Kapitel 2

UND DER CHARAKTER IST DAS ZWEITE

Sie war in der Dunkelheit geboren worden und in der Dunkelheit aufgewachsen. Ihre erste Erinnerung war die an einen Schrei, ob an ihren eigenen oder den ihrer sterbenden Mutter, konnte sie unmöglich wissen. Rufe, ein nasses Aufklatschen, klebrige Wärme und üble Gerüche. Das instinktive Bedürfnis nach Milch, Mineralien, Nahrung – irgendetwas! Sie hatte dort im Dunkeln auf der Seite gelegen und getrunken, was immer sie hatte aufsaugen können, hatte Wasser, Schotter und irgendetwas halb Geronnenes geschluckt, das metallisch geschmeckt hatte.

Die Dunkelheit war zeitlos. Sie blieb dort im Schoß der Erde, bis sie die Fähigkeit entwickelte, sich zu bewegen und nach verschiedenen Stellen und Beschaffenheiten zu greifen. Sie schlang neue Flöze und halbflüssigen Schlamm herunter, und die körperliche Notwendigkeit zwang sie, selbst das zu verzehren, was unangenehm roch. Danach fühlte sie sich manchmal schlecht, und ihr Körper krampfte sich zusammen und warf wieder aus, was sie gerade gegessen hatte, aber sie verschlang das Zeug wieder und immer wieder, bis ihr Körper sich daran gewöhnte und weiter wachsen konnte.

Sie begann, etwas zu hören … nicht sich selbst … eher die Dunkelheit. Wann immer sie sich bewegte, drang ein Geräusch aus dem Schoß ringsum. Das Geräusch wiederholte und verlagerte sich und gestattete ihr so, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wo die Materie dick oder dünn war oder ganz fehlte. Bewegung und Klang, Begrenzung und Freiraum. Sie begann Unterschiede in der Dunkelheit wahrzunehmen, ohne dass sie sich erst hätte bewegen müssen. Sie fragte sich, was hinter den Lücken lag.

Sie bewegte sich frei durchs Dunkel zur größten Lücke. Plötzlich ertönte ein schreckliches Grollen, und der Schoß erbebte. Sie wich schnell zurück und kauerte sich verängstigt hin. Das Grollen setzte sich fort, wurde schließlich leiser und kam zum Erliegen. Sie beschloss, sich nicht wieder der Lücke zu nähern, aber dann hörte sie Rufe von der anderen Seite, Rufe wie in ihrer ersten Erinnerung. Vielleicht war jemand anders wie sie jenseits der Lücke.

Sie wartete. Die Rufe wurden leiser und seltener. Aus der Sorge heraus, dass sie ganz verschwinden und sie wieder allein lassen würden, wagte sie sich noch einmal näher an die Bresche heran. Diesmal ertönte kein Grollen. Sie ging hindurch und bewegte sich dann ins Leere dahinter, folgte den Rufen, jagte sie, bevor sie entkommen konnten.

»Wer da?«, keuchte eine Stimme.

Geräusche, die sie nicht verstand. Keine Bewegung und auch nicht direkt Schreie. Etwas anderes. Sie wandte sich hierhin und dorthin, versuchte, die Töne auszumachen.

»Ist da jemand? Hilf mir, bitte! Der Einsturz hat mich verschüttet! Ich kann mich kaum rühren. Bei den Hohen Herrschern, Hilfe!«

Das andere Sie schien im Festen zu stecken. Es konnte sich nicht so frei bewegen wie sie. Die Geräusche, die es hervorbrachte, waren unangenehm anzuhören, als ob es … Angst hätte. Es roch seltsam, aber nicht Furcht einflößend. Ihr lief vor Hunger das Wasser im Munde zusammen, aber sie war es nicht gewohnt, etwas zu essen, das sich bewegte. Und wenn sie es aß, würde sie wieder allein sein. Also zog sie das andere Sie stattdessen aus dem Festen.

»Aua! Pass doch auf! Danke, danke! Wer bist du? Wieso bist du so stark? Hast du Licht bei dir?«

Unverständliche Geräusche. Das andere Sie lag fast reglos da. Sie dachte an ihre erste Zeit zurück. So war sie auch einmal gewesen, hatte im Dunkeln gelegen. Sie hatte Dunkelheit gebraucht, die sie hatte essen können, die flüssige Sorte. Sie schöpfte sie aus einer Vertiefung in der Nähe und goss sie dem anderen in den Mund.

Ein Keuchen. »Danke, so ist es schon besser. Ich hatte solchen Durst!«

Eine körperliche Berührung. Sie ächzte und rückte unsicher ab.

»Oh! Das tut mir leid. Du hast den Aussatz, du arme Seele. Das wusste ich nicht. Mögen die Hohen Herrscher dich segnen. Und es macht mir wirklich nichts aus.« Eine Pause. »Ich heiße Norfred. Ich dachte, diesmal hätte es mich erwischt. Hätte es wahrscheinlich auch, wenn du nicht vorbeigekommen wärst. Weißt du, sie strengen sich nicht besonders an, die Alten wie mich zu finden.«

Das andere Sie war nicht so breit oder hart wie sie. Es war nicht dasselbe wie sie. Und es bewegte sich immer noch nicht viel. Sie stieß es an.

»He, was machst du denn da? Wenn man gerade einen Einsturz hinter sich hat, braucht man einen Augenblick, um sich zu erholen, findest du nicht? Für wen hältst du dich, für einen der Aufseher?«

Das andere hatte gezappelt und sie geschlagen. Erschrocken kauerte sie sich zusammen. Sie war es nicht gewohnt, etwas zu empfinden, was kein Hunger war. Sie wollte mehr. Sie kam zurück, stieß es erneut an und wartete auf den Schlag.

»Schon gut, schon gut! Die Ruchlosen finden keinen Frieden, was? Dann hilf mir auf.«

Das andere berührte sie an verschiedenen Stellen zugleich. Sie erstarrte, völlig überwältigt von der Empfindung. Hier! Das war Andersartigkeit! Unendliches Staunen jenseits des Schoßes! Sie wollte es ganz verschlingen, wollte ganz von ihm verschlungen werden. Es war alles, was sie wollte und je wollen konnte.

»Ist ja in Ordnung, mir geht es gut. Lass mich jetzt los! Hohe Herrscher, du bist ja schwerer als der Felssturz! Sachte, sachte! Aua!«

Das andere machte wieder die unangenehmen verängstigten Geräusche, also lockerte sie ihren Griff, ließ es aber nicht ganz los.

»Wir müssen hier lang, aber wir werden Unmengen von Stein bewegen müssen. Du kennst auch keinen anderen Weg in die Wohnhöhle, nicht wahr? Hab ich ’s mir doch gedacht. Dann fangen wir wohl besser an, solange wir noch bei Kräften sind, was? Wenn wir Glück haben, hören sie uns hier arbeiten und beginnen von der anderen Seite zu graben.«

Das andere kratzte schwach am Festen, wo es mit Stücken der Leere durchsetzt war. Sie spürte, dass das andere wieder im Festen stecken bleiben würde! Das Feste war an einigen Stellen nicht so hart, wie es sein musste. Merkte das andere das gar nicht?

Mit einem Grunzen zog sie das andere zurück und begann, das Feste selbst zu verschieben, aber nur dort, wo es hart genug war und sie nicht darin stecken bleiben würden.

»Oh! Danke! Bei den Hohen Herrschern, das ist unglaublich!«

Sie drang mühelos durch das Feste vor, da sie mit seiner Natur vertrauter war als mit irgendetwas sonst in ihrem Leben. Es war die Materie des Schoßes, der sie von Anfang an ernährt und behütet hatte. Sie hatte sie gegessen, darauf geschlafen und sich in der Dunkelheit daran geklammert, solange sie zurückdenken konnte. Und sie war so hart geworden wie das Feste selbst, war zu einem bloßen Auswuchs seiner Materie geworden, allerdings zu einem beweglichen. Wenn sie so wie jetzt hindurchglitt, fühlte sie sich fast wie eins mit ihm und malte sich aus, dass sie seine Gewaltigkeit verstehen, seine unendlich langsamen Bewegungen spüren und einen Blick auf seine seltsamen Gedanken erhaschen konnte, die allerdings allesamt keinen Sinn für sie ergaben.

Das andere folgte ihr gebückt auf dem Fuße.

»Du bewegst dich durch den Fels, als ob er Wasser oder gar Luft wäre. Du hast wirklich unglaubliche Fähigkeiten. Du musst der beste Bergmann der Welt sein!«

Geräusche des anderen, die nicht unangenehm zu hören waren. Sie waren sogar schön und riefen ein Gefühl in ihr hervor, das je empfunden zu haben sie sich nicht erinnern konnte. Es war, als wollte sie von der Andersartigkeit verschlungen werden. Es ließ sie wünschen, etwas für das andere zu tun, ja, alles für das andere zu tun.

Sie schob alles Feste beiseite, bis sie in die große Leere dahinter durchbrach. Und dann verschwand die Dunkelheit, und sie wurde blind! Sie schrie auf und stieß unangenehme Geräusche aus, um dem anderen zu zeigen, dass sie sich fürchtete. Und dann war das andere da und half ihr.

