»Allein wären sie sicher nicht losgezogen. Ihre Renegatenbande ist nicht die einzige in dieser Gegend«, gab Giron zurück und zog den Gurt so fest an, daß der Renner protestierend quiekte.
»Laß das Giron!« Damit war der Lärm, aber auch sein hartes Zupacken gemeint. Unnötige Mißhandlung von Tieren duldete sie nicht. Von einem ehemaligen Drachenreiter hätte sie mehr erwartet vielleicht wollte er sich auch an anderen Geschöpfen für seinen Verlust rächen.
Vor der Höhle winkte sie ihm, noch einmal abzusteigen. Sie konnte es zwar kaum erwarten, Araminas Spur zu verfolgen, doch zuvor schichtete sie mit Girons Hilfe so viele Mauerbrocken vor dem Eingang auf, daß er auf den ersten Blick blockiert wirkte. Vielleicht wurde dieser Zufluchtsort ja noch einmal gebraucht.
Dann saßen sie auf und ritten davon, so schnell es bergauf, über steiniges Gelände und mit einem reiterlosen Tier am Zügel möglich war.
***
Am vierten Tag nach dem Aufbruch von Igen war Jayges schlechte Laune verschwunden. Das war es, was ihm gefehlt hatte, wieder unterwegs zu sein, weg von den Pächtern, weg von den ruhelosen und gleichzeitig trägen Massen in den Höhlen, weg von den ständigen Appellen der Schmiedegilde und der Telgaraner, man solle >sich zusammenreißen<, >sich nützlich machen<, >ein anständiges Handwerk erlernen< und >genügend Marken verdienen, um sie einem Bitraner in Verwahrung geben zu können<.
Er war gern Händler und hatte die Freiheit auf den Straßen immer geliebt. Hier konnte er sein Tempo selbst bestimmen und sich seine Zeit so einteilen, wie er wollte, und war nur sich selbst Rechenschaft darüber schuldig, was er aß, wie er sich kleidete und wo er Schutz suchte. Trotz der Schrecken der Fädeneinfälle hätte er dieses riskante Leben in freier Natur um keinen Preis gegen ein gesichertes Dasein eingetauscht, um etwa auf dem Anwesen eines anderen in härtester Knochenarbeit neue Räume aus dem Fels zu hauen. Jene drei trostlosen, qualvollen Planetenumläufe in Kimmage hatten ihm einen ausreichenden Vorgeschmack auf eine solche Existenz geboten. Es war ihm unbegreiflich, wie sein Onkel Borel und die anderen sich hatten entscheiden können, in Kimmage zu bleiben, wo sie doch kaum mehr als Knechte und Mägde waren. Ihre Kinder würden dieses Opfer nicht zu schätzen wissen, wenn sie älter wurden, denn allen Lilcamps lag die Unrast im Blut.
Jayge schritt an der Spitze der Karawane dahin. Er betätigte sich als Schrittmacher und suchte den Weg nach Hindernissen für die breiten, schwer beladenen Wägen ab. Mit ihren Metalldächern - ein Einfall von Ketrin und Borgald - waren sie schwer zu steuern, aber sie boten Sicherheit, falls die Karawane in einen unvorhergesehenen Sporenregen geraten sollte, was freilich ein gravierender Führungsfehler gewesen wäre.
Seit jener ersten Katastrophe vor fast dreizehn Planetenumläufen waren Jayge und die anderen Lilcamps nie wieder von den Fäden getroffen worden. Es gab Schlimmeres als einen brennenden Regen ohne Sinn und Verstand, das hatte er inzwischen gelernt.
Jayge fluchte leise. Der Tag war viel zu schön, um sich mit längst vergangenen Problemen zu belasten.
Die Lilcamps waren wieder unterwegs. Ketrin begleitete sie auf dieser Reise, sie mußten zehn vollbepackte Wagen mit Handelsgütern nach Lemos, zum Großen See und zur Siedlung >Ende der Welt< bringen. Die Karawane hatte das Becken des Igen-Flusses mit seinen gefährlichen Schlammlöchern und Treibsandflecken umgangen, aber der Weg durch die Himmelsbesen konnte noch tückischer sein.
Die großen Bäume, die nur in diesem einen langgezogenen Talabschnitt wuchsen, hatten ein weit ausladendes Wurzelgeflecht, das den Stamm strahlenförmig umgab und die hoch aufragenden Äste und die buschige Krone stützte. Im Morgendunst wirkten die Himmelsbesen wie Riesenskelette mit buschigen Haarschöpfen und grotesk langen Armen, die sich entweder gen Himmel reckten oder auf die knubbeligen Beine herabhingen.
