Kapitel 1

MAGIE IST DAS ERSTE ÜBEL

Am Anfang hatten die gesegneten Erlöser das Volk vor den Heiden und Barbaren gerettet und im Anschluss daran befestigte Städte erbaut, in denen sie ihre neugewonnenen Anhänger sicher verwahren konnten.

Jede Stadt verfügte über eine stehende Streitmacht von Helden auf ihren Mauern, um sie vor allen plötzlichen Angriffen äußerer Plünderer zu schützen und die Leute im Inneren aufzuhalten, die vom rechten Weg abwichen oder in Verwirrung gerieten. Denn es kam durchaus vor, dass ein heidnischer Magier, der sich irgendwo in den Wäldern versteckt hielt, versuchte, durch düstere Zauber Einfluss auf den Verstand des Volkes zu nehmen. Jillans Schulkameraden erzählten sich flüsternd die Geschichte, dass einst ein Zauberkundiger das Volk von Neu-Heiligtum dazu gebracht hätte, sich gegen seine eigenen Helden zu erheben, und dass nur der plötzliche und unerwartete Besuch eines der Heiligen des Reichs die Stadt davor bewahrt hätte, vollständig verloren zu gehen – gelobt seien die Erlöser für die Voraussicht, mit der sie den Heiligen geboten hatten, von Gemeinde zu Gemeinde zu reisen, um sich beständig des Volkes anzunehmen!

Es ging das Gerücht, dass die Heiden und Barbaren brutale Wilde, oftmals auch Gestaltwandler und auf jeden Fall Elemente des Chaos waren. In alten Zeiten hatten die Erlöser aus dem Chaos ein geordnetes, sicheres Leben für das Volk geschaffen. Das war natürlich schon so lange her, dass heute jeder davon wusste, auch wenn er nicht am Leben gewesen war, als es sich begeben hatte. Das Reich der Erlöser war uralt und war es schon immer gewesen – sogar noch älter als Samuel, der doch der älteste Mensch in ganz Gottesgabe war, älter als Jillans Großvater, Urgroßvater oder Ururgroßvater (wer auch immer das gewesen sein mochte) und sogar älter als dessen Vorväter.

Prediger Praxis sagte, dass das Reich der Erlöser immer so bleiben würde, wie es seit jeher gewesen war – dass das Reich ewig sei. Das einzige geordnete Leben, das es auf der Welt gab, war das Reich, und alles andere war das Chaos. Zu Anbeginn der Zeit hatten sich, wie der Prediger seinen Schülern erzählte, die Kräfte des Guten und der Ordnung zum Reich vereint, um das Chaos und seine finsteren heidnischen Götter davon abzuhalten, uneingeschränkt zu herrschen und am Ende die Welt zu zerstören. Das Chaos lästerte unablässig das Reich und versuchte, es in den Untergang zu reißen, da es eifersüchtig war, weil die Erlöser das Volk seinem Griff entwunden hatten. Deshalb benötigte jede Gemeinde ihre Mauern und Helden, und das gesamte Volk musste wachsam bleiben und seine Gedanken und seinen Verstand vor jeder unheiligen Regung oder Versuchung bewahren.

