Lemos, Südkontinent, Telgar

12. Planetenumlauf

Um den Winter nicht in der Siedlung >Ende der Welt< verbringen zu müssen, aber auch, um die Suche nach Thella und Readis fortzusetzen, schloß sich Jayge mit Kesso einer von Baron Asgenars Streifen an.

Temma und Nazer beneideten ihn und schworen, zu ihm zu stoßen, sobald ihre Wunden verheilt seien.

Jayge bemühte sich, ihnen Mut zu machen, aber er hatte vor dem Notlazarett ein Gespräch zwischen dem Heiler der Siedlung und Lady Disana belauscht und wußte, daß es noch lange dauern würde, bis die beiden wieder ganz bei Kräften waren.

Es zeigte sich, daß Crenden die erlittenen Verluste besser verwand als Borgald - auch war Maindy, anders als damals Childon von Kimmage bereit, mit den beiden Karawanenführern eine faire Abmachung zu treffen.

Auf Ersatz für die toten Tiere würden sie bis zum Frühjahr warten und ihre letzten Marken dafür zusammenkratzen müssen. Als Entgelt für eine angemessene Arbeitsleistung in der Siedlung wollte er Crenden und Borgald jedoch genügend Zeit und Material sowie die Hilfe des Siedlungszimmermanns und eines Schmiedegesellen - bewilligen, um die beschädigten Wagen instandzusetzen. Jeden Abend saßen Borgald und Crenden mit ihren Frauen an der Ehrentafel, und Maindy fragte sie oft um Rat. Als dann das Tal im Schnee versank, waren die Händler gerne bereit, Maindys Leuten beim Innenausbau der in diesem Sommer errichteten Erweiterungen zur Hand zu gehen.

Endlich begann sich Borgald mit den Kindern zu beschäftigen, die beim Überfall ihre Eltern verloren hatten, und dabei erholte er sich langsam, auch wenn er sich hin und wieder immer noch mit unsicherem Lächeln nach seinem Sohn Armald umsah. Crenden grübelte indessen unaufhörlich darüber nach, wodurch man diesen Überfall wohl provoziert haben könnte.

Jayge war nicht der Ansicht, daß es an der Verzweiflung seines Vaters etwas ändern würde, wenn er ihm seinen Verdacht mitteilte.

Jayge verließ mit der Streife die Siedlung, ohne Gelegenheit gefunden zu haben, Temma von Readis zu erzählen, und ohne dahintergekommen zu sein, was die Skizzen, die er zufällig entdeckt hatte, wohl bedeuteten. Vermutlich hatte einer von Thellas Verwundeten die Rolle verloren, und die Vorstellung, daß Tote doch nicht ganz stumm waren, erheiterte ihn. Er hatte zwar kaum Zeit gehabt, sich die Zeichnungen genauer anzusehen, aber die Gesichter hatten sich ihm unauslöschlich eingeprägt. Manche schienen nur flüchtig hingeworfen, aber in allen Fällen waren Haltung und Charakter mit gekonnt sparsamer Linienführung eingefangen worden, und Jayge glaubte sich imstande, jedes einzelne Antlitz zu identifizieren, auch wenn er nur Thella, Giron und Readis namentlich kannte. Thella war am häufigsten dargestellt, in verschiedenen Posen, aus unterschiedlichen Blickwinkeln und, wie Jayge im Nachhinein begriff, in mehreren Verkleidungen. Des Nachts stellte er sich diese Gesichter, die der sechs Toten ausgenommen, im Geist immer wieder vor. Wenn er eines davon wiedersah, würde er es erkennen. Er hätte gerne gewußt, was Asgenar von diesen Skizzen hielt.

Am ersten Abend nach dem Aufbruch von >Ende der Welt<, als der Topf über dem Feuer brodelte und die Männer ihre Schlafsäcke entrollten, kam der Führer des Trupps, ein Waldhüter, von allen mit mehr oder weniger Respekt und Bewunderung Swacky genannt, zu Jayge herüber. Swacky war ein stiernackiger Mann, der sich in zwanzig Planetenumläufen als Holzfäller eine stattliche Arm- und Brustmuskulatur erworben hatte.

Dem Bier, das er trank, wo immer er es bekommen konnte, und den riesigen Mengen, die er bei jeder Mahlzeit vertilgte, verdankte er einen ansehnlichen Wanst, aber er war gut zu Fuß, und unter seinen schütteren braunen Haarsträhnen blickten scharfe Augen aus einem kantigen Gesicht mit ausgeprägtem Kinn. Als die Männer Holz für das Lagerfeuer sammelten, hatte Jayge beobachtet, wie Swacky eine Axt nach einem Scheit schleuderte und es genau in der Mitte spaltete.

Außerdem wurde ihm glaubwürdig versichert, Swacky könne mit seiner Axt einen Wher vom Himmel holen.

Der Hüne führte ein ganzes Waffenarsenal mit sich, vom leichten Wurfbeil bis zu der zweihändigen Axt, die an seinem Sattel festgeschnallt war.

Jayge war völlig überrascht, als Swacky ihm ein Bündel abgegriffener Blätter zuschob. »Präg dir die Gesichter ein. Hinter jedem einzelnen von denen sind wir her.

Hast du bei eurem Zusammenstoß an der Schlucht jemand davon gesehen?«

»Ich erkenne nur die Toten«, sagte Jayge, aber er sah sich alle Gesichter gründlich an und verglich sie mit seiner Erinnerung. Was er in der Hand hielt, waren hastig ausgeführte Kopien, denen die Lebendigkeit der ursprünglichen Skizzen fehlte.

»Woher weißt du, wer davon tot ist?«

»Ich war dabei, als die sechs mit der durchschnittenen Kehle gefunden wurden. Diese Frau aus Telgar…«

Swackys Hand krallte sich schmerzhaft in Jayges Schulter.

»Woher weißt du das?«

Er hatte die Stimme gesenkt, und beschwor Jayge mit warnendem Blick, ebenfalls leise zu antworten.

»Borgalds Sohn Armald - er kam bei dem Überfall ums Leben hat sie bei unserer ersten Begegnung erkannt.«

»Erzähl!« forderte ihn Swacky auf, setzte sich mit dem Rücken zu den anderen und zog die Beine an.

