Lemos und Telgar, Südkontinent
12. Planetenumlauf
Thella und ihre siebzehn Banditen brauchten sieben Tage, um ihr Ziel zu erreichen, das Kadross-Anwesen in den Bergwäldern von Lemos. Vier Tage waren sie auf Rennern unterwegs, dann ließen sie ihre Tiere mit einem Wächter in einer gut versteckten Höhle zurück und gingen das letzte Stück des Weges zu einem engen Loch im Berghang eine Stunde oberhalb von Kadross zu Fuß.
Während sie ihren kalten Reiseproviant verzehrten - der Rauch eines Feuers hätte von Baron Asgenars aufmerksamen Waldhütern bemerkt werden können - ging Thella ihren Plan noch einmal durch. Ein paar von den neuen Männern waren mißtrauisch, aber das würde sich legen, wenn sie erlebten, daß gute Planung auch zu guten Ergebnissen führte. Sie zog ihren Dolch und säbelte sich eine Scheibe Rauchfleisch ab, steckte ihn aber nicht wieder ein, sondern warf ihn beim Auf- und Abgehen mit der rechten Hand mehrmals in die Luft und fing ihn auf. Es konnte nicht schaden, alle daran zu erinnern, wie geschickt sie mit jeder Art von Messer umzugehen verstand, und sie hatte keine Hemmungen, sich zwecks Förderung der Disziplin mit ihrem Können ein wenig zu brüsten.
»Keiner soll sich verleiten lassen, andere Dinge mitzunehmen, die ihm gerade unter die Finger kommen«, warnte sie, »sonst macht er einen kleinen Spaziergang mit Dushik.« Wieder hielt sie inne, um die Drohung wirken zu lassen. »Meine Überfälle sind darauf angelegt«, fuhr sie fort und klopfte sich mit dem Dolchgriff gegen die Brust, »daß wir alles bekommen, was wir für ein angenehmes Leben brauchen, aber« - sie verstummte und fixierte Felleck so lange, bis er überrascht zu ihr aufsah - »uns trotzdem in den meisten Gildehallen, auf Burgen und auf Festen weiter sehen lassen können.«
Readis, einer der Neuen, hatte Verbindungen zu Händlern, was Thella sehr gelegen kam. Nun wußte sie im allgemeinen, welche Karawanen zwischen den Fädeneinfällen wohin unterwegs waren, sie wußte immer, welche Waren jede einzelne mitführte - und sie kannte auf jeder Route die Stellen, wo man am besten einen Hinterhalt legen konnte, um sich alles zu holen, was man benötigte, und danach sofort wieder zu verschwinden. Sie zögerte auch nicht, Botschaften der Gildehallen zu entwenden, wenn die Kuriere in den als sicher geltenden Höhlen am Wegrand schliefen.
Wie fast alle Angehörigen eines Adelsgeschlechts hatte man sie die Trommelrhythmen gelehrt, und so verstand sie die meisten Nachrichten, die durch die Täler schallten. Die langen Planetenumläufe, die sie in einer Burg verbracht hatte, zahlten sich nun wider Erwarten doch noch aus.
»Ist das klar?« Sie hatte das Ende der Höhle erreicht und drehte sich forsch um. »Wir können uns nicht immer auf bezahlte Spitzel verlassen, wenn wir etwas erfahren wollen. Manche von den Heimatlosen würden ihre eigene Mutter verkaufen, und sie könnten mehr verdienen, wenn sie uns verrieten.
Ich rechne auch nicht damit, daß wir Gewalt anwenden müssen. Am frühen Morgen werden über Baron Asgenars besten Wäldern Fäden fallen. Sobald die Front über unsere Höhle hinweggezogen ist, rücken wir aus.« Ein paar Männer murrten. Sie warf einen schnellen Blick auf Giron, den ehemaligen Drachenreiter, der sich überraschend bereit erklärt hatte, an dem Überfall teilzunehmen. Eine erfreuliche Wandlung nach seiner monatelangen Apathie; eigentlich hatte sie erwartet, daß er sich schon viel früher nützlich machen würde.
»Wir postieren uns und warten, bis die Leute von Kadross abmarschieren, um die Bodenmannschaften zu unterstützen. Sie müssen den Berg hinunter. Das Vieh wird immer vor einem Fädeneinfall gefüttert, also wird wahrscheinlich niemand in den Stall gelaufen kommen.
Es bleiben ohnehin nur alte Leute und ein paar Kinder zurück. Asgenar hat keine Ahnung, wie sehr er uns morgen behilflich sein wird!«
Die Männer lachten oder grinsten pflichtschuldigst.
Thella hatte sie wieder einmal in ihrer Verachtung für alle Traditionen bestärkt und lächelte zufrieden in sich hinein, als sie abermals kehrtmachte. Dabei blieb sie mit dem Stiefel kurz an Readis' Flammenwerfertank hängen. Sofort schob er ihn beiseite. Readis eröffnete ihr zu viele Informationsquellen, als daß sie gegen diese Marotte Einwände erhoben hätte. Sie hatte die Narben auf seinem Rücken gesehen, deshalb gestattete sie ihm, den Flammenwerfer mitzunehmen, wenn sie bei Fädeneinfall im Freien waren. Vielleicht war diese Vorsichtsmaßnahme sogar ganz angebracht, und er behinderte sie auch nie, obwohl er das schwere Ding schleppen mußte.
»Und jetzt legt euch hin. Wir brauchen alle Schlaf.
Dushik, dein Platz ist dort drüben. Dann kann ich dir einen Tritt geben, wenn du schnarchst.« Die Bemerkung löste hämisches Gelächter bei allen aus, die mit dieser Schwäche des Hünen vertraut waren. Dushik grinste sie wie gewohnt an, als er sich in seine Decke wickelte. Beruhigt wandte sie sich ab. »Readis, du weckst uns alle bei Tagesanbruch?« Der Mann nickte und nahm seinen Platz ein.
Sie legte sich an den niedrigen Höhleneingang, um dem Gestank der vielen Leiber in dem engen Raum zu entgehen. Bald kehrte Ruhe ein, nur Dushiks schweres Atmen war zu hören. Auch Thella war müde, aber ihre kribbelnden Nerven ließen sie nicht einschlafen. Vor einem Überfall befand sie sich immer in Hochstimmung wie üblich war die Vorfreude das schönste, und sie malte sich aus, wie ihre Pläne in Erfüllung gingen und sie ihren Männern wieder einmal beweisen konnte, daß sie die Beste war!
Unvorstellbar, daß eine eigene Burg, die Anerkennung als selbständige Burgherrin durch das Konklave einmal ihr größter Wunsch gewesen sein sollte. So vieles hatte sich verändert, seit sie Dushik begegnet war. Ihr Leben war viel aufregender geworden: sie genoß es Überfälle vorzubereiten und auszuführen, bei denen man genau das mitnahm, was man ursprünglich haben wollte, aber kein einziges Stück mehr. Der Erfolg gab ihr den Mut, sich riskantere Ziele zu setzen, kniffligere Probleme zu lösen. Dushik begann zu schnarchen, und sie stieß ihn mit dem Stiefelabsatz an. Ächzend drehte er sich um.
Seit jenem Fest auf Igen hatte sie eine Aufgabe, die sie weit mehr befriedigte: sie suchte sich Opfer, anstatt selbst eines zu sein. Als sie mit Dushik zu den Zelten zurückging, um ein paar sorgsam ausgewählte, heimatlose Männer und Frauen anzuwerben, hatte sie bereits mit der Planung begonnen. Viele beladene Renner und Karren würden das Fest verlassen, und wenn alles gutging - und warum nicht? -, würden nicht alle ihr Ziel erreichen. Zusammen mit Dushik würde sie sich aussuchen, was sie für ihre Bergfestung brauchte - und die Rechnung würden die verzweifelten Geächteten bezahlen, die sich am Rand des Igen-Festes herumdrückten.
Von da an hatte Thella in großen Abständen immer wieder die Besitzungen im Osten überfallen, und ihre Erfolge bereiteten ihr eine ungeheure Befriedigung.
Falls Bruder Larad überhaupt den Verdacht hegte, daß es seine eigene Schwester war, die seine wohlhabenden Pachthöfe plünderte, so hatte er den anderen vier Baronen gegenüber gewiß nichts davon erwähnt. Diese Strohköpfe hätten ihm ohnehin nicht geglaubt und sich schon gar nicht zu irgendwelchen Strafmaßnahmen aufschwingen können. Ja, in Telgar zu plündern, machte ungeheueren Spaß. Man durfte nur nicht übertreiben, weder dort, noch anderswo.
