KAPITEL X 

24.3.43- 23.4.43

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir die nächsten Tage durchstanden. B'lerion kümmerte sich um Oklina. Es zeigte sich immer deutlicher, daß ihre Zukunft dem Weyr gehörte. Sie hatte das Entsetzen der Drachen gespürt - ein seltenes Talent, wenn jemand weder Drachenreiter war noch zur Gemeinschaft des Weyrs gehörte. Daß Alessan auf telepathischem Wege Kunde von Moretas Tod erhielt, blieb allen bis auf Desdra und Oklina ein Rätsel. Ich reimte mir die Geschichte nach und nach zusammen, unterstützt von einer wachsenden Intuition in allen Angelegenheiten, die Alessan betrafen.

Die Drachenreiter und ein Großteil der Weyrbewohner hatten das tragische Ende von Moreta und Holth unmittelbar miterlebt. Später erfuhren wir von B'lerion, daß die Disziplin und die Gesetze der Weyr verschärft worden waren, um in Zukunft ähnliche Katastrophen zu vermeiden.

Es hatte damit begonnen, daß verwundete Reiter ihre Drachen baten, mit einem unverletzten Ersatzmann zu fliegen, um die Geschwaderstärke während des Sporenkampfes nicht zu vermindern. Zwar besaß jeder Drache seine ganz speziellen Fluggewohnheiten, die nur sein Partner kannte und verstand, aber im Prinzip konnte jeder Reiter mit jedem Drachen fliegen. Leri traf keine Schuld, daß sie diese Gepflogenheit mitgemacht und Moreta ihre Königin in dieser besonderen Notlage überlassen hatte. Aber erschöpfte Reiter und Drachen begingen Fehler, und an jenem Spätnachmittag waren Moreta und Holth über die Grenzen ihrer Kräfte hinausgegangen. Mir fiel ein, daß Holth damals dicht über dem Außenwall von Ruatha ins Dazwischen gegangen war.

»Genau«, bestätigte B'lerion mit leiser Stimme. »Holth besaß nicht mehr die nötige Sprungkraft in den Hinterbeinen. Vermutlich wechselte sie so rasch ins Dazwischen, daß Moreta ihr keine Bilder mehr vom Landeplatz übermitteln konnte. Und so blieben sie in der eiskalten Zwischenwelt gefangen.«

Später, als Meister Tirone eine Ballade über Moretas mutigen Ritt zu schreiben begann, bedrängten ihn die Weyrführer, Orlith und nicht Holth als Königin zu nennen. Die Wahrheit, so befürchteten sie, könnte zuviel Schaden anrichten. Auf diese Weise blieb einem Großteil der Bewohner Perns verborgen, was sich in den Tagen nach der Seuche wirklich abgespielt hatte. Und manchmal bedauerte ich, daß ich den wahren Ablauf kannte. Nicht, daß ich Moretas Tapferkeit schmälern wollte - aber es quälte mich, daß ein einziger Fehler solches Leid verursacht hatte.

Desdra, die mir inzwischen voll vertraute, erklärte auch, wie es die Drachenreiter geschafft hatten, den Impfstoff rechtzeitig in ganz Pern zu verteilen: Ihre Tiere konnten nicht nur von Ort zu Ort, sondern auch von einer Zeit in die andere wechseln - ein Talent, von dem nur Eingeweihte wußten. Doch die Zeitverzerrung, die bei solchen Sprüngen auftrat, zehrte an der Substanz von Drachen und Reitern - ein weiterer Faktor, der die Tragödie ausgelöst hatte. Denn nur durch eine Reihe von Zeitsprüngen war es Moreta und Holth gelungen, das Serum in der gesamten Ebene von Keroon zu verteilen. Und dabei hatten sie ihre Kräfte überschätzt.

Ein Weyr-Gericht befand einstimmig, daß Moreta am Leben geblieben wäre, wenn M'tani sich nicht geweigert hätte, seine Reiter für die Aktion einzusetzen. Ich erfuhr nie, welche Strafe man über den Telgar-Weyr verhängte. Wenn Oklina es wußte, so erwähnte sie es nicht.