»Es ist nur das Licht der Bergleute und aus der Wohnhöhle da vorn. Hier, bedecke deine Augen, bis du dich daran gewöhnt hast. Gib mir die Hand! Hier, leg sie dir vor die Augen. Gut so.«

Verschwunden waren die Strukturen, die Tiefe und die feinen Abstufungen der Dunkelheit, allesamt weggeschwemmt von etwas, das … keine Dunkelheit war, sondern das Gegenteil von Dunkelheit.

Das andere führte sie vorwärts durch die Blindheit, genau, wie sie es gerade eben noch durch die Dunkelheit und das Feste geführt hatte. War die Blindheit also die Materie und Umgebung, mit der das andere am vertrautesten war? Hatte diese Materie das andere an seinem Anfang genährt und behütet? Hatte das andere sich von dieser dünnen Substanz, die keine Dunkelheit war, ernährt, darauf geschlafen und sich daran geklammert? Lag es daran, dass das andere weich und dünn war, wo sie hart und dick war? War Andersartigkeit also genau das, was sie nicht war? War das der Grund dafür, dass sie sich davon vervollständigt fühlte? War das der Grund, weshalb sie nichts als das andere wollte?

Geräusche drangen zu ihnen, Geräusche, die weitere andere waren. So viele! Der Lärm brandete auf sie ein, und sie versuchte, ihn mit den Händen abzuwehren, aber dann überflutete die Blindheit sie. Zitternd wandte sie sich ab.

»Zurück, zurück!«, rief das andere. »Bedrängt es nicht! Es hat mich gerettet! Ja, es geht mir gut. Es hat mich durch den Einsturz gebracht. Leise, leise! Es scheint Angst zu haben.«

»Ist es der Felsaussatz? So schlimm habe ich den noch nie gesehen.«

»Aber es bewegt sich frei. Es ist nicht erstarrt oder versteinert wie so viele. Wie kann das sein?«

»Seine Haut scheint aber hart genug zu sein.«

»Wieso ist es keine starre Statue?«

»Es ist ein Weibchen«, verkündete das andere. »Aber stumm, glaube ich.«

»Armes Ding. Wir Frauen sollten sie mitnehmen.«

»Nein, sie hat den Aussatz. Sie wird uns alle anstecken.«

Berührungen überall. Sie schlug um sich.

Unangenehme Geräusche. Schreie.

»Aua! Mein Arm! Er ist gebrochen! Miststück!«

»Lasst sie in Ruhe!« Geräusche von ihrem anderen. »Zurück! Alle! Rührt sie nicht an. Ihr macht ihr Angst.«

»Mein Arm! Mein Arm!«

»So helfe doch jemand Steiger Darus! Ich werde sie beruhigen und in meinen Tunnel bringen«, sagte das andere.

»Sie ist gefährlich. Au! Passt doch auf, ihr Trottel!«

»Wir kümmern uns schon beizeiten um sie, Steiger. Es ist jetzt erst einmal wichtiger, dass wir uns um dich kümmern. Ohne dich sind wir nichts. Schnell, bringt den Steiger zum Heiler.«

Wieder eine Berührung, aber diesmal wusste sie, dass es ihr anderes war, denn sie konnte seine besondere Beschaffenheit spüren. Sie klammerte sich eng an ihm fest und wusste, dass sie ihm damit wehtat, aber es kamen keine unangenehmen Geräusche. Das andere half ihr. Das andere vervollständigte sie. Alles würde gut werden, solange das andere bei ihr war.

Das andere führte sie durch die Leere. Sie spürte, wie sie beide eine gewaltige Leere betraten, dann eine kleinere.

»Da wären wir. Das ist meine Höhle. Klein, aber gemütlich. Setz dich hierhin. Gut so. Jetzt lass uns einmal sehen, was wir mit deinen Augen machen können. Ich wickle dir ein Stück Stoff um den Kopf, dann kannst du dich erst einmal an das bisschen Licht gewöhnen, das hindurchdringt. Alles wird gut, du wirst schon sehen.«

Und so trat sie in die Welt der Hohen Herrscher. Jeden Morgen sprach Norfred mit ihr und brachte ihr Wörter bei. Er gab ihr den Namen Freda, und sie freute sich darüber, weil es ein Geschenk von ihm war, obwohl sie sich nicht sicher war, warum sie einen Namen brauchte und wozu genau er diente, da die übrigen ohnehin andere Namen und Bezeichnungen für sie verwendeten, wenngleich sie sich nicht sicher war, was sie bedeuteten. Dann überprüfte er ihre Augen ohne das Tuch, und sie ertrug die Blindheit für eine Weile, um ihm eine Freude zu machen, obwohl sie mit geschlossenen Augen, wenn sie sich durch eine Welt aus Dunkelheit bewegte, viel mehr wahrnehmen konnte.

Nach dem morgendlichen Unterricht brachen sie mit den anderen auf, um am Festen oder am Fels, wie sie es nannten, zu arbeiten. Die anderen waren weich und nicht besonders gut darin, sich durchs Feste zu bewegen, obwohl sie Dinge hatten, die sie als Werkzeuge bezeichneten. Sie dagegen hatte keine Schwierigkeiten damit, hindurchzustoßen. Die anderen staunten darüber, wie sie arbeitete, und stießen aufgeregte Laute aus. Norfred freute sich auch, und das gefiel ihr, besonders, weil er mehr Hilfe als viele der anderen dabei zu benötigen schien, sich durch das Feste zu bewegen.

»Das liegt daran, dass ich alt bin, Freda«, sagte er, als sie ihn eines Tages danach fragte.

»Alt?«, gurgelte sie.

»Ja. Nach einer gewissen Zeit werden die Leute schwächer, Freda, bis sie so schwach sind, dass sie einfach ganz stillstehen.«

Freda kratzte sich am Kopf und schnippte Hautfetzen weg, die abgebröckelt waren, als sie sich an einem tief hängenden Felsvorsprung den Kopf gestoßen hatte. »Wenn sie ganz stillstehen, werden sie wie der Fels … oder wie Fließschlamm, ja?«

Norfred neigte den Kopf zur Seite, um darüber nachzudenken, und nickte dann. »Ja«, sagte er lächelnd, »genau wie der Fels und der Fließschlamm, die auf die Bergleute warten, damit sie die wertvollen Stücke finden, die noch in ihnen stecken.«

»Und wenn sie stillgestanden haben, wie fangen sie dann wieder neu an, Norfred?«

»Das tun sie nicht, Freda, so leid es mir tut. Man nennt das tot sein‹.«

Freda schwieg eine ganze Weile. Dann gurgelte sie unglücklich: »Ich will nicht, dass du stillstehst, Norfred!«

Er tätschelte ihr den Arm. »Mach dir keine Sorgen, Freda, das wird noch lange nicht geschehen, besonders nicht, wenn du da bist, um mich vor Einstürzen zu bewahren. Es ist ein Segen für uns, dass du immer weißt, wo der Fels zu schwach ist, als dass man sich dorthin vorwagen dürfte. Sogar Darus muss auf dich hören, wenn du sagst, wo wir arbeiten sollen und wo nicht, auch wenn ich glaube, dass es ihm nicht gefällt, dass er das tun muss, meinst du nicht auch?«

»Darus mag mich nicht, Norfred!«

»Ach, mach dir keine Sorgen, Freda – Darus mag niemanden. So ist er einfach. Es ist seine Aufgabe als Steiger, niemanden zu mögen und niemanden zu bevorzugen, denn auf die Art sorgt er dafür, dass wir alle so hart wie möglich arbeiten. Unser Aufseher hat Darus gerade deshalb zum Steiger ernannt, weil Darus der gemeinste von allen hier war, verstehst du? Aber Darus ist mittlerweile weit besser gelaunt als früher, weil du uns hilfst, so viel Sonnenmetall zu finden. Der Aufseher ist sehr zufrieden, wie ich höre, und es geht das Gerücht, dass Darus zur Belohnung vielleicht bald aufsteigt. Er wäre der jüngste von uns, dem das je gelungen ist. Es ist die wohlverdiente Belohnung für harte Arbeit, auf die wir alle hoffen, Freda.«

Fredas Nase knackte, als sie sie krauszog. »Ich mag das Sonnenmetall nicht, Norfred. Es macht mir Angst und blendet mich, und es tut weh, wenn man es berührt.«

»Das liegt nur an der Art, wie es leuchtet, Freda, das ist alles. Deine Augen sind nicht daran gewöhnt. Aber viele finden, dass es ebenso schön wie selten ist, und die Hohen Herrscher benötigen es, um ihre Waffen für den Krieg zu schmieden, den sie um unseretwillen ausfechten. Es gibt nichts Stärkeres als Sonnenmetall, verstehst du? Und es verbrennt unsere dunklen Feinde fürchterlich. Wir liefern den Hohen Herrschern das Sonnenmetall, und im Gegenzug bringen sie über Tage große Opfer, um dafür zu sorgen, dass wir hier unten in Sicherheit sind. Und sie verzichten oft auf Nahrung, um zu gewährleisten, dass wir genug zu essen haben.«

Freda nickte, obwohl sie nicht viel von dem verstand, was Norfred sagte. Er hatte schon viele Male von solchen Dingen gesprochen, und es schien ihm wichtig zu sein, dass sie alles verstand und ihm beipflichtete. Aber sie aß die Nahrung der anderen nicht, weil sie dafür sorgte, dass sie sich schwach fühlte – sie war viel zufriedener mit dem Fließschlamm, der aus dem Festen hervorquoll. Er sorgte dafür, dass ihre Knochen nie weich oder brüchig wurden, anders als die Knochen der anderen.

