannten erwartet wurden. Der Alkohol löste die Zungen. Als sie dem Winzer eine halbe Marke in die weinfleckige Hand schob, gestattete sie dem Herdenaufseher einen Blick auf ihre eigene, wohlgefüllte Börse.
Sie kaufte gleich mehrere Scheiben Fleisch. »Für morgen Mittag«, erklärte sie dem Herdenaufseher, der ihr daraufhin versicherte, für diese Mahlzeit würde er schon sorgen.
»Sagten Sie nicht, wir würden bei Monduntergang auf Ihrem Hof sein?« fragte sie mit einem schnellen Blick.
»Gewiß, gewiß«, stimmte er hastig zu und äußerte sich nicht weiter, als sie das Fleisch in die Tasche des Wasserschlauchs schob.
Etwas an seiner Stimme, eine Kleinigkeit in seinem Verhalten hatte ihr Mißtrauen erweckt, aber sie ließ sich nichts anmerken. Als er die Becher noch einmal füllen ließ, tat sie so, als halte sie Schluck für Schluck mit, verschüttete aber heimlich den größten Teil des Weins.
Dann zwinkerte er ihr vielsagend zu und ließ sich vom Winzer auch noch seine Reiseflasche füllen. Allmählich fand sie seine Aufdringlichkeit lästig.
Es sah nicht so aus, als würde ihn jemand vermissen, wenn sie sich mit ihm entfernte, also verließen sie den Festplatz, schlenderten am Lagerplatz vorbei, wo es inzwischen fast ebenso fröhlich zuging wie im Festzelt, und gelangten schließlich auf die breite Straße am Fluß, in dem sich das Licht des Mondes Timor spiegelte. Belior, der schnellere Mond, ging gerade auf. Bald würde der Weg taghell erleuchtet sein und sehr viel freundlicher aussehen.
Sie waren schon ein paar Minuten unterwegs, ehe Thella mit ihren in den Widrigkeiten der letzten Monate geschärfte Sinnen erkannte, daß sie verfolgt wurden.
Igens Stallungen und die kleinen Katen zu beiden Seiten der Burg lagen bereits hinter ihnen. Weit und breit waren keine Reiselaternen mehr zu sehen. Ihrer Schätzung nach befand sich der Verfolger links hinter ihnen und nützte den spärlich bewachsenen Hang als Deckung.
»Was für eine herrliche Nacht!« rief sie, breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis, um sich nach allen Seiten umzusehen. Tatsächlich, da war jemand, zur Linken, noch etwa vier Längen entfernt.
»Ja, ja«, stimmte der Herdenaufseher zu, »und Belior geht gerade auf. Wir müssen uns beeilen.«
»Warum?« Thella gab sich streitlustig, als sei ihr der viele Wein zu Kopf gestiegen, den sie seiner Meinung nach getrunken hatte. »War'n schönes Fest, ich hab neue Stiefel« - sie begann zu nuscheln -, »und wenn ich nich so weit nach Hause hätt, war ich länger in der netten Gesellschaft geblieb'n. Hoppla!« Sie tat so, als sei sie über einen Stein gestolpert. Als sie sich wieder erhob, steckte ihr Messer in einem Ärmel, und in der anderen Hand hielt sie einen glatten Stein.
»Ganz vorsichtig«, sagte der Herdenaufseher, trat an ihre rechte Seite und streckte die Arme aus, als wolle er sie stützen. Er sprach lauter als nötig, und sie wußte, daß das nicht am Wein lag.
Vor ihnen ragte ein Felsen aus dem Hang, und der Pfad machte eine Biegung zum Fluß hin. Aha, jemand glaubte also, sie ließe sich so einfach ins Wasser werfen. Nun, das würde man ja sehen.