Jayge erzählte ihm alles bis auf Readis' überraschendes Auftauchen. »Ich weiß immer noch nicht, wer einen Drachenreiter gesehen haben will«, schloß er. »Hinterher habe ich erfahren, daß ein Patrouillenreiter die stehende Karawane entdeckt und geglaubt hat, sie sei in einen Steinschlag geraten.«

»Was ja auch stimmte, nicht wahr?« grinste Swacky gehässig. »Ich habe mir die Stelle für den Hinterhalt genau angesehen, damit wir solche Situationen in Zukunft vermeiden können.«

»Und? Ich hatte alle Hände voll zu tun, meinen Leuten zu helfen.«

»Paß auf…« Swacky beugte sich vor, zog ein Messer aus dem Stiefel und ritzte ein Diagramm in die Erde.

»Der Hinterhalt war genau geplant. Sie haben auf euch gewartet. Wieso habt ihr keinen Schrittmacher vorausgeschickt?«

»Haben wir ja.

Sie wurde in die Schlucht gestoßen, und dort haben wir sie tot aufgefunden. Für Flankenreiter war der Weg zu schmal. Außerdem waren wir schon nahe genug an >Ende der Welt<.«

Swacky wedelte mahnend mit seinem Dolch hin und her. »Nahe genug ist man erst, wenn man in die Siedlung einfährt. Jedenfalls waren zehn Steinschläge vorbereitet, genau im richtigen Abstand, um jeden eurer Wagen zu treffen.«

»Wenn wir den gleichen Abstand eingehalten hätten«, unterbrach Jayge mit erhobener Hand, »wie damals auf der Ebene bei den Himmelsbesen, als wir ihr begegneten… An diesem Tag hat sie den Überfall geplant, das weiß ich jetzt!« Jayge spürte den Haß wie Galle im Mund. »Wenn ich sie erwische, schneide ich ihr die Kehle durch.« Seine Hand faßte unwillkürlich nach dem Dolch.

»Einen so raschen Tod hat sie nicht verdient, mein Junge.«

Swacky legte den Kopf schief, und auch in seinen Augen glühte der Haß. Dann klopfte er Jayge mit seinem Dolch leicht auf die Finger. »Solltest du sie erwischen, solange du in meiner Patrouille bist, dann übergibst du sie mir. Sie hat bei ihren Überfällen nicht oft getötet und in jüngster Zeit gar nicht mehr, aber du bist nicht der einzige, der ihr an die Kehle will. Ihr hattet Glück, daß eure Wagen auf der langen Steigung so weit auseinandergezogen waren. Und sie hat noch einen zweiten Fehler gemacht. Eure Wagen sind nicht so leicht umgekippt, wie sie erwartete. Das zeigt« - wieder hob er die Klinge -, »daß sie allmählich unvorsichtig wird. Oder verzweifelt ist.«

Sehr überzeugt klang das nicht.

»Baron Asgenar hat sich die Frachtbriefe für eure Waren angesehen, und er hat nichts gefunden, was sie so dringend gebraucht hätte, um ein solches Risiko einzugehen.«

»Woher will Asgenar wissen, was sie stehlen würde?«

»Baron Asgenar«, verbesserte Swacky, gab ihm einen Klaps auf die Finger und sah ihn streng an. »Sogar in Gedanken, mein Junge. Und Baron Asgenar weiß es, weil er ständig kontrolliert, was sie bisher gestohlen hat, was in ihrem Hauptlager liegen muß und was sie brauchen könnte. Abgesehen von einem kleinen Mädchen, das Drachen hören kann.«

Jayge war empört. »Thella hat nur gesagt, daß sie einen Dieb verfolgt. Und ich habe ihr schon damals nicht geglaubt, aber sie war schrecklich wütend.«

»Das hat sie dir erzählt?« fragte Swacky überrascht.

»Ein Mädchen, das Drachen hören kann, soll also der Grund für den Angriff auf uns gewesen sein?«

Swacky nickte bedächtig. »Das hat mir dieser junge Bronzereiter mitgeteilt. Ein solches Mädchen wäre für jemanden wie Thella sehr nützlich, darauf kannst du deinen letzten Schuhnagel verwetten.«

»Nützlich schon«, räumte Jayge ein.

Aber warum hatten die Weyr sie noch nicht als Kandidatin für eines ihrer Königinneneier ausgewählt?

»Weißt du, Armald hat sie erkannt. Aber er hat sie nur mit >Lady< angesprochen. Ihren Namen hat er uns erst später gesagt-«

»Nun, Armald ist tot, du hast deinen Teil abbekommen, und du sagst ja selbst, daß auch deine Tante und der vierte Mann, der an jenem Tag dabei war, nur verdammt knapp dem Tod entronnen sind.«

Er nahm Jayge die Skizzen wieder ab.

»Du hast sie gesehen Junge - du kannst uns helfen. Ist dein Renner auch im Gebirge trittsicher?«

»Es gibt keinen besseren, wenn es darauf ankommt, bringt er sogar schlafende Where um.«

Swacky erhob sich und wandte sich zum gehen.

»Das würde zu viel Lärm machen, Junge, und wir wollen uns möglichst schnell und möglichst leise bewegen. Man weiß nie, was man sonst aufscheucht.«

»Noch etwas, Swacky. Der Mann, der diese Skizzen gezeichnet hat. Wie sollen wir ihn erkennen? Am Ende töten wir ihn noch aus Versehen.«

»Ich habe Anweisung, überhaupt niemanden zu töten. Wir sollen die Bande gefangennehmen. Und die Augen offenhalten.«

»Wonach suchen wir?«

»Am besten wäre es, wenn wir ihren Hauptstützpunkt fänden, aber jede Höhle, jedes Versteck bringt uns weiter.«

»Im Schnee wird sie kaum unterwegs sein.«

»Schon richtig, aber bewohnte Höhlen erkennt man auch im Schnee, nicht wahr? Wenn wir eine sehen, tragen wir sie in die Karte ein, durchsuchen sie, und wenn wir versteckte oder vergrabene Vorräte finden, sorgen wir dafür, daß sie im nächsten Frühjahr nicht mehr zu gebrauchen sind.«

Damit entfernte sich Swacky.

***

Torics Wutanfälle waren immer ein Problem für die ganze Hausgemeinschaft, aber ein wutschnaubender Toric in der größten Sommerhitze, ohne den beruhigenden Einfluß von Sharra, die sich in der Heilerhalle von Fort aufhielt, oder von Ramala, die als Hebamme bei einer schwierigen Geburt an der Westküste Beistand leistete, war wie ein wandelnder Feuerstein auf der Suche nach etwas Brennbarem.

Piemur und Saneter sahen sich fest an und einigten sich mittels einiger flinker Harfnersignale darauf, dem Problem mit Selbstsicherheit - und Humor - zu Leibe zu rücken.

