KAPITEL IX

23.3.43

Hell und klar dämmerte jener folgenschwere Tag herauf. In der Luft lag ein Hauch von Frühling, doch er sollte bald von bitterem Reif erstickt werden. Trotz oder gerade wegen des vielen Weins, den wir am Vorabend getrunken hatten, erwachten wir ausgeruht und trafen uns zu einem ausgiebigen Frühstück. Alle strahlten, selbst Desdra, die nur selten ihre Gefühle offen zeigte. Wir verteilten am Frühstückstisch die Arbeit des Tages. Alessan lief zu den Ställen, um einen Blick auf das Hengstfohlen zu werfen; er war begeistert von dem kräftigen, lebhaften kleinen Kerl. Oklina und ich befahlen den Pfleglingen und einigen der genesenen Erwachsenen, die übriggebliebenen Glasbehälter in einem der leeren Ställe unterzubringen, und begannen dann den Großen Saal gründlich aufzuräumen.

Deefer begab sich mit ein paar Männern auf die Jagd. Wir alle fanden, daß ein paar fette Wildwhere aus den Hügeln eine willkommene Abwechslung sein würden. Das Fleisch der Herdentiere schmeckte zäh und ging allmählich zur Neige.

Ich überlegte insgeheim, wie man die Burg wieder in ihren alten Zustand versetzen könnte, und beschloß, am Abend mit Alessan über meine Pläne zu sprechen. Meiner Ansicht nach reichte eine Woche harter Arbeit, um die Spuren der Katastrophe zu beseitigen. Und ich glaubte fest, daß es Alessan gut tun würde, nicht auf Schritt und Tritt an die schlimmen Ereignisse erinnert zu werden. Gegen die Grabhügel konnten wir natürlich nichts tun, aber ich hoffte, daß im Laufe des Frühjahrs eine Grasdecke über die düsteren Erdwälle wachsen würde. Später - sehr viel später - konnte man sie vielleicht ganz einebnen.

»Drachen!« rief jemand vom Außenhof. Wir alle rannten los, um das Schauspiel zu betrachten. Als erster landete B'lerion auf seinem Bronzedrachen Nabeth. Oklinas schmales Gesicht strahlte vor Freude. Bessera, eine der Königin-Reiterinnen vom Hochland-Weyr, setzte ihr prächtiges goldschimmerndes Tier dicht neben Nabeth auf. Der große Vorplatz wirkte mit einem Mal eng und klein. Sechs weitere Bronzedrachen landeten auf der Straße zur Burg.

Oklina lief B'lerion mit dem Serum entgegen. Mir entging nicht, daß sich die Miene des Bronzereiters erhellte, als er sich von seinem Tier schwang. Oklina lächelte ihn verliebt an.

Jemand versetzte mir einen leichten Rippenstoß. Es war Desdra, die mir eine Kiste mit Serumflaschen entgegenstreckte. »Starr sie nicht so an, Rill! Alessan hat seine Zustimmung erteilt.«

»Ich - ich hatte es nicht so gemeint. Aber sie ist noch ein halbes Kind, und von B'lerion erzählt man sich allerhand.«

»Im Fort-Weyr reift ein Königinnen-Ei heran.«

»Aber Oklina wird hier gebraucht.«

Desdra zuckte mit den Schultern. Sie drückte mir das Serum in die Hand und gab mir einen aufmunternden Schubs. Ich setzte mich in Bewegung, aber meine Gedanken befanden sich in Aufruhr. Oklina war noch so jung, und B'lerion galt als Frauenheld. Hatte Alessan die Verbindung tatsächlich gebilligt? Merkwürdig. Er brauchte doch auch Oklinas Kinder, wenn das Geschlecht der Ruatha überleben sollte. Gewiß, es gab viele Königin-Reiterinnen mit Ruatha-Blut in den Adern, und sie brachten Kinder zur Welt wie ganz normale Frauen, wenngleich nicht so viele. Aber ich stellte mir das Leben im Weyr nicht angenehm vor. Meiner Ansicht nach war die Bindung zwischen Reiter und Drachen zu stark und verzehrend. Oklina strahlte vor Glück, als sie zu B'lerion aufschaute, und darum beneidete ich sie ein wenig. Die großen schillernden Augen von Nabeth ruhten auf dem Paar, als wüßte der Drache genau, was zwischen den beiden vorging. Es war bekannt, daß die Drachen telepathische Kräfte besaßen. Ich weiß nicht, ob es nach meinem Geschmack gewesen wäre, ständig mit einem anderen Wesen meine Gedanken und Gefühle zu teilen. Aber als Drachenreiter gewöhnte man sich wohl daran.