Ich verstand nun vieles besser - aber mein Wissen reichte nicht aus, um Alessan zu helfen. Er kam vierundzwanzig Stunden später zu sich. Ich war gerade ein wenig eingenickt und erwachte, als er sich auf seinem Lager umherzuwälzen begann. Als ich seinen gequälten Blick sah, hatte ich das Gefühl, daß er dem Wahnsinn nahe war.

»Desdra hat mir ein Schlafmittel verpaßt, nicht wahr?« Ich nickte, und er stieß einen heiseren Fluch aus. »Es hilft nicht. Nichts hilft mehr. Wißt ihr inzwischen, was geschehen ist?«

Also schilderte ich ihm die Ereignisse. Ich versuchte leise und ruhig zu sprechen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Der Schmerz, der von Alessan ausging, war greifbar, rollte wie eine schwere Woge über mich hinweg. Als ich schwieg, starrte er mich mit brennenden Augen an.

»Leri und Orlith sind noch am Leben?« Das klang wie eine Anschuldigung.

»Die Eier! Orlith bleibt, bis sie ausgebrütet sind, und Leri betreut sie.«

»Tapfere Leri! Brave Orlith!«

Sein Hohn ließ mich zusammenzucken, aber sein starrer Körper und die geballten Fäuste verrieten mir, welcher Kampf in seinem Innern tobte. »Drachen und Reiter haben manche Vorteile, die unsereinem versagt bleiben. Warum mußte mein Vater mich zurückhalten, als ich damals bei der Suche auserwählt wurde? Mein Leben hätte ganz anders verlaufen können…« Er wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Dann, als sein Blick auf die Grabhügel fiel, drehte er sich mit einem Ruck um und schloß die Augen.

»Du hast also meinen Schlaf bewacht, Rill. Und solange ich wach bin, wird mir vermutlich ein anderer Schutzengel auf Schritt und Tritt folgen, um zu verhindern, daß ich aus einem Leben gehe, das keinen Sinn mehr für mich hat…«

In diesem Moment brach mein eigener Kummer durch. Ich war nicht mehr die vernünftige, pflichtbewußte Älteste der Fort-Horde, sondern Surianas Freundin, die neue Wirtschafterin auf Ruatha - und eine Frau, die Alessan weit mehr schätzte, als sie es sich eingestand. Jeder Kummer läßt sich ertragen. Die Zeit heilt die tiefsten Wunden des Herzens - aber um diese Zeit mußte ich kämpfen.

»Selbst wenn Sie nicht mehr leben wollen, Alessan - Sie sind Erb-Baron von Ruatha und dürfen nicht sterben!«

»Ruatha ist nicht mehr Grund genug für mich, am Leben zu bleiben«, entgegnete er bitter. »Es hat schon einmal versucht, mich umzubringen.«

»Und Sie haben gekämpft und das Steuer herumgerissen! Keiner außer Ihnen hätte das geschafft. Sie haben sich Würde und Ehre errungen.«

»Was zählen Würde und Ehre da draußen?« Er deutete, ohne sich umzudrehen, zu den Erdhügeln vor dem Fenster.

»Noch atmen Sie, und Sie sind ein Ruatha!« Ich hatte mit Schärfe gesprochen. Vielleicht konnte ich ihn auf diese Weise aufrütteln und von dem Kurs abbringen, den er eingeschlagen hatte. Aber Pflicht, Ehre und Tradition waren ein schaler Ersatz für Moretas Liebe. »Als Ihre Untertanin, Baron Alessan, verlange ich, daß Sie am Leben bleiben, bis Sie einen Sohn in die Welt gesetzt haben, der eines Tages Herr über Ruatha wird!« Ich war selbst verblüfft über meinen scharfen Tonfall, und Alessan musterte mich mit gerunzelter Stirn. »Außer es stört Sie nicht, daß Fort, Tillek und Crom sich nach Ihrem Tod um Ihren Besitz streiten werden! Dann mische ich Ihnen eigenhändig die nötige Dosis Fellis-Saft in Ihren Wein, und Sie können ein Ende machen.«