»Gewiß, es sind alles Landratten. Haben sich bisher noch nicht einmal in einem Ruderboot aufs Wasser gewagt«, rief Piemur und streifte die matten Geschöpfe auf Meister Garms Deck mit einem zynischen Blick.

»Schlapp sind sie. Schlappe Weichlinge aus dem Norden. Wir nehmen sie schon unter unsere Fittiche.« Er winkte einem kleinen Mädchen, das sich in der Nähe herumdrückte. »Sara, wir brauchen Heilsalbe für ihren Sonnenbrand und diese Pillen, die Sharra bei Magenverstimmungen verordnet. Deine Mutter weiß schon, welche ich meine.«

»Meister Garm.« Toric war außer sich vor Empörung.

»Sie werden nur so lange ankern, bis die Fracht von Ihrem Anwesen gelöscht ist, und dann bringen Sie dieses - dieses Geschmeiß dahin zurück, wo es hergekommen ist.«

»Aber Baron Toric!« wandte Garm begütigend ein.

Er hatte eine stürmische Überfahrt hinter sich, und seine Passagiere hatten ihm ständig mit ihren Klagen, ihren Drohungen und ihrer widerlichen Übelkeit in den Ohren gelegen. Den Gestank würde er aus seiner großen Achterkajüte nie wieder herausbekommen. Es war ihm egal, wieviel er damit verdiente, daß er diese Jammerlappen in den Süden brachte - er würde das nicht noch einmal durchmachen. Die Leute, die er für Toric eingeschmuggelt hatte, hatten sich schweigend in ihr Elend gefügt.

Der verzärtelte Haufen, der soeben ganz legal herübergekommen war, hatte ihm dagegen die ganze Überfahrt verdorben!

»Toric, sie leben noch! Wenn sie ihre Seekrankheit überwunden haben, läßt sich eine Menge aus ihnen rausholen! Sie sind gut gewachsen!

Und auch gut genährt, wenn man bedenkt, was sie am ersten Tag alles von sich gegeben haben!«

Torics Miene hellte sich nicht auf.

»Das letzte, was ich hier brauche, ist eine Bande von verwöhnten Scheißkerlen, die noch keinen Tag in ihrem Leben richtig gearbeitet haben und glauben, sie können sich hier ins gemachte Nest setzen!

Ich hätte mich darauf niemals einlassen dürfen. Aber dieser Harfner hat eine so geschliffene Zunge…«

»Wenn er die nicht hätte, wäre er ein schlechter Harfner.«

Auf Meister Robinton ließ Piemur nichts kommen.

»Aber es besteht keinerlei Anlaß, diese von Übelkeit geschwächten Sonnenbrandopfer besser zu behandeln als alle anderen, die je in diesem Hafen gelandet sind.«

Er mußte grinsen, als er sah, wie Toric allmählich ein Licht aufging.

»Sie haben weder F'lar noch Robinton versprochen, all diese jüngeren Söhne von Burgherren und Hofbesitzern mit Samthandschuhen anzufassen, und das wird auch niemand von Ihnen erwarten. Sie sollen genauso schwitzen wie jeder andere hier.

Wenn sie immer noch die Vorstellung haben, sie könnten hier gemächlich durch die Gegend spazieren, reife Früchte von den Bäumen pflücken und sich im lauen Wind unter der südlichen Sonne ein schönes Leben machen, dann werden Sie ihnen die Flausen sicher schnell austreiben.«

»Aber…«

Toric hielt inne, sein wütender Blick streifte die Elendsgestalten auf Garms Deck und wanderte weiter nach Osten über den Sandstrand.

»Kein Aber, Toric«, fuhr Piemur fort, während Saneter ihn mit flinken Fingern zur Vorsicht mahnte. »Sie bekommen einen oder zwei Tage Zeit, um sich zu erholen, und dann weist man ihnen Aufgaben zu« - Piemur grinste verschmitzt - »für die sie sich eignen. Sie sind immer noch Toric, der Baron des Südens, und Sie haben das Recht, Ihren Besitz nach eigenem Gutdünken zu verwalten. Wenigstens sind sie gewöhnt zu gehorchen, wenn ein Grundbesitzer sagt: >Spring< - sie haben mehr Disziplin als so manche von den heimatlosen Flegeln, die Garm bisher hier abgesetzt hat. Lassen Sie den Burschen Zeit, über Sonnenbrand und Seekrankheit wegzukommen, ich glaube, dann werden Sie so manche Überraschung erleben.«

Piemur gab sich sehr selbstbewußt. Toric wandte den Blick nicht von den Gestalten, die auf Garms Deck herumlagen oder über die Reling hingen.

»Sie haben schon mehr Leute zurechtgebogen, als ich gedacht hätte, Toric«, schaltete sich Garm ein, der sich allmählich für Piemurs Methode erwärmte. »Und das schaffen Sie auch diesmal. Lassen Sie sie einfach frei laufen. Die Guten werden überleben.«

Toric schwankte. Dann runzelte er abermals die Stirn.

»Sie nehmen keine einzige Botschaft mit, Garm, die ich nicht zuvor gesehen habe. Wieviele von ihnen haben Feuerechsen?«

»Ach, fünf oder sechs vielleicht«, sagte Garm nach kurzem Überlegen.

»Es sind alles jüngere Söhne«, erinnerte Piemur.

»Also keine Königinnen oder Bronzeechsen?«

»Nein, zwei Blaue, eine Grüne und ein Brauner«, antwortete Garm. »Die Biester haben sich schnell verzogen, als die Jungen seekrank wurden. Und sie sind noch nicht zurückgekommen.«

Toric schnaubte, aber sein Zorn ließ ein wenig nach.

»Schicken Sie sie zu Hamian oder hinüber zur Großen Lagune. Die meisten müßten ja die Trommelkodes kennen.«

Nachdem Toric sich nun endlich beruhigt hatte, sprudelte Piemur eine gute Idee nach der anderen heraus. Er wollte um jeden Preis vermeiden, daß man ihm noch einen Trommelturm anhängte, erst sollte Toric seinen Teil des Abkommens einhalten und ihm die Genehmigung geben, auf Erkundungsreise zu gehen.

»Lassen Sie sie laufen. Die Tüchtigen werden lernen.

Die Dummen rennen von selbst ins Verderben.«

»Dem Geschwätz vor der Abfahrt nach zu urteilen, haben sie offenbar alle mit einem eigenen Anwesen gerechnet«, warf Garm zögernd ein.

»Zuerst müssen sie beweisen, daß sie etwas taugen.