Jillan hatte die ganzen dreizehn Jahre seines Lebens innerhalb der Mauern von Gottesgabe verbracht. Morgens wurde er in die Schule in der Stadtmitte gleich neben dem großen, weitläufigen Versammlungsplatz geschickt. Seine Mutter und sein Vater verbrachten den Tag so wie die meisten anderen Erwachsenen außerhalb der Mauern, seine Mutter mit der Feldarbeit, sein Vater gemeinsam mit den wenigen anderen, die sich darauf verstanden, auf der Jagd in den Wäldern. Die Erwachsenen wurden immer von einem Trupp Helden eskortiert und beschützt, obwohl die Heiden selten angriffen, wenn die Sonne am Himmel stand. Ohnehin war es zu Jillans Lebzeiten noch zu keinem Angriff gekommen. Prediger Praxis sagte, dass die Heiden gelernt hätten, die Helden zu fürchten, und lieber eine finstere, heimtückische Vorgehensweise wählten, statt sich der Gefahr eines direkten Zusammenstoßes auszusetzen. Prediger Praxis sah immer Jillan an, wenn er die Wörter finster und heimtückisch gebrauchte, aber Jillan wusste nie so recht, warum. Er fühlte sich unbehaglich dabei und wurde rot. Jedes Mal war er schuldbewusst und verängstigt, und Prediger Praxis lächelte, nickte wissend und rief seinen Schülern ins Gedächtnis, wie wichtig es war, ihre Gedanken vor allen heimlichen und selbstsüchtigen Begierden zu bewahren, die ihnen von den Heiden und vom Chaos eingegeben wurden.

Jillan fürchtete sich vor Prediger Praxis und ging nicht gern zur Schule, wo er tagtäglich dem bösen Blick des hochgewachsenen Mannes ausgesetzt war. Der Junge wusste, dass er dankbar dafür hätte sein sollen, von den Erlösern zu hören, weil sie so viel geopfert und getan hatten, um das Volk aus dem verderblichen Griff des Chaos zu befreien, aber Jillans Mutter musste ihn jeden Morgen mehrfach rufen, um ihn überhaupt aus dem Bett zu bekommen. Manchmal ertappte er sich bei dem Wunsch, dass die Sonne nie mehr aufgehen, die Nacht für immer andauern und sein Schlaf niemals enden würde. Dann wurde ihm klar, dass solch ein Wunsch sündhaft war – dass er finster und heimtückisch war, denn die Nacht gehörte den Heiden, und wenn man sich eine Nacht wünschte, die für immer dauerte, dann träumte man in Wirklichkeit vom endgültigen Sieg des Chaos. Natürlich wollte er, dass die Sonne wieder aufging! Wie hätte er sich etwas anderes wünschen können? Wenn die Sonne nicht aufging, würde er nie wieder aufwachen, um seine Schulfreunde und Eltern zu sehen, und er liebte seine Eltern abgöttisch, mehr als alles andere, obwohl er wusste, dass er die Erlöser stärker hätte lieben sollen.

Jillan hatte manchmal Angst vor seinen eigenen Gedanken und Gefühlen. Sie konnten sündhaft sein und drohten, ihn in Schwierigkeiten zu bringen und dafür zu sorgen, dass das Chaos irgendwann völlig von ihm Besitz ergriff. Und die Art, wie Prediger Praxis ihn im Unterricht ansah, deutete darauf hin, dass der Prediger es wusste. Er musste wissen, dass Jillan von solchen Gedanken heimgesucht wurde. Er sah es Jillan an, wann immer sein Gesicht rot anlief, und vielleicht spürte er sogar einige seiner Gedanken, denn denen, die stark im Glauben waren, hatten die Erlöser die Gabe verliehen zu sehen, wo und wann das Chaos am Werk war. Deshalb hörten all die anderen Stadtältesten respektvoll auf den Prediger, wenn eine wichtige Entscheidung zu treffen war und wann immer jemand aus dem Volk sich mit irgendeiner Beschwerde an den Rat wandte.

»Muss ich denn unbedingt hin? Mir ist ein bisschen übel«, beklagte sich Jillan, als er mit seinen Eltern beim Frühstück saß. Dann hellte sich seine Miene auf: »Vielleicht kann ich heute zu Hause bleiben, und du könntest bei mir bleiben, Mutter!« Jillan brachte seinen flehentlichsten Blick zum Einsatz, den, der seine Mutter gewöhnlich überzeugen konnte, ihm sein Geburtstagsgeschenk im Voraus zu geben oder ihm eine zweite Portion einer ihrer köstlichen Nachspeisen zu reichen.