»Ein Handel also!« Mit einer Schnelligkeit, die ich dem gebrochenen Mann nicht zugetraut hatte, sprang er auf und streckte mir die Hand entgegen. »Abgemacht, Lady Nerilka! Sobald Sie schwanger sind, werde ich diesen Becher leertrinken!«

Ich starrte ihn an, entsetzt über die Reaktion, die meine Worte ausgelöst hatten. Er legte meinen Appell völlig falsch aus, schob mir persönliche Motive unter… Dann erst dämmerte mir, daß er meinen wahren Namen kannte.

»Ihre Eltern förderten die Verbindung mit allen Mitteln!«

Seine Stimme klang schneidend.

»Aber dabei dachten sie nie und nimmer an mich!«

»Warum nicht, Nerilka? Sie haben bewiesen, daß Sie das Zeug zur Burgherrin besitzen. Weshalb sonst sind Sie so plötzlich hier aufgetaucht? Oder wollten Sie Rache nehmen, weil Ihre Angehörigen durch meine Schuld ums Leben kamen?«

»Nein! Beim Ei! Ich konnte das Leben auf Fort nicht mehr ertragen, nachdem Tolocamp Schande über uns alle gebracht hatte. Wie hätte ich noch daheim bleiben können, nachdem er den Heilern Arzneien, Nahrung und Hilfe versagte? Daß ich hierherkam, beruht auf einem Zufall. Ich war gerade bei Bestrum, um das Serum abzuliefern, als M'barak landete und nach Leuten suchte, die mit Rennern umgehen konnten. Aber woher wissen Sie, wer ich bin?«

»Durch Suriana!« Ärger schwang in seiner Stimme mit, aber dann wandte er wieder das vertraute Du an. »Du warst ihre Ziehschwester, Rill. Und du weißt, daß sie alles und jeden zeichnete. Es gab unzählige Skizzen von dir. Ich erkannte dich sofort, als du vor mir standest. Allerdings wußte ich nicht, was dich nach Ruatha geführt hatte, und so machte ich das Spiel mit und wartete ab.« Dann schnippte er ungeduldig mit den Fingern. »Komm, Mädchen, schlag ein! Es ist kein schlechter Handel. Du wirst Herrin auf Ruatha und kannst schalten und walten, wie du willst, unabhängig von deinem Vater oder sonst einem Baron. Du hast doch keine Angst vor mir? Sicher weißt du von Suriana, daß ich ihr ein guter Partner war.«

Ich wußte es, auch wenn Suriana es nicht in Worte gekleidet hatte. Aber der Gedanke an die verstorbene Freundin und an Alessans fühlbare Trauer um Moreta trieb mir Tränen in die Augen.

»Sie sind ein guter, tapferer Mensch. Ich möchte nicht, daß Sie unter dem Druck der Umstände eine Entscheidung treffen, die Sie eines Tages bereuen.«

»Ich scheine das Unheil anzuziehen.« Seine Miene war verschlossen, und seine Stimme klang kalt. »Ich brauche kein Mitleid, Nerilka. Es nützt mir nichts mehr. Wirst du mir statt dessen ein Kind geben, damit das Geschlecht der Ruatha nicht ausstirbt? Und den Becher?«

Ich verstehe heute noch nicht, weshalb ich beide Bedingungen dieses absurden Handels akzeptierte, aber ich war damals wohl fest davon überzeugt, daß Alessan zur Vernunft kommen würde, wenn erst der schlimmste Schmerz überwunden war.

»Dann gehen wir an die Erfüllung des Vertrags.« Er zog mich mit harter Hand an sich, und ich riß mich mit einer Geste des Entsetzens los.

»Nein! Ich denke nicht daran, Anella zu imitieren!«

Alessan schaute mich wütend und verständnislos an.

»Tolocamp holte sich Anella ins Bett, noch ehe die Trommelbotschaft vom Tod meiner Mutter verhallt war.«

»Bei uns liegen die Dinge doch völlig anders, Nerilka!« Seine Augen brannten, und sein starrer Gesichtsausdruck erschreckte mich.