Und zwar mir!«

Toric deutete mit dem Daumen auf seine Brust.

»Na schön, bringt sie an Land. Piemur, Ramala ist nicht da. Du weißt, wie man sie verarztet. Saneter, fragen Sie Murda, wo wir sie heute nacht unterbringen können. Wo ich sie danach hinschicke, werde ich mir noch überlegen. Splitter und Scherben! Warum müßten sie auch so früh hier eintreffen?«

»Wir hatten guten Wind«, erklärte Garm und wischte sich den Schweiß von seiner wettergegerbten Stirn. Er hatte Torics Klage mißverstanden. »Sind schnell vorangekommen.« Er schnappte sich die Fangleine des Dingi und zog das Boot zu sich heran, um zu seinem Schiff zurückzurudern.

»Zu schnell«, sagte Piemur leise und sah Saneter an.

Sie hätten noch ein paar Tage Zeit gebraucht, um Toric auf diese >Invasion< vorzubereiten. »Ich kann nur hoffen, daß ein paar vernünftige Leute darunter sind.«

»Erkennst du einen davon?« fragte Saneter, als die beiden die Hafentreppe hinaufstiegen. Seit Toric fort war, sammelten sich oben Scharen von Kindern am Geländer und deuteten auf das Schiff. Piemur hörte, wie sie kicherten und spöttische Bemerkungen machten.

»Nicht von hier aus und nicht in diesem Zustand.«

Piemur zuckte die Achseln.

»Ich schätze, daß Groghe etliche von seinen Söhnen geschickt hat. Der einzige, der wirklich etwas taugt, ist in der Schmiedehalle geblieben. Ein paar andere waren ganz annehmbar. Er hat sie alle, die Pfleglinge wie die eigenen, in Zaum gehalten.

Die Söhne von Baron Sangel müßten an die Hitze gewöhnt sein vielleicht verstehen sie sogar etwas vom Getreideanbau. Cormans Schar treibt sich vermutlich immer noch auf den Höfen im Osten herum und sucht nach Thella, der ausgekochten Herrin der Geächteten.«

»Piemur! Dein loses Mundwerk wird dich eines Tages noch in Schwierigkeiten bringen.«

»Schon passiert.«

Piemur verzog spöttisch das Gesicht. Dann sah er die kleine Sara mit einem Korb voll Salben und Fläschchen heraufkommen und lächelte anerkennend.

»Braves Mädchen. Eine Pille im Magen wird das Übel verjagen. Jetzt geh zu Murda, mein Schatz, und hilf ihr.«

***

Asgenar schwang sich vom Rücken des Drachen und kam schwerfällig auf dem Boden auf - und genauso fühlte er sich auch: schwerfällig und unsicher. Aber er wußte sich keinen anderen Rat. Schließlich war er Larads Pflegebruder, und deshalb war es seine Aufgabe, ihm die Nachricht möglichst schonend beizubringen.

K'van landete leichtfüßig neben dem Baron von Lemos. Er schien von dieser Aufgabe ebenso wenig begeistert zu sein, strahlte aber mehr Entschlossenheit aus.

Sein Drache Heth wandte den Kopf und warf den beiden einen ermunternden Blick aus grün schillernden Augen zu. K'van gab ihm einen herzhaften Klaps auf die Schulter und ging mit knirschenden Schritten durch den Neuschnee auf die breite Treppe zu, die zum Haupttor der Burg Telgar hinaufführte. Es war unangenehm kalt, und so folgte Asgenar dem jungen Bronzereiter ohne Zögern.

Als sie die oberste Stufe erreichten, wurde die Tür geöffnet, und Heth schwang sich in die Lüfte, um dem Wachdrachen auf den sonnigen Feuerhöhen Gesellschaft zu leisten.

»A'ton hat mich von eurem Kommen benachrichtigt.«

Larad schien sich über den Besuch zu freuen. »Du wirst dich wundern, wenn du siehst, wie er sich herausgemacht hat.«

Damit hatte er Asgenar aus dem Konzept gebracht.

»A'ton?«

»Dein Neffe. Hast du etwa vergessen, daß ich drei prächtige Söhne habe?« Larad winkte verlegen ab. »Du hast sicher andere Sorgen. Guten Tag, K'van. Sind Sie in der gleichen Angelegenheit hier?«

K'van nickte, nahm den Helm ab und öffnete die Reitjacke, dann zog er umständlich die Handschuhe aus und steckte sie in den Gürtel.

»Dann also in meinen Arbeitsraum, aber ich darf euch doch sicher einen Becher Klah oder Würzwein anbieten?«

»Vielleicht später.«

»Dulsay ist gleich nebenan, und ich würde gern austrinken, ihr könnt mir ja inzwischen den Grund für euren Besuch schildern. Dulsay?« rief Larad. Seine Frau erschien mit einem Tablett und drei dampfenden Bechern.

»Ihr gestattet doch, Asgenar, K'van? Das taut die eingefrorenen Zungen auf«, sagte Larad, während Dulsay die Becher herumreichte. Dann zog sie sich taktvoll in den Großen Saal zurück, und Larad führte seine Gäste in sein Allerheiligstes.

»Du mußt dich auf einen Schock gefaßt machen, Lar«, begann Asgenar, zog sich einen Stuhl heran und stellte seinen Becher ab.

Dann knöpfte er seine zweireihige, pelzgefütterte Jacke auf, zog die Skizzen heraus und warf sie auf den Tisch. »Sieh dir das an.«

Asgenar hatte das Blatt mit den Zeichnungen von Thella ganz nach unten gesteckt. Larad sah sich jedes Gesicht an, und seine Miene verfinsterte sich zusehends. Als Thellas Porträt an die Reihe kam, atmete er langsam aus und ließ sich auf seinen Stuhl sinken.

»Und ich dachte, sie sei schon zu Beginn der Annäherungsphase umgekommen.«

»Tut mir leid, Lar, aber sie ist sehr lebendig und viel zu aktiv.«

Larad blätterte die Skizzen vorwärts und rückwärts durch und kehrte immer wieder zu den Zeichnungen von Thella zurück. Mit den Fingern der linken Hand trommelte er nervös auf die polierte Tischplatte. Endlich deutete er auf Girons Porträt. »Ist das nicht R'marts verschwundener blauer Reiter?«

»Ein ehemaliger Drachenreiter.

Temma von der Lilcamp-Karawane - sie wurde vor sechs Tagen überfallen - hat ihn und Thella als die beiden Personen identifiziert, die nach Dowell und seiner Familie suchten.«

Larad sah ihn verständnislos an.