Nur wenn Jayge ganz nahe war, konnte er die ineinander verflochtenen Stämme sehen, je mehr es waren, desto älter war der Himmelsbesen. Die Kronen mit den stacheligen kurzen Blättern waren breit und flach, und darin waren oft Nester der wilden Where versteckt, da sie in dieser Höhe für Schlangen unerreichbar und gegen räuberische Artgenossen leicht zu verteidigen waren. Das rauhe, kleinblättrige Laub fiel häufig den Sporen zum Opfer. Etliche Baumriesen waren umgestürzt, und ihre zackigen Strünke überragten die weite Ebene.
Das harte Holz der Himmelsbesen wurde sehr geschätzt, obwohl es sich, wie Jayge von einem Schreiner aus Lemos erfahren hatte, schwer bearbeiten ließ. Die Äste konnte man als Stützpfosten für freistehende Gebäude verwenden, sie waren kräftig genug, um das Gewicht eines Schieferdachs zu tragen.
Jayge blickte nach oben und sah Drachen vorüberschweben. Als seine kleine Halbschwester die Himmelsbesen zum ersten Mal sah, hatte sie in aller Unschuld gefragt, ob auf den flachen Kronen wohl die Drachen landeten. Jayge hatte darüber nicht lachen können. Auch heute, nach so vielen Planetenumläufen, verkrampfte er sich noch unwillkürlich, sobald er einen Drachen am Himmel erblickte. Er legte die Hand über seine Augen, um die Tiere genauer zu betrachten.
»Das ist kein volles Geschwader!« rief Crenden ihm beruhigend zu.
Jayge schwenkte, zum Zeichen, daß er nicht in Sorge war, die Hand über dem Kopf. Am gemächlichen Tempo und der lockeren Formation erkannte er, daß die Reiter wahrscheinlich auf der Jagd gewesen waren und nun zum Igen-Weyr zurückkehrten. Die Drachen hatten sich wohl zu sehr vollgestopft, um ins Dazwischen fliegen zu können. Dann hörte er jemanden kreischen und drehte sich um.
Auf der Aussichtsplattform des vordersten Wagens stand seine Halbschwester, schrie aus Leibeskräften und winkte, um die Dahingleitenden auf sich aufmerksam zu machen. Der Harfner in Kimmage hatte sich alle Mühe gegeben, Aldas Köpfchen mit Traditionen vollzupacken. Bruder Tino, der alt genug war, um sich an jenen Schreckenstag zu erinnern, beobachtete die Tiere ebenso teilnahmslos wie Jayge selbst.
Vor den Himmelsbesen wirkten sogar die Drachen klein. Aber es waren prächtige Geschöpfe, das mußte Jayge ehrlicherweise zugeben. Jenen Schock, die tiefe Enttäuschung bei seiner ersten Begegnung mit einem Drachenreiter hatte er niemals überwunden, obwohl er später viele einsatzfreudige, höfliche und rücksichtsvolle Weyrbewohner kennengelernt hatte, doch als er nun die Drachen mit harmonisch aufeinander abgestimmten Schwingenschlägen über den Himmel gleiten sah, stieg die altbekannte Unzufriedenheit mit der langsamen Gangart der Menschen wie der Renner in ihm auf.
Er senkte den Blick und konzentrierte sich auf den Weg der vor ihm lag. Schließlich war er verantwortlich dafür, daß nichts die Wagen behinderte. Lasttiere brauchten viel Platz zum Halten: sie dachten langsam, und wenn sie ihre schweren Lasten einmal in Bewegung gesetzt hatten, waren sie mit diesem Gewicht im Rücken nur noch schwer zum Stehen zu bringen. Der Herdenmeister in Keroon war offenbar nicht imstande, alle notwendigen Fähigkeiten einem einzigen Tier anzuzüchten. Man mußte wählen zwischen Schnelligkeit und Ausdauer, zwischen Muskelkraft und Anmut; Intelligenz schien sich unweigerlich mit Nervosität zu paaren, Kaltblütigkeit mit langsamen Reaktionen. Immerhin trotteten die Tiere notfalls die ganze Nacht hindurch weiter, ohne auch nur einmal den Rhythmus ihrer Schritte zu verändern.
Jayge entdeckte eine große Mulde - eine Drachenlänge breit und mindestens fünf Handbreiten tief, das reichte für einen Achsenbruch - und gab seinem Vater ein Zeichen, den Leitwagen nach links zu lenken. Crenden marschierte neben dem Gespann her, seine Frau Jenfa und Jayges jüngster Halbbruder saßen rittlings auf dem linken Tier. Jayge trabte weiter und blieb auf der anderen Seite der Vertiefung stehen, damit die übrigen Wagenlenker rechtzeitig anfangen konnten, ihre Marschrichtung zu ändern.