»Also ist das Sonnenmetall wichtig, verstehst du? Und du bist ein Segen für uns alle und ein Segen für mich in meinem hohen Alter, Freda, denn ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal etwas wie eine Frau oder ein Kind haben würde. Aber die Hohen Herrscher sind gütig gewesen, denn ich habe lange genug gelebt, um den Tag noch zu erleben.«

Freda war sehr vertraut mit der Vorstellung von Kindern, denn es liefen immer einige von ihnen herum und spielten in der Hauptwohnhöhle, und die größeren arbeiteten regelmäßig an der Seite der Erwachsenen. Es schien zwei Arten von Erwachsenen zu geben: Männer und Frauen. Sie pflegten in Paaren zusammenzuleben, zur Gesellschaft und um sich um ein oder zwei Kinder zu kümmern. Freda war sich allerdings nicht sicher, ob sie sich darauf verstanden hätte, sich um ein Kind zu kümmern.

»Was ist mit deiner Frau und deinem Kind von früher geschehen?«, fragte sie neugierig.

Durch den dünnen Stoff über ihren Augen sah sie, wie Norfred das Gesicht auf eine Art verzog, die Freda damit in Verbindung brachte, dass er unglücklich war.

»Der Felsaussatz hat mir meine geliebte Tasha genommen, aber unserem Sohn Jan ist die große Ehre zuteilgeworden, für die Armee der Hohen Herrscher auserkoren zu werden. Weißt du, er ist ein hübscher, strammer Bursche, und Jungen wie er werden oft von den Aufsehern ausgewählt. In der Wohnhöhle wurde ein großes Fest gefeiert, denn die ganze Ebene des Bergwerks ist stolz darauf, wenn einer der Ihren berufen wird.«

Aber Norfreds Stimme klang eher traurig als stolz.

»Bist du traurig, dass du ihn nicht mehr siehst und berührst?«

Norfred lächelte. »Natürlich, Freda. Ich vermisse ihn ganz fürchterlich, obwohl er schon vor vielen Jahren abgeholt worden ist. Ich fürchte, dass die Kämpfe schlimm sind, ich frage mich, wo er ist, und ich vermute, dass er mittlerweile selbst Frau und Kind hat. Ein Enkelkind, verstehst du? Und vielleicht sieht dieses Enkelkind wie meine liebe Tasha aus. Nun hör dir an, wie ich ins Schwatzen gerate! Das ist nichts als versponnenes Gerede, über das man besser gar nicht länger nachdenkt.«

»Vielleicht können wir aufbrechen und ihn suchen, wenn dich das glücklich macht, Norfred.«

»Was sagst du da, Freda? Dort oben herrscht ein schrecklicher Krieg. Es wäre viel zu gefährlich. Und jeder Bergmann muss so lange und hart arbeiten, wie er nur kann, um Sonnenmetall zu finden. Wenn alle einfach losziehen würden, um ihre Kinder zu suchen, dann gäbe es kein Sonnenmetall mehr, keine Waffen und keine Armee. Dann wäre alles verloren, Freda! Die Hohen Herrscher sind von uns abhängig. Wenn ich mich davonmachen würde, müssten alle anderen Bergleute härter arbeiten, aber sie arbeiten doch schon so hart, wie sie können, also würden einige von ihnen daran zerbrechen, und das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wirklich nicht. Außerdem bewachen die Aufseher und die Bergleute auf den höheren Ebenen den Weg und würden uns nicht hinauflassen.«

Freda wunderte sich darüber und sagte dann versuchsweise: »Wir können einen eigenen Weg nach oben nehmen. Ich kann uns durch den Fels bringen, wie ich es bei dem Einsturz getan habe. Wir können sofort aufbrechen.«

Norfred wirkte jetzt angespannt, als ob er verstimmt wäre. Mit leiser Stimme sagte er: »Ich … Das hier ist mein Zuhause, Freda. Ich bin hier geboren wie mein Vater vor mir.«

»Hast du Angst, Norfred?«, fragte sie verwirrt. Sie hatte gedacht, seinen Sohn zu sehen wäre ihm wichtiger als alles andere. Und sie wollte ihn doch nur glücklich machen.

»Freda, ich …« Er zögerte für eine ganze Weile. »Ich war noch nie oberhalb dieser Ebene oder gar ganz oben. Was du da vorschlägst, ist …« Er brach ab. »Ich bin auf dieser niedrigsten Ebene, weil hier mein Platz ist. Wenn ich lange und hart gearbeitet habe, werde ich aufsteigen. Sogar das steht nicht fest, weil ich schwach bin. Aber wir wissen nicht, was da oben ist.«

»Du bist schwach wegen der armseligen Nahrung, die du isst, und dein Sohn ist da oben.«

»Warte, Freda, warte. Wir sind glücklich hier. Du bist doch glücklich hier, nicht wahr?«

»Ja, Norfred. Ich bin glücklich, wenn ich bei dir bin. Du wärst aber bei deinem Sohn glücklicher, nicht wahr?«

»Es reicht, Freda! Ich will nicht mehr darüber reden. Ich denke später darüber nach, aber jetzt habe ich keine Zeit. Du hast die Glocke doch gehört – wir müssen los und mit dem Trupp arbeiten. Wir wollen doch nicht zu spät kommen.«

»Ja, Norfred«, sagte sie unglücklich. »Sei bitte nicht böse auf Freda.«

Er seufzte und tätschelte ihr noch einmal den Arm. »Es tut mir leid, Freda. Ich überlege es mir. Ich verspreche dir, darüber nachzudenken. Komm schon, stellen wir fest, ob wir genug Sonnenmetall finden können, um sogar Darus zum Lächeln zu bringen. Das wäre doch ein Anblick, nicht wahr?«

»Ja, Norfred«, sagte sie schon etwas fröhlicher.

»Es ist nicht genug!«, blaffte Darus Norfred an.

Norfred runzelte die Stirn. »Aber es ist mehr Sonnenmetall, als wir je zuvor gesammelt haben. In einer einzigen Schicht haben wir mehr gefunden als im ganzen letzten Jahr!«

»Nur weil wir endlich eine ertragreiche Ader gefunden haben, können wir uns doch nicht auf die faule Haut legen und unsere Zeit mit Feiern vergeuden! Im Gegenteil! Wir sollten uns angespornt fühlen, sogar noch härter zu arbeiten, da unsere Mühen nun endlich Früchte zu tragen beginnen. Wir haben den Hohen Herrschern schon für zu lange Zeit viel zu wenig geliefert. Wir müssen das Sonnenmetall so schnell wie möglich zu ihnen bringen, damit es uns alle retten und vielleicht gar das Kriegsglück zugunsten der Hohen Herrscher wenden kann. Also hör auf mit deinem selbstsüchtigen, schändlichen Jammern, Norfred, und bring dieses Vieh zurück zur Arbeitsstelle!«

Norfred stellte sich zwischen Freda und den Steiger. »Sie ist erschöpft! Du hast sie zwei Schichten durcharbeiten lassen. Wenn du sie noch weiter schindest, wird sie bestimmt krank. Und wie stehen wir dann da? Setz nicht alles, was wir erreicht haben, kurzsichtig aufs Spiel!«

»Vergisst du, wer hier der Steiger ist, Alter?«, fragte Darus hämisch. »Wirst du auf deine alten Tage wirr im Kopf? Vergisst du, wer wem Anweisungen erteilt?«

»Sch…schon gut, ich kann noch ein bisschen arbeiten«, stöhnte Freda.

Norfred beachtete sie gar nicht und richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf. Freda wusste, dass sein Rücken es ihm später nicht danken würde. »Darus«, sagte Norfred heiser, »ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich schon vergessen hätte, wie ich dich als Säugling auf den Knien geschaukelt habe. Ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich vergessen hätte, dass ich dir das Fell gerben musste, weil du als kleiner Junge Äpfel aus dem Lagerraum gestohlen hattest. Ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich vergessen hätte, wie du mich um Rat gebeten hast, als man dich vor nicht allzu langer Zeit zum Steiger ernannt hat. Und ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich nicht erkenne, wenn die Urteilskraft eines Mannes von seinem selbstsüchtigen Wunsch, aufzusteigen, getrübt wird!«

»Wie kannst du es wagen!«, fuhr Darus ihn so laut an, dass seine Stimme auf der ganzen Bergwerksebene widerhallte. Mit vor Zorn wildem Blick stürzte er sich auf den alten Mann und versetzte ihm mit dem Handrücken einen brutalen Schlag ins Gesicht.

Norfred brach auf dem Boden zusammen. Darus schrie auf, als er bemerkte, dass er sich den Arm, der erst vor Kurzem geheilt war, wieder gebrochen hatte.