»Dowells Tochter Aramina kann Drachen hören«, erklärte Asgenar.

K'van rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Ich sehe da keinen Zusammenhang«, sagte Larad zögernd.

»Ein Mädchen, das Drachen hören kann, wäre für eine Bande von Strauchdieben unbezahlbar«, wiederholte Larad, nachdem Asgenar ihm erklärt hatte, worum es ging. »Und Sie haben sie gerettet, K'van?«

»Nicht ich, Baron«, lächelte K'van, erleichtert über Larads entgegenkommende Haltung.

»Heth, mein Drache!«

Heths Trompeten war selbst durch die dicken Burgmauern zu vernehmen.

Baron Larad nickte nur. »Aber ich begreife nicht, warum… warum Thella« - seine Bestürzung vertiefte sich, fast als werde der Vorwurf durch den Gebrauch ihres Namens erst bestätigt - »auf so brutale Weise eine harmlose Handelskarawane überfallen sollte.«

Asgenar zuckte die Achseln.

»Es war schon schlimm genug, als nur Waren geraubt wurden, aber der Mord an unschuldigen Menschen…«

»Ich bin ganz deiner Meinung. Ein schändliches Verbrechen. Unverzeihlich. Verabscheuungswürdig.«

»Wie du weißt, vermuten wir schon seit längerem, daß hinter den systematischen Plünderungen entlang der Ostberge eine einzige Bande steckt.«

»Das soll alles Thellas Werk sein?« Larad schien es nicht glauben zu wollen und hoffte sichtlich auf Widerspruch.

»Jedenfalls zum größten Teil. Allem Anschein nach ist sie die Anführerin dieser Räuberbande.«

»Und…« Larad hielt inne, beugte sich vor und legte die belastenden Skizzen ordentlich aufeinander.

»Wer hat das gezeichnet? Vielleicht jemand, der damit glimpflich davonzukommen hofft?«

»Wir tippen auf den eingeschleusten Harfner. Robinton sagte, er würde uns nach Kräften unterstützen.«

»O ja, daran erinnere ich mich. Und wie kann ich euch nun behilflich sein?«

»Sie hat irgendein Anwesen gefunden, das sie als Hauptstützpunkt benützt.« Asgenar zeigte auf die Karten des Burgbereichs an der Wand. »Andere Höhlen dienen ihr als Behelfsunterkünfte, dort vergräbt sie Reiseproviant und Getreide für ihre Renner.«

»Das Getreide, das von Kadross gestohlen wurde?«

Asgenar nickte. Er konnte gut verstehen, daß Larad sich gegen die Vorstellung wehrte, jemand aus seiner eigenen Familie solle für die vielen Diebstähle verantwortlich sein. »Ich hege die Hoffnung, daß dir vielleicht irgendwo in den Bergen von Telgar eine Höhle bekannt ist, die Thella übernommen haben könnte.«

Larad fuhr sich mit der Hand über die Augen, doch als er sie wieder sinken ließ, waren seine Züge hart geworden, und Asgenar wußte, daß er sich entschieden hatte.

»Als Thella im Frühling des letzten Planetenumlaufs vor Beginn dieser Annäherungsphase die Burg verließ, nahm sie Kopien aller vorhandenen Karten mit.«

»Nun, das erklärt vieles«, sagte Asgenar bewundernd. »Dann kennt sie jeden Winkel in deinem Herrschaftsgebiet, der sich als Versteck eignet. Aber gräme dich nicht allzu sehr. Ich bin sicher, daß sie sich auch von mir, von Bitra, Keroon und Igen Kopien beschafft hat. Gründlich ist sie ja, deine Schwester.«

»Von diesem Moment an, Asgenar - und Sie sind Zeuge, K'van , gehört sie nicht mehr zu meiner Familie. Ich werde veranlassen, daß der Harfner ihre Ächtung öffentlich verkündet.«

Asgenar nickte zum Zeichen der Anerkennung; K'van hob die rechte Hand und erklärte sich damit bereit, als Zeuge aufzutreten.

Larad trat entschlossen an die Karte und betrachtete sie eingehend. Plötzlich legte er den Finger auf eine Stelle.

»Hier könnte sie sich eingenistet haben. Unser Vater Tarathel hat ihr vieles durchgehen lassen, er schenkte ihr die besten Renner und nahm sie mit, wenn er seine Pächter besuchte. Einmal hat sie in meiner Anwesenheit erwähnt, sie habe eine Festung entdeckt, die sie gegen jedermann verteidigen könne.

Sie war oft tagelang verschwunden, und in dieser Gegend wurde sie mehrfach von Hirten gesehen. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Dort fände sie alles, was sie braucht. Sie wußte sich nämlich immer verdammt gut zu helfen!«

Ein respektvoller Unterton schwang in den ruhigen Worten mit.

»Sie hat die Pächter von Telgar nicht oft genug beraubt, um mich mißtrauisch zu machen. Oder, um ganz offen zu sein«, verbesserte er sich mit einem grimmigen Lächeln, »um mich so mißtrauisch zu machen, daß ich die Sache weiterverfolgt hätte. Ich habe sie wirklich für tot gehalten. Wir hatten in einer Schlucht einen Satz Rennereisen gefunden, und unser Hufschmied sagte, er habe damit eine von Thellas Stuten beschlagen. Daraufhin nahm ich an, sie sei mit dem Tier in einen Sporenregen geraten.«

»Baron Larad, halten Sie es für eine gute Idee, eine Ihrer Feuerechsen zu diesem Anwesen zu schicken, um in Erfahrung zu bringen, ob sich dort jemand aufhält?« fragte K'van. »Mir wird nämlich immer wieder eingeschärft, ja nichts als gegeben hinzunehmen, um nicht hinterher als Narr dazustehen.«

Er lachte leise.

Asgenar senkte den Kopf, weil sein Ohr plötzlich unerträglich juckte, während Larad dem jungen Drachenreiter einen langen, nachdenklichen Blick zuwarf.

»Das ist ein äußerst konstruktiver Vorschlag, K'van«, lobte der Baron von Telgar. »Sie werden einen guten Geschwaderführer abgeben, wenn Sie erst erwachsen sind. Ich danke Ihnen.«

»Wir danken Ihnen beide«, stimmte Asgenar ein.

»Vor Patrouillenreitern ist sie sicher auf der Hut, aber nicht vor unseren intelligenten kleinen Freunden.