Durch Bestechung und Einschüchterung hatte Thella sich Duplikate von Detailskizzen der Gebiete verschafft, in denen sie zu operieren gedachte, die Originalkarten von Telgar aus dem Arbeitszimmer ihres Bruders hatte sie schon vor ihrem Weggang an sich gebracht. Die Dokumente waren ihr zwar eine Hilfe, zudem bekam sie jedoch immer mehr Übung darin, sich aus den unwahrscheinlichsten Quellen Informationen zu besorgen und wertvolle Männer anzulocken wie Readis - und auch Giron, jedenfalls, seit er sich langsam erholte.
Vier Planetenumläufe zuvor hatte einer ihrer Leute ihr eine Abschrift der Harfneraufzeichnungen über Baron Fax' Eroberungen in den Westbergen gebracht. Das war ein Mann gewesen, dessen Weitsicht und Auffassungsgabe sie nur bewundern konnte! Ein Jammer, daß er so früh gestorben war, dabei hatte er sich einen wirklich vielversprechenden Besitz zusammengerafft.
Mit List und Unverschämtheit hatte er sieben Burgen in seine Gewalt gebracht. Sie hatte seine Überraschungstaktik selbst mehrfach angewandt, indem sie die umliegenden Höhen günstig gelegener Anwesen erkletterte und kurz vor Morgengrauen, wenn die Helligkeit den Wachwher blind machte, heimlich durch die oberen Fenster eindrang. Wahrscheinlich hatte man ihn hinterrücks in das Duell gelockt, bei dem er umgekommen war. Oder er war von allen guten Geistern verlassen gewesen - kein Mensch forderte einen Drachenreiter heraus. Drachen verfügten über ungewöhnliche Kräfte und ließen nicht zu, daß ihre Reiter verletzt wurden.
Thella hätte schon immer gerne gewußt, was die Drachen eigentlich für ihre Reiter taten, außer ins Dazwischen zu gehen und Fäden zu bekämpfen. Giron wollte nicht über das Leben im Weyr reden noch nicht. Sie würde ihn ermuntern müssen.
Am niederschmetterndsten an diesem Harfnerbericht war, daß niemand versucht hatte zu übernehmen, was Fax so meisterhaft aufgebaut hatte. Ruatha hatte man an einen Säugling gegeben, Meron hatte sich mit Nabol begnügt, und die fünf anderen Burgen waren von Angehörigen der von Fax vertriebenen Besitzer zurückverlangt worden. Dann hatte sich Meron, anstatt sich an Fax ein Beispiel zu nehmen, in Thellas Halbschwester Kylara verliebt. Nun, Thella hatte Kylara nie für besonders schlau gehalten, immerhin hatte sie ihre Drachenkönigin verloren. Und nun war auch Meron tot.
Dushiks anschwellendes Schnarchen riß sie aus ihren Gedanken, und sie trat ihn zweimal.
Da sie unablässig bestrebt war, das Risiko bei ihren Unternehmungen zu verringern und den Gewinn zu steigern, hatte sie lange überlegt, ob sie sich Feuerechsen zulegen sollte, die ja angeblich hören konnten, was die Drachen sagten. Unvermutet auftauchende Patrouillenreiter, die eine größere Anzahl von Berittenen und Packtieren auf verlassenen Wegen bemerken würden, waren eine ständige Gefahr. Wenn sie rechtzeitig gewarnt würde, sobald ein Drache sich näherte, hätte sie noch Zeit, in Deckung zu gehen. Aber als sie auf einem Fest in Bitra zum ersten Mal Feuerechsen gesehen hatte, war ihr klar geworden, daß diese Tiere für ihre Zwecke viel zu viel Lärm machten. Sehr oft hatten ihre Überfälle nur Erfolg, weil sie völlig lautlos vonstatten gingen.
Sie tat sich viel darauf zugute, daß sie wahrscheinlich mehr über die Burgen und ihr Herrschaftsgebiet wußte als die Barone selbst, Asgenar von Lemos vielleicht ausgenommen. Inzwischen hatte sie erfahren, daß er die scheinbar zusammenhanglosen Diebstähle allmählich als ernstzunehmendes Problem erkannte. Sie konnte es nicht wagen, einen ihrer Männer in seine Burg einzuschleusen, aber Sifer von Bitra besaß bei weitem nicht so viel Übersicht. Hier bot sich eine Chance, und so hatte sie Keita losgeschickt, damit sie sich an einen der Verwalter heranmachte. Es wurde ohnehin höchste Zeit, das kokette Frauenzimmer loszuwerden, das es nicht lassen konnte, die weibstollen Männer zu reizen. In Bitra kam sie auf ihre Kosten und konnte außerdem für Thella die Ohren offenhalten.
Dushik begann wieder zu schnarchen, aber ehe sie ihn treten konnte, war ihr der Mann auf der anderen Seite schon zuvorgekommen. Endlich schlief sie ein.
Readis weckte die Banditen am nächsten Morgen, ehe es hell wurde. Man holte Wasser von einem nahegelegenen Bach, um die trockene Verpflegung hinunterzuspülen. Als die Männer hinausschlüpften, um ihre Notdurft zu verrichten, ermahnte Thella Dushik noch einmal, Felleck im Auge zu behalten. Sie trauten dem Mann, der ständig klagte und jammerte, alle beide nicht, aber er hatte sich als geschickter Wher-Fänger erwiesen und kannte die eßbarsten Tunnel- und Felsschlangenarten, außerdem hatte man ihn aufgenommen, weil er sehr stark war.
Perschar würde Giron nicht von der Seite weichen.
Thella war immer noch nicht dahintergekommen, warum sich der ehemalige Drachenreiter für diesen Raubzug gemeldet hatte. In den letzten Monaten war er munterer geworden und starrte nicht mehr so erschreckend ins Leere. Readis hatte ihn in den Höhlen von Igen entdeckt, wo so viele Heimatlose Zuflucht suchten, und er hatte angenommen, Thella könne einen ehemaligen Weyrbewohner gut gebrauchen. Perschar, der sich auf Wundversorgung und das Einrichten von Knochenbrüchen verstand, führte Girons Verwirrtheit auf seine tiefe Kopfwunde zurück. Und natürlich wäre Thella niemals so grausam oder so dumm gewesen, ihn wieder wegzuschicken, nachdem er ihre Festung einmal betreten hatte. Seither hatte sich sein Zustand langsam aber stetig gebessert. Nun, da sein Mienenspiel lebhafter wurde, wirkte er sogar recht anziehend und intelligent, auch wenn er nur selten von sich aus den Mund auf tat. Als ehemaliger Drachenreiter genoß er bei den anderen einen gewissen Respekt. Das hatte Thella anfangs gestört, aber inzwischen hielt sie es eher für einen Vorteil.
Der klare Himmel verdüsterte sich, das erste Anzeichen für das Herannahen der Fädenfront. Alles drängte in den hinteren Teil der engen Höhle. Readis machte seinen Flammenwerfer bereit und stellte sich vor den Eingang. Gleichmütig und unerschrocken kauerte sich der ehemalige Drachenreiter hinter ihm auf den Boden.
Obwohl jeder sehen konnte, daß die letzten Sporen weit jenseits des Tales herabschwebten, mußte Thella Felleck und drei andere mit der Peitsche aus der Höhle treiben. Readis hatte signalisiert, daß sie beim Abstieg keine Fäden zu befürchten hatten, und war mit Giron bereits unterwegs. Thella war wütend, weil die anderen nicht aufs Wort gehorcht hatten. Es hing so viel davon ab, daß sie an Ort und Stelle waren, ehe die Bodentrupps Kadross verließen.
Zu guter Letzt hatte jeder seinen Posten hinter dem Felsgrat eingenommen. Sie selbst suchte sich eine Stelle, wo sie das Gebäude, die Stallungen und den Pfad ins Tal hinab, auf dem die Pächter bald abziehen würden, gut überblicken konnte.
Was trödelten diese elenden Bauern nur so lange herum? Die Fädenfront war längst vorübergezogen.
Am Himmel war kein Drachenfeuer mehr zu sehen.
Endlich hörte sie ein metallisches Knirschen, sah die Tür aufschwingen und keuchte unwillkürlich auf. Die Erregung raste wie ein heißer Strom durch ihre Adern und schärfte ihre Sinne, in ihren Ohren dröhnte es, ihre Hände umklammerten den Dolch und den Peitschengriff. Sie hielt die angestaute Energie zurück, während sie die Männer und Frauen zählte, die nun ihre sichere Unterkunft verließen. Gut, sie stapften ahnungslos hinaus, um ihre Pflicht zu tun, und ließen nur einen alten Onkel und zwei Tanten zurück, um die kleinsten Kinder zu hüten.