Er sah, wie die Flankenreiter die Botschaft an alle Wagen der weit auseinandergezogenen Karawane weitergaben. Das letzte Fuhrwerk passierte gerade das erste Hindernis dieses Tages, einen riesigen Baumstumpf, und Jayge bemerkte, daß jemand hinaufgestiegen war und ihm und seinem Vater mit den Armen signalisierte, schnelle Reiter kämen hinter ihnen her: zwei Reiter, drei Renner.
»Ich passe hier schon auf, Jayge!« rief Crenden und drängte sein Gespann mit dem Stachelstock in die neue Richtung. »Sieh du mal nach. Eigentlich ist unsere Gruppe so groß, daß sich keine Räuber an uns heranwagen dürften, aber ich möchte lieber Bescheid wissen.«
Sofort band Jayge seinen Renner von der Wagenrückwand los. Kesso erwachte aus seinem Halbschlaf, sobald Jayge nach den Zügeln griff, und schüttelte sich, um munter zu werden. Sobald sein Reiter im Sattel saß, war er wie umgewandelt, er schnaubte ungeduldig und blickte sich aufmerksam um. Der drahtige Renner mochte von weniger edlem Geblüt sein als das Reittier eines Hofbesitzers, aber trotzdem gewann er in jedem Rennen, bei dem Jayge ihn laufen ließ, seine Marken.
Während Jayge entlang der Karawane nach hinten galoppierte, rief er den anderen beruhigend zu: »Nur zwei Reiter, drei Tiere. Wahrscheinlich Händler. Wollen sich vielleicht anschließen.« Alle Erwachsenen stiegen ab, die Kinder ließ man zur Sicherheit in den Wagen, die Waffen waren nicht zu sehen, lagen aber griffbereit.
Drei Fuhrwerke weiter hinten hob Borgald die Hand, und Jayge zügelte Kesso und ließ ihn neben dem Geschäftspartner seines Vaters in Schritt fallen. »Auch wenn es nur zwei Reiter sind, ich traue der Sache nicht«, meinte der Alte. »Könnten schließlich auch Kundschafter sein. Diese Werber haben viel Staub aufgewirbelt, und die Leute in den Höhlen sind nervös - und verzweifelt. Will lieber keinen davon in der Nähe haben.«
Jayge nickte lächelnd. Wozu hätte Crenden ihn sonst nach hinten geschickt? Borgald und Crenden paßten großartig zusammen: Borgald redete, und Crenden hörte zu. Aber irgendwie wurde jedes Problem zu beiderseitiger Zufriedenheit gelöst. Jayge trieb Kesso weiter, denn er sah, daß Armald und Nazer, Borgalds älteste Söhne, sowie seine Tante Temma weiter hinten bereits aufgesessen waren und auf ihn warteten. Er lockerte sein Sattelmesser. In solchen Augenblicken fragte er sich, wo sein Onkel Readis jetzt wohl sein mochte. Readis war ein ausgezeichneter Reiter und ein gefährlicher Kämpfer gewesen.
Jayge hielt mit Temma, Armald und Nazer weit hinter dem letzten Wagen an. Er wußte, daß die Karawane aus genügend wehrhaften Leuten bestand, und je früher man das den Fremden klarmachte, desto geringer würden vermutlich die Schwierigkeiten sein.
Die Reiter kamen in einem gleichmäßigen Langstreckengalopp geradewegs auf ihn zu, verschwanden in den Wurzellöchern verrotteter Himmelsbesen und tauchten wieder auf - gute Reiter auf guten Tieren.
Zwei Männer, dachte Jayge, korrigierte sich jedoch, als sie näher kamen. Ein Mann und eine Frau, hochgewachsen, aber ohne Zweifel eine Frau, trotz des Staubschleiers vor dem Gesicht. Sie hielt knapp vor dem Mann an, also wandte Jayge sich an sie.
»Bestra vom Gestüt Keroon«, stellte sie sich mit einer Herablassung vor, wie sie viele Siedler im Umgang mit Händlern an den Tag legten.
»Händlerkarawane Lilcamp und Borgald«, gab Jayge kurz angebunden, aber nicht unhöflich zurück. Sie sah ihn nicht einmal an, wie es sich eigentlich gehörte, sondern blickte starr nach vorn auf die Wagen. Der Mann folgte ihrem Beispiel, etwas in seinen Zügen schreckte Jayge ab.
»Wir sind hinter einem Dieb her«, fuhr die Frau schnell fort. »Ein Heimatloser, der mir eine Menge Marken und sechs Längen schönes abgelagertes Rotholz gestohlen hat. Haben Sie ihn vielleicht überholt?