Mit einem Brüllen, das lauter als jeder Felssturz war, stürmte Freda auf den verhassten Steiger zu. Darus hatte zwei seiner kräftigsten Männer mitgebracht, und sie traten nun vor, um sich ihr entgegenzustellen. Einer schmetterte ihr die gewaltige Faust ans Kinn, aber sie spürte es kaum, während der Schläger aufschrie, als er sich mehrere Fingerknöchel brach. Sie rammte mit der Stirn seine Nase und verwandelte sein Gesicht augenblicklich in blutigen Brei. Dann schwang sie den rechten Arm und traf den anderen Bergmann damit an der Brust. Er flog nach hinten gegen die Stollenwand, sodass sein Kopf mit einem Übelkeit erregenden Knacken gegen den Fels prallte. Er glitt zu Boden, wo sich eine Blutlache um ihn auszubreiten begann.

Nun drang Freda auf Darus ein, um ihn zu Staub zu zermalmen. Der Steiger wimmerte vor Furcht, und sie roch Urin.

Ein schwaches Husten ertönte, und Norfred rief nach ihr. »Nicht, Freda! Ich brauche deine Hilfe. Lass ihn in Ruhe! Freda, komm her, heb mich hoch und bring mich in Sicherheit. Freda, ich brauche dich.«

Sie zögerte, die felsbrockengleichen Fäuste über Darus’ Kopf erhoben. Dann ließ sie die Hände langsam sinken und wandte sich dem anderen zu, der sie vervollständigte, den sie nur glücklich machen und beschützen wollte. Aber sie hatte nicht genug getan, um ihn zu beschützen, und nun war er verletzt. Sie hatte plötzlich große Angst, dass er ganz stillstehen würde. Sie stolperte hastig zu ihm und hob ihn so sanft hoch, wie ihre unbeholfenen Hände es gestatteten. Er war so leicht und zerbrechlich. Sie erkannte, dass er schwächer wurde, und spürte etwas wie einen kleinen Einsturz in seinem Kopf, aber diesmal wusste sie nicht, wie sie ihn retten sollte.

»Es tut Freda leid, Norfred!«, stöhnte sie.

Er fuhr ihr mit zitternden Fingern über die Wange und flüsterte: »Sei nicht traurig, Freda. Ich habe ein langes Leben gehabt, länger als die meisten. Und ich habe größeres Glück als jeder andere, der je gelebt hat, da ich dich gekannt habe.« Er hustete schwach, und seine wässrigen Augen umwölkten sich vor Schmerz. »Versprichst du mir etwas?«

Sie beugte den Kopf tiefer über seine Lippen. »Alles, Norfred.«

»Versprich mir, zur obersten Ebene des Bergwerks und darüber hinaus zu gehen. Du hast es verdient, von Darus und seiner Grausamkeit befreit zu sein. Ich wünschte, ich hätte früher auf dich gehört, aber jetzt ist es zu spät, liebe Freda. Wenn du … wenn du Jan siehst, sag ihm, dass ich … dass ich ihn vermisse und lieb habe.«

»Steh nicht still, Norfred, bitte, bitte!«

Das Leben in ihm flackerte wie ein Bergmannslicht. »Ich habe keine Schmerzen, Freda. Bring mich zu den Frauen. Sie werden wissen, wie mit meinem Leichnam zu verfahren ist. Sei frei und glücklich, liebe Freda.«

Und dann war alles Dunkelheit. Wo sie einst Trost, Nahrung und Struktur im Dunkeln gefunden hatte, war es nun leer. Es war ein klaffender Abgrund, in dem die Stille ewig und ohrenbetäubend war.

»Dafür wirst du bezahlen, Missgeburt!«, drohte Darus dem Monster leise, als er beobachtete, wie es sich durch den Tunnel zurückzog und dabei den alten Sack Knochen wiegte.

Die Frauen waren immer freundlich zu Freda gewesen, obwohl sie den mitleidigen Ausdruck nicht verstand, der stets in ihren Augen lag, wenn sie mit ihr sprachen. Jetzt allerdings war sie dankbar dafür.

»Leg ihn hierhin, du armes Ding«, sagte Muhme Widders sanft. »Gut so. Wir kümmern uns um ihn und sorgen dafür, dass er hergerichtet wird, wie es sich gebührt. Er wird zu den Geistern derjenigen gehen, die vor ihm gestorben sind, meine Liebe. Er wird in den bodenlosen Abgrund geworfen werden, der einer der ewigen Orte ist.«

Fredas scharfe Ohren nahmen Rufe in der Ferne wahr, aber niemand sonst schien sie bisher gehört zu haben.

»Er hat ewig Bestand, verstehst du? Es gibt dort keinen Tod und kein Unglück. Er wird von den Hohen Herrschern willkommen geheißen werden, die ihm vorausgegangen sind, und behandelt werden, als ob er ihresgleichen wäre. Sie werden sein Leben feiern und ihn zu einem der Niederen Herrscher dieser Welt ernennen. Und er wird auf dich warten, Freda, und du wirst ihn eines Tages wiedersehen.«

»Werde ich?«, fragte sie staunend und mit einem Mal hoffnungsvoll und lächelte so breit, dass Hautschuppen sich prasselnd von ihren Wangen lösten. »Wenn ich mich in den bodenlosen Abgrund stürze, kann ich ihn vielleicht sofort wiedersehen!«

Muhme Widders machte ein entsetztes Gesicht. »Nein, Freda, das wäre falsch. Die Hohen Herrscher heißen uns nicht in der ewigen Welt willkommen, wenn wir nicht erst all unsere Arbeit für sie in dieser Welt getan haben. Erfülle deine Pflicht ihnen gegenüber, dann werden sie dich einst willkommen heißen. Sie werden dich zu sich rufen, wenn es an der Zeit ist. Es war an der Zeit für Norfred, aber es ist noch nicht an der Zeit für dich. Norfred wird auf dich warten und über dich wachen. Verstehst du?«

Sie nickte schwerfällig. Die Rufe kamen näher. Der Zorn war ihnen deutlich anzuhören.

»Was ist denn das jetzt für ein Aufruhr?«, fragte Muhme Widders gereizt. »Geben diese Männer denn nie Ruhe? Wir müssen um Norfred trauern, ihm die letzte Ehre erweisen und beten. Übersteigt es denn ihre Fähigkeiten, einmal friedlich zu sein?« Die Vorsteherin seufzte, berührte Freda am Arm und bat: »Freda, sei jetzt tapfer und sag mir, wie Norfred gestorben ist.«

Freda trat von einem Fuß auf den anderen und schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht an den schrecklichen Moment zurückdenken. Sie würde ihren lieben Norfred eines Tages wiedersehen, und das genügte ihr. Sie hätten sie jetzt in Ruhe lassen sollen. Warum konnten sie sie nicht einfach in Ruhe lassen?

»Komm schon, meine Liebe. Bis auf den bodenlosen Abgrund gibt es keinen Ort, der tief oder dunkel genug wäre, sich vor den Hohen Herrschern zu verstecken. Ich muss wissen, ob du irgendetwas Schlimmes getan hast, Freda. Sag es mir jetzt schnell.«

»Es war meine Schuld!«, stieß sie erstickt hervor. »Ich wollte nicht mehr arbeiten, und deshalb haben Norfred und Darus sich gestritten. Ich weiß, dass ich tun soll, was der Steiger sagt. Aber er hat meinem Norfred wehgetan, also habe ich ihm auch wehgetan. Es tut mir leid! Ich wollte es nicht!«

»Psst«, machte die Vorsteherin und tätschelte Freda. Ihr Gesicht wurde streng. »Darus hat Norfred also wehgetan?«

Freda nickte bekümmert.

Stimmen ertönten ringsum, als eine große Gruppe Bergarbeiter mit brennenden Fackeln um die Kurve des Tunnels stürmte, der in die Kammer der Frauen führte. Das Licht blendete Fredas Augen, und sie war gezwungen, sich abzuwenden.

»Die Missgeburt hat den alten Mann umgebracht und auch noch den guten Sol getötet! Sie muss dafür bezahlen!«

»Der Felsaussatz hat sie zum tollwütigen Tier gemacht. Sie muss getötet werden, bevor sie uns andere ins Verderben reißen kann!«

»Oder bevor sie uns anstecken kann!«

Muhme Widders straffte die Schultern, hob das Kinn und stellte sich der Meute in den Weg. Sie starrte die Männer an, und sie gerieten vor ihr ins Stocken.

»Wie könnt ihr es wagen!«, schrie sie die Bergleute an und wies mit einem Finger anklagend auf Darus. »Du! Warum hast du Norfreds Leichnam nicht hergebracht, damit wir uns um ihn kümmern? Du warst wohl zu beschäftigt damit, deine Bande aufzuhetzen, was?«

»Es muss Gerechtigkeit geübt werden«, antwortete der Steiger selbstzufrieden. »Und wir sollten uns rasch um diese Gerechtigkeit kümmern, sonst erweisen wir dem Andenken an Norfred einen Bärendienst. Stimmt’s, Männer?«

»Jaaa!«, brüllte die wütende Meute hinter ihm einstimmig.

