KAPITEL II

11.3.43 - 1541

Zu meinem Kummer begann die neue Tragödie von Ruatha genau zur gleichen Stunde, da ich von Surianas Tod erfahren hatte. Der Turm auf den Trommlerhöhen der Harfner-Halle erdröhnte unter Capiams Quarantäne-Befehl. Ich maß gerade Gewürze für den Küchenaufseher ab und hatte Mühe, meine Hand so ruhig zu halten, daß ich die kostbaren Zutaten nicht verschüttete. Mit letzter Beherrschung - der Küchenaufseher verstand den Trommel-Kode nicht, und ich wollte abends etwas Eßbares auf dem Tisch sehen - beendete ich die Arbeit, verschloß sorgfältig das Glas, stellte es an seinen gewohnten Platz und sperrte den Vorratsschrank zu. Die Trommelbotschaft erklang ein zweites Mal, als ich die Wohngemächer der Burg erreichte, aber ihr Wortlaut unterschied sich nicht von der ersten. Campen rief aus seinem kleinen Büro nach mir und verlangte eine Erklärung, aber ich achtete nicht darauf.

Zum Glück strömten so viele Menschen zur Harfner-Halle, daß meine unziemliche Hast nicht weiter auffiel. Im Hof wimmelte es von aufgeregten Lehrlingen und Gesellen der Harfner- und Heilergilde. Da beide Zünfte stets auf strenge Disziplin achteten, entstand keine Panik. Aber die Besorgnis war unverkennbar, und Fragen machten die Runde.

Ja, man hatte nicht nur in den Zuchthöfen von Keroon und in der Seeburg Igen nach Meister Capiam verlangt. Telgar benötigte seinen. Es ging das Gerücht um, daß kein Geringerer als der Weyrherr Sh'gall von Fort den Meisterheiler mit seinem Bronzedrachen Kadith zum Fest von Ista und anschließend zu Baron Ratoshigan von Süd-Boll gebracht hatte.

In diesem Moment erschienen Meister Fortine und Meister-Anwärterin Desdra von der Heiler-Halle sowie die Meister Brace und Dunegrine von der Harfner-Halle auf der breiten Freitreppe. Die Gespräche verstummten.

»Ihr macht euch natürlich Sorgen wegen der Trommelbotschaft«, begann Meister Fortine, nachdem er sich nachdrücklich geräuspert hatte. Fortine weiß eine Menge über die Kunst des Heilens, aber ihm fehlt die Wärme und Menschlichkeit von Meisterheiler Capiam. Als er nach einer kleinen Pause mit seiner Rede fortfuhr, hatte seine Stimme einen schrillen Unterton: »Aber ihr wißt sicher, daß Meister Capiam eine solche Notmaßnahme niemals ohne zwingenden Grund befehlen würde. Ich bitte alle Harfner oder Heiler, die eines der beiden Feste besucht haben, sich zu Heilerin Desdra in den Kleinen Saal zu begeben. Ich selbst möchte im Großen Saal zu den Heilern sprechen. Meister Brace…«

Der Angesprochene trat einen Schritt vor, rückte den Gürtel zurecht und räusperte sich ebenfalls. »Da Meister Tirone im Moment unterwegs ist, um den Streit der Bergleute zu schlichten, übernehme ich als Rangältester in dieser Zeit der Krise die Führung der Gilde, bis der Meisterharfner zurückkehrt.«

»… und hoffst, daß Tirone von der Quarantäne oder gar von der Krankheit erwischt wird…«, murmelte ein Lehrling in meiner Nähe. Die anderen brachten ihn durch Rippenstöße zum Schweigen.

Ehe Tirone zum Meisterharfner gewählt wurde, hatte er Baron Tolocamps Kinder unterrichtet, und ich kannte den Mann ziemlich gut. Er hatte seine Fehler, aber er besaß eine volle, einschmeichelnde Stimme, die selbst dem gleichgültigsten, abweisendsten Zuhörer unter die Haut drang, ganz gleich welche Botschaft der Harfner zu verkünden hatte. Wie es hieß, konnten nur Männer mit einem eindringlichen Bariton an die Spitze der Harfner-Gilde gewählt werden. Und selbst Leute, die Tirone nicht mochten, mußten eingestehen, daß er bisher nur ein einziges Mal als Schlichter versagt hatte als er heiser war. Ansonsten gelang es ihm mühelos, die jeweiligen Gegner zur Annahme seiner Entscheidungen zu bewegen.