Kaum hatten wir uns vom Abflug des ersten Drachenkontingents erholt, da tauchten bereits die Königinnen des Fort-Weyrs auf. Zu meiner Überraschung war auch Leri gekommen, die frühere Weyrherrin von Fort. Sie steuerte ihre alte Drachenkönigin Holth in den Hof, während Kamiana, Lidora und Haura auf der Straße landeten. Als nächste erschienen S'peren und K'lon. Leri scherzte gutgelaunt mit Alessan und Desdra, aber ich bemerkte, daß sie insgeheim Oklina beobachtete. Das gleiche tat Holth. Offenbar war die Entwicklung noch ziemlich neu. Ich erinnerte mich plötzlich an meine Ankunft auf Ruatha. Sie lag erst drei Tage zurück, aber es hatte sich so viel ereignet, daß mir diese Zeit wie drei Monate erschien. Alessan und Moreta hatten damals auch so glücklich ausgesehen wie Oklina. Versuchte sich Leri persönlich ein Bild von der Situation zu machen?

Die Weyr hatten das Recht, in Burgen und Gehöften nach geeigneten Kandidaten für die Gegenüberstellung zu suchen, ganz besonders dann, wenn in der Brutstätte ein Königinnen-Ei heranreifte. Aber Oklina war so jung, so unerfahren. Dann schalt ich mich, daß ich Kritik an meinem neuen Burgherrn übte. Seine Entscheidungen gingen mich nichts an. Außerdem neigte ich dazu, mir zu viele Sorgen zu machen und in allen Dingen sofort die negative Seite zu sehen.

Gegen Mittag fanden wir Zeit für einen Teller Suppe und etwas Brot. Die meisten Serumbehälter waren abgeholt. Ich versuchte mir ein Bild von der Verteilungsstrategie zu machen. Es dauerte knapp fünf Minuten, bis ein Drache landete. Wenn wir so rasch wie möglich arbeiteten, benötigten wir weitere fünf Minuten, um den Reitern die Flaschen zu überreichen. Ehe die Drachen wieder am Himmel kreisten, vergingen noch einmal drei bis vier Minuten. Auch wenn der eigentliche Flug im Dazwischen nur ein paar Sekunden in Anspruch nahm, verstrich insgesamt mindestens eine halbe Stunde, bis das Serum an Ort und Stelle abgeliefert war. Bei den vielen Burgen und Höfen im Westen, in Süd-Boll, Crom, Nabol und Fort sowie den weitverstreuten Siedlungen in Ruatha, Ista und dem Westen von Telgar hätte man die Drachenreiter sämtlicher Weyr für diese Aktion einsetzen müssen. Aber es waren nur acht vom Hochland, sieben von Fort und sechs von Ista.

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, Rill!« riet mir Desdra mit schwachem Lächeln. »Es ist zu schaffen, wenn man die besonderen Fähigkeiten der Drachen berücksichtigt.«

Dieser Hinweis verwirrte mich noch mehr, aber in diesem Moment landeten die Drachenreiter von Ista und Fort, um ihre letzte Lieferung in Empfang zu nehmen. Die Tiere wirkten ein wenig fahl - kein Wunder, denn die Passage im Dazwischen forderte noch mehr Kraft als die häufigen Start- und Landeflüge. Leri sah völlig erschöpft aus, aber sie war auch die älteste Königin-Reiterin von Fort. Daß sie sich überhaupt auf eine so schwere Aufgabe einließ, zeugte von ihrem sehr starken Verantwortungsgefühl für Pern und die Weyr.

Plötzlich bäumten sich die Königinnen hoch auf und trompeteten empört los. Der einzige blaue Drache in der Gruppe duckte sich ängstlich. Leri sah ebenso wütend aus wie die übrigen Königin-Reiterinnen. Zwischen Tieren und Menschen schien eine hastige lautlose Konferenz stattzufinden. Da ich Leri am nächsten stand, winkte sie mich heran und reichte mir kurzentschlossen die Serumbehälter, die ich ihr eben erst ausgehändigt hatte.

»Gib das S'peren, mein Kind! Er wird den Impfstoff für mich verteilen.«

Eine Staubwolke hüllte mich ein, als Holth einen kurzen Anlauf nahm und sich in die Luft schwang. Kaum hatte die alte Drachenkönigin den Außenwall von Ruatha überflogen, da verschwand sie auch schon im Dazwischen. Ein kalter Windstoß ließ mich frösteln. Auch die anderen Königin-Reiterinnen wirkten mit einem Mal ernst und grimmig. Ich verstand das nicht. Die Verteilung des Serums hatte geklappt, und eigentlich gab es eher einen Grund zur Freude und zum Feiern. Langsam kehrte ich zur Burg zurück.