»Sie haben Moreta geliebt!«

Seine Wangenmuskeln begannen zu zucken. In seinen Augen glitzerte etwas wie Haß.

»Ist es das, was dich zurückhält? Jungfräuliche Scham wäre mir lieber gewesen. Rill, du hast dein Versprechen gegeben, und du bist es der Ehre von Fort schuldig, dieses Versprechen zu halten!«

Er verhöhnte mich. Der Druck auf meinem Handgelenk verstärkte sich. Ich versuchte mein Zögern in Worte zu kleiden, versuchte ihm klarzumachen, daß neues Leben nicht aus Bitterkeit und Haß entstehen sollte. In diesem Moment klangen draußen Schritte auf.

»Du bekommst einen kurzen Aufschub, Nerilka!« flüsterte er mir zu. »Aber denk daran - wir haben einen Vertrag geschlossen, und wir werden ihn erfüllen. Ich sehne mich nach diesem Becher!«

Tuero trat ein. Als er sah, daß Alessan wach war und mit mir sprach, zeichnete sich auf seinen Zügen Erleichterung ab. »Brauchen Sie etwas, Alessan?« erkundigte er sich.

»Meine Kleider.« Alessan streckte die Hand aus. Ich holte frische Sachen aus dem Schrank, und Tuero reichte ihm seine Stiefel. Er kleidete sich rasch an und verließ mit uns den Raum.

Mehr noch als sein Erscheinen löste sein Verhalten bei den Anwesenden im Großen Saal Befremden aus. Er schickte nach Deefer, ließ Dag holen und wollte wissen, wo sich Oklina befand. Als seine Schwester zusammen mit Desdra den Saal betrat, erkundigte er sich mit keiner Silbe, weshalb die Heilerin ihre Abreise verschoben hatte. Aber er wich zurück, als Oklina ihn umarmen wollte, und forderte Tuero und mich scharf auf, mit den anderen in sein Büro zu kommen. Dort erläuterte er mit beherrschter, tonloser Stimme, wie er sich den Wiederaufbau von Ruatha vorstellte, und er bat uns, unverzüglich alles Notwendige in die Wege zu leiten.

Alle waren erleichtert, daß er sich so vehement in die Arbeit stürzte. Außer mir schien niemand zu bemerken, daß er Ruathas Angelegenheiten ordnete, um für immer Abschied zu nehmen. Er packte mit an, wo es nötig war, und saß abends stundenlang mit Tuero zusammen, um Verwaltungsdinge zu erledigen. Trommelbotschaften wurden ausgesandt, und berittene Boten beförderten versiegelte Briefe. Einige der Nachrichten bekam ich mit. Alessan suchte nach Zuchtstuten für seine Hengste und forderte besitzlose Familien mit gutem Leumund auf, sich bei ihm als Pächter zu melden. Er schickte Leute zu Fuß und zu Pferde aus, um einen Überblick zu gewinnen, wie viele verlassene Höfe es gab, welche Herden überlebt hatten und welche Äcker bereits bestellt waren.

Die Betriebsamkeit wurde überschattet von Alessans düsterem Ernst. Als wir das Serum herstellten, hatten wir härter geschuftet, aber damals hatte Freude und Hoffnung unsere Arbeit beflügelt. Nun schien Alessan uns alle mit seiner Kälte angesteckt zu haben. Nicht einmal die Tatsache, daß die Spuren der Seuche nach und nach verschwanden und Ruatha in neuem Glanz erstrahlte, vermochte Begeisterung in uns zu wecken. Oklina pflanzte Frühlingsblumen rund um die Burg, in der Hoffnung, uns ein wenig aufzuheitern, aber viele davon verwelkten, als könnten auch sie in der frostigen Atmosphäre nicht überleben. Ich machte mir ständig Vorwürfe, daß ich die Schuld an Alessans schrecklicher Veränderung trug, weil ich nicht mit allen Mitteln versucht hatte, ihn von seinen Selbstmordplänen abzubringen.