Aber heute war sein Vater zu schnell für ihn. »Es überrascht mich gar nicht, dass dir übel ist, wo du doch die ganze Nacht hier drinnen eingepfercht verbracht hast. Was du brauchst, ist frische Luft, mein Junge, und davon kannst du auf dem Schulweg reichlich bekommen. Du fühlst dich sicher schon wieder belebt und munter, wenn du erst bei deinen Freunden bist.«

Jillan weigerte sich, etwas an seinem Gesichtsausdruck zu ändern, und hielt den Blick weiter auf seine Mutter gerichtet. Ihre Miene wurde besorgt.

»Vielleicht ist er wirklich krank, Jed.«

Jed schnaubte und stellte seinen Becher mit leichtem Bier krachend auf dem Tisch ab. »Meine süße, vertrauensselige Maria, hast du etwa nicht gesehen, wie er sein Honigbrot heruntergeschlungen hat? Ein Junge mit so viel Appetit kann doch wohl nicht sonderlich krank sein, nicht wahr? Und ganz gleich, was es ist, ansteckend ist es jedenfalls nicht, weil es dir und mir gut geht, also macht es keinen Unterschied, ob er den Tag nun krank zu Hause oder in der Schule verbringt. Da ist es doch besser, wenn er in der Schule Rechnen und Schreiben lernt, damit er nicht wie wir auf den Feldern oder im Wald endet, wenn er erst erwachsen ist.«

Jillan fluchte stumm – er hätte daran denken sollen, dem Honigbrot zu widerstehen, aber Honig mochte er nun einmal am liebsten. Er wusste, dass er es anders würde versuchen müssen. »Aber ich will nicht mit Zahlen und Buchstaben arbeiten, Vater. Ich will Jäger werden wie du! Ich übe doch schon die ganze Zeit mit meinem Bogen und kann aus vierzig Schritt Entfernung einen Baum treffen!«

Jed, ein Bär von einem Mann, nickte beifällig und versetzte Jillan einen schweren Schlag auf die Schulter, der ihn geradezu zusammenfaltete. »Ja, mein Sohn, du hast gute Augen, aber du hast noch nicht die Kraft, die Art Bogen zu spannen, die einen wilden Keiler in vollem Lauf erlegen kann …«

Jillan beäugte Jeds Bogen, der in der Ecke neben der Tür lehnte. Die Waffe war so lang, wie er groß war, und als er sich in der vorigen Woche heimlich daran versucht hatte, war er nicht in der Lage gewesen, ihn mehr als einen halben Zoll weit zu spannen.

»… und du kannst noch keine Tierfährten lesen oder dich auf den Waldwegen zurechtfinden. Sieh mal, es dauert nur noch sechs Monate, bis der Heilige hierher entsandt wird, um alle zu den Erlösern zu ziehen, die volljährig werden. Dann wirst du ein Mann sein, und ich bringe dir bei zu jagen, aber es wird mehrere Jahre dauern, bis du so weit bist, dass du einen richtigen Langbogen führen kannst. Bis dahin musst du wohl oder übel irgendeine Arbeit verrichten, um deinen Teil zu unserer Gemeinschaft beizutragen … und die Frau zu versorgen, die du dir vielleicht erwählst.«

Jillan wurde rot und fand die Holzmaserung des Tisches plötzlich höchst interessant.

»Also lern ordentlich Lesen und Schreiben, dann bietet dir Jacob, der Händler, vielleicht irgendwann an, für ihn zu arbeiten. Er hat keinen Sohn, und sein Rücken ist mittlerweile so krumm, dass er seinen Karren nicht mehr allein beladen kann. Du hast doch immer gesagt, dass du gern andere Orte kennenlernen möchtest, statt hier draußen am wilden äußersten Rand des Reichs festzusitzen. Nun, der Händler kann dir die Gelegenheit bieten, auf Reisen zu gehen, denn wie du ja weißt, fährt er jeden Monat nach Erlöserparadies und baut dort am Markttag einen Stand für Gottesgabe auf.«

»Und Jacobs Tochter, Hella, ist ein vernünftiges Mädchen.« Maria lächelte. »Wie ich höre, hat sie ein Auge auf dich geworfen, das ein Herz auf vierzig Schritt trifft.«

Jillan errötete sogar noch heftiger als zuvor. »Ich gehe jetzt zur Schule!«, verkündete er hitzig und stand auf.