»Das hier kommt in die Kühlräume«, befahl Alessan und deutete auf die Kisten mit dem übriggebliebenen Serum. Wir hatten etwas mehr Impfstoff als nötig hergestellt, falls auf dem Transport der eine oder andere Behälter zerbrach. »Sobald der ganze Wirbel vorbei ist, bringen wir das Zeug zu den Zuchtställen von Keroon. Der dortige Herdenmeister - wer immer das sein wird - kann den Impfstoff vermutlich gut gebrauchen. Ich bin sicher, daß man in Keroon oder Telgar noch die eine oder andere verlassene Renner-Herde entdeckt. So viele Höfe stehen völlig leer.«

Während wir das Serum verstauten, traf Deefer mit seinen Jägern ein. Triumphierend schwenkten sie die Beute - gut ein halbes Dutzend fetter Wildwhere.

»Heute abend wird gefeiert! Oklina, Rill - untersucht mal die Speisekammern! Vielleicht findet ihr die Zutaten für ein richtiges Festmahl. Das ewige Stew hängt mir allmählich zum Hals heraus.«

Die Ankündigung löste Jubel aus, und einige der Leute erboten sich, in der Küche zu helfen. Andere entrümpelten den Großen Saal und stellten die schweren Tische auf, die man nach dem Fest so achtlos in einer Kammer gestapelt hatte. Einige trugen noch Tischdecken mit Fett- und Weinflecken. Oklina und ich nahmen sie hastig ab und brachten sie in die Waschküche.

»Ich gehe nur ungern fort von hier«, sagte Desdra zu mir, während sie ihre Instrumente und Aufzeichnungen verstaute. »Ruatha erholt sich rasch - auch wenn es im Moment nicht danach aussieht…« Sie deutete auf die Unordnung.

»Sie und Meister Capiam müssen uns bald besuchen!« rief Oklina mit leuchtenden Augen. »Sie werden sehen, wie Ruatha dann strahlt, nicht wahr, Rill?«

»Gebt mir nur die nötige Ellbogenfreiheit, und ich bringe die Burg auf Hochglanz!« erklärte ich mit solchem Nachdruck, daß Desdra lachte.

Dann blinzelte sie mir zu und sagte so leise, daß es Oklina nicht hören konnte: »Ich glaube, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Auf Burg Fort wurden Ihre Fähigkeiten nie richtig anerkannt. Und es tut mir nachträglich leid, daß ich Ihr Angebot falsch verstand und ablehnte. Sie wären in der Heiler-Halle eine große Hilfe gewesen.«

»Mein Vater hätte mich zurückgeholt«, entgegnete ich, erleichtert darüber, daß Oklina sich entfernte. »Hier dagegen stehe ich auf eigenen Füßen und weiß, daß man meine Leistungen objektiv beurteilt, weil niemand meine Herkunft kennt. Ich glaube, daß ich auf Ruatha gebraucht werde, besonders wenn Oklina…« Ich machte eine Pause und wußte nicht recht, wie ich fortfahren sollte.

Desdra zog eine Augenbraue hoch. Ich wußte sofort, was sie dachte, und winkte ärgerlich ab.

»Ach, das ist doch Unsinn, Desdra! Ruatha gehört zu den angesehensten Burgen des Landes - auch wenn hier im Moment Chaos herrscht. Und Alessan hat sich durch sein Verhalten nach der Katastrophe die Achtung von ganz Pern errungen. Jeder Baron wird ihm mit Freuden seine heiratsfähigen Töchter anbieten, sobald man wieder normal reisen kann.«

»Ihr Rang ist seinem ebenbürtig, Lady Nerilka.«

Ich schüttelte vehement den Kopf. »Mein Rang war seinem ebenbürtig. Deshalb möchte ich auch, daß wir das ›Du‹ beibehalten, Desdra. Es befriedigt mich ganz einfach, ein Teil von Ruathas Zukunft zu sein. Auf Fort hatte ich keine.«

Desdra musterte mich ruhig und nickte. »Soll ich jemanden grüßen oder einweihen? In aller Diskretion natürlich.«

»Wenn du willst, kannst du Onkel Munchaun berichten, daß du mich auf deinen Reisen getroffen hast und daß es mir gut geht. Er wird meine Schwestern beruhigen.«

»Auch Campen machte sich große Sorgen um dich. Er und Theskin suchten einen Tag lang die umliegenden Hügel ab, weil sie dachten, dir sei beim Kräutersammeln etwas zugestoßen.«

Mit einem Nicken akzeptierte ich Campens Treue und Desdras unausgesprochene Bitte.