Zehn Tage nach Moretas Tod saßen wir gerade schweigend beim Abendessen, als Alessan sich feierlich erhob und ein zusammengerolltes Pergament aus seinem Gürtel zog.

»Baron Tolocamp hat hiermit seine Zustimmung erteilt, daß ich seine Tochter Lady Nerilka zur Gemahlin nehme«, verkündete er in seiner schroffen, unbewegten Art.

Sehr viel später entdeckte ich im hintersten Winkel einer Truhe das Schreiben, das mein Vater an Baron Alessan abgeschickt hatte. Es lautete: »Wenn Sie auf Ruatha weilt - bitte, machen Sie mit ihr, was Sie wollen. Sie ist nicht mehr meine Tochter.« Alessan hätte meine Gefühle nicht schonen müssen. Aber seine Reaktion bewies, daß sich hinter der erstarrten Fassade ein weicher, mitfühlender Kern verbarg.

An jenem Abend machte sich ein verblüfftes Raunen in der Tischrunde breit, aber niemand achtete auf mich, nicht einmal Tuero. Desdra war fünf Tage zuvor in die Heiler-Halle heimgekehrt.

»Lady Nerilka?« fragte Oklina zaghaft und starrte ihren Bruder aus großen Augen an.

»Ruatha braucht einen Erben«, entgegnete Alessan und setzte trocken hinzu: »Rill versteht diese Notwendigkeit.«

Alle Blicke wandten sich mir zu. Ich wagte kaum, von meinem Teller aufzuschauen.

»Jetzt weiß ich endlich, woher ich Sie kenne!« rief Tuero. Er lächelte, das erste Lächeln auf Ruatha seit zehn Tagen. »Lady Nerilka!« Er stand auf und verneigte sich tief vor mir. Den anderen schien der Atem zu stocken.

Oklina sah mich einen Moment lang verwirrt an, dann sprang sie auf, lief um den Tisch herum und schloß mich in die Arme. »O, Rill - du bist wirklich Nerilka von Fort?« Es gelang ihr nicht, die Tränen zurückzuhalten.

»Baron Tolocamp hat sein Einverständnis zu unserer Ehe erklärt. Ein Harfner und genügend Zeugen sind anwesend - also können wir das Bündnis nach Recht und Sitte besiegeln!«

»Ohne jedes Fest?« fragte Oklina empört.

Ich nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Ohne jedes Fest, Oklina!« Meine Blicke baten um ihr Verständnis. »Wir haben im Moment zu wenig Zeit und Geld für eine große Zeremonie.«

Sie gab nach, aber auf ihrer glatten jungen Stirn zeichnete sich eine scharfe Falte ab. Ich wußte, daß sie sich Sorgen machte - um meinetwillen. Also erhob ich mich, Alessan nahm meine Hand, und wir traten vor die Versammelten. Alessan reichte mir eine goldene Vermählungsmünze aus seinem Beutel und bat mich förmlich, seine Gemahlin und Burgherrin zu werden, die Mutter seiner Kinder, geehrt und geachtet vor allen anderen Bewohnern Ruathas. Ich legte meine Hand auf die Münze - später sah ich, daß der Tag unserer Eheschließung eingraviert war - und gab ihm feierlich mein Heiratsversprechen. Bei den Worten »… die Mutter deiner Kinder« schwankte meine Stimme ein wenig, aber ich wußte, daß dies ein wichtiger Teil unserer Abmachung war.

Oklina bestand darauf, daß wenigstens Wein aufgetischt wurde, und bei einem Glas perlendem Weißen von Lemos tranken alle Anwesenden auf unser Wohl. Der Harfner hielt eine Festrede, aber kein Lächeln kam dabei über seine Lippen, und er hatte auch kein Hochzeitslied bereit. Ich bemühte mich, wie eine strahlende Braut auszusehen, aber ich kämpfte mit den Tränen.

Später brachte Tuero das Familienbuch und trug unsere Namen in das Register ein. Ich war nun rechtmäßige Herrin über Ruatha.