Jed erbarmte sich seiner. »Nun ärgere ihn doch nicht so, Maria. Es ist schon gut, Jillan, ein jegliches zu seiner Zeit. Und es ist deine Entscheidung – anders als andere Eltern werden wir nichts in die Wege leiten und nicht auf etwas beharren. In Ordnung?«

Jillan nickte. »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät. Ich muss meine Schiefertafel und meine Kreide für die Schule holen. Darf ich schon gehen?«

Jed zögerte und rang einen Moment lang mit sich. »Ja, wenn du mir sagst, warum du versucht hast, dich vor der Schule zu drücken.«

Jillan riss erschrocken die Augen auf.

»Jed, er ist doch ohnehin schon ganz verstört«, sagte Maria mahnend. »Es kann warten.«

Jed hielt den Blick weiter auf seinen Sohn gerichtet und senkte die Stimme zu einem Knurren. »Macht der Sohn des Ältesten Corin dir schon wieder Scherereien?«

»Nein, nein!«, wehrte Jillan ab. »Er ist bloß ein Einfaltspinsel. Ich habe keine Angst vor ihm.«

»Was ist es dann? Du weißt doch, dass du uns alles sagen kannst. Wir sind deine Eltern, und wir lieben dich.«

Jillan trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu seiner Mutter, aber sie beobachtete ihn nur mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugier. Am Ende konnte er sich nicht mehr zurückhalten und platzte heraus: »Der Prediger hasst mich! Er hat es ständig auf mich abgesehen, obwohl ich doch eigentlich nichts falsch gemacht habe. Aber sagt bitte, bitte nichts darüber, denn das würde alles nur noch schlimmer machen. Es sind ja nur noch sechs Monate. Ich schaffe das schon!«

Ein fürchterlicher Zorn trat in die Augen seines Vaters, ein Zorn, den Jillan noch nie zuvor gesehen hatte und der ihm mehr Angst machte als Prediger Praxis. »Ich wusste ja, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass diese Schlange es gut sein lässt!«

»Jillan!«, sagte Maria in scharfem Ton und verlangte so seine Aufmerksamkeit. »Hol deine Sachen und geh in die Schule. Sofort! Ich muss mit deinem Vater reden. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.« Mit lodernden Augen wandte sie sich seinem Vater zu.

Jillan floh aus dem Zimmer. Sein Herz pochte heftig, und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er schnappte sich Schiefertafel und Kreide und nahm dann einen seiner besonderen Steine aus der Nische in der Mauer seiner Schlafkammer. Er hatte schon begonnen, seltsam gefärbte und sonderbar geformte Steine zu sammeln, als er noch klein genug gewesen war zu glauben, dass sie eine besondere Bedeutung und magische Eigenschaften hätten, aber mittlerweile wusste er, dass sein Vater ihm nur dann Steine mitbrachte, wenn es den Jägern nicht gelungen war, genug Kaninchen für die Kochtöpfe aller Familien zu fangen. Dennoch schob er sich heute den glatten roten Kiesel, den er mit Tapferkeit in Verbindung brachte, in die Tasche.

Jillan lief zurück durch die kleine Küche und die Essecke des Häuschens, wobei er es kaum wagte, einen verstohlenen Blick auf seine Eltern zu werfen, und dann hinaus ins Licht. Die Stimme seiner Mutter drang ihm in die Ohren.