Er hat einen kleinen Wagen mit nur einem Gespann.«
Eigentlich hätte sie selbst feststellen können, daß auf dem vielfach gewundenen Pfad um die Himmelsbesen und die Wurzellöcher herum nirgends ein kleiner Wagen zu sehen war, der auf die Ausläufer des Grenzgebirges zustrebte.
»Wir haben niemanden überholt«, antwortete Jayge knapp. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, daß Temmas Renner außergewöhnlich unruhig war und sich im Kreis drehte. In der Hoffnung, das seltsame Paar damit loszuwerden, fügte er hinzu: »Wir haben vor vier Tagen die Höhlen von Igen verlassen und seitdem niemanden gesehen.«
Die Frau schürzte die Lippen, ihr berechnender Blick, der Jayge ganz und gar nicht gefiel, huschte über ihn hinweg und streifte die Karawane. Ihr Begleiter starrte vor sich ins Leere, ein auffallender Kontrast zu ihren unruhigen, forschenden Augen.
»Händler«, sagte sie und lächelte honigsüß, »sie wissen doch sicher, ob dort hinten noch andere Pfade abzweigen?« Sie deutete über die rechte Schulter.
»Ja.«
Ihre harten Augen richteten sich auf ihn und bohrten sich in die seinen. »Könnte man sie mit einem einzelnen Gespann befahren?«
»Mit einem von unseren Wagen würde ich es nicht versuchen«, antwortete er, als habe er sie mißverstanden.
Ihr flammender Zorn traf Jayge überraschend. Der Gegensatz zu ihrem geistesabwesenden Gefährten hätte nicht größer sein können. »Ich frage nach einem Karren, der allein unterwegs ist, nach einem Dieb, der sich mit meinem Hab und Gut aus dem Staub machen will«, fuhr sie ihn an. Erschrocken tänzelte Kesso zur Seite und wehrte sich mit hoch erhobenem Kopf gegen Jayges festen Griff.
»Mit einem solchen Gefährt käme man fast überall hinauf«, schaltete Armald sich hilfsbereit ein. »Wir sind Händler, Lady, aber wir verstecken keine Heimatlosen.
Jedes Stück in unseren Wagen ist registriert.«
»Es gibt mindestens zehn Serpentinenwege in die Vorberge hinauf.« Jayge bedeutete Armald ungeduldig, das Reden ihm zu überlassen. Es war beruhigend, wenn einem der massige Mann mit dem abschreckend groben Gesicht den Rücken deckte, aber er war nicht besonders klug und erkannte eine Gefahr erst, wenn sie mit gezücktem Schwert oder erhobener Keule auf ihn zustürmte. Jayge zeigte nach hinten. »Uns sind keine frischen Spuren aufgefallen, aber wir haben auch nicht danach gesucht.«
»Vor zwei Nächten hat es geregnet. Das müßte es Ihnen erleichtern, die Fährte zu finden«, fügte Armald hinzu und nickte freundlich.
Nichts mehr zu machen. Jayge zuckte die Achseln.
»Schönen Tag noch«, sagte er und verbeugte sich im Sattel. Hoffentlich zog das Pärchen nun ab.
Die Lilcamps mischten sich niemals in Streitigkeiten unter den Einheimischen und hatten gelernt, sich jeden genau anzusehen, der mit ihnen unterwegs war, aber Jayges Sympathien lagen eindeutig auf der Seite der Leute, die vor dieser Frau flohen. Sie wendete ihren Renner - alle drei Tiere waren schweißnaß und erschöpft und trieb ihn auf die Vorberge zu. Der schweigsame Mann drehte sich um, riß am Zügel des Packtieres und folgte ihr.
»Armald«, begannen Jayge und Temma gleichzeitig, obwohl das Klappern der Hufe noch nicht verklungen war. »Wenn ich rede, dann läßt du mich auch reden!« fuhr Jayge fort und drohte dem Hünen mit seinem Peitschenstiel. »Das war eine Hofbesitzerin. Sie ist hinter Dieben her. Die Lilcamps und die Borgaids decken keine Diebe.«
»Das war keine Hofbesitzerin, Jayge«, widersprach Temma. Sie schien sich Sorgen zu machen. Ihr Renner hatte sich wieder beruhigt, Temma hatte das Manöver also nur durchgeführt, um sich die beiden genauer ansehen zu können. »Der Mann gehörte früher zum Telgar-Weyr und hat vor einigen Planetenumläufen seinen Drachen verloren. In Igen wird er seit langem vermißt.
Und die Frau…« Temma rutschte unbehaglich im Sattel hin und her.