Kannst du ihnen genau sagen, wo sie suchen sollen?«

Larad rief seine Echsenkönigin und Dulsays Bronzeechse und öffnete die Tür einen Spalt, um sie einzulassen. »Ich glaube, ich kann ihnen einen Bezugspunkt geben. Ich war nicht oft in dieser Gegend, aber auf der Karte ist ein großes Plateau verzeichnet. Bei dieser Kälte hält es niemand ohne Feuer aus, und Rauch, ob von Holz oder Brennsteinen, ist dort nicht zu übersehen.«

K'van bemerkte anerkennend, wie prompt die Feuerechsen erschienen und wie aufmerksam die intelligenten Tierchen auf Larads Anweisungen hörten. Endlich zirpten sie vergnügt, und der Baron öffnete ihnen das Fenster seines Arbeitszimmers, einen schmalen Schlitz in der Mauer, den die beiden Echsen nur seitlich durchfliegen konnten.

»Die Höhle ist als Anwesen gekennzeichnet. Ob die Bewohner wohl auch zu Thellas Bande gehören?« überlegte Asgenar.

»Seit mehr als hundert Planetenumläufen wohnt dort niemand mehr. Es war einer der Höfe, die damals durch eine Seuche entvölkert wurden, und niemand war bereit, ihn zu übernehmen.«

»Ist der ganze Komplex erforscht? Gibt es im Burgarchiv vielleicht einen Grundriß der Anlage? Ich wüßt gerne genau, wie man die ganze Bande fangen kann «

»Ich auch.« Larad fuhr mit dem Finger die Ziffernreihen auf den Rücken der dicken Wälzer auf seinen Regalen nach, zog einen Band heraus und legte ihn auf den Tisch. »Die Pläne sind uralt, aber sie existieren für fast jedes Stollen- und Höhlensystem«, erklärte er voll Stolz.

Asgenar beugte sich über die aufgeschlagenen Seiten und fand Larads Stolz durchaus berechtigt.

»Beim Ersten Ei, das ist großartig!« Zuerst hatte er nur Augen für die ungewöhnlich sauberen Zeichnungen. »Was haben sie nur für eine Tinte verwendet? Wie alt sind diese Pläne?«

»Keine Ahnung, und ich weiß auch nicht, woraus die Tinte bestand.«

Vorsichtig befühlte Asgenar das undurchsichtige Blatt.

Larad verzog spöttisch das Gesicht. »Dicker als dein Papier, Asgenar, aber nicht elastisch genug. Man kann nicht radieren, und es läßt sich auch nicht wiederverwenden.« Es klang, als halte er das für einen Nachteil.

K'van hatte sich den Erläuterungen zugewandt.

»Sehen Sie nur, sogar die Höhe jedes Tunnelabschnitts ist angegeben.« Er stieß einen bewundernden Pfiff aus.

»Das nenne ich Kartographie!«

»Darauf verstand man sich damals.« Larad schüttelte allmählich den Schock über die Halsstarrigkeit seiner Schwester ab. »Telgar war die dritte Burg, die gegründet wurde.«

»Ja, und diese Nebenstollen, so schmal und niedrig sie auch sind, wären ausgezeichnete Fluchtwege«, sagte Asgenar, um auf das eigentliche Thema zurückzukommen. Er trat wieder an die Wandkarte und sah sich das Gebiet um die verdächtige Höhle herum genau an. »Ja, und es gibt eine ganze Reihe von Zugängen.

Larad, du brauchst dich nicht verpflichtet zu fühlen…«

Larad richtete sich kerzengerade auf. »Ich fühle mich aber verpflichtet, und ich bin es auch. Wir brauchen Kopien von diesem Quadranten und von dem alten Höhlenplan. Wen hast du sonst noch aufgefordert, an diesem Handstreich teilzunehmen?«

Asgenar schnitt eine Grimasse und kratzte sich am rechten Ohr. »Ich würde es vorziehen, wenn wir das allein durchziehen könnten, Larad. K'van hat sich freiwillig gemeldet, da er bereits eingeweiht ist. Je weniger Leute davon erfahren, desto besser. Und das heißt, daß die Sache vorerst unter uns bleiben sollte. Mit deinem Einverständnis und deiner Hilfe« - Asgenar legte seinem Schwager zum Zeichen seines Mitgefühls und seiner Hochachtung kurz die Hand auf die Schulter - »ist alles nur eine Frage der Organisation und der Strategie.

Wichtig ist, daß uns keiner der Banditen entkommt.

Wir haben beide geschulte Männer; meine Waldhüter patrouillieren momentan etwa in diesem Gebiet. F'lar und Lessa haben im Namen von Benden angeboten, uns zu unterstützen - des Mädchens wegen. Mit Drachenhilfe kann man rasch genügend Leute an Ort und Stelle bringen, um alle diese Ausgänge zu besetzen«, erklärte er und deutete auf die fraglichen Stellen, »und einen Frontalangriff zu führen. Wenn die ganze Sache unter uns bleibt, läßt sich das schnell und ohne großen Aufwand abwickeln.«

»Baron Larad, der Berghof, zu dem Sie die Feuerechsen geschickt haben, ist mit Sicherheit bewohnt«, verkündete K'van zur Überraschung der beiden anderen.

Larad blickte zum Fenster und wandte sich dann fragend an den Drachenreiter.

»Heth hat mitgehört«, erklärte der junge Mann.

Asgenar grinste unverhohlen. »Junge, Sie sind ein Genie!«

»Drachen sind ausgezeichnete Dazwischenträger«, witzelte K'van.

Asgenar starrte ihn verblüfft an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Nach einer Weile schmunzelte auch Larad, der immer etwas länger brauchte, um ein Wortspiel zu begreifen.

Ein übermütiges Zirpen kündigte die Rückkehr der Feuerechsen an. Sie ließen sich auf Larads Schultern nieder und rieben die kalten Körper mitleidheischend an seinem Gesicht. Er streichelte die zarten Köpfchen, dann zog er ein paar Leckerbissen aus der Tasche.

»Baron«, sagte K'van, »wenn Sie nun mit Baron Asgenar die Strategie besprechen, werde ich hiervon Abschriften anfertigen und sie zur Vervielfältigung nach Benden bringen.«

Asgenar und Larad wechselten einen verwunderten Blick und stürzten sich dann mit Feuereifer in ihre Planungen.