»… und wenn du uns wirklich liebst, dann lässt du es dabei bewenden. Als wir hergekommen sind, hast du mir versprochen, keinen Ärger mehr zu machen, damit wir unseren Sohn in einem gewissen Maß von Frieden und Sicherheit großziehen können. Du hast es mir versprochen, Jedadiah, und ich fordere von dir, dass du dieses Versprechen auch hältst!«

Sein Vater grummelte zur Antwort etwas, aber Jillan konnte es nicht verstehen.

»Nein!«, meldete sich mit schriller Stimme erneut seine Mutter zu Wort. »Das ist in Neu-Heiligtum gestorben, zusammen mit vielen guten Menschen. Wenn du wieder damit anfängst, dann – die Erlöser seien meine Zeugen! – kannst du es ohne Jillan und mich tun. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du diese Familie in Gefahr bringst.«

Jillan blinzelte und versuchte, seine Schlüsse aus dem zu ziehen, was er gerade belauscht hatte. Was meinte seine Mutter mit als wir hergekommen sind? Hatten seine Eltern irgendwann vor seiner Geburt in einem anderen Teil von Gottesgabe gelebt? Und wie kam es, dass sie Leute aus Neu-Heiligtum gekannt hatten, einem Ort, der so für Schande und Blasphemie stand, dass man seinen Namen allenfalls flüsterte?

Soweit Jillan wusste, war das einzige Zuhause, das er je gehabt hatte, ihre kleine Hütte, die eng an die Stadtmauer von Gottesgabe gebaut war. Die Familien, die sich als erste in der Stadt niedergelassen hatten, bewohnten natürlich die größeren Häuser, die auch über Vorgärten und Hinterhöfe verfügten, in der Nähe des Versammlungsplatzes lagen und gewöhnlich einen Sitz im Rat hatten. Als aber die Bevölkerung gewachsen war, hatten für die neueren Familien nur eilig gebaute, beengte Behausungen zur Verfügung gestanden. Jillan und seine Eltern lebten direkt an der Südmauer, hinter der die Abfallgruben und der Friedhof lagen. Jenseits davon begann die eigentliche Wildnis.

Die Menschen mieden die Südmauer. Sogar das Südtor wurde lediglich von einem einzigen Helden bewacht, weil es ausschließlich für die seltenen Begräbnisse genutzt wurde. Gemeinhin lebten nur die allerneuesten Familien im ungeordneten Gassengewirr der Südstadt, aber während die meisten Familien von dort fortzogen, sobald sie konnten, waren Jillan und seine Eltern sogar dann noch in ihrem Zuhause geblieben, als die Häuser ringsum verlassen worden und verfallen waren. Infolgedessen hatte Jillan seine Eltern nie für Neuankömmlinge gehalten, sondern immer geglaubt, dass sie nun einmal lebten, wo sie lebten, weil sie Zurückgezogenheit schätzten. Die Einmischung anderer Leute mit all ihren Regeln und ihrer Geringschätzung brachte einem schließlich nichts als Ärger ein. Und Jillan machte der Geruch der Unratgruben, über den so viele Menschen die Nase rümpften, wirklich nichts aus – er war damit groß geworden und fand die feuchte Erdigkeit irgendwie tröstlich.

Blinzelnd wurde ihm bewusst, dass er das Labyrinth, in dem er lebte, schon fast verlassen hatte und in der Nähe der belebteren Stadtviertel war. Er ging langsamer, weil er den Moment seines Eintreffens an der Schule so lange wie möglich hinauszögern wollte. Er beobachtete, wie ein Vogel hoch am Himmel flog, und ertappte sich dabei, ihm am Boden zu folgen. Der Vogel führte ihn zurück zur Mauer, und Jillan stieg die lange Treppe hinauf und ging hinüber zu dem Helden, der einsam am Südtor Wache hielt.

