KAPITEL VII

19.3.43 - 20.3.43

Ich brach am frühen Abend auf, ausgerüstet mit einer primitiven Karte, die mir den Weg zu drei Gehöften weit im Norden wies, ganz in der Nähe der Ruatha-Grenze. Dort benötigte man dringend Serum und andere Medikamente. Macabir wollte mich überreden, bis zum nächsten Morgen zu warten, aber ich entgegnete, daß wir Vollmond hatten und die Straßen kaum durch unwegsames Gelände führten. Ich hatte Angst, die Heiler-Halle zu betreten. Es konnte sein, daß Desdra oder sonst jemand in der verwahrlosten und erschöpften Pflegerin Lady Nerilka von Fort erkannten.

Ich ritt an Burg Fort vorbei, ohne auch nur einen Blick zu den Fenstern meines Vaters zu werfen, passierte die Hütten und Stallungen und fragte mich, ob von all den Menschen, mit denen ich bis vor zwei Tagen mein Leben verbracht hatte, auch nur einer nach mir Ausschau hielt. Wem außer Anella und meinen Schwestern mochte aufgefallen sein, daß ich mich nicht mehr auf Burg Fort befand?

Das Dumme war, daß ich meine Erschöpfung unterschätzt hatte, und so nickte ich im Sattel immer wieder ein. Zum Glück war der Renner ein braves Tier, das einfach die Straße entlangtrabte, solange es keine anderen Anweisungen erhielt. Gegen Mitternacht erreichte ich das erste Gehöft. Ich konnte gerade noch die Mitglieder des Haushalts impfen, ehe ich zusammenklappte. Sie ließen mich ausschlafen und brachten mir bei Tagesanbruch ein kräftiges Frühstück. Als ich der Hausherrin Vorwürfe machte, weil sie mich nicht geweckt hatte, entgegnete sie ruhig, sie habe die beiden anderen Gehöfte von meiner baldigen Ankunft verständigt. Das Wissen, daß man sie nicht vergessen habe, sei bereits eine wertvolle Hilfe für die Leute.

Also ritt ich weiter und gelangte am späten Vormittag an mein nächstes Ziel. Die Bewohner sahen meine Erschöpfung und bestanden darauf, daß ich mit ihnen aß. Sie wußten, daß es in der Hügelburg, dem letzten Ort, den ich aufsuchen sollte, keine Seuchenfälle gab, und so befragten sie mich nach den Ereignissen in den großen Burgen und Weyrn. Bis zu meiner Ankunft hatten sie nur hin und wieder eine Trommelbotschaft von der Hügelburg erhalten, die sich im Grenzgebiet von Ruatha befand.

Ich gestand mir endlich ein, daß ich auf dem Wege nach Ruatha war. Unterbewußt hatte es mich seit vielen Planetenumläufen dorthin gezogen, aber meine Pläne waren immer wieder gescheitert. Nun konnte ich Ruatha und seinen Bewohnern vielleicht meine Hilfe anbieten. Die Gerüchte über die hohen Verluste auf Alessans Stammburg waren erschreckend, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, daß ich ein Opfer bringen mußte, weil ich eine gewisse Mitschuld am viel zu frühen Tod meiner Mutter und meiner Schwestern trug. Sicher gab es auf dem leidgeprüften Ruatha genug Arbeit für mich, überlegte ich, während ich dahinritt. Ich verstand mich auf die Krankenpflege und sämtliche Haushaltsangelegenheiten einer großen Burg.

Mir dämmerte auch, daß die Seuche ohne Rücksicht auf Rang und Namen zugeschlagen hatte, ohne Ansehen des Alters oder der Wichtigkeit einer Person. Gewiß, die Kinder und die Alten waren anfälliger gegen jede Krankheit, aber die Epidemie hatte so viele Menschen aus der Blüte ihres Lebens und ihrer Schaffenskraft gerissen. Ihre Werke blieben jetzt unvollendet, und irgendwie wollte ich meinen Beitrag leisten, damit sie nicht in Vergessenheit gerieten. Oder machte ich mir da selbst etwas vor?