Der Bodentrupp marschierte den Bergpfad hinab, und als er außer Sicht war, gab Thella das Zeichen, zum Stall vorzurücken. Aus den Berichten ihrer Spitzel wußte sie, daß die Bauern ihre Tiere vor dem Fädeneinfall zu füttern und zu tränken pflegten. Hier würde erst am späten Abend, wenn die Bodenmannschaft zurückkehrte, wieder jemand nachsehen. Sie beobachtete ihre Banditen, alle liefen in gebückter Haltung und nahmen vorsichtshalber immer wieder Deckung, falls sich doch einer der Fensterläden öffnen sollte.
Dushik und Felleck erreichten die dicke, metallbeschlagene Tür als erste und zogen sie behutsam nur so weit auf, daß sie hineinschlüpfen konnten. Sofort huschte die nächste Gruppe, fünf Mann unter Girons Führung, über das freie Gelände und durch den Spalt.
Thella schloß sich der dritten Gruppe an, und auch die vierte erreichte ohne Zwischenfälle ihr Ziel.
»Seht euch das an«, sagte Felleck und wühlte mit beiden Händen in dem goldenen Korn, das der Grund für ihr Kommen war. Gute Qualität, dachte Thella, denn sie hatte bemerkt, daß kein Staub aufwirbelte. Giron versetzte Felleck wegen seiner Schwatzhaftigkeit einen Rippenstoß. Felleck verzog das Gesicht, aber er nahm den Eimer, den Giron ihm reichte, und schöpfte damit Getreide in den Sack, den der ehemalige Drachenreiter für ihn offenhielt. Die anderen folgten schweigend dem Beispiel der beiden.
Dank des Getreides, das in diesen Säcken aus dem Stall von Kadross verschwand, würde sie in der Lage sein, ihren Rennern genügend Futter aufzupacken, um die nächsten Überfälle in sicherer Entfernung von ihren Hauptstützpunkten durchführen zu können. Schon jetzt mußte sie eine große Schar von Heimatlosen mit Nahrung und Unterkunft für den Winter versorgen, aber sie brauchte noch mehr zuverlässige Leute, um ihre fünf Bastionen ausreichend besetzen zu können.
Stehlen konnte jeder schwachsinnige Renegat, aber die wenigsten waren imstande, genau zum richtigen Zeitpunkt genau das zu beschaffen, was sie brauchten. Das konnte nur Thella, die Herrin der Geächteten.
Erst als Dushik sie am Arm packte, bemerkte sie, daß sie sich gar nicht mehr um den Überfall gekümmert hatte. Eben wurden die letzten Säcke gefüllt. Die meisten Männer hatten den Stall bereits verlassen und strebten dem Versteck zu, wo sie abwarten wollten, falls Alarm gegeben wurde. Sie nahm einen der verbliebenen Säcke und warf ihn sich mit geübtem Schwung über die Schulter. Dushik packte zwei, drehte sich noch einmal um und half ihr, die Riegelstangen vor die Tür zu legen. Dann rannten sie, so schnell sie konnten, auf die Felsen zu. Der Aufstieg zur Höhle dauerte länger, und sie waren noch weit unterhalb des letzten Grates, als Thella die Trommeln hörte.
»Sie rufen Burg Lemos«, sagte Giron überraschend.
Bisher hatte sie als einzige die Trommelbotschaften entziffern können.
»Splitter und Scherben!«
Thella blieb stehen und lauschte gespannt. Aber der Widerhall verzerrte die Rhythmen, und sie konnte die Nachricht nicht verstehen. Allerdings war der Inhalt nicht schwer zu erraten.
Ärgerlich wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Der Diebstahl war viel zu früh entdeckt worden. Sie mußte ihre Pläne ändern und das Getreide auf geheimen Wegen dahin bringen, wo es gebraucht wurde.
»Heute kommen keine Drachen mehr«, brummte Giron. »Sie sind zu müde.« Er rückte sich die Säcke auf den Schultern zurecht und setzte den Aufstieg fort.
Am nächsten Tag teilte Thella ihre Banditen in drei bis vier Mann starke Gruppen auf und schickte jede Gruppe an einen anderen Ort. Alle hatten Befehl, das Korn zu verstecken, sobald sie irgendwelche Verfolger bemerkten, und auf Umwegen zur Hauptfestung zurückzukehren.
***
»Meine Kleinpächter werden andauernd bestohlen«, berichtete Asgenar dem Bronzereiter T'gellan, der den Baron nach dem Fädenfall auf seinem Drachen Monarth nach Lemos zurückgebracht hatte. »Kadross ist nicht der erste Hof, aber wahrscheinlich hat man sich dort am schnellsten gemeldet.«
Ärgerlich zerknüllte er die Trommelbotschaft und trat an die Karte an der Wand seines Arbeitsraumes.
»Heute Getreide, morgen Zaumzeug, einmal sind es Decken, die zum Trocknen am Bachufer ausgelegt wurden, dann wieder Werkzeug aus einer Bergarbeiterhütte oder abgelagertes, ordentlich in einer Höhle aufgeschichtetes Holz, von dem nach Meinung des Pächters niemand wissen konnte. Kleinigkeiten, aber kein willkürlicher Mundraub, den man auf die Heimatlosen schieben könnte. Alle diese Überfälle werden ausgezeichnet geplant und ausgeführt, und meine Pächter bringen sie mit der Zeit an den Bettelstab.«
T'gellan kratzte sich den Kopf - er trug sein Haar zwar kurzgeschoren, aber nach einem langen Fädenkampf juckte die verschwitzte Kopfhaut. Er hatte gehofft, mit Monarth zum Weyr zurückfliegen und ein Bad nehmen zu können, aber Baron Asgenar nahm es mit seinen Pflichten gegenüber dem Weyr peinlich genau, da mußte T'gellan wenigstens die Höflichkeit wahren. Er nahm noch einen Schluck von dem ausgezeichneten Würzwein, den man aufgetragen hatte, sobald sie die Burg betraten. Der Fädenfall - der vierte nach dem neuen Schema - war direkt über Asgenars kostbaren Wäldern niedergegangen, und F`lar hatte sich zusätzlich Reiter von Igen und Telgar ausgeborgt, um sicherzugehen, daß die unersetzlichen Bäume angemessen geschützt wurden. Außerdem hatte man weitere Bodenmannschaften aus >sicheren< Gebieten eingesetzt, damit sich kein Faden, der den Drachenreitern vielleicht in der Luft entgangen war, im Boden einnisten konnte. Alles war tadellos gelaufen.
»Kadross?« fragte der Drachenreiter. »Während alle Bewohner mit den Bodenmannschaften draußen waren? Nur Getreide?« Er trat neben Asgenar an die Wandkarte und bewunderte die peinlich genaue Darstellung. Umrisse und Höhe jedes einzelnen Grates und Hügels waren zu erkennen, jedes Waldgebiet nach Art und Größe verzeichnet. Er wünschte sich wie schon so oft, Baron Sifer und Baron Raid wüßten nur halb so gut Bescheid über ihre Besitzungen wie der junge Burgherr von Lemos.
Asgenar legte den Finger auf die Karte und schob ihn so weit zur Seite, daß T'gellan die winzigen Ziffern im Quadrat des Hofkomplexes erkennen konnte.
»Nein, nicht nur Getreide. Die Hälfte des Wintervorrats. Ferfar hat die Lieferung erst gestern morgen bekommen. Ich hatte - auf Bitten des Fuhrmanns - zwei Reiter als Eskorte mitgeschickt. Er hatte in jüngster Zeit mehrfach Zusammenstöße mit Banditen und wollte die lange Fahrt nicht ohne Schutz antreten.«
»Glauben Sie, da hat jemand zu viel geredet? Oder hatte der Dieb einfach Glück?«
»Es sind mehrere. Sie haben vier Fässer geleert, und dazu braucht man schon einige Paar Hände«, entgegnete Asgenar und bedeutete T'gellan, sich seinen Weinbecher nachfüllen zu lassen. »In letzter Zeit finden viel zu viele Diebstähle - ach, wie soll ich es ausdrücken - genau zur rechten Zeit statt, als daß ich noch an glückliche Zufälle glauben könnte. Diese Diebe wissen, was sie wollen, und wo sie es sich holen können.«
»Und Sie haben keinen Zweifel an der Ehrlichkeit dieses Ferfar?«
»Nicht einen Tag nach Erhalt der Lieferung, nachdem man keine Kosten gescheut hat, um die Sicherheit der Fracht zu garantieren.«
Asgenar schnaubte abfällig.