»Das ist Lady Thella, das habe ich dir doch gesagt«, fiel Armald ein. »Deshalb habe ich ihr auch ihre Fragen beantwortet.«
Temma starrte ihn an. »Er hat recht, Jayge. Mir kam sie ebenfalls bekannt vor.«
»Wer ist Lady Thella? Ich habe nie von ihr gehört.«
»Natürlich nicht«, schnaubte Temma spöttisch.
»Ich habe sie erkannt«, beharrte Armald.
Temma beachtete ihn nicht. »Sie ist die ältere Schwester von Baron Larad. Nach Tarathels Tod wollte sie Burgherrin werden, aber sie taugt nichts, überhaupt nichts.«
»Ich habe sie in Telgar oft gesehen; sie ist immer durch die Gegend geritten.« Armald schmollte, weil man ihn zurechtgewiesen hatte. »Sie ist eine feine Lady.«
Temma verdrehte die Augen. Sie war selbst eine anziehende Erscheinung, aber sie hatte einen sicheren Blick für ihre Geschlechtsgenossinnen.
»Eine Furie«, bemerkte Nazer und steckte seinen Dolch in die Scheide zurück. »Mit dieser Frau ist nicht zu spaßen.«
»Ich finde, wir sollten die beiden im Auge behalten, bis sie außer Reichweite sind«, sagte Temma. »Warte, bis sich der Staub gesetzt hat, Jayge, und reite ihnen dann nach. Merke dir genau, welchen Weg sie tatsächlich nehmen. Ich sage Crenden Bescheid.«
»Ich bin aber Schrittmacher«, wandte Jayge ein, denn er wollte seine Pflichten nicht vernachlässigen.
»Das kann Armald für dich übernehmen.« Sie zwinkerte Jayge zu. »Es liegt ihm, Löcher im Boden zu finden.«
»Schrittmacher?« Armaids Miene hellte sich auf. »Ich bin ein guter Schrittmacher.«
»Dann mach dich an die Arbeit«, brummte Nazer.
Armald ritt lächelnd davon, und Nazer wandte sich an Temma. »Was meinst du, übernehmen wir die Flanken?«
Temma zuckte die Achseln. »Warum sollten wir? Der Nebel lichtet sich. Bald ist alles klar. Wir reiten lieber ein Stück hinterher.« Sie grinste Nazer an, und Jayge tat so, als bemerke er es nicht, und zog den Kopf ein, um seinerseits ein Lächeln zu verbergen. Temma hatte lange genug allein gelebt. Wenn sie Nazer gern hatte, würde Jayge sich schleunigst verdrücken, um die beiden nicht zu stören. Schließlich war man nicht mehr in einer Siedlung, da konnte man sich schon ein bißchen aus dem Weg gehen. »Sind deine Satteltaschen gut gefüllt?«
Jayge nickte, klopfte auf den Reiseproviant, mit dem alle Reittiere bepackt waren, wendete Kesso und strebte im Schritt den Vorbergen zu.
***
Es vergingen etliche Tage, bis Giron mit seinen scharfen Augen endlich die Spuren von Dowells Karren fand. Diese junge Rotznase von einem Händler sollte seine Unverschämtheit noch bereuen, schwor sich Thella. Sicher hatte er ganz genau gewußt, welchen der vielen Serpentinenpfade die Flüchtigen eingeschlagen hatten. Giron sagte an diesem Tag gar nichts, er war noch verstört vom Anblick der Drachen. Als die Tiere am Himmel erschienen und direkt auf sie zuschwebten, war er wie gelähmt. Sein Tier trottete nur weiter, weil es gewohnt war, dem ihren zu folgen.
Als es Zeit wurde, ein Nachtlager aufzuschlagen, mußte sie einen geeigneten Platz suchen, ihn zum Absitzen zwingen und seine Finger gewaltsam vom Führstrick lösen. Am liebsten hätte sie ihn allein zurückgelassen, bis er wieder zu sich fand, aber vielleicht brauchte sie seine Hilfe, um sich das Mädchen zu schnappen.
Später war sie froh, ihn mitgenommen zu haben, denn letztlich lebte er doch so weit auf, daß er etwas entdeckte, was ihr fast entgangen wäre: Radspuren in der weichen Erde.
»Er muß versucht haben, seine Spuren zu verwischen, so viel Gerissenheit hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, murmelte sie aufgebracht. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum Dowell so überstürzt aufgebrochen war.
Sie war doch so taktvoll und behutsam vorgegangen - und er hatte so eifrig an den Schnitzereien gearbeitet, als wolle er die Arbeit auch zu Ende bringen. Zehn Marken wären ein schönes Zubrot gewesen, wenn man eine längere Reise plante.