Alessan und ich zogen uns bald zurück. Er war sanft und liebevoll, aber ich spürte, wie mechanisch er seiner Pflicht nachkam, und in meinem Innern brannte der Schmerz.

Sonst änderte sich nicht viel für mich. Für die meisten auf der Burg blieb ich Rill, da ich wenig Wert auf Formalitäten legte. Onkel Munchaun schickte mir den Familienschmuck, den ich ihm in Verwahrung gegeben hatte, und meine Mitgift, eine kleine, aber wohlgefüllte Geldkassette. Er schrieb mir auch, was Tolocamp geäußert hatte, als er erfuhr, wo ich mich aufhielt: »Offenbar enden alle Frauen von Fort im Hause Ruatha. Wenn Nerilka Alessans Gastfreundschaft ihrem Elternhaus vorzieht, dann mag sie für immer dort bleiben.«

Onkel Munchaun wollte mir mit seinem Brief nicht weh tun, sondern verhindern, daß ich Vaters Äußerung von der falschen Seite erfuhr. Er selbst fand, daß ich genau das Richtige getan hatte, und er wünschte mir viel Glück für die Zukunft. Ich bedauerte nur, daß Glück nicht so handfest war wie Gold und Schmuck, sonst hätte ich es Alessan zusammen mit meiner Mitgift überreicht. Mit großer Genugtuung fügte Onkel Munchaun hinzu, daß Anella mein Verschwinden mit einem hysterischen Zornausbruch registriert hatte. Sie war zunächst überzeugt davon gewesen, daß ich mich in einem Winkel der Burg versteckt hielt und schmollte. Schließlich hatte sie sich bei Tolocamp beschwert - dem meine Abwesenheit bis dahin tatsächlich nicht aufgefallen war.

Ein steter Strom von Räderkarren und Planwagen brachte Besitzlose und ihre Familien nach Ruatha. Oklina und ich versorgten sie mit Essen, schickten die Frauen mit ihren Kindern in die Waschhäuser und Badeteiche und versuchten herauszufinden, welche von ihnen besonders sauber und ordentlich waren. Tuero, Dag, Pol, Sal und Deefer führten bei einem Becher Klah oder einem Teller Suppe Gespräche mit den Männern. Folien untersuchte die Neuankömmlinge, um zu gewährleisten, daß sie keine Krankheiten einschleppten. Merkwürdigerweise hatte oft Fergal das letzte Wort, wenn es darum ging, die Leute als Pächter einzusetzen. Alessan gab viel auf sein Urteil, denn der Bengel horchte die Kinder aus und stieß dabei nicht selten auf Dinge, die uns die Erwachsenen vorenthielten.

Energiegeladene junge Männer aus Keroon, Telgar, Tillek und dem Hochland meldeten sich bei uns, meist die nachgeborenen Söhne von Nebenlinien, so daß sich die Hütten rund um die Burg wieder mit Leben füllten und wir keine Mühe hatten, tüchtige Verwalter und Dienstboten zu bekommen.

Handwerker trafen ein; sie brachten Empfehlungsschreiben ihrer Gildehallen, Werkzeug und Arbeitsmaterial mit. Wenn ich zu den Stallungen ging, begegnete ich zufriedenen Frauen, die mich freundlich grüßten, und Kindern, die auf den Wiesen herumtollten, ehe Tuero sie zum Unterricht holte. Ganz allmählich verflog auch die Düsterkeit, die unsere Mahlzeiten im Großen Saal überschattet hatte. Die Entspannung hielt an, bis wir von M'barak erfuhren, daß die Eier in der Brutstätte reif waren.

Das brachte uns das furchtbare Geschehen wieder nahe, das Schicksal von Moreta, Holth, Leri, Orlith - und Oklina. Ich wurde schmerzhaft an mein Abkommen mit Alessan erinnert. Noch war es zu früh, um eine Schwangerschaft festzustellen. Dieser Gedanke erleichterte mich ein wenig und gab mir die Kraft, meinen Kummer zu verbergen.