»Die Eskorte ist keiner Menschenseele begegnet, weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg. Wer sollte auch unterwegs sein, wenn Fäden fallen?« Er verzog das Gesicht, als er merkte, daß sich diese Frage von selbst beantwortete. »Diese Diebe sind gerissen! Schlagen genau dann zu, wenn alle einsatzfähigen Bewohner des Hofes mit den Bodentrupps unterwegs sind. Wir hätten auch heute noch nichts davon erfahren, wenn Ferfars Onkel nicht etwas im Lager gebraucht und verschüttete Körner gesehen hätte. Er ging sofort an die Trommeln.«
T'gellan runzelte die Stirn, und Asgenar dachte schon, der Bronzereiter wolle den Bericht einfach überhören. Doch dann sah ihm T'gellan fest in die Augen.
»Ich habe Monarth gebeten, allen auszurichten, die noch in der Luft sind, sie sollen im Tiefflug zurückkehren. Falls sie verdächtige Bewegungen oder irgendwelche Reisenden entdecken, werden sie sich die Sache genauer ansehen und sich bei mir melden. Haben Sie vielleicht eine Vorstellung, wohin die Diebe sich wenden könnten? Männer mit schweren Getreidesäcken können weder schnell noch weit laufen.«
»Das ist ein weiteres Problem. Dieser Teil von Lemos ist bis weit nach Telgar hinein« - Asgenar deutete auf braune Sterne in verschiedenen Größen auf der Karte -»mit großen und kleinen Höhlen durchsetzt. Jede neue Grotte, die wir finden, wird markiert, doch wahrscheinlich gibt es unzählige, die wir noch nicht entdeckt haben. Aber meine Waldhüter berichten von frischen Feuerstellen und gelegentlich auch von vergrabenem Reiseproviant in Höhlen abseits der Straßen. Viel zu häufig, als daß es Zufall sein könnte.«
Asgenar rieb sich erst das Gesicht und dann den Nacken.
»Ich bin von Natur aus nicht mißtrauisch, aber ich erkenne ein Schema, nicht bei den Überfällen selbst, sondern bei dem, was gestohlen wird.
Auf jeden Fall mehr Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände als Wertsachen. Irgendwo in diesen Bergen treiben sich Renegaten herum, die sich ein angenehmes Leben machen, ohne einen Finger zu rühren. Dagegen habe ich etwas, und meine Pächter auch.«
»Das ist nur zu verständlich«, erklärte T'gellan mitfühlend. Die Burg Lemos hatte auch vor den Fädeneinfällen großzügige Abgaben an die Weyr geleistet.
»Ich habe nicht genügend Wächter, Pächter oder Waldhüter, um die vielen Höhlen beobachten zu lassen.
Und allmählich glaube ich, daß einige von den Heimatlosen, die man des Diebstahls bezichtigte, tatsächlich so unschuldig waren, wie sie behaupteten.«
T'gellan sah ihn nachdenklich an. »Wie viele solcher Unschuldiger haben Sie im Moment in Gewahrsam?«
»Viel zu viele«, brummte Asgenar empört. »Man kann schließlich nicht ganze Familien mit Kleinkindern davonjagen. Und ich brauche jeden kräftigen Mann, den ich kriegen kann, für die Bodenmannschaften.«
»Sind auch Leute darunter, die Sie mit leichteren Arbeiten betrauen könnten? Zum Beispiel mit regelmäßigen Inspektionsrunden in den verdächtigen Höhlen, um zu sehen, wer dort auftaucht?«
Asgenars besorgtes Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. »Beim Ersten Ei, T'gellan, ich könnte mich ohrfeigen, daß ich nicht selbst daran gedacht habe. Was die Heimatlosen am dringendsten brauchen, ist schließlich ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen. Eine kleine Hütte als Gegenleistung für gute Arbeit. Damit kann ich dienen«, strahlte er.
***
»Ich bin mir des Problems vielleicht mehr bewußt«, sagte Meisterharfner Robinton und spähte in die ernsten Gesichter der fünf versammelten Barone, »als Sie alle. Meine Harfner halten mich über größere Diebstähle auf dem laufenden, damit Wertsachen zurückerstattet werden können. Diese Liste« - Robinton blätterte die Seiten durch, die Asgenar für ihn zusammengestellt hatte - »beunruhigt mich sehr.« Er hielt kurz inne, um sein Mitgefühl und seine Sorge sichtbar werden zu lassen. »Ich bin froh, daß Sie damit zu mir gekommen sind, anstatt Ihre Weyrführer zu belasten. Sie stimmen mir gewiß zu, daß es sich im wesentlichen um ein Problem der Burgen handelt, das die obersten Pflichten der Weyr nicht beeinträchtigen darf.« Der Harfner vermerkte, daß Sifer die Stirn runzelte.
»Aber die Drachenreiter wären eine unschätzbare Hilfe bei der Aufspürung der Renegaten.« Cormans markige Züge hatten sich verhärtet, und er schlug mit seiner mächtigen Faust auf den Tisch.
»Und zwischen den Fädeneinfällen hätten sie schließlich genügend Zeit dazu«, gab Meister Robinton ironisch zurück.
»Auf Anregung von T'gellan«, sagte Asgenar, um zu zeigen, daß sich der Benden-Weyr durchaus hilfsbereit erwies, »habe ich vertrauenswürdige heimatlose Familien in Höhlen untergebracht, die in der Nähe der Karawanenwege liegen.«
»Und wozu soll das gut sein?« wollte Sifer wissen.
»Die stecken doch ohnehin mit den Dieben unter einer Decke. Ich traue keinem Heimatlosen. Lasse auch nicht zu, daß sie in Bitra herumhängen, soviel ist sicher. Warum sind sie denn heimatlos, wenn ich fragen darf?«
»Das kann ich Ihnen sagen«, meldete sich Laudey und deutete mit hagerem Zeigefinger auf den Baron von Bitra. »Weil man die Alten und die Behinderten aus ihren angestammten Besitzungen vertrieben hat, sobald die Fädeneinfälle begannen, um Platz zu schaffen für gesunde, kräftige Männer und Frauen. Die Höhlen an meinem Ostufer sind voll von dieser Sorte von Heimatlosen.«
Sifer hielt offensichtlich nichts von so viel Menschenliebe.
»Sie und Ihre Frau sind wirklich äußerst großzügig«, lobte dagegen der Harfner.
»Meine Männer haben ihre Befehle«, verteidigte sich Laudey. »Wir nehmen nicht einfach jeden dort auf.«
»Wetten, daß Ihren Wachen doch einige Renegaten durchschlüpfen, auch wenn sie noch so gut aufpassen«, murrte Sifer. »Jedenfalls will ich, daß die Männer gefunden und bestraft werden, die für diese Überfälle verantwortlich sind. Das wäre ein abschreckendes Beispiel für andere, die glauben, sie könnten im Schutz der Fädeneinfälle alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist.«
»Meiner Ansicht nach suchen wir eine gut organisierte und gut informierte Bande«, schaltete sich Asgenar ein. »Diese Leute wissen, was sie wollen, und das holen sie sich. Wir haben am nächsten Morgen im Umkreis von Kadross kein einziges Getreidekorn gefunden. Sie müssen den Berg hinaufgestiegen und irgendwo untergekrochen sein, sonst hätte T'gellans Geschwader sie auf dem Heimweg gesehen. Um so viel Getreide zu schleppen, waren fünfzehn bis zwanzig Mann erforderlich. Dieser Überfall zeichnet sich aus durch ausgeklügelte Planung, genaue Informationen und disziplinierte Durchführung.«
»Wie sollen wir sie denn aufspüren, wenn nicht mit Drachenreitern?« wollte Sifer wissen. »Außerdem haben die Heimatlosen viel zu wenig Rückgrat, um so etwas durchzuziehen.« Er deutete auf die lange Liste von Diebstählen, die der Harfner in der Mitte des runden Tisches ausgelegt hatte. »Ich gehe sogar jede Wette ein, daß es keine Heimatlosen sind.« Er beugte sich mit verschwörerischer Miene über den Tisch. »Ich wette, es sind die Alten. Sie nehmen vom Süden aus Rache und reißen alles an sich, was sie den Höfen und Gildehallen nicht auf andere Weise abpressen können.«
Er spähte in die Runde, um die Reaktion der anderen abzuschätzen.