Als ich nachmittags die Hügelburg erreichte, wurde ich bereits sehnlichst erwartet. Ein Sohn des Burgherrn hatte sich eine lange klaffende Wunde zugezogen, und die Leute baten mich, sie zu nähen, obwohl ich einwandte, daß ich nur eine Botin der Heiler-Halle sei. Trelbin, der Burg-Heiler, hatte sich nach Fort begeben, als die Trommeln Ruathas die schlimme Nachricht von der Seuche verkündeten. Da mir weder auf Fort noch in der Heiler-Halle ein Mann dieses Namens begegnet war, vermuteten sie, daß auch er den Tod gefunden hatte. Lady Gana konnte zwar kleinere Schnittwunden selbst versorgen, aber die Behandlung dieses tiefen Risses traute sie sich nicht zu. Nun, ich hatte mehr als einmal bei chirurgischen Eingriffen assistiert, und ich wußte zumindest in der Theorie, was zu tun war.

Die Praxis bereitete mir mehr Probleme. Einen Saum zu nähen ist wesentlich einfacher als lebendiges Gewebe, das unter den Händen der Helfer zuckte und zitterte. Zum Glück hatte ich Fellis-Saft und Betäubungssalbe in meinen Vorräten, und der Junge spürte wenig von der Operation. Ich hoffte nur, daß die Stiche halten würden. Lady Gana zumindest zeigte sich beeindruckt, als ich fertig war.

Später erklärte ich, was es mit dem Serum auf sich hatte, und ich impfte alle Burg-Angehörigen mit Ausnahme der Berghirten, die nur selten in die bewohnten Gebiete herunterkamen. Lady Gana ließ sich nicht davon abbringen, daß die Seuche eventuell durch den Wind übertragen wurde, und deshalb mußte ich ihr in allen Einzelheiten beschreiben, mit welchen Mitteln man die Krankheitssymptome bekämpfte. Ich weiß, daß sie mir nicht glaubte, als ich ihr klarzumachen versuchte, daß nicht die Epidemie selbst zum Tod führte, sondern Sekundärinfektionen, die den bereits geschwächten Patienten befielen. Schon aus diesem Grunde konnte ich nicht offen eingestehen, daß ich keine ausgebildete Heilerin war. Es hätte den Erfolg meiner Mission hier nur gefährdet.

Ein Sohn und eine Tochter von Bestrum und Gana hatten das Fest von Ruatha in Begleitung einiger Diener besucht. Seitdem fehlte jede Nachricht von ihnen, wie Lady Gana mir bedrückt erzählte. Allem Anschein nach hofften sie, daß ich nach Ruatha weiterreiten und mich nach dem Verbleib ihrer Kinder erkundigen werde.

Bestrum zeichnete gerade umständlich eine Wegekarte für mich, als draußen ein freudiges Geschrei ertönte. Wir beugten uns aus den Fenstern und entdeckten einen schwerbeladenen blauen Drachen, der soeben im Hof landete. Alle rannten ins Freie, um den Reiter zu begrüßen.

»Ich bin M'barak, Ariths Reiter aus dem Fort-Weyr«, stellte sich der junge Mann vor und deutete mit einem Grinsen auf die Fracht, die sein Drache trug. »Wir benötigen dringend Glasbehälter wie diese. Könnt ihr einige davon aus euren Vorräten entbehren?«

Obwohl der Reiter noch ein halbes Kind war, empfing man ihn mit großer Ehrerbietung. Bei einem Becher Klah und Lady Ganas ausgezeichnetem Kuchen berichtete der Besucher, daß auch die Renner an der Seuche erkrankten und geimpft werden mußten. Bestrum und Gana erzählten stolz, daß sie eben erst mit dem Serum aus der Heiler-Halle behandelt worden waren. Sie deuteten auf mich, und M'barak musterte mich so verblüfft, daß ich beinahe losgelacht hätte. Sicher hatte er angenommen, daß ich hier auf der Burg lebte. Ich trug keine Heilertracht, nur einen Umhang, den mir Macabir gegen die Kälte der Nacht gegeben hatte - und darunter mein grobes Arbeitsgewand. Der Drachenreiter wußte das ebenso wie ich; nur die Leute in dieser abgelegenen Burg an der Grenze hatten keine rechte Vorstellung vom Auftreten eines richtigen Heilers.