»Es steht das Wort eines Menschen gegen das eines anderen«, sagte Muhme Widders kopfschüttelnd. »Steiger oder nicht, Mann oder Frau, wenn es zum Prozess kommt, hat das Wort eines Bergarbeiters so viel Gewicht wie das jedes anderen.«

Aber Darus hatte sich seine Stellung durch Gerissenheit erkämpft und hatte nicht vor, seiner Meute von dieser Frau den Schneid abkaufen zu lassen. »Das Wort eines Menschen, sagt sie! Das Wort einer Frau! Aber ich frage euch eines, Männer: Ist diese Missgeburt das Kind irgendeines Mannes oder einer Frau? Ihr habt doch gesehen, wie das Ungeheuer durch Wände geht! Das ist nicht natürlich! Ist es natürlich? Antwortet mir! Ist es natürlich?«

»Neeeiiin!«

»Tritt beiseite, Weib, sonst schaffe ich dich aus dem Weg!«, rief Darus über das Getöse hinweg und trat zielstrebig vor.

Freda geriet in Panik, als sie ihn diesen Schritt tun sah. Genauso war er vorgetreten, als er Norfred niedergeschlagen hatte. Sie konnte nicht zulassen, dass er das Gleiche Muhme Widders antat – würde es nicht zulassen!

Freda stieß ein Wutgeheul aus und stürzte sich auf die Menge. Wie sehr sie die anderen jetzt hasste!

»Freda, nein!«, schrie Muhme Widders, aber sie war schon längst von Bergleuten beiseitegestoßen worden, die darauf erpicht waren, über die Kreatur herzufallen, die sie für eine Mörderin hielten.

Freda prallte mit ihnen zusammen und stieß sofort zwei vierschrötige Männer zu Boden. Sie hämmerte mit den Fäusten auf Oberkörper ein, brach Genicke und zerschmetterte Rippen. Die Spitze einer Hacke ging auf ihren Hinterkopf nieder, und sie stolperte und wurde für einen Moment langsamer. Eine flammende Fackel wurde ihr ins Gesicht gerammt, und sie war geblendet. Hiebe prasselten von allen Seiten auf sie ein, und sie gewann das Gleichgewicht nicht zurück. Sie wurde auf ein Knie gezwungen und musste sich den Kopf mit den Armen beschirmen, um für einen Augenblick eine Atempause zu finden.

Sie war in Versuchung, aufzugeben und einzugestehen, dass es ihre Faulheit war, die Norfred das Leben gekostet hatte. Vielleicht hatte sie es verdient, bestraft zu werden. Vielleicht würde dann alles aufhören, all die Angst und Trauer, all der Schmerz und die hässlichen Worte. Vielleicht würde sie dann selbst stillstehen und zu Stein und Fließschlamm werden. Vielleicht würde sie in den bodenlosen Abgrund geworfen werden und endlich ihren geliebten Norfred wiedersehen.

»Hört auf! Schande über euch! Ihr seid selbst nichts anderes als Mörder! Seht euch doch an! Der Aufseher wird davon erfahren!«, rief irgendjemand. War es Muhme Widders?

Aber Freda hatte Norfred versprochen, dass sie zur obersten Ebene des Bergwerks gehen und seinen Sohn suchen würde. Und Muhme Widders hatte gesagt, dass Norfred über sie wachte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn noch einmal zu enttäuschen.

Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass etwas davon absplitterte, schoss wieder auf die Füße und schlug die nächststehenden Bergleute nieder. Einem weiteren Bergmann schmetterte sie die Hände von beiden Seiten an den Kopf und zermalmte ihm den Schädel. Blut spritzte in die Luft und besprenkelte Freda so reichlich, dass die rote Flüssigkeit ihr durch die Furchen ihres Gesichts in den Mund strömte. Es schmeckte gut und machte sie nur noch hungriger.

»Setzt eure Fackeln ein!«, schrie Darus. »Stürzt euch alle zugleich auf sie! Jetzt!«

Freda fegte alle beiseite und trampelte mit Wucht diejenigen nieder, die das Pech gehabt hatten, das Gleichgewicht zu verlieren.

Gebrüll und Schreie hallten dröhnend im Bergwerk wider, als wäre eine riesige Bestie entfesselt worden oder als würde alles zusammenbrechen. Leute begannen davonzulaufen, und Freda setzte ihnen nach.

Sie tappte Stollen entlang, durch die Wohnhöhle und dann zu der steilen Rampe nach oben, die sonst allein Darus und dem Sonnenmetall vorbehalten war. Die Lunge brannte ihr mittlerweile schmerzhaft, aber sie wurde nicht langsamer. Sie stürmte vorwärts und kümmerte sich nicht darum, dass Fetzen ihrer dicken Haut von Felsvorsprüngen weggerissen wurden.

»Was im Namen der Hohen Herrscher ist da unten los?«, rief eine tiefe Stimme von weiter oben. »Antworte mir.«

Freda knurrte und stürmte durch die Öffnung. Ein riesenhafter, bärtiger Mann zuckte vor ihr zurück und hob seinen mit funkelndem Sonnenmetall besetzten Speer in abwehrbereiter Haltung.

»Was denn, haben die Niederen Herrscher dieses Schreckenswesen aus ihrer Mitte vertrieben? Was hast du mit Steiger Darus angestellt, Dämon?«

Dann stürzte er sich kraftvoll mit der Waffe auf sie und rammte ihr den Speer durch die Schulter. Ihre Haut bot keinen Schutz gegen das schreckliche, brennende Metall, und sie schrie vor Schmerz und Angst. Die Bewegung der Sonnenmetallklinge hinterließ eine Energiespur in der Luft, die ihr Gesichtsfeld brennend durchschnitt. Dickes, schwarzes Blut quoll aus ihrer Wunde hervor und zischte, als es auf den Speer traf. Beißender Rauch stieg um sie auf, und es fiel ihr schwer zu atmen.

Der Aufseher riss seine Waffe zurück und setzte dazu an, sie erneut in Freda hineinzustoßen, aber sie wich zur Seite aus und ließ sich in den Felsen fallen, um Zuflucht zu finden. Sie bewegte sich so schnell sie konnte durch das Feste und drängte nach oben.

Bald begann sie, langsamer zu werden, weil Erschöpfung, Blutverlust und Entsetzen sie übermannten, aber sie hörte nicht auf zu klettern. Immer höher. In ihrem Kopf drehte sich alles, aber sie wagte es nicht haltzumachen, weil sie befürchtete, sonst das Gefühl dafür zu verlieren, wo oben und wo unten war. Ihr stand die Gefahr vor Augen, die Orientierung zu verlieren und wieder auf der tiefsten Ebene des Bergwerks zu landen oder vielleicht gar in den bodenlosen Abgrund und eine Hölle ewiger Strafen zu stürzen.

Der Fels begann sich zu verändern und weicher zu werden, und ihr wurde bewusst, dass sie sich dem oberen Ende des Bergwerks und dem, was jenseits davon lag, nähern musste. In dem weichen Erdboden, der an die Stelle des Gesteins trat, gab es sonderbare, sich windende Wesen, aber sie wirkten harmlos. Diese winzigen Dinger waren doch sicher nicht die Hohen Herrscher, oder? Was aber waren sie dann? Sie gruben sich ein, buddelten Tunnel und huschten umher, ignorierten sie aber überwiegend und waren nicht bereit, auch nur eine einzige der Fragen zu beantworten, die Freda ihnen stellte.

Hier gab es mehr Wasser, und die Erde verklebte ihr Ohren, Nase und Augen. Das gefiel ihr nicht, und sie musste an sich halten, um nicht in Panik um sich zu schlagen. Sie stieß sich kräftig mit den Beinen ab und schob sich weiter nach oben, wo es wieder trockener war. Wenigstens hatte die feuchte Erde ihrer lästigen Wunde ein wenig gutgetan. Jetzt bestand das Feste fast aus genauso viel Luft wie Erde.

Und dann brach sie in die größte und hellste Höhle durch, die sie jemals gesehen hatte. Sie erhaschte einen Blick auf eine große, strahlende Scheibe Sonnenmetall irgendwo weit entfernt und hoch oben, war aber ansonsten geblendet, sogar, wenn sie die Augen so fest sie nur konnte zusammenkniff. Als sie das Feste verließ, kam sie sich vor, als ob sie nach oben fiele. Sie verstand nichts von dem, was sie hörte oder roch, und ihre Haut fühlte sich an, als ob sie sich ständig unabhängig von ihr bewegte, weil sie nie überall dieselbe Temperatur hatte.

Sie hatte die fürchterliche Wohnstatt der Hohen Herrscher betreten, einen höllischen Ort, an dem ein unablässiger Krieg tobte. Also gab es eine Hölle unten und eine Hölle oben.

Sie war in Versuchung, ins Fegefeuer des Gesteins zwischen den beiden Höllen zurückzukehren, aber Muhme Widders hatte gesagt, dass die unermüdlichen Bergleute der Hohen Herrscher sie dort früher oder später aufspüren würden. Sie hatte Norfred versprochen, diese obere Hölle zu ertragen, um seinen Sohn zu suchen, also würde sie sie ertragen. Jetzt wusste sie, dass Furcht, Trauer, Schmerz und hässliche Worte nie ein Ende nahmen und für ihresgleichen einfach der Natur des Lebens entsprachen. Warum sonst hätten ihr auch solche Körperkraft und solch ein dickes Fell zugestanden werden sollen?