»Ich glaube nicht, daß ich diese Wette annehmen würde, Baron Sifer«, sagte Robinton höflich.
»Sie müssen bedenken, daß die Drachenreiter von Benden erfahren würden, wenn irgendwelche Alte aus welchem Grund auch immer im Norden auftauchten.«
»Da hat der Harfner recht«, pflichtete Corman bei und mahnte Sifer mit einem eisigen Blick zum Schweigen. »Wir in Keroon sind etwas besser dran, weil das Land nach allen Richtungen offen ist. Im allgemeinen sieht man Reisende schon aus ziemlich großer Entfernung. Meine Söhne reiten in letzter Zeit aufs Geratewohl die Pachthöfe ab, und seitdem sind solche Vorfälle deutlich weniger geworden.« Er sah Asgenar an. »In ihrer gebirgigen Gegend würde das sicher nicht so gut funktionieren.«
»Damit haben Sie sie nur aus Keroon hinaus- und nach Bitra hineingetrieben!« rief Sifer empört. Er war puterrot angelaufen.
»Hören Sie auf zu nörgeln, Sifer«, mahnte Laudey ungeduldig. »Igen liegt gleich gegenüber von Keroon auf der anderen Flußseite, und bei uns lebt es sich leichter - ich glaube also nicht, daß Sie so sehr ausgebeutet werden, wie Sie glauben.«
»Es gibt eine alte Redewendung«, begann Robinton mit erhobener Stimme, um dem Wortwechsel ein Ende zu machen. »Wer einen Dieb fangen will, der setze einen Langfinger auf ihn an.« Sein verschmitztes Lächeln blieb nicht ohne Wirkung. Asgenar und Larad beugten sich interessiert vor.
»Wer soll da wen fangen?« fragte Sifer verächtlich.
»Besonders wenn der erste Dieb so erfolgreich ist.«
»Ich meine keinen echten Dieb, Baron Sifer«, fuhr Robinton fort, »sondern einen Gesellen von mir, einen aufgeweckten Burschen, der es versteht, Zugang zu allen möglichen Kreisen zu finden. Wie Baron Asgenar schon sagte, werden die Ziele stets sorgfältig ausgewählt, und die Überfälle zeigen, daß die Banditen bestens Bescheid wissen über Karawanenwege und leere Höhlen sowie über Gewohnheiten und Arbeitsabläufe in Burgen, Höfen und Gildehallen.« Der Harfner sah zufällig in Larads Richtung, und nur deshalb bemerkte er den Schrecken und die Bestürzung in den Augen des jungen Barons.
»Am besten macht er gleich in meinen Höhlen den Anfang«, schlug Laudey vor und trommelte gereizt mit den Fingern auf die Tischplatte. »Dort herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, obwohl meine Wachen, wie bereits erwähnt, für Ordnung sorgen«, fügte er trotzig hinzu. »Es ist ein riesiger Komplex - viele Korridore und Tunnel, die bisher noch niemand erforscht hat. Ich habe so viele von den kleineren Eingängen zumauern lassen, wie ich nur konnte, aber ich hatte schließlich noch anderes zu tun.«
»Bei den vielen Leuten, die Sie aufnehmen, Laudey, ließe sich doch sicher jemand finden, der sich gerne ein paar Marken damit verdient, daß er die Augen nach Unregelmäßigkeiten oder plötzlichem Reichtum offenhält«, schlug Asgenar vor.
»Unsinn, die meisten Heimatlosen hätten keinerlei Bedenken, für einen Anteil an der Beute einen Dieb zu verstecken«, grollte Sifer. »Ich habe doch selbst erlebt, wie solche Leute vorgehen.«
Robinton zog in gespielter Überraschung die Augenbrauen hoch, und Corman schnaubte verächtlich, denn daß die Bitraner bis an die Grenze des Betrugs schacherten, war ein gängiger Witz.
»Dann sind Sie also damit einverstanden, daß ich meinen Gesellen als Spitzel einschleuse?« Robinton musterte die Gesichter. Die Barone wollten, daß etwas geschah, ohne daß ihre ohnehin knappen Reserven noch weiter belastet wurden. Gut, daß er ihre Zustimmung vorweggenommen hatte, dachte er. Der Spion war nämlich bereits an Ort und Stelle, denn der Harfner hatte seine eigenen Quellen und war längst im Bilde gewesen, als die Barone sich an ihn gewandt hatten.
»Ich schlage vor, daß wir die Sache für uns behalten, außerhalb dieses Raumes sollte niemand davon erfahren.«
»Sie haben geschickte Männer in Ihrer Gildehalle«, bemerkte Corman. »Und natürlich Frauen«, ergänzte er hastig, denn er war ganz begeistert von Menolly. »Aber wenn er nun erfährt, daß sich in einer unserer Burgen etwas tut, und unsere Hilfe braucht?«
»Wenn er Hilfe braucht, Baron Corman«, sagte der Harfner und lächelte verschmitzt, »dann hat er sich nicht geschickt genug angestellt. Überlassen Sie die Angelegenheit ruhig mir, bis der Winter vorüber ist.
Für jemanden, der es nötig hat, seine Spuren zu verwischen, liegt im Moment zu viel Schnee.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, murrte Sifer.
Thella hatte unter anderem verlangt, daß Keita sie über jede Veränderung im Ablauf des Burgalltags informierte. Keita wußte nicht viel mehr, als daß Baron Sifer von einem Drachenreiter abgeholt worden und über Nacht ausgeblieben war, aber sie hatte immerhin gehört, daß er bei seiner Rückkehr seinen Waldhütern befahl, ihm Bescheid zu geben, falls irgend etwas darauf hindeutete, daß die Höhlen an den Straßen oder in der Nähe von Höfen bewohnt würden, oder falls sie auf abgelegenen Wegen Spuren entdeckten. Auf dem Trommelturm von Bitra herrschte reger Betrieb, aber da man Geheimkodes verwendete, wußte Keita nicht, wovon die Botschaften handelten.
Thella las diese Nachricht immer wieder, sie freute sich fast auf die Herausforderung einer solchen Suchaktion. Sifers wegen machte sie sich keine Sorgen; seine Leute frönten lieber dem Glücksspiel oder jagten die Heimatlosen über Bitras Grenzen. Aber wenn man ihn reizte, entschlüpfte ihm vielleicht eher als Corman, Laudey oder Asgenar die eine oder andere brauchbare Information.
In letzter Zeit schienen tatsächlich mehr Patrouillenreiter im Tiefflug über den bewaldeten Hügeln und den Bergkämmen zu kreisen. Damit hatte sie eigentlich nicht gerechnet. Sie wies ihre Leute an, sich möglichst wenig nach draußen zu wagen - die Lagerräume waren gut gefüllt, sie brauchten also keine Not zu leiden - wer trotzdem unterwegs sei, müsse seine Spuren hinter sich verwischen. Dushik, Readis und Perschar brachten den Befehl zu den anderen Stützpunkten.
Die Bande würde eine Weile untertauchen.
Als Readis sechs Tage später zurückkehrte, berichtete er, daß der Meisterharfner zusammen mit Corman, Laudey, Larad und Sifer auf Burg Lemos gesehen worden sei.
»Sie haben also den Harfner zugezogen. Na und?«
»Er ist kein Dummkopf, Thella.« Readis runzelte die Stirn, er fand die Nachricht beunruhigend und hielt ihre Sorglosigkeit nicht für angebracht. »Er ist nach F`lar der mächtigste Mann auf Pern.«
Thella riß in gespieltem Schrecken die Augen auf.
»Du machst mir richtig angst!«
»Die Harfnerhalle weiß über alles Bescheid. Sie sind stolz darauf, daß Sie die Ohren überall in den Ostbergen haben, Thella.« Readis gab sich alle Mühe, ihre Selbstgefälligkeit zu erschüttern. »Nun, seine Ohren und seine Trommeln reichen über den ganzen Kontinent, manche behaupten sogar, bis in den Süden.«
»Die Harfnerhalle hat nicht einmal eine Wachmannschaft!« höhnte sie.
Aber selbst Dushik schien die Bedenken zu teilen.