»Hatten Sie vor, zur Heiler-Halle zurückzukehren?« erkundigte sich M'barak. »Ich frage das aus einem ganz bestimmten Grund. Falls Sie nämlich mit Rennern umgehen könnten, wären Sie von unschätzbarem Wert für Ruatha. Ich könnte Sie mitnehmen«, - er blinzelte mir lachend zu -, »und Ihnen so einen langen mühsamen Ritt ersparen. Notfalls gibt Tuero in der Halle per Trommelbotschaft Bescheid über Ihren Aufenthalt. Auf Ruatha fehlen Menschen - Menschen, die geimpft sind und sich nicht vor der Seuche fürchten. Sie fürchten sich doch nicht, oder?«

Ich schüttelte stumm den Kopf, ein wenig verwirrt darüber, daß mein Herz wie rasend zu klopfen begann, als er die unerwartete Einladung aussprach. Zu Surianas Lebzeiten war Ruatha das Ziel meiner Sehnsüchte gewesen, der Inbegriff von Glück und Freiheit. Nun hatte ich mich von meiner Familie losgesagt und konnte aus freiem Willen nach Ruatha gehen. Der Drachenreiter hatte mich sogar darum gebeten. Gewiß, es würde ein Ruatha sein, das nichts mehr mit Surianas Schilderungen gemein hatte. Aber ich konnte meinem Leben dort einen Sinn geben - als Rill, nicht als Lady Nerilka. Und war es nicht mein erklärtes Ziel gewesen, meinem Leben einen Sinn zu geben?

»Falls Sie Leute brauchen, die etwas von Rennern verstehen - ich habe da zwei Knechte, die am Herd hocken und Holzlöffel schnitzen, weil die Frühjahrsarbeit noch nicht richtig angefangen hat«, warf Bestrum ein. »Da Rill sie heute morgen geimpft hat, droht ihnen auf Ruatha keinerlei Gefahr.«

M'barak nahm das großzügige Angebot sofort an. Während die Männer - zwei untersetzte, schweigsame Brüder, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen - ihre Habseligkeiten zusammensuchten, brachte mir Gana einen warmen Umhang gegen die schneidende Kälte des Dazwischen. Sie richtete Proviant für drei Personen her und schleppte drei große Glasbehälter an, die M'barak und ich so an Arliths Flanken befestigten, daß sie nicht aneinanderschlagen konnten.

Ich hatte mich noch nie so lange in unmittelbarer Nähe eines Drachen aufgehalten. Drachen besitzen eine warme, sehr glatte weiche Haut, die einen würzigen Geruch verströmt. Arith brummte vor sich hin, aber M'barak versicherte, daß er keineswegs verärgert über die ungewöhnliche Fracht war. Wir umhüllten die großen Flaschen mit Stroh. Fort besaß jede Menge dieser Glasbläsererzeugnisse, aber ich hatte keine Ahnung, wo Mutter sie aufbewahrte.

Ich sah noch einmal nach der Wunde des Jungen. Sie war unverändert, und der Kleine, der noch unter der Wirkung des Fellis-Saftes stand, schlief mit einem Lächeln auf den Zügen. Dann nahm ich Abschied von Bestrum und Gana. Obwohl ich sie erst seit wenigen Stunden kannte, gaben sie mir ihren Segen und ihre guten Wünsche mit auf den Weg. Ich versprach ihnen, nach den Vermißten zu forschen und ihnen so bald wie möglich Nachricht zu geben. Die beiden wußten, daß kaum noch Hoffnung bestand, aber das Angebot schien sie zu trösten.

Bestrum half ein wenig nach, als ich mich auf den Rücken des großen Drachen schwang. Ich plumpste rittlings hinter M'barak auf meinen Platz und hoffte nur, daß ich Arith mit meiner Ungeschicklichkeit nicht weh tat. Die beiden Brüder stiegen gelassener auf, und es war beruhigend zu wissen, daß noch zwei Leute hinter mir saßen, die mich auffangen konnten, wenn ich ins Rutschen geriet.

Arith lief ein paar Meter über den Hof, ehe er sich abstieß und an Höhe gewann. Seine transparenten, zerbrechlich wirkenden Schwingen schlugen kräftig auf und nieder. Es war ein begeisterndes Erlebnis für mich, und ich begann die Drachenreiter zu beneiden, als Arith in die dünne kalte Luft der höheren Regionen stieg. Jetzt war ich froh um den Umhang und die warmen Körper, die sich an mich preßten.

M'barak spürte wohl, was in mir vorging, denn er drehte sich um und grinste mir zu: »Festhalten, Rill, wir gehen ins Dazwischen!« schrie er. Zumindest glaube ich, daß dies seine Worte waren, denn der Wind riß sie davon.