Heftig keuchend schleppte Jillan sein schweres Bündel durch die dunklen Wälder in der Umgebung von Gottesgabe. Während sein Atem zu Anfang Wölkchen in der kalten Luft gebildet hatte, konnte er ihn jetzt kaum noch sehen – ihm wurde klar, dass er bereits Körperwärme verlor. Reg dich nicht auf, sagte er sich und kämpfte sich dennoch eilig weiter voran.

Er behielt die Stadtmauern stets in Sichtweite, schlug einen Bogen um den Ort nach Norden und fand die Straße. Er hielt sich zwischen den Bäumen parallel zur Straße nach Erlöserparadies, bis Gottesgabe längst außer Sicht war, und wanderte dann auf dem Pflaster aus breiten Steinplatten weiter.

Denk nicht nach. Achte gar nicht auf die seltsamen Geräusche in den Wäldern. Mal dir keine Schrecknisse aus. Geh weiter. Mach dir keine Sorgen darüber, dass du noch nie vorher so weit von zu Hause weg warst. Aber mit diesem letzten Gedanken stahlen sich schleichend andere in seinen Kopf. Natürlich ist es gar nicht mehr dein Zuhause, nicht wahr? Du kannst nie dorthin zurückkehren, wenn du deine Eltern nicht in noch größere Gefahr bringen willst. Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach ohne dich besser dran Es sei denn, sie wurden bereits von den Helden in die Bestrafungskammer der Stadt geschleppt, weil sie vom Prediger und von den Ältesten angeklagt worden waren, ihn irgendwo versteckt zu halten. Sollte er umkehren und sich auf Gnade und Ungnade der Stadt anvertrauen, um seine Eltern vor weiterem Leid zu bewahren?

Seine Schritte wurden langsamer. Nicht nachdenken! Geh weiter! Er hob den Kopf und drehte ihn, um die Straße hinter sich entlangzusehen. Einen Moment lang war ihm schwindlig, und ihm wurde bewusst, dass er vor Kälte, Müdigkeit und vielleicht auch Entsetzen unsicher auf den Beinen war. Du denkst nicht klar. Such dir einen Lagerplatz für die Nacht, das ist besser für dich.

Aber er musste einen sicheren Abstand zwischen sich und die Stadt bringen, bevor er sich eine Atempause gönnen konnte. Er ging wieder schnelleren Schrittes in Richtung Erlöserparadies. Wie weit musste er laufen, bis er in Sicherheit war? So weit wie möglich, um so sicher wie möglich zu sein. Aber für ihn gab es eigentlich keine Sicherheit mehr, nicht wahr? Je weiter er sich von der Stadt entfernte, desto wilder würden die Wälder werden und desto größer die Bedrohung, die die Heiden und die anderen Geschöpfe des Chaos darstellten, besonders in einer mondlosen Nacht wie dieser. Der finstere, heimtückische Feind hatte wahrscheinlich längst seine Witterung aufgenommen und war auf der Jagd nach ihm.

Er begann zu laufen, so schnell sein schweres Gepäck es ihm gestattete. Die Bäume wichen beiderseits der Straße einer offenen Feldflur. Hier arbeiteten seine Mutter und viele andere Erwachsene tagsüber. Auf dem Feld zur Rechten wuchsen lange Reihen von Kohlköpfen, während das Feld zur Linken brach lag. Jillan mochte Kohl nicht besonders, also ließ er ihn stehen – außerdem hätten die Leute es am nächsten Tag vielleicht bemerkt, wenn ein paar Köpfe gefehlt hätten, und zwei und zwei zusammengezählt.

Er malte sich aus, wie seine Mutter sich auf dem Feld abrackerte, und war in Versuchung, unter den Bäumen jenseits der Felder sein Nachtlager aufzuschlagen, nur um am nächsten Morgen einen Blick auf sie zu erhaschen. Aber der vernünftige Teil seines Verstandes schüttelte an seiner Stelle den Kopf und sagte ihm, dass er schon wieder verrückt wurde. Die Helden würden den ganzen Tag um das Feld herum Wache halten. Er würde in Gefahr geraten, erwischt zu werden, wenn er sich zu nahe heranwagte, und er würde ganz sicher keine Gelegenheit bekommen, mit seiner Mutter zu sprechen.

Weiter. Die Straße führte zwischen den Feldern hindurch, und die Bäume begannen auf beiden Seiten wieder näher heranzurücken. Es wuchs jetzt auch Moos zwischen den Steinplatten. Eindeutig war die Straße von hier an weniger begangen. Und Jillan konnte nichts sehen. Seine Haut prickelte, als die Wälder um ihn herum in den Windböen zu ächzen begannen. Er entfernte sich merklich aus dem wohlgeordneten Umland von Gottesgabe und gelangte in die Wildnis, wo das Chaos lauerte. Es war, als würde er eine ganz andere Umgebung betreten und aus dem Licht und der Zivilisation des Reichs in die dunkle, ungezähmte Welt der spukenden Geister und der uralten heidnischen Magie übergehen. Er hatte den Eindruck, dass kalte Bosheit in der Luft lag und dass er beobachtet wurde. Er musste hart an sich halten, um nicht Hals über Kopf loszurennen – aber er wusste, dass er nicht mehr als fünfzig Schritt weit kommen würde, bevor er vor Erschöpfung zusammenbrach und für die Schreckgespenster, die es auf ihn abgesehen hatten, leichte Beute wurde.

Er lief tiefer in die Dunkelheit hinein, und sein angestrengtes Atmen tönte ihm in den Ohren. Er würde es nicht hören, wenn irgendetwas sich an ihn heranschlich. Weiter! Er musste bis zum Morgen weiterlaufen, dann konnte er sich tagsüber ausruhen. Wenn er nur nachts reiste, würde die Straße für ihn recht sicher sein, und es würde ihm wohl gelingen, die ganze Strecke bis Erlöserparadies zu bewältigen – sofern das Chaos ihn nicht vorher fand.

Aber es fiel ihm schwer, auf den Beinen zu bleiben. Er war immer noch ganz ausgelaugt von dem Zusammenstoß mit Haal. Sein Bündel drückte ihm die Schultern immer weiter nach unten, als wäre es die Last seiner Schuld. Seine Schritte wurden unsicher, und er musste die müden Augen ständig zusammenkneifen, um den Weg vor sich ausmachen zu können.

Plötzlich brach der Schrecken über ihn hinein. Zu seiner Linken ertönte im Wald ein Schrei, der eindeutig nicht menschlich war. Er wusste, dass ihm keine Zeit blieb, seinen Bogen zu spannen und einen Pfeil anzulegen. Er wich sofort nach rechts von der Straße ab und lief auf die einzige Lücke zwischen den Bäumen vor ihm zu, die breit genug wirkte, um hindurchzugelangen … nur, um gegen die Steinmauer eines alten, verfallenen Turms zu prallen. Er wurde zurückgeworfen und landete auch aufgrund des Gewichts seines Bündels unwürdig auf Hinterteil und Rücken.

Keuchend lag er da und starrte blinzelnd das Gebäude an. Wer hat das da hingestellt?, dachte er dümmlich. Dann keuchte er, als ihm aufging, dass seine Verfolger mit jeder Sekunde, die er hier den Dorftrottel spielte, aufholen würden. Hoch mit dir! Aber er hörte nichts in den Wäldern, weder das Knurren und Schnüffeln eines Raubtiers, das seine Spur verfolgte, noch das Rascheln trockener Blätter, die sich in einem Luftzug bewegten, während jemand sich an ihn heranschlich. Alles war still.

Er stieß die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte, und kämpfte sich auf die Beine. Du bist ein Dummkopf, Jillan, dass du jedes Mal in Panik gerätst, wenn du irgendein Waldgeschöpf hörst. Er lehnte sich einen Moment lang gegen die Mauer und ging dann zum Eingang herum. Efeu und andere Pflanzen hatten längst die Tür herausgerissen und sogar begonnen, dem verlassenen Gebäude Steine abzuringen. Die Mauern waren an manchen Stellen sehr eingefallen, aber Jillan war zu erschöpft, um sich Gedanken über die Gefahr zu machen. Er steckte den Kopf durch die Türöffnung und roch Feuchtigkeit, Verwesung und etwas noch Schlimmeres. Er vermutete, dass irgendein Tier hier drinnen gestorben war, und er konnte den Himmel durch den Turm hindurch sehen, also bot das Gebäude nicht viel Schutz.

Er trat wieder aus dem kleinen Bauwerk hervor und betrachtete es müde. Wozu diente es? Es schien älter als Gottesgabe zu sein, wer also hatte es gebaut und zu welchem Zweck? Bewachte es irgendetwas? Mit einem Schulterzucken wandte er sich ab und bemerkte hinter der Baumreihe vor ihm einen lichteren Teil des Waldes. Neugierig ging er auf das Grau zu und trat auf ein weites Feld hinaus, hinter dem etwas lag, das nach zerstörten Hütten und Häuschen aussah.

Er konnte immer noch nicht gut sehen, aber das Feld schien über und über mit toten Ästen und Zweigen bedeckt zu sein. Hatte hier jemand sämtliche Bäume gefällt, die Stämme weggeschleppt und alle kleineren Holzteile zurückgelassen? Das ergab keinen Sinn. Was war das für ein Ort, und wie kam es, dass er noch nicht davon gehört hatte, wenn er doch näher an Gottesgabe lag als sogar Erlöserparadies?