Sie befanden sich im Schatten der Klippe, als sie ein leises Scharren im Sand hörte. Alle Sinne angespannt, wartete sie noch einen winzigen Moment, und gerade als ein Körper durch die Luft geflogen kam und ein Dolch im Mondlicht aufblitzte, packte sie den Herdenaufseher und riß ihn an sich. Sie grinste, als er noch einen Schrei ausstieß, bevor ihm das Messer des Angreifers die Kehle durchschnitt. Dann schritt sie zur Tat, setzte ihrem Gegner ihr eigenes Messer in den Nacken, daß es ihm die Haut ritzte, stieß ihm ein Knie in den Rücken und drückte ihm den Kopf tief nach unten, so daß sein Gesicht gegen den Umhang und den Reisesack seines Opfers gepreßt wurde und er kaum noch atmen konnte.
»Nicht!« ertönte eine gedämpfte Stimme. Die Hand mit dem Messer wurde langsam ausgestreckt, die Klinge fiel zu Boden.
»Ganz ruhig jetzt. Ich werde leicht nervös«, mahnte sie mit künstlich rauher Stimme. Sie faßte ihn am Handgelenk, und als er sich nicht wehrte, riß sie ihm den Arm erst nach hinten und dann bis zu den Schulterblättern nach oben. Sie spürte die schwellenden Muskeln und staunte selbst darüber, daß es ihr gelungen war, einen so starken Mann zu überwältigen.
Freilich ging sein Atem flach, er war solche Anstrengungen offensichtlich nicht gewöhnt. Sie verdrehte ihm den Arm noch ein Stück weiter und hörte ihn vor Schmerz ächzen, wo ein Schwächerer aufgeschrien hätte - sie verstand sich auf solche Griffe.
»Hat er dich eigens auf mich angesetzt?«
»Ja.«
»Bin ich die einzige? Für ein Fest ist es noch früh am Abend.« Als er lange genug geschwiegen hatte, verdrehte sie ihm noch einmal den Arm, und er ächzte wieder. »Sonst noch jemand?«
»Ja, er hatte noch andere ausgewählt. Ich sollte Sie erledigen und dann zurückkommen.«
»Ein schönes Fest für dich. Was hat er dir versprochen?«
Wenn der Hüne seinem Auftraggeber tatsächlich so weit vertraut hatte, daß er zum Fest zurückkehren wollte, mußte er sehr einfältig sein. Der Herdenaufseher hätte seinen Helfershelfer ohne weiteres der Wache übergeben können.
»Die Hälfte der Beute. Er hat gesagt, es würde reichen, um mich in einen Hof einzukaufen.«
»In einen Hof einkaufen?« Thella war so überrascht, daß sie vergaß, mit tiefer Stimme zu sprechen.
»Ja, es gibt Höfe, wo man gegen Bezahlung für einen Sommer unterkommen kann. Wenn sie mit einem zufrieden sind, darf man bleiben. Ich kann gut mit einem Flammenwerfer umgehen. Ich hab's nur nicht gern, wenn Fäden fallen und ich kein Dach über dem Kopf habe.«
Er preßte die Sätze stoßweise heraus, machte aber keinen Versuch, sich ihrem Griff zu entwinden, Dabei war sie gar nicht sicher, wie lange sie noch den nötigen Druck ausüben konnte, um den Mann am Boden zu halten. Er war wirklich ein Riese. Durchaus möglich, daß es derselbe war, den sie schon am Morgen bemerkt hatte, aber sie hatte den Herdenaufseher den ganzen Nachmittag lang mit niemand anderem zusammen gesehen, die beiden mußten den Plan schon früher ausgeheckt haben.
Nun, wenigstens jammerte er nicht über die ungerechten, ausbeuterischen Grundherren.
»Und wieviel Loyalität könnte ein Hofbesitzer von dir - und deinem Messer erwarten?« Sein Körper zuckte unter ihrem Knie.
»Lady, nehmen Sie mich auf, solange die Fäden fallen, oder stoßen Sie zu.« Seine Muskeln entspannten sich, als habe er es aufgegeben, gegen das Schicksal anzukämpfen. Er war ihr ausgeliefert, und sie hätte gerne ausprobiert, ob sie ihn nicht nur mit ihrem Verstand bezwingen konnte, sondern auch die Kraft aufbrachte, ihn zu töten.