War das Fliegen auf dem Rücken eines Drachen der Gipfel an Begeisterung, so bedeutete der Wechsel ins Dazwischen schieres Entsetzen. Schwärze, Nichts, eine schneidende Kälte, die meine Arme und Beine erstarren ließ… Nur das Wissen, daß Reiter und Drachen diese Erfahrung täglich machten, ohne Schaden zu erleiden, hielt mich davon ab, einen lauten Angstschrei auszustoßen. Eben als ich glaubte, ersticken zu müssen, umgab uns wieder Sonnenlicht, und Arith segelte mit dem untrüglichen Instinkt des Drachen auf sein Ziel zu. Bei dem Anblick, der sich mir bot, verblaßte der flüchtige Eindruck des Dazwischen.

Ich war noch nie auf Ruatha gewesen, aber Suriana hatte mir zahllose Zeichnungen von der Burganlage geschickt und begeistert von ihren Vorzügen erzählt. Da der Bau in die Felsenklippen gemeißelt war, ließ sich eigentlich kaum etwas verändern. Dennoch hatte die Burg nicht die geringste Ähnlichkeit mit Surianas Skizzen. Sie hatte mir das milde Klima geschildert, die Gastfreundschaft, Wärme und Liebenswürdigkeit der Bewohner, die sich so sehr von der steifen, kalten Formalität auf Fort unterschied. Sie hatte von den Menschen berichtet, die in der Burg ein- und ausgingen. Sie hatte mir die Wiesen beschrieben, den Rennplatz, die fruchtbaren Felder am Fluß. Es war gut, daß ihr der Anblick erspart geblieben war, der sich mir nun bot: die Grabhügel, der Ring aus geschwärzter Erde, wo man die Toten verbrannt hatte, die Reisewagen und Koffer, die immer noch verloren die Straße säumten, die verlassenen Verkaufsbuden des Festplatzes.

Ich war wie betäubt und nahm nur am Rande wahr, daß auch die beiden schweigsamen Brüder das Schauspiel fassungslos betrachteten. Zum Glück war M'barak ein taktvoller junger Mann. Er sagte nichts, während Arith über die trostlose Burg hinwegglitt. Ein schwacher Hoffnungsschimmer keimte in mir auf, als ich im Hof eine kleine Menschengruppe in der Nachmittagssonne sitzen sah.

»Sieh mal, noch ein Drache, Bruder!« rief der Mann, der hinter mir saß.

Ich hob den Kopf und entdeckte einen großen Bronzedrachen, der gerade seine Passagiere neben dem großen Tor zu den Stallungen absetzte. Er schwang sich in die Lüfte, als Arith über die gepflügten Felder hereinglitt. Die Sonne glitzerte auf seiner Haut und den Flügeln, und dann war er plötzlich verschwunden. Arith landete an der gleichen Stelle, die der Bronzedrache eben verlassen hatte.

»Moreta!« rief M'barak und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. Die hochgewachsene Frau mit dem kurzen lockigen Blondhaar drehte sich um. Ich sah sie verblüfft an. Auf Ruatha hatte ich die Weyrherrin von Fort zu allerletzt erwartet.

Ich werde mich stets daran erinnern, daß ich Gelegenheit hatte, Moreta in diesem besonderen Augenblick ihres Lebens wiederzusehen. Sonnenlicht hüllte sie ein, und ihr Gesicht strahlte von einer inneren Heiterkeit, deren Ursache ich erst sehr viel später verstand. Sie war natürlich schon auf Burg Fort gewesen, seit sie Leris Aufgaben als Weyrherrin übernommen hatte. Aber die Besuche erfolgten selten - meist zu offiziellen Anlässen -, und ich hatte noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Mir war sie immer schüchtern oder zurückhaltend erschienen, aber vielleicht hatte Vater mit seinem pompösen Geschwätz sie auch nicht zu Wort kommen lassen.

M'barak riß mich aus meinen Erinnerungen. »Kann mir jemand diese albernen Gläser abnehmen? Und ich habe ein paar Leute mitgebracht, die mit Rennern umzugehen wissen. Schnell, ich muß zurück und mich für den Sporenkampf vorbereiten! F'neldril zieht mir die Haut bei lebendigem Leib ab, wenn ich zu spät komme.«

Zwei Männer und ein schlankes dunkelhaariges Mädchen traten aus den Schatten. Alessan erkannte ich sofort. Das Mädchen an seiner Seite war vermutlich seine Schwester Oklina - die einzige Überlebende seiner Familie. Der andere Mann trug Harfnerblau. Die beiden Brüder stiegen rasch ab, während M'barak und ich vorsichtig die großen Flaschen lösten und den Wartenden hinunterreichten. Keine davon war beschädigt.

»Wenn Sie absteigen, kann ich Moreta zurückfliegen«, meinte M'barak und grinste entschuldigend, weil er so zur Eile trieb.