Er sah sich den Boden genauer an, um nach trittsicheren Stellen Ausschau zu halten, aber das schwache Licht reichte nicht aus, um viel zu erkennen. Er schlich vorwärts, wobei das Holz seltsam unter seinem Gewicht nachgab und knirschte. Er nahm die gleiche Art von abstoßendem Geruch wahr, die ihm schon im Turm aufgefallen war, wenn auch nicht ganz so stark.

Als er sich weiter aufs Feld hinaustastete, begann der Boden unter ihm zu zittern und zu … knacken? Dann gab er unter ihm nach, und er stürzte etwa sechs Fuß weit durch die Äste, bis er auf dem Boden landete. Jillan hustete und stöhnte, bevor er schwach versuchte, sich zu bewegen. Er schien unverletzt zu sein, also nahm er sich einen Moment Zeit, Atem zu schöpfen. Er schaute zu dem kleinen Stück grauen Himmels dort oben auf, wo er in die trügerische Oberfläche eingebrochen war, und seufzte. Von dort, wo er lag, wirkte es weit entfernt, und er war sich nicht sicher, ob die Zweige sein Gewicht tragen würden, wenn er hinauszuklettern versuchte. Wenn er in diesem mitternächtlichen Loch um sich zu schlagen begann, war es durchaus wahrscheinlich, dass er alles zum Einsturz bringen und sich selbst für immer begraben würde. Es war, wie er sich einredete, wahrscheinlich das Beste, bis Tagesanbruch zu warten.

Wenigstens war die Stelle, an der er lag, trocken und windgeschützt und hatte sogar den Vorteil, dass große Raubtiere nicht in der Lage sein würden, über die Äste zu ihm zu gelangen, wenn sie nicht selbst in der Falle landen wollten. Das Schicksal hatte anscheinend beschlossen, dass er heute Nacht doch noch an einem sicheren Ort schlafen würde. Gelobt seien die Erlöser, dachte er, als ihm die Augen zufielen, und begriff dann, dass dieser Gedanke wahrscheinlich nicht mehr sonderlich angemessen war. Er beschloss, sich darüber am nächsten Tag Sorgen zu machen, und war binnen Sekunden eingeschlafen.

Jillan träumte von Blut und Elend. Er stand Schulter an Schulter mit Leuten, bei denen es sich anscheinend um Feldarbeiter handelte, und warf einem Trupp Soldaten in einiger Entfernung Beleidigungen an den Kopf. Er erkannte, dass es sich bei den Soldaten um Helden handelte, und sie wirkten in der Tat grimmig und wild entschlossen. Ihre braunen Lederrüstungen wiesen Spuren kürzlich bestandener Kämpfe auf, und ihre Schwerter und Speerspitzen waren schartig. Im Gegensatz dazu schwangen die Leute, die neben Jillan standen, Mistgabeln und Hacken und trugen nur feste, grobe Kleidung.

»Mach dir keine Sorgen, Junge«, sagte der pickelige junge Mann neben Jillan mit einem seltsamen Akzent und zwinkerte ihm zu. »Wir sind ganz schön in der Überzahl, also werden sie uns schon nicht von unserem Land vertreiben.«

Der Atem des Mannes roch stark nach Bier, und Jillan konnte nicht anders, als die Nase zu rümpfen und das Gesicht abzuwenden.

»Ja«, sagte ein hochgewachsener Mann mit zottigem schwarzem Bart, der auf der anderen Seite neben ihm stand. »Und jetzt, da unser Schamane aus den Bergen zurück ist, werden die Angreifer sich bald ins Hemd machen und hilflos sein, du wirst schon sehen. Psst, da ist der Dorfvorsteher, der mit ihnen sprechen will. Zeitverschwendung, schätze ich. Die Eroberer lassen keine Argumente gelten, wenn sie ihnen nicht dazu dienen, sich zu nehmen, was sie wollen, und töten alle, die auch nur versuchen, sich ihnen zu widersetzen. Mit ihnen kann man genauso wenig verhandeln, wie alle den Winter überleben können.« Er spuckte aus. »Harte Verhandlungen, harter Winter, das wissen doch alle.« Er umklammerte seinen Stab fester.

»Ich habe gehört, dass sie die Leute in Malmsby am Leben gelassen haben, aber sie lassen sie den Ort jetzt zu einer Art Festung ausbauen«, sagte der junge Mann.

Der Schwarzbart schnaubte verächtlich. »Ja, sie lassen einen so lange am Leben, wie sie Arbeit zu erledigen haben. Aber sie nehmen einem die Freiheit, durchs Land zu streifen, und das ist in meinen Augen so schlimm, wie einem das Leben zu nehmen.«

Der junge Mann wirkte nicht unbedingt, als ob er dem zustimmte, war aber zu klug, etwas Entsprechendes zu sagen. Stattdessen fragte er: »Kannst du hören, was sie reden?«

»Das könnte ich wohl, wenn ihr ungeduldigen Jungen einmal länger als für einen Augenblick den Mund halten würdet!«

Ein hünenhafter, weißhaariger Ältester in goldverzierter Lederrüstung, den Jillan für den Dorfvorsteher hielt, war aus den Reihen der Dorfbewohner herausgetreten, um auf die Heldenschar zuzugehen. Er war breitschultrig und hatte ein vorspringendes Kinn. Trotz seines vorgerückten Alters war sein Körper noch nicht fett oder gebrechlich geworden – er war eindeutig immer noch ein kraftvoller Mann. An seiner Seite schritt ein kleiner Mann in Tierfellen geschmeidig einher, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und sprach so, als ob er mit sich selbst redete. Jillans Nackenhaare stellten sich auf und verrieten ihm, dass Magie in der Luft lag und dies der Dorfschamane war.

Aus den Reihen der Helden trat eine unnatürlich riesenhafte Gestalt hervor. Jillan konnte sogar aus dieser Entfernung die Augen des Mannes sehen, denn sie waren eine Mischung aus Rot und Purpur und schienen wie durch ein inneres Licht zu leuchten. Jillan schnappte nach Luft. War dies ein gesegneter Heiliger des Reichs oder gar ein Erlöser? Die hohen Wangenknochen des Mannes, seine adlergleichen Züge und seine sanfte Stirn wirkten jedenfalls edel genug und passten zu einigen der Beschreibungen, die er im heiligen Buch der Erlöser gelesen hatte.

Jillan wurden die Beine schwach, und er war nahe daran, vor Ehrfurcht auf die Knie zu fallen, als der junge Mann ihn unter der Achsel packte. »Schon gut, mein Junge«, flüsterte er. »Ist ja keine Schande, blass zu werden und vor Furcht zu zittern, wenn man sich dem Feind gegenübersieht. Es ist ganz natürlich, und daraus erwachsen dann bald Zorn und Empörung. Deine Brüder sind bei dir und werden dich stützen.«

Jillan nickte und schluckte. »D…danke.«

»Für euch gibt es hier bis auf Schlamm und ein kümmerliches Dasein nichts zu holen«, sagte der Dorfvorsteher grollend zum Abgesandten des Reichs.

Zur Antwort ertönte die Stimme des Abgesandten voll Inbrunst und machtvoller Rechtschaffenheit und drang mühelos zu jedem auf dem Feld: »Komm schon, Sklave, das sind nichts als Bausteine wahrer Größe. Willst du das Volk etwa mit deinem selbstsüchtigen Begehren, das Land zu besitzen, aufhalten, obwohl das Land doch niemandem gehört?«

Der Schamane lachte leise und wippte mit dem Kopf wie ein Vogel. »Hübsche Worte, hübscher Herr. Auch wir bestehen aus Schlamm, denn kehren wir nicht alle in den Schlamm zurück, wenn das Land bereit ist, uns wieder aufzunehmen? Warum, hübscher Herr, versuchst du also, uns Befehle zu erteilen und Besitz von uns zu ergreifen, während du uns das Gleiche vorwirfst? Wir können genauso wenig vor dir auf die Knie fallen wie das Land selbst.«

Von dort, wo die Helden standen, begann ein rötlicher Nebel über das Feld zu treiben. Er schien allerdings keine Wirkung auf die Helden zu haben, denn es wurde kein Alarm geschlagen. Der Gesandte trug unterdessen ein gelangweiltes Gähnen zur Schau. »Es ist doch stets dasselbe mit euch Heiden – immer diese verworrenen Rätsel, die sich im Kreis drehen.« Dann lächelte er hämisch und stieß hervor: »Und auch immer dieselbe selbstgerechte und selbstsüchtige Hinterlist! Ihr behauptet, für das Land zu sprechen, und blendet das Volk damit. So wird es versklavt und gefangen gehalten. Niemand sollte so gefangen gehalten werden. Niemand!«

Der Nebel erreichte den Abgesandten, den Dorfvorsteher und den Schamanen. Ihre Hände und Gesichter wurden davon befleckt, aber abgesehen davon fügte er ihnen keinen Schaden zu.