Plötzlich kam ihr Brare in den Sinn. Hatte der alte Krüppel Dowell etwa gewarnt? Unwahrscheinlich, wenn das Mädchen für die Jäger aus den Höhlen so wichtig gewesen war, wie der Seemann behauptete. Sie hätten sicher nichts getan, um sie zu verscheuchen.
Hatte Giron sie zu auffällig überwacht? Vielleicht hatte der ehemalige Drachenreiter die Familie in Unruhe versetzt. Auch ihr war Giron von Zeit zu Zeit unheimlich, gestern zum Beispiel, als er in Trance fiel.
Vielleicht hatte auch jemand ausgeplaudert, wer sie war, und Dowell war in Panik geraten. Nun, wenn sie das nächstemal in die Höhlen von Igen kam, würde sie sich vergewissern, ob Brare loyal war!
»Fäden?«
Es war das erste Wort, das Giron seit drei Tagen sprach, und ausnahmsweise klang es so, als sei er nicht sicher. Er versuchte, zwischen den Ästen hindurch den Himmel zu sehen. Der Wald war hier sehr dicht, bestand allerdings zumeist aus Jungholz. Er warf ihr den Führstrick zu, trieb seinen Renner die Böschung hinauf, stellte sich in den Sattel und kletterte flink in das dichte Geäst eines Baumes.
»Sei vorsichtig!« rief sie, als der Stamm unter seinem Gewicht schwankte. »Was siehst du?« Er gab keine Antwort, und sie wollte ihm schon nachklettern, als er ein Stück herunterkam. Tiefe Trauer stand in seinem Gesicht.
»Drachen? Sporenregen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nur ein Drache vielleicht, zwei, wie viele? Auf der Jagd?«
»Einer, auf der Jagd. Wir müssen uns verstecken.«
Die Äste überdeckten den Pfad nicht ganz, und die meisten Laubbäume hatten bereits ihre Blätter abgeworfen. Man konnte sie und Giron aus der Luft sehen.
Thella trieb ihren Renner die Böschung hinauf und wäre von dem störrischen Packtier fast aus dem Sattel gerissen worden. Dennoch gelang es ihr, zwischen eine Gruppe von Nadelbäumen zu kommen. Giron drückte sich fest an den Stamm und blickte weiter zum Himmel auf. Sein Mund öffnete sich, fast als wolle er den Reiter anrufen, sich zu erkennen geben. Thella hielt den Atem an, aber ihr Begleiter schien mit dem Stamm zu verschmelzen und regte sich so lange nicht, daß Thella schon befürchtete, er sei wieder zu Stein erstarrt.
»Giron? Was ist los?«
»Noch zwei Drachen. Halten Ausschau.«
»Nach uns? Oder nach Dowell?«
»Was weiß ich? Aber sie tragen Säcke mit Feuerstein.«
»Du meinst, es kommt ein Fädeneinfall?«
Thella überlegte angestrengt, wo sich der nächste Unterstand befand. »Komm herunter. Wir müssen weg!«
Giron warf ihr einen leicht verächtlichen Blick zu, aber sie ging nicht darauf ein, sie war zu erleichtert, daß er da oben auf seinem Baum nicht abermals in Trance gefallen war.
»Wir sind hier in Baron Asgenars kostbaren Wäldern«, sagte er. »Ganze Scharen von Drachenreitern werden dafür sorgen, daß kein einziger Faden durchkommt.«
»Schön und gut, ich fürchte die Fäden nicht mehr als du, aber für die Renner gilt das nicht. Sie müssen weg von hier.«
Als sie endlich eine Höhle fanden, war sie fast zu klein, aber wenigstens tief genug für die drei Renner.
Was die dummen Tiere nicht sahen, würde sie auch nicht erschrecken. Gegen Ende des Einfalls war Thella fast rasend vor Sorge. Sobald Giron sicher war, daß auch die hinterste Front vorübergezogen war, drängte sie zum Aufbruch.
»Wenn sie in den Regen geraten ist…«
Sie ließ die Drohung unvollendet und schwang sich auf ihren Renner. Im Geiste sah sie den zuckenden, von Sporen bedeckten Körper des Mädchens vor sich. Als sie Girons geringschätzigen Blick bemerkte, unterdrückte sie ihre Unruhe, aber die Vorstellung, sie könnte ihr Opfer an die Fäden verloren haben, ließ sie nicht los, sie mußte sich Klarheit verschaffen.
»Thella«, befahl Giron unerwartet energisch, »behalten Sie den Himmel im Auge! Über dem Wald werden sie besonders gründlich suchen.«
Er hatte natürlich recht, und sie gab ihrem Renner die Sporen.