***

Im Morgengrauen, als der halberfrorene Posten gerade eingenickt war, rauschten die Drachen aus dem Dazwischen in die kalte Gebirgsluft. Dank der Warnung einer Bronzeechse konnte sich ein Reiter unbemerkt an den Schlafenden heranschleichen und ihn mit einem gut gezielten Hieb noch tiefer in seine Träume befördern. Die anderen Männer glitten von den Drachenrücken und begaben sich eilends in ihre Stellungen, während F'lar, T'gellan, F'nor, Asgenar und Larad sich vergewisserten, daß alles bereit war. Dann hoben die drei Geschwader erstaunlich leise vom Boden ab und strebten auf nahegelegene Bergkämme zu, um von dort aus eventuelle Flüchtige aufzuspüren.

»Und ich habe schon im Dazwischen gefroren«, murmelte Asgenar, bewegte seine trotz der Handschuhe erstarrten Finger und zappelte mit den Zehen in der pelzgefütterten Stiefeln. Dann drehte er den Kopf ein wenig zur Seite, um den warmen Atem seiner Feuerechse über seine Nase streichen zu lassen, die zu erfrieren drohte. Ein Tropfen löste sich aus einem Nasenloch, der Baron schniefte und sah sich verlegen nach allen Seiten um. Der Bursche zu seiner Rechten wirkte zu jung, um viel Erfahrung zu haben, aber der Hüne zu seiner Linken war als Flankenschutz genau richtig.

Swacky hieß er, wie Asgenar sich erinnerte.

Larad hatte darauf bestanden, an dem Frontalangriff teilzunehmen, obwohl alle anderen ihm das gern erspart hätten. Aber so war der Baron von Telgar schon als Pflegling gewesen, dachte Asgenar. Er haßte es, für dumm verkauft zu werden, und wenn er einmal erkannt hatte, daß er zum Gespött geworden war, ruhte er nicht, bis er die Scharte wieder ausgewetzt hatte.

So lange hatte der Tag noch nie auf sich warten lassen, dachte Asgenar. Langsam fraß sich die Kälte durch seine dicke Kleidung. Ihn fröstelte und er versuchte krampfhaft, sich zu beherrschen.

»Baron«, flüsterte es von links, und er sah eine lederummantelte Flasche auf sich zukommen, »nehmen Sie einen Schluck, das hilft.« , Asgenar griff dankbar zu und hätte sich fast verschluckt, als ihm der Alkohol brennend durch die Kehle rann. Er hatte höchstens mit heißem Klah gerechnet.

»Es hat geholfen!« hauchte er. Er spürte die Wärme in allen Gliedern.

»Geben Sie die Flasche weiter. Der Junge hat auch 'nen Schluck nötig«, bat Swacky und nickte zu Asgenars rechter Seite hin.

Es geht allen gleich, dachte Asgenar und gehorchte.

Als er seinem Nachbarn zum ersten Mal ins Gesicht sah, erschrak er ein wenig: der Junge war älter, als er im Profil ausgesehen hatte, und er starrte verbissen vor sich hin. Die Kälte schien ihm weniger auszumachen, aber er bedankte sich flüsternd und nahm ganz selbstverständlich einen Schluck.

Offenbar war er an scharfe Sachen gewöhnt.

Das ist nicht nur Verbissenheit, dachte Asgenar, als er die Flasche an Swacky zurückgab. Seinen Nachbarn bewegten stärkere Gefühle: Was sein Blut trotz der klirrenden Kälte zum Kochen brachte, war unversöhnlicher Haß. Asgenar konnte nur hoffen, daß er daneben auch Erfahrung besaß. Eine falsche Bewegung würde die Beute zu früh aufscheuchen, und dann mußten sie wieder ganz von vorne anfangen. Er wollte, daß die Sache an diesem Morgen ein für allemal erledigt wurde.

Schließlich gab es noch wichtigere Dinge.

Endlich stieg die Sonne über die Gipfel im Osten, der Schnee leuchtete golden auf, und die blauschwarzen Schatten traten schärfer hervor. Über ihnen glitzerte und funkelte das Plateau wie ein Diamantenfeld, als die ersten Strahlen auf die Eiskristalle trafen.

Dann wurde das Zeichen zum Angriff gegeben, und die Männer, die vor dem plattgetretenen Vorplatz des Anwesens gelegen oder gekauert hatten, sprangen auf und stürmten los. Sie schwangen einen Rammbock, um die Tür aufzubrechen, doch die war nicht verschlossen, und der Schwung trug den ersten Trupp in die Haupthöhle, ehe die Leute Zeit hatten, ihre Schwerter zu ziehen. Larad drängte sich an ihnen vorbei und strebte dem Raum zu, in dem er seine Schwester vermutete.

Aber überall im Korridor lagen schlafende Menschen, und einer war geistesgegenwärtig genug, ihm ein Bein zu stellen und aus Leibeskräften zu schreien. Larad schlitterte längelang über den Steinboden. Asgenar zog ihn hoch, während Swacky und sein Gefährte tiefer in den Stollen eindrangen und auf die Schläfer zu beiden Seiten einschlugen, die jetzt von dem Lärm erwachten und sich zum Kampf stellten.

Larad schrie ihnen zu, den rechten Ast zu nehmen, aber Swacky und sein junger Kamerad wandten sich bereits nach links. Andere strömten hinterher, und so gingen Larad und Asgenar allein weiter. Als sie ihr Ziel erreichten, fanden sie die Tür verriegelt und mußten den Rammbock mit viel Mühe schräg ansetzen, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.

Endlich hing die Tür schief in den Angeln, und sie konnten eintreten, doch bis auf ein paar verstreute Kleidungsstücke war der Raum leer. Asgenar entdeckte weitere Türen, und wieder kam der Rammbock zum Einsatz. Jeder der folgenden Räume zeigte Spuren einer überstürzten Flucht.

Asgenar zog den Plan des Höhlenkomplexes zu Rate und versuchte sich zu trösten. Gewiß, neben der Haupthöhle gab es eine Reihe kleinerer Grotten, aber alle Ausgänge waren gut bewacht.

Niemand konnte entkommen.

Rufe schallten durch die Gänge, doch der Widerhall verzerrte die Worte bis zur Unverständlichkeit. Ein Bote kam zu Larad und Asgenar und meldete, die Hauptgrotte sei gesichert, alle nach links abzweigenden Tunnel seien geräumt, und man habe Gefangene gemacht.

»Besteht die Möglichkeit, daß Thella darunter ist?« fragte Asgenar.

»Nein, Baron, ich habe ihr Gesicht hier bei mir«, sagte der Mann und streckte ihm die Skizze entgegen.