Ich erinnere mich, daß ich im Großen Saal stand und überlegte, ob wir den beißenden Rotwurz-Gestank je wieder vertreiben könnten. In diesem Moment schrie Oklina, die gerade ein paar polierte Kupfergefäße auf dem Kaminsims verteilte, laut auf und begann zu schwanken. Desdra war mit einem Schritt neben ihr und fing sie auf. Zugleich kam Alessan mit kalkweißem Gesicht aus dem kleinen Büro gestürmt, das Folien in jüngster Zeit so oft als Untersuchungsraum gedient hatte.

»MORRRETTTAAA!«

Alessans Schrei war der Schmerz eines Menschen, der bereits zu viel Kummer und Leid ertragen hatte. Er sank in die Knie und trommelte mit beiden Fäusten auf die Steinfliesen ein, während ein wildes Schluchzen seinen Körper schüttelte. Folien versuchte ihn hochzureißen, aber vergeblich.

Ich konnte den Anblick nicht ertragen und lief zu ihm, kniete neben ihm nieder und preßte seine wundgeschlagenen Fäuste gegen meine Schenkel. Er umklammerte mich so heftig, daß ich einen Aufschrei unterdrückte, aber dann vergrub er seinen Kopf in meinem Schoß und ließ seinem Kummer freien Lauf.

Moreta! Welches Unheil mochte ihr im Fort-Weyr zugestoßen sein? Ich wußte, daß sich ihre Königin in der Brutstätte befand, dem sichersten Ort des ganzen Weyrs.

Alessans Arme umkrampften meine Hüften, und seine Finger krallten sich in meinen Rücken, während er gegen das neue, furchtbare Leid ankämpfte. Ich drückte ihn so fest an mich, wie ich nur konnte, murmelte besänftigende Worte und versuchte zu begreifen, was geschehen war.

Ich merkte, daß Folien und Tuero neben uns standen, aber ihre Worte gingen in Alessans heftigem Schluchzen und dem Scharren seiner Stiefel unter. Sein ganzer Körper bäumte sich gegen die neue Tragödie auf.

»Laßt ihn weinen!« sagte ich. »Nur so löst sich der Schmerz. Was kann Moreta zugestoßen sein?«

Desdra gesellte sich zu uns. »Schwer zu sagen. Auch Oklina hat das Bewußtsein verloren. Ich begreife das nicht. Er ist kein Reiter, sie noch keine Kandidatin.«

Wir hörten einen langgezogenen Schrei, schriller und lauter, als er je aus der Kehle des Wachwhers kommen konnte.

»Beim Ei!« wisperte Desdra.

Ich schaute auf und sah B'lerion die Stufen zur Burg herauf stürmen. Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und sein Blick wirkte völlig erloschen. Nabeth hatte sich entsetzlich verändert. Seine Haut wirkte stumpf und grau. Es war das Wimmern des Bronzedrachen, das wir gehört hatten.

»Oklina!« rief B'lerion und sah sich suchend um.

»Sie ist ohnmächtig, B'lerion.« Desdra deutete auf einen der Tische. Dort lag das junge Mädchen, betreut von einer Dienerin. »Was ist mit Moreta geschehen?«

B'lerions Augen füllten sich unvermittelt mit Tränen. Seine Blicke wanderten von Oklina zu Alessan, der immer noch vom Schluchzen geschüttelt wurde. Dann senkte der Reiter den Kopf auf die Brust und ließ die Schultern hängen. Tuero und Folien stützten ihn.

»Moreta ging ins Dazwischen!«

Ich begriff nicht gleich, was er damit meinte. Drachen und ihre Reiter gingen so oft ins Dazwischen.

»Auf Holth. Die Weyrführer von Telgar verhinderten, daß ihre Reiter das Serum verteilten. Moreta sprang ein. Sie kannte Keroon am besten. Aber Holth war bereits von den vorangegangenen Flügen erschöpft. Sie verirrten sich im Dazwischen. Und starben!«

Ich drückte Alessan noch fester an mich. Meine Tränen vermischten sich mit den seinen, aber mein Schmerz galt im Moment eher ihm als der tapferen Weyrherrin. Wie konnte er diese dritte Tragödie überstehen? Er hatte sich so mutig gegen die Seuche zur Wehr gesetzt und länger um Suriana getrauert, als es die meisten anderen Männer getan hätten. Ich dachte an meinen Vater, und Verachtung stieg in mir auf. Gab es überhaupt keine Gerechtigkeit mehr auf der Welt? Alessan wurde von einem Schicksalsschlag nach dem anderen heimgesucht, während Tolocamp ein unverdientes Übermaß an Gesundheit, Wohlstand und Sinnenfreuden genoß.