»Aber es ist doch so einfach, vom Töten zu leben«, sagte sie mit trügerisch sanfter Stimme.
»Ja, Töten ist einfach, aber als Ausgestoßener zu leben ist nicht leicht, ganz und gar nicht leicht.« Das klang zutiefst resigniert.
»Wie heißt du?« fragte sie.
»Wem warst du früher unterstellt?«
Es war üblich, die Namen brutaler Mörder, die geächtet worden waren, an alle Burgherren zu verbreiten, damit sie solche Verbrecher nicht aus Unwissenheit aufnahmen.
Er spannte die Muskeln an, und sie fragte sich, ob er sie wohl anlügen würde. Wenn sie das Gefühl hatte, daß er nicht die Wahrheit sagte, brauchte sie ihm nur das Messer in den Nacken zu stoßen. Aber ein kräftiger Gefolgsmann war wichtiger als ein noch so befriedigender Mord.
»Ich kann dich natürlich gefesselt hier liegenlassen zum Fest zurückkehren und Laudeys Wachen holen« drohte sie, als er mit der Antwort zögerte. Er sollte ruhig noch ein wenig schwitzen. Sie hatte ihn völlig in ihrer Gewalt, und das verlieh ihr ein unbeschreibliches Gefühl der Überlegenheit.
»Früher hat man mich Dushik genannt. Und ich war Tillek unterstellt.«
Sie erkannte den Namen, er hatte auf einer Liste gestanden, die vor mehreren Planetenumläufen herumgegangen war, und war ein wenig enttäuscht. Nun, man sollte auch halten, was man sich selbst versprochen hatte. Und lebend war er ihr sicher nützlicher.
»Du bist das also«, bemerkte sie, als erinnere sie sich nicht nur an den Namen. »Ich kann dich immer noch ausliefern, Dushik, merke dir das«, sagte sie dann.
»Und zur Strafe könnte man dich während eines Sporenregens im Freien anketten, denn mein Wort steht gegen das deine.«
»Ja, Lady, ich verstehe. Aber ich erkenne Sie von ganzem Herzen als meine Herrin an und werde Ihnen ein treuer Diener sein.«
Das klang aufrichtig, also ließ sie seinen Arm los, sprang zurück und zog mit einer fließenden Bewegung auch noch ihr Gürtelmesser, bereit, beides nach ihm zu werfen, falls er irgendeine verdächtige Bewegung machte.
Er ließ sich Zeit, bewegte nur langsam seinen Arm auf und ab und drehte ihn. Dann ging er auf die Knie, und schließlich stand er auf. Seine Bewegungen zeugten von tiefer Müdigkeit.
»Wirf mir seine Börse zu, Dushik«, befahl sie und streckte die linke Hand aus. Er schenkte ihr einen langen, prüfenden Blick, dann gehorchte er und wartete auf neue Weisungen.
Als sie den prallgefüllten Beutel unter ihr Hemd schob, bemerkte sie, daß sich bei dem Kampf der Schleier gelöst hatte und ihre Zöpfe nach vorne gefallen waren.
»Sieh nach, was er sonst noch Brauchbares bei sich hatte«, befahl sie mit einer kurzen Bewegung ihres Dolchs.
Als Belior aufgegangen war, hatte Dushik die Kleider mit der Leiche getauscht und sie auf Thellas Befehl in den Fluß geworfen. Sie verlangte, daß er auch den blutbefleckten Umhang zurückließ.
»Ich habe auf dem Fest noch viele heimatlose Wichte gesehen«, sagte sie verächtlich. »Meinst du, es sind welche darunter, die bereit wären, für ihren Unterhalt ein anständiges Tagwerk zu verrichten?«
»Dafür würde ich schon sorgen, Lady«, antwortete er ehrerbietig und beugte sogar das Knie.
Thella war zufrieden.