»Es ist schon fast dunkel, und ich muß es wissen!«
Den nächsten Hinweis entdeckte sie selbst. Jemand hatte die Wagenspuren verwischt, die Striche waren nicht zu übersehen, sobald sie den Dreckklumpen bemerkt hatte, der ohne jeden Zweifel aus einer Radnabe gefallen war. Sie saßen ab und nahmen sich je eine Seite des Weges vor; Giron fand den Wagen in einem leidlich guten Versteck hinter Nadelbäumen. Er spähte durch die Äste, als Thella ihn erreichte und ihn ungeduldig beiseite stieß.
»Jemand hat herumgekramt und einiges mitgenommen«, stellte Giron fest.
»Dann können sie nicht weit sein.«
Giron zuckte die Achseln. »Zum Suchen ist es zu dunkel.« Er hob warnend die Hand, als sie den Renner an den Zügeln zu sich heranzerrte und aufsteigen wollte. »Hören Sie, wenn sie tot sind, dann sind sie eben tot, und sie werden nicht wieder lebendig, auch wenn Sie noch so lange im Dunkeln herumstolpern. Und wenn sie in Sicherheit sind, dann laufen sie Ihnen im Moment nicht weg.«
Das klang vernünftig, aber Thella war nicht zu beruhigen.
»Ich schlafe heute nacht im Wagen.«
»Nein, ich schlafe heute nacht im Wagen. Du bringst die Renner in die Höhle zurück und kommst bei Tagesanbruch wieder hierher.«
Sie nahm die Decke und den Reiseproviant aus ihrem Bündel und schickte ihn fort.
»Sobald es hell wird! Vergiß es nicht!«
Vielleicht war das sogar die bessere Methode, dachte Thella.
Beim Wagen zu bleiben und abzuwarten, wer am nächsten Morgen nachsehen kam. Aramina war die Älteste. Aber mit so viel Glück konnte sie nicht rechnen, sagte sie sich, während sie an der trockenen Verpflegung herumkaute. Aber sie zöge es vor, nicht die ganze Familie am Hals zu haben. Wenn sie Aramina einfach verschwinden lassen könnte…
»Noch mehr Drachenreiter?« Thella konnte es fast nicht glauben. »Was wollen die denn hier?«
»Was weiß ich?« gab Giron zurück. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, zeigte er sich verärgert. Er ließ sich zu Boden fallen, zog die Knie an, legte die Arme locker darüber und sah vor sich hin.
»Aber der Fädeneinfall war gestern. Sie müßten längst weg sein!«
Sie rüttelte ihn am Arm. Wie konnte er es wagen, einfach so ins Leere zu starren!
»So viele Einnistungen?«
Sie war an Fäden gewöhnt, aber bei der Vorstellung, irgendwo in ihrer Nähe könnte ein Klumpen in den Waldboden eingedrungen sein, stockte ihr doch der Atem.
»Ist das der Grund?«
Giron schüttelte den Kopf.
»Wenn sich die Sporen über Nacht eingegraben hätten, wäre vom Wald nichts mehr da. Und wir wären tot.«
»Aber warum dann? Könnte der Drache dich gestern gesehen haben?«
Giron lachte verbittert und stand auf.
»Wenn Sie dieses Mädchen haben wollen, dann sehen Sie zu, daß Sie sie finden. Weit können sie nicht sein. Sie hätten den Wagen nicht zurückgelassen.«
Thella versuchte sich zu konzentrieren. »Wäre es denn möglich, daß man in einem Weyr von ihr erfahren hat?«
»In den Weyrn gibt es genügend Leute, die sich mit Drachen verständigen können«, sagte er verächtlich.
»Man könnte sie doch bei einer Suche entdeckt haben? Ich habe gehört, daß in Bendens Brutstätte ein Gelege heranreift. So muß es sein. Komm! Ich lasse mir das Mädchen nicht wegnehmen, es gehört mir!«
Es war gut, daß sie zu Fuß waren und die Renner in der Höhle gelassen hatten, denn so konnten sie sich leicht verstecken, als ein Trupp Berittener vorüberkam.
»Asgenars Waldhüter«, sagte Thella und wischte sich die Walderde aus dem Gesicht. »Splitter und Scherben.«
»Kein Mädchen dabei.«
»Die haben nach uns gesucht! Das weiß ich genau.«
Fluchend umging sie ein Dickicht. »Komm, Giron. Wir werden dieses Mädchen finden. Und wenn wir es gefunden haben, werden wir es diesem Lilcamp-Händler heimzahlen. Wir werden seinen Tieren die Sehnen durchschneiden und seine Wagen verbrennen. Sie werden nicht einmal bis zum See kommen, das verspreche ; ich dir. Er hat mich verraten, und dafür wird er büßen.