»Harfner brauchen keine Wächter«, sagte er. »Was ein Harfner weiß, das kommt auch unter die Leute, falls er das will.« Er starrte finster vor sich hin. »Ich mußte bis in den Osten fliehen, um dem Harfnergeschwätz zu entrinnen.«
»Ich weiß, Dushik, ich weiß.« Thellas Stimme klang unwirsch, aber sie lächelte ihren treuen Gefolgsmann beschwichtigend an. »Du überprüfst jeden, der plötzlich den Wunsch verspürt, sich unserer aufrechten Truppe anzuschließen. Harfner haben vom ständigen Saitenzupfen Schwielen an den Fingerspitzen.«
Dushik nickte, er war zufriedengestellt, aber Readis zog die Stirn in Falten.
»Ich weiß nicht, ob das genügt, Thella«, begann er.
»Wer hat hier das Sagen, Readis? Führen wir nicht ein gutes und viel bequemeres Leben als die meisten dieser windigen Berghofbauern? Auf jeden Fall geht es uns doch besser als allen anderen Heimatlosen?« Ihre Worte hallten durch die Gänge bis in die anderen Höhlen. Sie schätzte diesen Effekt, der ihrer Stimme einen so vollen Klang verlieh, und außerdem schadete es nie, ihre Leute daran zu erinnern, wie gut sie unter ihrer Führung bisher gefahren waren. »Fast zwölf Planetenumläufe hat es gedauert, bis die Barone überhaupt merkten, was vorgeht.«
Readis hielt ihrem Blick stand. »Thella, Herrin der Geächteten, Sie haben sich sehr für Fax' Vorgehen im Westen interessiert. Sie sollten nicht den gleichen Fehler machen wie er und die Harfner unterschätzen. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
»Readis hat recht, was die Harfner angeht, Lady Thella.« Alle waren überrascht, als Giron das Wort ergriff. »Und dieser Robinton ist der gerissenste Mann auf ganz Pern.«
»Was ihr anführt, klingt überzeugend«, lenkte Thella ein, und Dushik atmete auf. Er reagierte immer sehr empfindlich, wenn jemand sie kritisierte. »Wir hatten viel Erfolg, das verführt zur Unvorsichtigkeit. Giron, wie viele Harfner kennst du?«
Giron zuckte die Achseln. »Ein paar. Bedella, unsere Weyrherrin, liebte Musik. Wenn sie es wünschte, hat die Harfnerhalle immer jemanden in den Telgar-Weyr geschickt.«
»Ich würde mich lieber um diese verfluchten Patrouillenreiter kümmern, die man erst sieht, wenn sie direkt über einem sind«, sagte Dushik mit einem bedeutungsvollen Blick auf Giron. »Sie sind das eigentliche Problem.«
Giron stand abrupt auf und verließ die Höhle, und Thella fuhr Dushik wütend an. »Überlaß ihn gefälligst mir, Dushik!«
***
»Hamian!« rief Piemur dem Bergwerksmeister zu und deutete auf die Klippe am rechten Ufer des Inselflusses.
»Diese Hügel dort! Das sind keine natürlichen Formationen!«
»Nein, da hast du recht«, antwortete Hamian, ohne von dem Tau aufzusehen, das er gerade ordentlich zusammenrollte. Von seiner Ausbildung her mochte er Bergmann sein, aber zur See war er seit frühester Kindheit gefahren, zuerst von der Palisadeninsel und später vom Südkontinent aus, und er hielt auf dem Deck eines Schiffes ebenso auf Ordnung wie in einer Schmiede oder in einem Schacht. »Ich weiß nicht, wie sie früher ausgesehen haben, die Pfähle sind jedenfalls noch da.«
»Wollen Sie sich das denn nicht ansehen?« Piemur konnte Hamians Gleichgültigkeit gar nicht begreifen.
Manchmal hatte er den Eindruck, als halte der Mann all die Schönheit und den Reichtum ringsum für selbstverständlich.
Hamian grinste den jungen Harfner an. »Ich habe schon genug am Hals, ohne durch die Gegend zu rennen und mir Ruinen anzugucken, die ich sowieso nicht durchsuchen kann, weil mir dazu die Zeit fehlt.« Sein Grinsen wurde breiter, und er zauste Piemurs sonnengebleichtes Haar. »Was ich in der offenen Grube gefunden habe, kommt mir immerhin sehr gelegen. Sie haben sogar markiert, in welcher Richtung die Erzadern verlaufen, auch wenn ich nicht weiß, wie sie das gemacht haben!«
Piemur duckte sich unter Hamians Hand weg. »Aber wer sind >Sie<? Sie sagten doch, in den Archiven der Schmiedehalle würde von Erzförderung auf dem Südkontinent nichts erwähnt.«
Hamian zuckte die Achseln. »Das hat nicht viel zu bedeuten. Soweit die Aufzeichnungen zu entziffern sind, geht es nur um Förderleistungen und um die Anzahl verhütteter Tonnen, und man erfährt, wer was kaufte und wohin es geliefert wurde. Abgesehen von Meister Fandarel haben sich die Handwerksmeister um Dinge außerhalb der Gildehalle nicht viel gekümmert.«
»Nun legt euch aber in die Riemen!« brüllte er die Ruderer an. Sobald sie das Deltagebiet hinter sich hatten, würde hoffentlich eine frische Brise von Westen die Segel füllen und das Boot über den breitesten Teil des Inselflusses tragen. Er befeuchtete einen Finger und hielt ihn in die Höhe. »Der Wind frischt auf!« Er legte die Hände an den Mund und ermunterte die Ruderer: »Bald sind wir da!« Zu Piemur sagte er jedoch leise: »Diese faulen Bastarde«, um dann abermals die Stimme zu erheben: »Ich sehe genau, wer sich auf seinem Ruder nur ausruht! Nummer vier, du da, Tawkin - du und dein Partner an Nummer sechs, strengt euch an, verdammt noch mal, oder es gibt heute abend kein Bier - so sieht das schon besser aus!
Weißt du was, Piemur«, fügte er hinzu, als er den enttäuschten Blick des jungen Mannes nicht mehr ertrug, »du kannst dir die Ruinen ja zusammen mit Dummkopf auf dem Rückweg ansehen. Fertige doch auf eigene Faust eine Skizze an, um Toric zu beweisen, daß du messen und zeichnen kannst. Achte auf die Biegungen an der Steuerbordseite…« Er umriß das Gebiet. »Sieh nur, wie lang diese Kurve ist. Dieser flache Schleppkahn ist für die Flußschiffahrt gut und schön, aber wir wissen beide, daß er in Küstengewässern nicht viel taugt. Wenn wir hier einen Sammelpunkt hätten…«
Hamian überlegte einen Moment lang, dann grinste er.
»Wir könnten in den Ruinen einen festen Umschlagplatz einrichten und das Erz von hier aus direkt nach Nerat oder zur Meeresburg von Keroon verschiffen. Würde uns eine Menge Zeit und Mühe sparen, und ein verantwortungsbewußter Mann bekäme dann einen anständigen Posten. Hmm, ja, mach das mal so.«
Hamian hatte bereits vorher ausgerechnet, daß die Flußmündung auf der Route von Osten her entlang der Küste schneller zu erreichen sein sollte als bei der Umrundung des Südkaps, wo sie warten mußten, bis das Schiff von der Flut über das Riff in die Lagune getragen wurde. Dann waren sie zwei Tage lang in aller Ruhe den Inselfluß hinabgesegelt, bis sie eine Gabelung erreichten, wo ein kleinerer, aus den Hügeln im Landesinneren kommender Wasserlauf einmündete. Kurz hinter diesem Zusammenfluß hoffte Hamian seinen Umschlagplatz zu errichten, falls sich der Fluß so weit als schiffbar erwies.
Um das mühsame Treideln durch den Lagunenfluß und die Sümpfe zu vermeiden, die seine Schwester Sharra so faszinierten, hatte Hamian sich ein paar Tage Zeit genommen, um nach Osten zu segeln. Irgendwo in dieser Richtung mußte der Inselfluß entspringen. Es war kein Problem gewesen, durch die Vorberge bis zu einer Stelle zu gelangen, wo er den Fluß in der Ferne glänzen sehen konnte. Das Gelände war bestens geeignet für Lasttiere. Mit Toric hatte er ziemlich hart verhandeln müssen, aber mit zarter Unterstützung von Sharra und ihrem Bruder Kevelon hatte er den Burgherrn doch überzeugen können, daß es von Vorteil sei, die Reisezeiten zu verkürzen. Da inzwischen eine weitere Schiffsladung mit Leuten aus dem Norden eingetroffen war, die beschäftigt werden mußten, hatte Hamian sich erboten, sie Toric abzunehmen und sie beim Bau von Mole und Hafengebäuden oberhalb der Frühjahrsflutlinie einzusetzen. Es war ausreichend Weideland für Herdentiere vorhanden, und die Berge waren nahe genug, um dort die nötigen Steine zu brechen.