Der alte Held Samnir nickte Jillan zum Gruß zu und richtete die grauen Augen dann wieder auf die Wildnis.

»Rührt sich irgendetwas?«, fragte Jillan, wie er es immer tat, und setzte sich auf seinen gewohnten Platz zwischen zwei Zinnen.

Samnir ließ den Blick weiter über die Landschaft schweifen. Nach ein oder zwei Sekunden antwortete er bärbeißig: »Ich glaube, ich habe vorhin gesehen, wie einer der Berge nach links gerückt ist.«

Jillan lächelte. »Ist er nicht!«

Der Held sah Jillan finster an. »Du weißt ja auch so gut Bescheid über Berge, nicht wahr? Hast du je auf einem gestanden? Nein? Das habe ich mir gedacht. Und wer bist du, dass du es wagst, einem mächtigen Helden des Reichs zu widersprechen? Ich sollte dich auspeitschen, durch die Straßen schleifen und dann vor aller Augen aufhängen lassen, damit du all jenen als Warnung dienst, die es den Heiden gestatten, ihre Gedanken zu verderben.«

Jillans Lächeln wurde breiter. »Die Fältchen in deinen Augenwinkeln vertiefen sich immer, wenn du es nicht ernst meinst.«

»Fluch über mein verräterisches Gesicht!« Samnir seufzte. »Es kennt mich zu gut. Darum kann ich auch nie mit einem der anderen Helden Karten spielen.«

»Bist du deshalb immer allein hier draußen?«, fragte Jillan gedankenlos.

Der Held verstärkte seinen Griff um den Schaft seines Speers, bis einige seiner Fingerknöchel knackten. Er wandte das Gesicht schnell wieder dem Friedhof und dem Wald zu. Sein Tonfall wurde kalt. »Du nimmst dir zu viel heraus, Junge! Ich schulde dir keine Antworten. Mach, dass du in die Schule kommst. Ich will nicht, dass der Prediger mir vorhält, dass ich dich vom Lernen abgehalten hätte.«

Jillan ließ den Kopf hängen. Samnir hatte immer anders als alle anderen gewirkt, weniger voreingenommen, weniger ablehnend. Der Held hatte die Welt gesehen und hatte vor nichts Angst, nicht einmal davor, in einem Gewitter allein Wache zu halten. Ein paar Jahre lang hatte Jillan davon geträumt, ganz wie Samnir ein Held zu werden – mit wettergegerbtem Gesicht und steinharten Muskeln –, bis er dann erfahren hatte, dass Helden nie eigene Familien haben durften, damit ihre Bereitschaft, ihre Pflicht zu tun, nicht von Gefühlen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dennoch hatten sie im Laufe der Jahre viele Stunden miteinander verbracht, ob nun in freundschaftlichem Schweigen oder mit Gesprächen über andere Gemeinden, Bäume, Tiere und alle möglichen Dinge, die Samnir gesehen hatte – allerdings hatten sie, wie Jillan nun bewusst wurde, nie darüber gesprochen, warum Samnir freiwillig allein hier draußen wachte. Bis jetzt hatte Jillan sich in Samnirs Gesellschaft immer sicher gefühlt, und die Welt war ihm jedes Mal, wenn er mit ihm gesprochen hatte, ein wenig durchschaubarer erschienen.

Aber heute war etwas anders. Etwas war schiefgegangen. Erst war es ihm gelungen, einen Streit zwischen seinen Eltern heraufzubeschwören, und jetzt hatte er Samnir erzürnt. Vielleicht hatte er sich etwas vorgemacht, wenn er angenommen hatte, dass er und Samnir Freunde wären. Was konnten ein dreizehnjähriger Junge und ein grauhaariger Krieger schon miteinander gemein haben? Samnir war bisher offenbar nur nachsichtig mit ihm gewesen oder freundlich, weil ihm der Junge aus der Südstadt leidtat. Verärgert über sich selbst und entschlossen, dem Helden nie wieder lästig zu fallen, rückte Jillan auf seinem Sitz weiter und setzte dazu an, hinabzuspringen und zur Treppe zu laufen. Je eher er in die Schule kam, sechs weitere Monate des Lernens hinter sich brachte und vom Heiligen zu den Erlösern gezogen wurde, desto besser.