Ich kriege ihn!«
»Herrin der Geächteten«, sagte Giron so spöttisch, daß sie trotz ihrer Wut stehenblieb. »Man wird Sie kriegen, wenn Sie nicht aufhören, hier im Wald soviel Lärm zu machen. Sehen sie, hier ist vor kurzem jemand gegangen. Überall abgebrochene Zweige. Wir brauchen ihnen nur zu folgen.«
Die abgebrochenen Zweige führten bis zum Weg, und hier waren verwischte Renner-, Menschen- und Drachenfährten zu erkennen. Hinter den Bäumen bewegte sich etwas, ein Mann tauchte kurz auf. Dowell konnte es nicht sein, der hätte weder Lederkleidung noch Kampfriemen getragen. Vorsichtig überquerten sie den Weg und kämpften sich langsam hangaufwärts bis an den Rand eines Wäldchens aus Nußbäumen. Dort zog Giron Thella zu Boden.
»Ein Drache. Bronze«, flüsterte er ins Ohr.
Einen Moment lang war sie wütend auf Giron. Seine Vorsicht war berechtigt gewesen, und das empörte sie kaum weniger als die Erkenntnis, daß ihr Opfer von einem Drachen bewacht wurde. Warum hatten die Drachenreiter das Mädchen nicht einfach mitgenommen?
Oder sollte dies eine Falle für Thella sein? Woher konnten sie wissen, daß sie es auf Aramina abgesehen hatte? Hatte Brare nicht dicht gehalten? Oder dieser unverschämte Bursche bei der Händlerkarawane? Konnte er sich auch mit Drachen verständigen?
Dann sah sie jemanden durch das Wäldchen gehen.
Um Nüsse zu pflücken? Thella riß verblüfft die Augen auf. Tatsächlich, das Mädchen pflückte Nüsse. Und der Bewacher half ihm dabei. Thella schloß die Augen vor diesem unerträglichen Anblick. Da hatte sie die Beute dicht vor der Nase und konnte nicht zupacken. Sie und Giron brauchten eine Menge Glück, um mit heiler Haut davonzukommen. Trotzig zog sie den Arm zurück, als Giron sie am Ärmel zupfte. Dann sah sie, daß er auf etwas deutete.
Das Mädchen entfernte sich immer weiter von ihrem Wächter. Nur ein kleines Stück noch, dachte Thella. Ein ganz kleines Stück, mein süßes Kind. Grinsend bedeutete sie Giron, das Mädchen mit ihr in die Zange zu nehmen. Der Wächter sah nicht nach unten. Wenn sie vorsichtig waren… sie würden vorsichtig sein. Mit angehaltenem Atem schob Thella sich weiter.
Giron erreichte Aramina als erste, legte ihr eine Hand auf den Mund und drückte ihr mit der anderen die Arme an den Körper.
»Nun geht doch noch alles gut, Giron«, lobte Thella, griff dem Mädchen ins Haar und riß ihm den Kopf nach hinten. Sie hatte ihnen so viele Schwierigkeiten gemacht, dafür verdiente sie ein wenig Schmerz. Thella weidete sich an der Todesangst in Araminas Augen.
»Endlich ist uns der Wildwher in die Falle getappt.«
Die beiden zerrten ihr Opfer den Hügel hinunter, bis sie außer Sichtweite des Wächters waren. »Keine Bewegung, meine Kleine, oder ich schlage dich bewußtlos.
Wäre vielleicht besser, Thella«, fügte er hinzu und ballte die Faust. »Wenn sie Drachen hören kann, gilt das auch umgekehrt.«
»Sie war nie in einem Weyr«, gab Thella zurück, aber die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Sie riß heftig an Araminas Haar. »Laß dir ja nicht einfallen, nach einem Drachen zu rufen.«
»Zu spät!« rief Giron mit erstickter Stimme und stieß das Mädchen von sich, auf die Kante am Rand des Wäldchens zu.
Thella entfuhr ein heiserer Schrei, als der Bronzedrache das stürzende Mädchen aufhielt. Der Drache brüllte auf, und sein Atem war so heiß, daß Thella erschrocken die Flucht ergriff. Giron war nur einen Schritt hinter ihr. Während sie sich rutschend und stolpernd vorwärtskämpften, hörten sie Stimmen rufen. Thella warf einen Blick über die Schulter und sah den Drachen gegen die Bäume anrennen, denen er mit seinem massigen Körper nicht so gewandt ausweichen konnte wie ein Mensch. Mit lautem Gebrüll machte er seiner Enttäuschung Luft. Thella und Giron liefen weiter.