Nun wollte Hamian seine Einschätzung der neuen Fahrtroute bestätigt wissen. Er mußte Toric beweisen, daß auch noch andere Leute außer dem selbsternannten Burgherrn sich auf dem Südkontinent auskannten.
Manchmal beunruhigten den jungen Schmiedemeister die Allüren seines Bruders; zudem warf Toric ihm immer wieder vor, er habe sich während seiner Gesellenzeit in der Gildehalle von der Denkweise des Nordens vergiften lassen.
Hamian hatte sich seine Argumente sorgsam zurechtgelegt. Der Lagunenfluß mochte zwar als die kürzere Route erscheinen, aber wenn man mit Erz beladene Barken über die Hälfte des Weges durch das Sumpfland staken mußte, sah die Sache ganz anders aus. Hamian scheute keine harte Arbeit und war erstaunlich tüchtig darin, ähnliche Leistungen aus seinen Leuten herauszuholen, aber zwischen den einzelnen Fahrten zerbrachen oft die Markierungen für die Fahrrinnen, oder der tückische Schlammgrund veränderte sich und verschluckte sie. Nach tiefem Wasser zu suchen, während man von Insekten aufgefressen, von Sumpfschlangen gebissen und von Wheren bedrängt wurde, die alles, was sich bewegte, als leichte Beute betrachteten, war nicht die effektivste Art, die verfügbaren Arbeitskräfte einzusetzen. Hamian hatte sich von Meister Fandarels fast zwanghaftem Streben nach Effektivität anstecken lassen.
»Du sollst dieses Ruder nicht streicheln, Tawkin, du sollst daran ziehen!« brüllte er, als das Langboot leicht nach Backbord abfiel. Hamian hatte vor, den Burschen im Auge zu behalten. Allmählich bekam er einen ebenso guten Blick für Leute, die sich im Süden bewähren würden, wie Toric und Sharra. »Vielleicht haben sich dort ein paar schiffbrüchige Fischer angesiedelt«, sagte er zu Piemur, als die Kuppen langsam aus dem Blickfeld verschwanden.
Piemur schüttelte den Kopf. »Fischer errichten keine Steinbauten, und nichts anderes hätte vierhundert oder mehr Planetenumläufe überdauert. Außerdem stand nichts über diesen Ort in den Aufzeichnungen der Harfnerhalle, und die sind zu entziffern, trotz ihres Alters. Ich weiß das nur zu gut«, fügte er hinzu und rümpfte die Nase, als könne er die modrigen Pergamente immer noch riechen. »Ich mußte sie für den alten Meister Arnor kopieren.« Piemur nahm einen tiefen Zug von der würzigen Waldluft, wie um den Mief der Erinnerung aus seinen Lungen zu entfernen, und stieß den Atem in einem hörbaren Schwall wieder aus.
Hamian lachte. »Nun, wir werden ja sehen, was dein geschultes Harfnerauge mit den Installationen in der Mine anzufangen weiß.« Das große quadratische Segel des schmalen Schleppkahns mit dem breiten Frachtraum füllte sich. »Belegen, Jungs!« rief er den Ruderern zu. »Alles bereitmachen, um das Langboot an Bord zu nehmen«, wies er die nächststehenden Besatzungsmitglieder an. »So ist es schon besser. Wir kommen gut voran. Heute nacht stehen beide Monde am Himmel, wenn der Wind hält, sind wir in zwei Tagen am Ziel.
Verdammt, ist das nicht besser, als sechs Tage lang durch den Sumpf zu waten? Schade, daß wir nicht bis zu den Fällen kommen werden. Die sind wirklich eindrucksvoll.«
»Fälle?«
»Ja, Toric hat einen Erkundungstrupp diesen Fluß hinuntergeschickt, hm, kurz vor meiner Abreise zur Gildehalle von Telgar. Sie kamen bis zu den Fällen, dann mußten sie wieder umkehren. Schroffe Felsklippen, die niemand ersteigen konnte.« Er bemerkte Piemurs entschlossenen Blick. »Nicht einmal du, aber vielleicht Farli. Hör mal, du gehst jetzt besser zu Dummkopf. Er wird allmählich unruhig.«
»Er läuft lieber, anstatt zu segeln«, sagte Piemur, obwohl das Schiff auf dem Fluß nicht so unangenehm schwankte wie auf offener See. Er hatte Menollys und Sebells Begeisterung für die Seefahrt nie so recht teilen können. Im Augenblick stampfte Dummkopf mit den Hufen auf das Deck, und Piemur eilte hinüber, um ihn zu beruhigen. Es ging schließlich nicht an, daß er Löcher in die glatten Planken schlug. Farli kreiste noch immer in trägen Spiralen hoch am Himmel, und Piemur wünschte sich, den Blick von dort oben ebenfalls genießen zu können.
Er setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen Dummkopfs Vorderbeine - die beste Möglichkeit, das Tier ruhig zu halten spähte über die Backbordreling auf die vorbeiziehende Ebene und hätte zu gern gewußt, was wohl in dem dichten Wald dahinter vor sich ging. Piemur hoffte, sich auf dieser Reise bewähren zu können. Sharra hatte Hamian überredet, ihn mitzunehmen, er sollte als Kundschafter tätig sein und die neue Route aufzeichnen. Zwei Planetenumläufe zuvor hatte er auf eigene Faust das Land durchstreift, und nun langweilte ihn die Einrichtung der Trommeltürme immer mehr. Er hatte getan, was er konnte, und Saneter redete bereits davon, ihn in die Harfnerhalle zurückzuschicken, damit er sich sein Gesellenabzeichen erwarb.
Aber Piemur wollte lieber unbekannte Gebiete erforschen.
Vom Rand des Sumpfgebietes bis hinunter zur Heilkrautwiese und zur Großen Lagune, nach Süden hin quer über die Landzunge, und nach Osten an der Küste entlang bis zur Felsscharte und zur Wüstenfestung hatte Toric kleine Siedlungen errichtet und mit Männern und Frauen besetzt, deren Grundherr er war. Piemur hatte es Spaß gemacht, Schülern die Trommelkodes beizubringen, die um so vieles älter waren als er selbst.
Er hatte sich auch deshalb mit Feuereifer in die Arbeit gestürzt, weil Toric eine ganz andere Persönlichkeit war als Meister Robinton, Meister Shonagar, Meister Domick oder die Meister auf den Trommelhöhen. Ein einziges Mal hatte er die harte Hand des Burgherrn zu spüren bekommen, von da an nahm er sich sehr in acht, damit sich das nicht wiederholte. Er wußte, daß der Südländer sehr ehrgeizig war, weit ehrgeiziger, als irgend jemand - außer vielleicht Meister Robinton - wußte.
Aber der Südkontinent, dieses reiche schöne Land, das immer wieder in Erstaunen versetzte und die Phantasie anregte, war größer als die Menschen, die Stücke davon an sich rissen, um sie zu bewirtschaften. Piemur blickte nach Osten über ein scheinbar endloses, bewaldetes Hügelland und fragte sich, wie weit der Kontinent sich wohl tatsächlich erstreckte - und wieviel Toric davon in seine Gewalt zu bringen gedachte! Piemur fühlte sich in erster Linie an die Harfnerhalle gebunden, und seine heimliche Bewunderung für Torics Ehrgeiz drohte seine Loyalität bald auf eine harte Probe zu stellen. Andererseits hatte er Verständnis für den Ehrgeiz von jemandem wie Baron Groghe, der eine ganze Horde von Söhnen unterzubringen hatte, oder für Corman, der deren neun versorgen mußte. Wenn sie erst einmal herausfanden, wie viel gutes Land zur Verfügung stand, würden sie sich vielleicht sogar gegen Bendens Befehl auflehnen. Saneter predigte Piemur immer wieder, Meister Robinton sei umfassend über Torics Machenschaften informiert, aber Piemur war allmählich nicht mehr sicher, wieviel Saneter selbst tatsächlich wußte!
Plötzlich keuchte er überrascht auf.
Durch die Lücken in der Reling hatte er einen ausgezeichneten Ausblick auf das Backbordufer, und dort lagen, ohne sich von dem vorübergleitenden Schiff stören zu lassen, zwei riesige gefleckte Katzen in der Sonne. Wahrscheinlich war dies eine der unbekannten Tierarten, die Sharra erwähnt hatte. Piemur wußte, daß er Hamian eigentlich darauf aufmerksam machen sollte, aber der stand an der Steuerbordreling und beaufsichtigte das Hochhieven des Bootes. Irgendwie wollte der Harfner diesen Augenblick mit niemandem teilen, außerdem fürchtete er, die herrlichen Geschöpfe zu verscheuchen.