Also tauschte ich Platz mit Moreta. Ich hätte sie gern näher kennengelernt, denn sie machte sofort einen sehr sympathischen Eindruck auf mich. Hier wirkte sie auch längst nicht so abweisend wie auf Burg Fort. Während Arith Anlauf nahm und abhob, drehte sich die Weyrherrin noch einmal um und schaute zurück.

Ich folgte ihrem Blick. Alessan hatte eine Hand über die Augen gelegt und sah dem Drachen nach, bis er im Dazwischen verschwand. Dann wandte er sich mit einem Lächeln den beiden Brüdern und mir zu. »Ihr seid gekommen, um uns bei der Versorgung der Renner zu helfen? Hat M'barak auch deutlich gemacht, was euch hier erwartet?«

Seine Stimme klang ein wenig bitter, aber ich begriff bald, daß er sich mit der harten Realität abgefunden hatte. Von Suriana wußte ich, daß er einen ausgesprochenen Galgenhumor besaß, und das bestätigte sich nun. Was hätte meine Ziehschwester wohl zu unserer Begegnung unter diesen Umständen gesagt?

»Bestrum schickt uns, Baron Alessan«, begann der ältere der beiden Brüder. »Er bittet uns, sein aufrichtiges Beileid zu übermitteln. Ich heiße Pol - und das hier ist mein Bruder Sal. Wir mögen Renner - jawohl, das tun wir.«

Alessan wandte sich mir zu und musterte mich. Als ich seine hellgrünen Augen sah, fiel mir alles ein, was Suriana über ihn geschrieben hatte. Doch die Skizzen, die sie von ihm geschickt hatte, entsprachen nicht der Realität. Alessan war nicht mehr der unbekümmerte junge Mann, den sie gezeichnet hatte. Um seine Augen und seinen Mund lag ein Zug von Härte und eine unauslöschliche Trauer - trotz des Lächelns, mit dem er mich begrüßte. Es war eine Trauer, die verblassen, aber nie ganz vergehen würde. Der Baron war hager und vom Fieber gezeichnet; seine Schulterknochen standen eckig vor, und seine Hände hatten mehr Schwielen und Risse als die eines Ackerknechts.

»Ich bin Rill«, sagte ich, um unangenehmen Fragen zuvorzukommen. »Ich besitze Erfahrung im Umgang mit Rennern. Außerdem verstehe ich etwas vom Heilen und kann Arzneien herstellen. Ich habe einige Vorräte aus der Heiler-Halle mitgebracht.«

»Auch etwas gegen diese schlimmen Hustenanfälle?« warf das Mädchen mit glänzenden Augen ein. Auch sie machte einen sehr glücklichen Eindruck. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß das etwas mit den Arzneien zu tun hatte. Erst sehr viel später erfuhr ich, wie sie und die anderen die Zeit vor unserer Ankunft verbracht hatten.

»Gewiß«, entgegnete ich und deutete auf die Flaschen mit dem Tussilago, die ich in meinen Satteltaschen verstaut hatte.

»Bestrum möchte wissen, ob sein Sohn und seine Tochter überlebt haben«, platzte Pol heraus und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Sein Bruder vermied es, Baron Alessan anzusehen.

»Ich werde in den Listen nachsehen«, erwiderte der Harfner leise, aber wir alle hatten bemerkt, wie ein Schatten über die Züge des Burgherrn huschte. »Ich bin Tuero«, fuhr der Harfner fort und lächelte uns der Reihe nach an. »Alessan, was steht als nächstes auf der Tagesordnung?«

Mit diesen Worten lenkte Tuero unsere Gedanken geschickt auf die Zukunft, weg von der sorgenschweren Vergangenheit. Und kurz darauf konnten wir weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denken. Die Gegenwart nahm uns voll in Anspruch.

Alessan erklärte in groben Zügen, welche Arbeit uns erwartete, Zuerst galt es, die wenigen Kranken, die sich noch im Lazarett des großen Saals befanden, in den zweiten Stock der Burg umzusiedeln. Als nächstes mußte der Saal gründlich mit Rotwurzlösung geschrubbt werden. Der Burgherr sah mich kurz an, dann schweifte sein Blick zu Pol und Sal.