Mir dämmerte in diesem Moment, weshalb Alessan an jenem Tag, als ich nach Ruatha kam, so glücklich ausgesehen hatte. Ich wußte nicht, wann und wie er und Moreta Zeit für ihre Liebe gefunden hatten; die sechs Gefährten waren höchstens eine Stunde von Ruatha fort gewesen. Aber ich verstand nun besser, weshalb Alessan das Verhältnis zwischen Oklina und dem Bronzereiter B'lerion billigte. Und daß die Weyrherrin Trost bei dem jungen Burgherrn gesucht hatte, konnte ich ihr nachfühlen. Sh'gall war alles andere als ein angenehmer Partner. Arme Moreta. Armer, armer Alessan. Was konnte ihm jetzt noch helfen?

Desdra wußte es. Sie wartete, bis Alessans Schluchzen allmählich verebbte. Dann richteten sie und Tuero ihn auf. Meine Beine waren eingeschlafen, und ich konnte mich kaum noch rühren. Aber ich hielt seinen Kopf, während Desdra ihm einen Becher Wein einflößte, den sie mit Fellis-Saft vermischt hatte.

Der Ausdruck in seinen Augen wird mich mein Leben lang verfolgen: verloren, völlig verloren, fassungslos angesichts des Verlustes - und unendlich traurig. Er hatte den Becher leergetrunken, und es war eine Gnade für ihn wie für uns, daß der Fellis-Saft sofort wirkte.

Sie trugen ihn in sein Schlafzimmer, und ich erklärte mich bereit, an seiner Seite zu wachen, obwohl Desdra mir versicherte, daß er bis zum nächsten Tag durchschlafen würde.

»Was können wir für ihn tun, Desdra?« fragte ich, immer noch erschüttert von seinem Leid. Unwillkürlich liefen mir Tränen über die Wangen.

»Meine liebe Lady Nerilka, wenn ich darauf eine Antwort wüßte, wäre ich dem Meisterheiler überlegen.« Sie schüttelte langsam den Kopf und drückte damit die Hilflosigkeit aus, die auch ich empfand. »Es kommt ganz darauf an, ob er unseren Beistand annimmt. Wie grausam dieser neue Verlust ist - wie grausam und sinnlos!«

Wir zogen ihn aus und breiteten die Felldecke über ihn. Er sah um Jahre gealtert aus. Die Augen waren tief in die Höhlen gesunken, die Lippen zusammengepreßt. Seine Züge wirkten wächsern. Desdra fühlte seinen Puls und nickte erleichtert. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und stützte den Kopf müde gegen einen der Pfosten.

»Er hat Moreta geliebt?« fragte ich.

»Es geschah, als wir damals die Nadeldornen sammelten. Was war das für ein herrlicher Tag!« Sie seufzte, und der Hauch eines Lächelns huschte über ihre sonst so strengen Züge. »Wenigstens dieses Glück konnten sie genießen. Und, so hart und bitter das im Moment klingen mag - für den Fortbestand von Ruatha ist dieses Unglück vielleicht ein Segen.«

»Weil Alessan Nachkommen braucht?« Noch nie in der Geschichte von Pern war eine Weyrherrin die Gemahlin eines Erb-Barons geworden; den umgekehrten Fall gab es häufiger. Außerdem hatte Moreta ein Alter erreicht, in dem sie nicht mehr ohne Risiko gebären konnte. Nun, Alessan hätte eine zweite Frau nehmen können. Zur Sicherung der Erbfolge konnte ein Burgherr in seinem Herrschaftsbereich sogar eigene Gesetze erlassen. Diesen Grundsatz hatte man den Fort-Töchtern von frühester Jugend an eingeprägt.

»Oklinas Kinder sollten hier aufwachsen«, meinte Desdra.

»Aber das würde niemals reichen - bei all den Verlusten, die Ruatha erlitt!«

»Sie müssen ihm Ihre wahre Herkunft verraten, Lady Nerilka!«

Ich schüttelte den Kopf, noch während sich der Gedanke in meinem Gehirn festsetzte, dieser aussichtslose, völlig unmögliche Gedanke. Er brauchte eine Frau, die schön und anziehend war, klug und charmant - eine Frau, die ihn vergessen ließ, was er durchgemacht hatte.

Desdra erhob sich und sagte, sie wolle dafür sorgen, daß man mir etwas zu essen brächte. Ich war zu erschöpft, um zu entgegnen, daß ich wahrscheinlich keinen Bissen hinunterbrächte.