***
»Ich bin gekommen, so schnell ich konnte, Lady Thella.« Der Mann war tropfnaß, und seine Lippen waren blau vor Kälte. Die erste Postenlinie hatte ihn durchgelassen und zu den Wächtern der Festung geschickt.
»Niemand hat mich gesehen. Ich kann mich gut verstecken. Keine Spuren. Sehen Sie?« Er hielt ihr einen Ast mit langen Nadeln entgegen. »Den hatte ich hinten an meinem Gürtel festgebunden, und er hat alle Spuren sofort verwischt.«
Thella zwang sich zur Ruhe, obwohl sie immer noch fürchtete, der Tölpel, der da Hals über Kopf zur Festung gestürmt war, um ihr irgendein banales Gerücht zu hinterbringen, könnte irgendwelche Häscher in ihr Versteck geführt haben.
»Es könnte aber wichtig sein, Lady«, stieß der arme Teufel mit klappernden Zähnen hervor.
Thella ließ ihm von einer Küchenmagd einen Becher Klah bringen. Im Moment war er kaum zu verstehen.
Wenn er wirklich etwas Wichtiges zu sagen hatte, wollte sie es hören, und dann sollte er wieder gehen.
Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und hätte fast den Klah verschüttet, aber nachdem er ein paar Schlucke getrunken hatte, ließ das Zittern nach.
»Ich meine, Sie wollten doch immer genau wissen, wann die Fädeneinfälle anfangen und aufhören«, sagte er. »Und welcher Baron wohin geht, und alles mögliche über die Weyr, von denen unsereins doch gar keine Ahnung hat. Nun, ich weiß jetzt, wie Sie erfahren können, was die Drachen reden - und zwar die ganze Zeit! Es gibt da ein Mädchen, das kann Drachen hören! Ist das nicht eine gute Nachricht? Sie hört sie auch, wenn sie ganz weit weg sind, und versteht alles, was sie zueinander sagen.«
»Das ist schwer zu glauben«, sagte Thella ausdruckslos und warf einen schnellen Blick auf Giron. Der einstige Drachenreiter drehte langsam den Kopf und betrachtete den Neuankömmling.
»O nein, Lady Thella. Sie kann es wirklich. Ich hab' sie beobachtet. Immer wieder hat sie die Kinder in die Höhlen gerufen und gesagt, die Drachenreiter sind unterwegs und fliegen gleich vorbei. Beim ersten Mal hat sie gesagt, sie kommen zur Burg Igen, und ich hab' selbst gesehen, wie die Drachen in die Richtung geflogen sind. Dann hab' ich gehört, wie sie ihrem Bruder erzählt hat, daß sie auf dem Rückweg zum Benden-Weyr sind. Jedenfalls hat sie gesagt, daß sie vom Benden-Weyr stammen, und es hat sich nicht so angehört, als lügt sie. Warum sollte sie auch lügen. Sie hat es immer ganz leise gesagt, und sie hat gar nicht gewußt, daß ich's gehört hab'.«
»Wenn du so dicht bei ihr warst, daß du gehört hast, was sie leise sagte«, begann Thella verdrossen, warum soll sie dann nicht gemerkt haben, daß du gelauscht hast?«
Der Mann zwinkerte und grinste, wobei er besonders abstoßend aussah, da ihm die meisten Vorderzähne fehlten. »Weil ich in den Höhlen taub bin! Ich kann überhaupt nichts hören. Ich kann mich gut verstellen, wirklich. Die füttern mich sogar, weil ich so hilflos bin.«
Zum Beweis ließ er nun die Unterlippe hängen und sabberte.
»Verstehe«, bemerkte Thella gedehnt. Schrecklicher Mensch, aber schlauer, als er aussah. Readis sagte oft, daß die Heimatlosen eher durch Täuschung überlebten als durch ihre Stärke. Ihre Außenposten hätten den >Tauben< niemals durchgelassen, wäre er nicht ein anerkannter Spitzel gewesen. Sie warf einen Blick auf Dushik, der ihr aufmunternd zunickte. »Hat sie vielleicht eine von den kleinen Feuerechsen?«
»Die?« Der Mann lachte grölend, und wieder rann ihm der Speichel aus dem Mund. Er schien ihren Ekel zu spüren, schluckte, und wischte sich mit der Decke, die ihm jemand übergeworfen hatte, den Mund ab.
»Nein! Feuerechsen, die sind nicht billig. Nach allem, was ich gehört hab, sind ihr Pa und ihre Ma von Fax aus Ruatha vertrieben worden. Die Ma sieht immer noch gut aus, hat schöne, große…« Als ihm auffiel, daß sein Gegenüber in dieser Hinsicht ebenfalls gut ausgestattet war, unterbrach er sich hastig. »Fax hat sich immer gern den Schlafpelz anwärmen lassen. Die Ma behauptet, sie is'ne Ruatha, und wenn das stimmt, könnte es dem Mädel im Blut liegen, daß sie Drachen hört. Die Weyrherrin von Benden stammt nämlich auch von Ruatha.«
Angesichts ihres eisigen Schweigens wurde er erheblich kleinlauter, schüttete den Rest seines Klah hinunter, als fürchte er, man werde ihm den Becher aus der Hand schlagen, und sah sich argwöhnisch nach allen Seiten um.
Laß ihn ein wenig schmoren, dachte Thella, stützte einen Ellbogen auf die Armlehne, legte das Kinn in die Hand und sah betont an dem widerlichen Boten vorbei.
Er hatte recht: Ruatha hatte viele Drachenreiter hervorgebracht weit mehr als alle anderen Adelsfamilien.
Gegenwärtig war Lessa ein ständiger Stein des Anstoßes.
»Erzähl mir die Geschichte noch einmal«, verlangte sie und bedeutete Dushik und Readis, genau zuzuhören. Giron beobachtete den Mann weiter mit unbeweglicher Miene.
Er schien die Wahrheit zu sagen. Er hatte auch den jüngeren Bruder des Mädchens mit den Fähigkeiten seiner Schwester prahlen hören. Sie wisse immer, wann Fäden fallen würden, hatte der Junge erklärt, >weil die Drachen miteinander darüber reden<.
Giron nickte Thella zu, während er den >Tauben< scheinbar ohne Neugier musterte. Ihm war kein Wort entgangen.
»Ich glaube«, sagte Thella, nachdem sie Risiken und Vorteile gegeneinander abgewogen hatte, »ich glaube, mit diesem faszinierenden Kind muß ich mich einmal unterhalten. Kennst du ihren Namen, tauber Mann?«
»Aramina, Lady Thella. Aramina ist ihr Name. Ihr Pa ist Dowell, der Zimmermann; ihre Ma nennt sich Barla; der Junge heißt Pell, und da ist noch ein…«
Sie fiel ihm ins Wort. »Und sie wohnen alle in den Höhlen von Igen?« Er nickte hastig, und sie fragte weiter: »Werden sie noch länger bleiben?«
»Sie sind schon ein paar Planetenumläufe dort. Er arbeitet und verkauft seine Sachen auf den Festen, außerdem macht er auch Möbel…«
»Das interessiert mich nicht, guter Mann«, wehrte sie kalt ab. Er gurgelte beim Sprechen, als habe er ständig Schleim in der Kehle, und das klang nicht nur ekelhaft, sondern auch aufreizend monoton. »Sie werden also wohl nicht so schnell verschwinden?«
»Wohin denn, Lady?« fragte er ungeniert zurück und hob ratlos beide Hände.
Sie winkte Dushik und Readis zu sich. »Ich gehe. Dushik, du bleibst hier.« Dann sah sie den ehemaligen Drachenreiter an. »Giron, du kommst mit mir.« Es ärgerte sie, daß ihre Worte eher wie eine Frage denn wie ein Befehl klangen, aber Giron nickte mit zuckenden Lippen. »Du würdest es doch merken, wenn sie tatsächlich Drachen hören könnte?« fragte sie.
Giron schwieg, was bei ihm gewöhnlich Zustimmung bedeutete, und Thella erhob sich und verließ mit Dushik den Raum. Der Informant taute am Feuer allmählich auf und verbreitete einen unerträglichen Geruch.
»Dushik, du kümmerst dich um ihn!« befahl sie.
Ein tauber Mann konnte vielleicht Geschichten erzählen, ein toter Mann nicht. Dushik gehorchte, wie immer.