Ich selbst hatte den Meisterharfner bei seinen Überredungskünsten noch nicht beobachtet, denn selbst er hütete sich, dem Erbbaron von Fort allzu nahe zu treten - trotz der Autonomie seiner Gilde.

Was mir eigenartig erschien, war die Tatsache, daß Meister Brace diese Ankündigung überhaupt machte und daß Desdra und Fortine die Heiler-Halle vertraten. Wo befand sich Meister Capiam? Es sah ihm gar nicht ähnlich, eine unangenehme Aufgabe auf andere abzuschieben. Während sich Harfner und Heiler zu den Versammlungssälen begaben, entfernte ich mich von der Halle - sehr besorgt und keine Spur klüger als zuvor.

Meine Mutter, meine vier Schwestern und mein Vater saßen also auf Ruatha fest. Mit einer gewissen Rachsucht dachte ich, daß es ihnen jetzt vielleicht leid tat, mich nicht mitgenommen zu haben. Ich besaß beachtliche Talente als Heilerin, auch wenn ich sie außerhalb der Familie selten anwenden durfte. Im nächsten Moment schämte ich mich meiner Gedanken und richtete die Schritte zu den unteren Höhlen der Burg, wo sich die Vorratsräume befanden.

Wenn diese Krankheit eine Quarantäne erforderte, dann lohnte es sich vielleicht, unsere Arzneien zu überprüfen. Zwar besaß die Heiler-Halle Medikamente für alle möglichen Notfälle, aber von den Burgen und größeren Höfen wurde erwartet, daß sie sich einige Vorräte für den Eigenbedarf anlegten. Und die besondere Situation erforderte vielleicht seltene Kräuter und Heilpflanzen, die wir nicht in ausreichender Menge gesammelt hatten. Leider erspähte mich Campen. Er schoß auf mich zu, schwer schnaufend wie immer, wenn er aufgeregt war.

»Rill, was ist los? Stimmt das mit der Quarantäne? Soll das etwa heißen, daß Vater auf Ruatha bleiben muß? Was tun wir jetzt?«

Dann fiel ihm ein, daß es unter seiner Würde als Stellvertreter des Burgherrn war, den Rat von Untergebenen einzuholen - ganz besonders den seiner Schwester. Er räusperte sich heftig, blähte die Brust und setzte eine so strenge Miene auf, daß ich ein Lachen unterdrücken mußte.

»Haben wir genügend frische Kräuter für unsere Leute im Haus?«

»Mehr als genug.«

»Laß die schnippischen Antworten, Rill! Dazu ist jetzt nicht der rechte Augenblick.«

Er sah mich mit düster gerunzelter Stirn an.

»Ich bin dabei, die Arzneien zu überprüfen, Bruder, aber ich kann schon jetzt ohne Ubertreibung sagen, daß unsere Vorräte jedem Notfall gewachsen sind.«

»Sehr gut. Ich erwarte von dir ein schriftliches Verzeichnis aller gelagerten Medikamente und Kräuter.«

Er tätschelte mir die Schulter, als sei ich sein Lieblingshund, und trollte sich schnaufend. Mit einer gewissen Genugtuung stellte ich fest, daß er nicht recht wußte, wie er sich in dieser Katastrophe verhalten sollte.

Manchmal bin ich entsetzt über die Verschwendung in unseren Vorratshöhlen. Im Frühling, Sommer und Herbst sammeln wir Unmengen von Kräutern, Obst und Feldfrüchten. Wir kochen sie ein, pökeln sie, legen sie in Essig oder Öl ein. Aber trotz Mutters Bemühungen schaffen wir es nie, die Ernte eines Planetenumlaufs aufzubrauchen. Und so stapeln sich die Vorräte. Tunnelschlangen und Insekten räumen in den tiefergelegenen Nischen auf. Wir Mädchen zweigen hin und wieder ein paar Sachen ab und verschenken sie heimlich an notleidende Familien im Herrschaftsbereich der Burg. Weder Vater noch Mutter neigen zur Freigebigkeit, nicht einmal dann, wenn die Pächter durch Mißernten in Not und Armut geraten.

Meine Eltern betonen stets, daß es die Pflicht der Burgherren sei, für die Zeit der Krise vorzusorgen, aber irgendwie haben sie den Begriff ›Krise‹ nie näher erklärt. Und so horten wir weiterhin nicht verbrauchte und nicht mehr brauchbare Dinge.