»Wir brauchen eine Menge Serum, um alle Renner zu impfen.« Er trat ans Fenster und deutete auf die Weiden. »Deshalb werden wir allen Tieren, die diese Seuche überlebt haben, Blut abzapfen.«

Pol nickte und erstarrte mitten in der Bewegung. Er sah seinen Bruder Sal entsetzt an. Und ich muß gestehen, daß auch ich beim Anblick der Tiere wie betäubt war. Viele waren schmal, hochbeinig, mit leichten Knochen und langen dünnen Hälsen. Sie hatten kaum Ähnlichkeit mit den robusten, muskulösen Arbeitstieren, die einst der Stolz von Ruatha gewesen waren. Manche konnte man nur als Klepper bezeichnen.

Alessan bemerkte unsere Bestürzung. »Fast alle Renner aus der Zucht meines Vaters starben an der Seuche.« Sein Tonfall war sachlich, und ich machte mir meinen Reim darauf. »Aber ich hatte einige Tiere für Kurzstrecken-Rennen gezüchtet, und sie erwiesen sich als besonders zäh. Sie überlebten die Katastrophe ebenso wie einige der Kreuzungen, die unsere Gäste zu den Rennen mitgebracht hatten.«

»Jammerschade, einfach jammerschade!« murmelte Pol und schüttelte den ergrauten Kopf. Sein Bruder imitierte die Geste.

»Oh, wir werden wieder starke, prächtige Renner haben!« entgegnete Alessan. »Kennt ihr Dag, der sich um meine Zuchtställe kümmert?« Die Mienen der Brüder hellten sich auf, und sie nickten. »Er brachte einige trächtige Stuten und einen jungen Hengst auf die Bergweiden. Sie blieben von der Seuche verschont, und so besitzen wir einen Grundstock für unsere künftigen Zuchtherden.«

»Eine gute Nachricht, Baron, eine gute Nachricht.« Sals Worte waren mehr an die Renner als an Alessan gerichtet.

»Aber…« Alessan zuckte mit den Schultern und sah die beiden Männer entschuldigend an. »Ehe wir Blut für das Serum sammeln, benötigen wir einen vollkommen keimfreien Raum, in dem wir arbeiten können.«

Pol krempelte die Ärmel hoch. »Keine Sorge, Baron, das geht in Ordnung. Mein Bruder und ich schrubben nicht zum ersten Mal Böden.«

»Wunderbar.« Alessan grinste ihn an. »Wenn wir die Sache nämlich nicht gleich richtig anpacken, läßt uns Desdra von der Heiler-Halle noch einmal von vorn anfangen. Sie kommt morgen vorbei, um das Ergebnis unserer Mühen zu begutachten.«

Als wir den Hof vor dem Burgportal erreichten, sahen wir, daß Tuero, ein Mann namens Deefer, fünf Pfleglinge und vier der genesenen Pächter eine eigenartige Konstruktion aus Wagenrädern errichteten.

»Das sind Zentrifugen, mit denen wir das kostbare Serum vom Blut trennen«, erklärte Alessan. Die Brüder nickten, als wüßten sie genau, wovon er sprach; auf Sals Zügen zeichnete sich allerdings eine gewisse Verwirrung ab.

Oklina erwartete uns in der Großen Halle. Sie befehligte eine Schar von Mägden, die Eimer mit heißem Wasser, Scheuerlappen und Schrubber schleppten. Auch Behälter mit Rotwurzlösung standen bereit. Wir rollten alle die Ärmel hoch. Mir fiel auf, daß Alessans Hände bis zu den Ellbogen rötlich verfärbt waren. Dann machten wir uns an die Arbeit.

Wir schrubbten, bis wir Leuchtkörbe brauchten, aßen zwischendurch eine Kleinigkeit, die nach Rotwurz schmeckte, und schrubbten immer noch, als die ersten Leuchtkörbe aufflackerten und ausgingen.

Alessan rüttelte mich an der Schulter. Ich merkte, daß ich mechanisch den Boden wischte. Die anderen hatten zu arbeiten aufgehört. »Du schrubbst ja im Schlaf, Rill«, meinte er mit einem schwachen Lächeln, und ich stand verlegen auf.

Ich hatte kaum noch die Kraft, Oklina zu dem kleinen Raum im ersten Stock zu folgen, den sie mir zugewiesen hatte. Ich weiß noch, daß ich ihr Gute Nacht wünschte, als ich die Tür schloß. Und ich weiß, daß ich überlegte, was ich zu Desdra sagen sollte, wenn sie morgen hier auftauchte. Ich hatte Angst, daß sie mich als Baron Tolocamps rebellische Tochter bloßstellte. Aber kaum war ich aufs Bett gesunken, da schlief ich wie eine Tote.