»Ich werde diese Leute befreien«, fuhr der Abgesandte mit vor Bosheit triefender Stimme und hell aufblitzenden Augen fort, »ob es euch nun gefällt oder nicht, und ganz gleich, wer mich davon abzuhalten versucht! Ich werde sie im Namen der Erlöser erlösen, sie aus dem Schlamm erheben und sie vor der niederen Natur und dem Chaos ihrer derzeitigen Existenz beschützen! Ergebt ihr euch?«

Der Nebel waberte auf die Dorfbewohner zu und würde sie bald einhüllen.

Der Dorfvorsteher seufzte und schüttelte den Kopf. »Wir werden uns eurer Sekte niemals ergeben. Das wäre die Vernichtung all dessen, was uns lieb und teuer ist, all dessen, was uns zu dem macht, was wir sind. Ich bitte dich …«

»Dann sieh, wie du deinem Volk Leid zufügst!«, schrie der Abgesandte. »Sieh!«

Der Schamane zischte, als ihm die Bedrohung plötzlich bewusst wurde. Er wirbelte herum und rief Worte der Macht, aber der Nebel hatte die Dorfbewohner schon erreicht. Sie begannen zu husten und zu ersticken, da es ihnen unmöglich war, ihre Lungen freizubekommen. Jillan stellte fest, dass er nicht atmen konnte, und griff sich an die Kehle. Dann hielt er sich den Ärmel vor Nase und Mund, um zu versuchen, den Nebel zu filtern, und das half ein wenig, aber es war zu spät, denn der Nebel war bereits in ihm und hatte zu brennen begonnen. Sein Magen krampfte sich zusammen, und er fiel auf die Knie. Der junge Mann neben ihm krümmte sich mit hervorquellenden Augen auf dem Boden; die Zunge hing ihm geschwollen aus dem Mund. Er trat ein letztes Mal um sich und rührte sich dann nicht mehr. Der Schwarzbart weinte herzzerreißend, während ihm Blut aus Mund, Nase und Ohren und sogar aus den Augenwinkeln strömte. Vor Jillans Augen verfärbten die Gliedmaßen des Mannes sich bläulich und wurden dann schwarz. Der Dorfbewohner stieß ein Krächzen aus und starb.

Verzweifelt blickte Jillan zu dem Schamanen hinüber, nur um mit anzusehen, wie der Abgesandte ihm mit einem langen, leuchtenden Messer, das er irgendwo am Körper verborgen getragen hatte, die Kehle durchschnitt. Der Abgesandte lachte schadenfroh und rammte dann dem Dorfvorsteher das Messer in den Bauch. Aber die Rüstung des Mannes ließ die glänzende Waffe abgleiten und verschaffte ihm Gelegenheit, den Kopf des Abgesandten von beiden Seiten zu packen und zuzudrücken. Der weißhaarige Häuptling rammte dem Abgesandten die Daumen in die Augen, und der Vertreter des Reichs schrie schauerlich auf.

Dann stimmten die Helden ihren ewigen Schlachtruf an – Für die Erlöser! – und gingen zum Angriff über. Jetzt bestand keine Hoffnung mehr für die Dorfbewohner. Jillan weinte Blut, während er zusah, wie der Abgesandte blind auf den Dorfvorsteher einstach. Zweimal glitt die Spitze der Klinge von den gepanzerten Schultern des Dorfvorstehers ab, aber beim dritten Stoß fand die Waffe einen Weg zwischen dem Rand der Rüstung und dem Hals des Mannes hindurch. Der Abgesandte stieß ein Triumphgeheul aus und drückte mit aller Kraft nach unten.

Der Dorfvorsteher zuckte zusammen und krümmte sich vor Schmerz, lockerte seinen Griff aber nicht. Er grinste wild und brüllte: »Möge das Geas mich aufnehmen!«

Jetzt ließ der Abgesandte das Messer los und zwang die Hände zwischen den Armen des Dorfvorstehers hindurch. Statt zu versuchen, den tödlichen Griff des Ältesten zu lösen, legte er ihm die Arme um den Hals und zerdrückte ihm mit übermenschlicher und sicher erlösergesegneter Kraft die Luftröhre.

Jillan verlor die beiden miteinander ringenden Giganten aus dem Blick, als die Helden mit erhobenen Waffen an ihnen vorbeistürmten, um die wenigen Dorfbewohner niederzumetzeln, die noch auf den Beinen waren oder zuckend im Schlamm lagen. Jillan hatte nicht die Kraft, um sein Leben zu betteln.

Er fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch, eine todesgleiche Kälte in der Lunge. Sein Brustkorb hob und senkte sich schmerzhaft, während er beinahe panisch nach Luft schnappte. Es war nur ein Traum, nur ein Traum! Du bist am Leben, du bist am Leben! Über ihm drehte sich der Dämmerungshimmel, und Jillan hielt den Blick starr darauf gerichtet, bis er seine Atmung wieder beherrschen konnte.

Er blinzelte und spürte, wie sich eisiger Raureif von seinen Wimpern löste. Sein ganzer Körper war taub, und er erkannte, dass er Glück gehabt hatte, überhaupt aufzuwachen. Es war dumm gewesen einzuschlafen, ohne auch nur die Decke aus seinem Bündel zu holen. Er musste sich so bald wie möglich in Bewegung setzen und wieder aufwärmen.

Als seine Augen sich an das schwache Licht in seinem Loch aus Zweigen und Ästen gewöhnt hatten, stockte ihm abermals der Atem. Schon bevor seine Augen es ihm ganz bestätigten, verrieten ihm sein Instinkt und der eindringliche Nachhall seines Traums, dass er nicht inmitten verrottender Holzhaufen lag. Die glatten Rundungen dieser in regelmäßigem Abstand von einem Hauptstamm ausgehenden Zweige konnten nur … Rippen sein. Und das da drüben war ein Unterschenkelknochen.

Er lag inmitten von Toten, und sie lagen sechs Mann hoch! Entsetzt wich er von der Seite des Lochs zurück, der er am nächsten war, nur um gegen einen schwankenden Haufen hinter sich zu stoßen. In der Annahme, dass etwas nach ihm gegriffen hätte, um ihn an der Schulter zu berühren, ließ er rasch den Kopf herumfahren, zuckte zurück und stieß einen Schreckensschrei aus, als er sich von Angesicht zu Angesicht mit den leeren Augenhöhlen eines Totenschädels wiederfand. Ein vorspringender Unterkiefer löste sich und polterte die Knochenwand herab, um zwischen Jillans gespreizten Beinen zu landen. Der Dorfvorsteher!

Jillan wich ruckartig zurück, aber seine steifen Gliedmaßen gehorchten ihm nicht, und so landete er auf der Nase im aufspritzenden Schlamm. Er legte das Gesicht eines kleineren Schädels, die Schultern des Skeletts und seine obersten Rippen frei. Einiges deutete darauf hin, dass der Tote einmal in Tierfelle gehüllt gewesen war. Der Schamane!

In dem verzweifelten Bemühen, diesem Ort zu entfliehen, kämpfte sich Jillan auf die Beine. Etwas funkelte neben dem Schädel des Dorfvorstehers, obwohl Jillan sich nicht vorstellen konnte, wie es einem Strahl der aufgehenden Sonne gelungen sein mochte, einen Weg hinab in dieses erlöserverlassene Grab zu finden. Es glitzerte erneut, und er hielt inne. Wider besseres Wissen schlich er vorwärts, als würde er sich einer Art Altar aus Knochen nähern, und erspähte die goldverzierte Rüstung des Dorfvorstehers in der Wand.

Er zog vorsichtig daran, bereit zurückzuspringen, falls er in Gefahr war, von den Toten begraben zu werden. Zu seinem Erstaunen löste sich die Rüstung, ohne irgendetwas ringsum zu verschieben. Sie wirkte, als sei sie gerade erst hierhergestellt worden, und ihre seltsamen Verzierungen blendeten ihn und betörten seine Augen.

Er konnte nicht widerstehen, den Panzer anzuprobieren, hob ihn sich über den Kopf und ließ ihn auf seine Schultern sinken. Es war ganz unmöglich, dass die Rüstung des hünenhaften Häuptlings aus seinen Träumen seinem knabenhaften Körper passen sollte, aber sie passte tatsächlich. Sie war auch nicht zu schwer, noch nicht einmal, als er sich das Bündel auf den Rücken schwang. Wenn überhaupt, dann verteilte die Rüstung die Last und verschaffte ihm mehr Bewegungsfreiheit, als er bisher gehabt hatte.

Erfreut über sein Glück und seltsam gestärkt kroch Jillan aus dem dunklen Loch hervor ins warme Licht der Morgensonne. Leichtfüßig rannte er zur Straße, erpicht darauf, das Feld mit den heidnischen Toten weit hinter sich zu lassen. Sie waren zu nahe daran gewesen, ihm alles Leben auszusaugen, ihn für immer unten im wurmdurchsetzten Schlamm und in der Verwesung zu halten und ihn zu einem von ihnen zu machen, aber es war ihm gelungen, ihren kalten Klauen zu entkommen, und er würde das nächste Mal besser aufpassen, wenn das Chaos kam und ihm die Seele zu rauben versuchte.

Die einzige kleine Sorge, die ihn umtrieb, war die, wie erzürnt die heidnischen Geister wohl darüber sein würden, dass er die Rüstung mitgenommen hatte.