Natürlich behalten Kräuter und Arzneipflanzen, richtig getrocknet und gelagert, viele Planetenumläufe ihre Wirksamkeit. In den Regalen stapelten sich die Säckchen, die Trockengestelle quollen über von Bündeln, die Glasbehälter waren bis zum Rand mit Samen und Salben gefüllt. Schwitzwurzel und Federfarn - all die Fiebermittel, die man seit undenklichen Zeiten als Medikamente verwendete. Schwarzwurz, Akonit, Thymus, Ysop und Oesob: Ich betrachtete sie der Reihe nach; wir hatten so viel davon, daß Burg Fort notfalls jeden einzelnen der knapp zehntausend Bewohner behandeln konnte. Im letzten Planetenumlauf hatten wir eine Rekordernte an Fellis eingebracht. Hatte das Land gewußt, was geschehen würde? Auch Akonit war in großen Mengen vorhanden.

Erleichtert über die Fülle wandte ich mich zum Gehen, als ich einen Blick auf die Regale warf, in denen die medizinischen Archive der Burg verwahrt wurden - die Rezepte für diverse Mixturen und Säfte, dazu die Aufzeichnungen der jeweiligen Arznei-Verwalter.

Ich öffnete den Leuchtkorb über dem Lesetisch und holte aus einem Stapel von Bänden mühsam die ältesten Aufzeichnungen hervor. Vielleicht war diese Seuche schon einmal aufgetreten, in einem der vielen Planetenumläufe seit der Überfahrt. Das Archiv war staubig, und der Einband bröckelte ab, als ich ihn anfaßte. Nun, wenn Mutter es nicht für notwendig hielt, die Dinger abstauben zu lassen, dann fiel ihr der angerichtete Schaden vielleicht nicht auf. Der Band roch modrig; ich öffnete ihn vorsichtig, um die vergilbten Seiten nicht zu zerreißen. Doch die Mühe hätte ich mir sparen können. Die Tinte war so stark verblaßt, daß auf dem Pergament nur ein paar Flecken und Punkte zurückblieben, die an Sommersprossen erinnerten. Ich fragte mich, weshalb wir uns die Mühe machten, das vergilbte Zeug überhaupt aufzubewahren. Aber ich kannte Mutters Reaktion, wenn ich vorschlug, eines der geheiligten Stücke ›aus der Vorzeit‹ wegzuwerfen.

Der erste Band, den ich entziffern konnte, trug die Aufschrift Fünftes Erscheinen des Roten Sterns.

Welch langweilige Chronisten meine Vorfahren doch waren! Ich fühlte mich ehrlich erleichtert, als Sim auftauchte und mir ausrichtete, daß der Koch mich dringend in der Küche benötigte. Während Mutters Abwesenheit brauchte er meinen Rat. Er war es nicht gewohnt, selbständige Entscheidungen zu treffen. Ich schickte Sim, der ohnehin nicht gern zu seiner Arbeit am Spülstein zurückkehrte, mit einer kurzen Notiz in die Heiler-Halle. Desdra sollte erfahren, daß die Vorräte unserer Arzneihöhlen zu ihrer Verfügung standen. Ich beschloß, mein Angebot so bald wie möglich in die Tat umzusetzen, denn es würde mir schwerfallen, mein Versprechen einzulösen, sobald Mutter erst wieder die Schlüssel zu den Vorratshöhlen an sich genommen hatte.

Zu diesem Zeitpunkt kam mir wohl erstmals der Gedanke, daß auch Lady Pendra nicht immun gegen diese rätselhafte Seuche war. Furcht durchzuckte mich, und ich hielt mit dem Schreiben inne, bis Sims Räuspern mich aufschreckte. Ich lächelte ihm beruhigend zu. Es hatte wenig Sinn, das Gesinde mit meinen dummen Ängsten zu belasten.

»Bring das in die Heiler-Halle! Aber händige es Meisteranwärterin Desdra höchstpersönlich aus! Verstehst du? Nicht, daß du es dem erstbesten Lehrling in Heilertracht übergibst!«

Sim nickte eifrig, verzog das Gesicht zu einem leeren Grinsen und trollte sich.

Ich kümmerte mich um den Koch, der eben von meinem Bruder den Auftrag erhalten hatte, sich auf eine unbestimmte Zahl von Gästen einzustellen. Nun wußte er nicht recht, was er tun sollte, da das Abendessen auf dem Herd stand.