»Mehrere Frauen, aber keine sieht aus wie sie!«

»Dies hier sind die besten Räume«, sagte Larad leise und mit gepreßter Stimme. »Es müssen die ihren sein.«

Asgenar hielt es für überflüssig, darauf hinzuweisen, daß in zweien dieser Grotten auch Männersachen herumgelegen hatten. Sie gingen weiter und duckten sich in einen schmalen, niedrigen Tunnel. Asgenar ließ sich auf Hände und Knie nieder, doch irgendwann stießen sie gegen eine Mauer.

»Das kann nicht sein«, sagte Larad. »Leuchtkörbe!

Gebt ein paar Leuchtkörbe nach vorne!«

»Es gab einen Ausgang in diesem Teil, das weiß ich genau«, sagte Asgenar verdrossen.

Ehe die Lichter herbeigeschafft werden konnten, erhob sich ein unheilverkündendes Poltern, und unter den Fingern und Knien der Verfolger bebte der Fels.

Das Grollen schien kein Ende zu nehmen.

»Baron Asgenar, Baron Larad? Sind Sie da?«

»Ja, Swacky. Was war das für ein Lärm?«

»Hier, Jayge, nimm du den Korb - du bist gelenkiger als ich. Das war eine Lawine. Wir müssen uns einen Weg ins Freie graben.«

»Lawine?«

Der Leuchtkorb erhellte Larads Gesicht, in dem sich nicht weniger Sorge spiegelte als in seiner Stimme.

Dem Jungen, der sich geduckt nach vorn schob, schien die bedrückende Enge dagegen nichts auszumachen.

Aus seinen Zügen sprachen so viel Haß und Enttäuschung, daß Asgenar ganz fassungslos war. Ein so junger Mann dürfte noch nicht so leidenschaftlich empfinden, dachte er.

»Ja, Baron«, sagte Jayge. »Sie hatten uns eine Falle gestellt. Jemand ist hinausgekommen und hat sie ausgelöst. Die Methode haben sie schon einmal angewandt. Hat niemand daran gedacht, das zu überprüfen?«

»Sie vergessen sich«, sagte Larad eisig.

»Jayge?« Asgenar drehte sich mühsam um und nahm dem Jungen den Leuchtkorb ab. »Sie waren von dem Überfall vor >Ende der Welt< betroffen, nicht wahr?«

»Ja… Baron.«

»Irgendwelche Angehörigen verloren?«

»Ja, Baron.« Diesmal klang die Anrede nicht mehr ganz so mürrisch. »Das ist keine Sackgasse, es sieht nur so aus! Sehen Sie die Schleifspuren hier auf dem Boden?«

Larad und Asgenar vermuteten eine drehbare Felsplatte und stemmten sich mit aller Kraft gegen die Wand.

»Meine Herren«, rief Swacky, »Sie werden vorn gebraucht! Wir machen hier weiter.«

Larad und Asgenar krochen rückwärts aus dem Gang, bis sie wieder aufrecht stehen konnten, und dort machte Swacky ausführlich Meldung.

»Der Weyrführer von Benden hat seine Drachen gerufen und läßt uns ausgraben. Bis auf drei haben wir alle Banditen auf den Zeichnungen gefaßt, dazu noch etliche, die nicht abgebildet waren. Ein Mann schwört Stein und Bein, er müsse unseren Befehlshaber sprechen. Unsere Leute durchsuchen jeden Gang und jede Rinne im ganzen Komplex.«

Larad fluchte leise, sein Gesicht war wie versteinert.

»Wer sind die drei Fehlenden, Swacky?« fragte Asgenar.

»Die Frau, die Thella genannt wird, der Mann mit dem leeren Blick, angeblich ein ehemaliger Drachenreiter, und noch einer, ein richtiges Vieh.«

»Swacky, Sie sind zu dick für diesen Tunnel«, sagte Asgenar, um Larad Zeit zu geben, diese Nachricht zu verdauen. »Suchen Sie sich jemand anderen, der Jayge helfen kann. Und ein Brecheisen oder ein Meißel wären ganz nützlich, falls so etwas hier zu finden ist.«

»Wir haben alles mögliche gefunden, Baron Asgenar. Den Leuten hat es an nichts gefehlt.«

»Vielen Dank, Swacky. Das Werkzeug bitte, und so viele Männer wie nötig, um diesen Ausgang zu suchen.« Er faßte Larad am Arm und führte ihn zurück in die Hauptgrotte.

Im kleinsten Raum, der nur einen Eingang hatte, waren die Gefangenen zusammengepfercht worden.

Einer von Larads Männern begrüßte die beiden Burgherren und gab ihnen die Zeichnungen zurück.

»Sie sind alle hier, und noch sechzehn weitere, Baron Larad.«

»Verluste auf unserer Seite?« fragte Larad, da einige Gefangene blutende Kopfwunden und andere Verletzungen aufwiesen.

»Einer oder zwei sind in die Lawine geraten und haben Knochenbrüche. Die meisten von denen hier«, erklärte der Mann verächtlich, »haben wir noch in den Schlafsäcken erwischt. Da drüben in der kleinen Grotte ist einer, mit dem Sie sprechen sollten.« Er zeigte mit dem Kopf nach links in Richtung auf die größte Grotte des ganzen Komplexes, wo einer von Asgenars Waldhütern Wache hielt.

»Und in dem Topf dort ist frischer Klah«, fügte er hinzu und deutete auf die größere Feuerstelle, wo ein riesiger dampfender Kessel über den lodernden Flammen stand.

»Die haben hier wirklich nicht schlecht gelebt.«

Asgenar schob Larad auf die Feuerstelle zu, und sofort sprang ein Helfer herbei und bediente sie. Danach suchten sie den Mann auf, von dem der Wächter gesprochen hatte.

Als sie den Raum betraten, erhob er sich und lächelte sichtlich erleichtert. »Sind sie nun doch entwischt?«

»Die Fragen stelle ich«, sagte Larad streng.

»Gewiß, Baron Larad.«

Er wandte den Kopf und nickte dem Burgherrn von Lemos höflich zu.

»Baron Asgenar.«

Dann wartete er.

»Wer sind Sie?« fragte Larad nach einer langen Pause. Der Mann wirkte nicht im mindesten verängstigt oder aufdringlich.

»Ich heiße Perschar, Baron Larad, und ich bin der Harfnergeselle, den Meister Robinton in die Bande einzuschleusen hoffte.

Offenbar haben Sie die Skizzen endlich erhalten, ich hatte sie hinterlegt, wo und wann immer sich Gelegenheit dazu fand.

Aber Thella scheint auch im Hinterkopf Augen zu haben. Ist sie entwischt?