Obwohl Alessan nie von der Gegenüberstellung sprach, stand für uns fest, daß er Oklina erlauben würde, ihren Platz unter den Kandidatinnen für das Königin-Ei einzunehmen. Wir alle wußten, daß B'lerion nicht nur zu Höflichkeitsbesuchen auf Ruatha weilte.

Ich war wie vom Schlag gerührt, als Alessan mich fragte, ob ich ein Festgewand für die Gegenüberstellung hätte.

»Du willst doch nicht hingehen?«

»Ich will nicht, nein! Aber der Erb-Baron von Ruatha und seine Gemahlin dürfen bei dieser Gegenüberstellung nicht fehlen. Oklina verdient unsere Unterstützung.« Sein Blick gab mir zu verstehen, daß er dieses Thema nicht eingehender besprechen wollte. Er stand schmutzig und schlammverspritzt vor mir, denn er war weit geritten, um einigen der Neuankömmlinge ihre Höfe und ihr Weideland zu zeigen, »öffne die Truhen meiner Mutter! Sie hatte immer ein paar kostbare Stoffe beiseitegelegt. Leider bist du zu groß für die Roben, die sie anfertigen ließ.« Ein Schatten huschte über seine Züge, und er zog sich rasch ins Bad zurück.

Alessan kam Nacht für Nacht zu mir, sanft aber beharrlich, bis zum Morgen, da wir beide erkannten, daß ich noch nicht schwanger war. Meine Erleichterung war unsagbar, denn die Tatsache bedeutete, daß ich mindestens einen Monat Aufschub erhalten hatte - einen Monat in seiner Nähe. Ich konnte nicht länger leugnen, daß Alessan zum Mittelpunkt meines Lebens geworden war. Ich genoß jede Berührung und merkte mir jedes Wort, das er sprach. Ich hortete diese Dinge, wie andere Gold oder Edelsteine horten - ich wollte an ihnen zehren, wenn er nicht mehr bei mir war.

Während ich mit Oklina und zwei Frauen, die geschickt mit Nadel und Schere umgehen konnten, einen weichen roten Stoff zuschnitt und daraus mein Festgewand nähte, war mir leichter ums Herz als in den Tagen zuvor. Oklina hatte das schlichte weiße Gewand, das sie für die Gegenüberstellung brauchte, bereits heimlich in ihrem Zimmer angefertigt - sie wollte uns jeden Kummer ersparen. Wenn wir zusammen nähten, sprach sie viel von Ruatha und seiner Vergangenheit. Und als sie merkte, daß es mich nicht mehr schmerzte, von meiner Ziehschwester zu hören, erzählte sie sogar einige Anekdoten von Suriana.

Allmählich machte es mir Spaß, auf Ruatha zu leben, neue Fundamente zu errichten, neue Siedler und Pächter willkommen zu heißen. Wir besaßen kaum Vorräte, aber da meine Mutter mich stets zu äußerster Sparsamkeit erzogen hatte, fiel es mir leicht, den großen Haushalt zu verwalten. Die Truhe mit dem Geld, das Onkel Munchaun mir geschickt hatte, half uns über die erste Not hinweg. Auch die Heiler-Halle entlohnte uns für das Serum, das wir in solchen Mengen hergestellt hatten, mit Geld, Arzneien und Vorräten.

Alessan nahm die Entschädigung zähneknirschend an. Er wußte, daß man für Edelmut nichts kaufen konnte. Wir bestellten Ackergeräte, Pflüge, Wagen und Räder bei der Schmiedegilde und verrechneten sie mit den Pächterlöhnen. Ich saß abends oft ebenso lange über meinen Wirtschaftsbüchern wie Alessan über den Lohnlisten. Aber ich genoß die stillen Stunden in seiner Nähe, die nur ab und zu unterbrochen wurden, wenn Oklina uns eine Kleinigkeit zu essen brachte. Mir fiel auf, daß sich Alessan hin und wieder zu entspannen schien. Aber dann genügte ein Wort oder eine Geste, und er zog sich wieder zurück in seine Trauer und Isolation.