Doch zu Jillans Erstaunen sagte Samnir, der ihm immer noch den Rücken zugewandt hielt, leise: »Warte.« Ein Seufzen. »Warum bin ich hier draußen und führe den Befehl über nichts als den Wind, obwohl ich einst in der Armee des Reichs Männer befehligt habe? Warum lebe ich im abgelegensten Winkel des Reichs, obwohl ich früher Seite an Seite mit den Heiligen gegen die Barbaren in der östlichen Wüste ins Feld gezogen bin? Warum führe ich jetzt nur noch die Aufsicht über einen Friedhof voll staubiger Knochen, obwohl ich doch einst den Tempel des Großen Erlösers selbst bewacht habe?« Er hielt inne. »Weil ich wie alle anderen Menschen bin, Jillan. Einst dachte ich, dass ich besser als jeder andere Sterbliche wäre und dass meine Nähe zum heiligen Herzen des Reichs mich zu etwas Besonderem machte – zu etwas Bedeutenderem. Ich weigerte mich, das Gegenteil einzusehen, selbst als meine Gelenke begannen, jeden Morgen beim Aufstehen von meiner Pritsche zu schmerzen, und als die Last meiner Rüstung mir die Schultern niederdrückte. Ich begann, jüngere und fähigere Männer als Bedrohung zu sehen und Dinge zu sagen und zu tun, um ihnen Steine in den Weg zu legen, selbst wenn es nicht dem Wohl des Reichs diente. Ich stellte meinen Hochmut und meine Eigensucht über den Willen der Erlöser, obwohl ich ihnen doch so viel verdankte. Aber die Erlöser sind allwissend und sahen die Ketzerei in meinem Herzen. Ich wurde aufgefordert, mich zurückzuziehen, und als ich mich weigerte, wurde ich aus dem heiligen Tempelbezirk verbannt, sodass es mir fortan verwehrt war, die Geheiligten zu sehen und zu hören. Ich war ihrer Gegenwart nicht würdig, verstehst du? Sogar danach wurde mir noch eine Gelegenheit zugestanden, alles wiedergutzumachen, denn die Erlöser sind selbst dann gnädig, wenn sie Übeltäter strafen. Ich erhielt den Befehl über die Helden auf den Mauern von Hyvans Kreuz, einer großen Gemeinde, die nicht weiter als einen Wochenmarsch vom heiligen Herzen des Reichs entfernt liegt. Doch immer noch war ich undankbar und trachtete in meinem Zorn danach, die Schuld allen um mich herum zuzuschieben. Mögen die Erlöser mir vergeben – ich habe ihren Namen damals vielfach missbraucht! Der heilige Azual sah sich gezwungen, mich aus Hyvans Kreuz zu verbannen, und nach mehreren anderen unerfreulichen Posten bin ich hier gelandet, am Rande der Wildnis. Meine Gedanken, Worte und Taten waren schuld daran, dass ich in Ungnade gefallen bin, und sie haben mich so weit wie nur irgend möglich vom heiligen Herzen fortgeführt. Ich bin fast schon zum Heiden geworden, so weit bin ich vom rechten Weg abgewichen – so verderbt bin ich. Warum bin ich hier draußen?«, fragte er und wandte sich mit weit aufgerissenen, starr blickenden Augen Jillan zu. »Ich habe mich selbst zu diesem Posten verurteilt! Jeder findet seinen rechten, angemessenen Platz in der Ordnung der Dinge, Jillan, und dies ist meiner. Letzten Endes fallen die Sterblichen stets sich selbst zum Opfer. Ich bin der Niedrigste der Niedrigen und muss nun die Tage, die mir noch bleiben, damit verbringen, diese bescheidene Pflicht nach besten Kräften zu verrichten, sonst kann ich genauso gut das Reich ganz verlassen, mich in den Bergen den Heiden anschließen und mich vollends dem hohlen Chaos hingeben.«