»Suppe natürlich - eine deiner wohlschmeckenden Fleischbrühen, Felim. Dazu etwa ein Dutzend Wherhühner von der letzten Jagd. Sie sind inzwischen so gut abgehangen, daß man sie zubereiten kann. Wenn du sie mit Kräutern würzt, kann man sie auch als kalten Braten servieren. Außerdem Wurzelgemüse, weil sich das leicht aufwärmen läßt. Und Käse. Wir haben jede Menge Käse.«

»Für wie viele Personen?« Felim war nicht ohne Grund so gewissenhaft. Mutter hatte ihn oft genug wegen seiner Verschwendungssucht getadelt. Er konnte sich gegen die Vorwürfe nur zur Wehr setzen, wenn er genau Buch darüber führte, wie viele Personen zu Tisch kamen und was sie verzehrten.

»Das werde ich noch herausfinden, Felim.«

Campen war allem Anschein nach überzeugt davon, daß die Pächter von weit und breit herbeiströmen würden, um ihn in dieser Ausnahmesituation um Rat zu fragen; aus diesem Grunde bereitete er Burg Fort auf einen Massenansturm vor. Aber die Trommelbotschaft hatte ausdrücklich eine Quarantäne befohlen, und ich machte ihm klar, daß die Hofbesitzer und Pächter die Anordnung befolgen würden, ganz gleich wie besorgt sie waren. Am ehesten kamen noch die Leute, die unsere Ländereien bewirtschafteten, da sie rechtlich gesehen zur Stammburg gehörten. Aus Rücksicht auf das ohnehin nur schwach ausgeprägte Selbstbewußtsein meines Bruders verkniff ich mir die Bemerkung, daß die meisten von ihnen mit einer Notlage besser zurechtkamen als er.

Ich kehrte also zu Felim zurück und riet ihm, die Essensrationen nur um ein Viertel zu erhöhen, dafür aber eine Menge Klah und frische Kekse zubereiten zu lassen; außerdem genehmigte ich ihm einen neuen Laib Käse. Ein Gang in den Weinkeller verriet mir, daß die angestochenen Fässer noch fast voll waren, so daß wir jede Menge Gäste bewirten konnten.

Danach begab ich mich in den Aufenthaltsraum im Obergeschoß. Die Tanten und sonstigen Familienangehörigen befanden sich wegen der Trommelbotschaften in hellem Aufruhr. Ich bat sie, die leeren Gästezimmer in Behelfslazarette umzuwandeln. Selbst den Älteren unter ihnen konnte man zumuten, Strohsäcke zu füllen und Laken auszubreiten; und ihre Angst legte sich vermutlich am schnellsten, wenn sie etwas zu tun bekamen. Dann blinzelte ich Onkel Munchaun zu, und es gelang uns, in den Korridor zu entwischen, ohne daß uns jemand folgte.

Munchaun war der älteste von den noch lebenden Brüdern meines Vaters, und von allen Familienangehörigen, die bei uns ihren Lebensabend verbrachten, schätzte ich ihn am meisten. Bis zu dem Zeitpunkt, da er beim Bergsteigen über einen Felshang abgestürzt war, hatte er sämtliche Jagden organisiert und beaufsichtigt. Er besaß so viel Verständnis für menschliche Schwächen, so viel Humor und Bescheidenheit, daß ich mich stets fragte, weshalb man meinen Vater zum Erbbaron erwählt hatte und nicht Munchaun, der weit mehr von Menschenführung verstand als er.

»Ich sah dich von der Heiler-Halle kommen. Was gibt es Neues?«

»Capiam ist ebenfalls an der Seuche erkrankt. Desdra hat die Heiler angewiesen, zunächst einmal die Symptome der Epidemie zu bekämpfen.«

Er hob die fein geschwungenen Augenbrauen, und die Mundwinkel zuckten schwach.

»Sie wissen also nicht, womit sie es zu tun haben?«

Als ich den Kopf schüttelte, nickte er.

»Ich werde mir mal die Archive vornehmen. Sie müssen doch noch einen anderen Zweck haben, als uns unnütze Esser zu beschäftigen.«

Ich wollte ihm widersprechen, aber grinste nur wissend, und ich wußte, daß mein Protest auf taube Ohren gestoßen wäre.

An diesem Abend erschienen mehr Pächter, als ich vermutet hatte, dazu sämtliche Gildemeister - natürlich mit Ausnahme der Harfner und Heiler. Wir konnten sie großzügig bewirten, und sie diskutierten bis tief in die Nacht hinein, wie man Vorräte von Hof zu Hof schaffen könnte, ohne die Quarantänebestimmungen zu verletzen.

Ich schenkte zum letzten Mal Klah nach, obwohl ich den Eindruck hatte, daß nur Campen davon trank, und zog mich dann in mein Zimmer zurück. Dort las ich in dem alten Archiv-Folianten, bis mir die Augen zufielen.