Jillan konnte sich nicht rühren, da der dräuende Held ihn zwischen den Zinnen festnagelte. Der Junge hatte sich schon so weit zurückgelehnt, wie er es wagte, und klammerte sich mit den Fingern verzweifelt an die Steine, um sich davor zu bewahren, dreißig Fuß tief in die Abfallgrube oder auf den Friedhof unterhalb der Mauer zu stürzen. Er wagte es nicht zu atmen, damit Samnirs wilder, gequälter Blick sich nicht plötzlich auf ihn richtete, statt durch ihn hindurchzusehen.

»Werde nicht wie ich«, flüsterte der Held. »Zu einem Gespenst, das im Wind heult, einem Wesen von so wenig Gehalt und Wert, dass sogar die Geister der Toten unter ihm seine Gesellschaft meiden und anderswo nach der Wärme des Lebens suchen. Versprich mir das!«

Jillan nickte und schluckte verängstigt. Seine Zustimmung schien den Soldaten zu beruhigen, denn er blinzelte mehrmals und kam dann wieder zu sich. »Tut mir leid, Junge. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«

Jillan rappelte sich auf und setzte die Füße wieder fest auf den Wehrgang. »Ich … ich mag dich immer noch, Samnir. Ich glaube nicht, dass du der Niedrigste der Niedrigen bist«, murmelte er und strafte seine Worte Lügen, indem er zur Treppe rannte.

»Sehen wir uns morgen?«, rief Samnir ihm nach. »Ich erzähle dir mehr von den Bergen, wenn du magst! Sie sind ein Bollwerk der Heiden und des Chaos. Sie sind ein so kalter und unwirtlicher Ort, dass sich noch nicht einmal die Heiligen allein bis dorthin vorwagen. Junge! Wenn du je meine Hilfe brauchst …«

Der Held sah dem Jungen nach. Dann richtete er den trostlosen Blick auf den Wald aus wippenden Tannen, der sich bis zu den fernen Bergen erstreckte. Ein eisiger Wind ließ ihm die Zähne klappern, und er kauerte sich in seiner Rüstung zusammen. Soweit er es beurteilen konnte, würde der Schneefall in den Bergen früh einsetzen, und das bedeutete einen langen, harten Winter, den nicht alle überleben würden. Die Ernte war gerade erst eingebracht worden. Was war aus dem Herbst geworden? So kurz und schon vorüber wie seine Jugend. »Der Junge soll verflucht sein! Er sorgt dafür, dass ich mich vergesse«, murmelte er.

Erschüttert rannte Jillan den ganzen Weg bis zur Schule. Bisher war heute alles auf den Kopf gestellt worden, und so konnte er es nicht abwarten, die vertrauten Gesichter seiner wenigen Freunde zu sehen und mithilfe des Unterrichts eine gewisse tröstliche Alltäglichkeit zurückzugewinnen.

Die anderen Kinder von Gottesgabe standen schon wartend vor den großen Eichentüren der Schule, die meisten dicht beieinander, um Schutz vor dem Wind zu finden, der über die Freifläche des Versammlungsplatzes im Stadtzentrum fegte.

»Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du zu spät kommen würdest!«, sagte Hella mit einem Lächeln, bei dem sich Grübchen in ihren Wangen bildeten.

Schwer atmend nickte Jillan zur Antwort nur.

»Wonach stinkt es hier? Der Unrat riecht aber heute kräftig!«, sagte Haal, der Sohn des Ältesten Corin. Seine Freunde Karl und Silus kicherten.

Haal war kräftig gebaut wie sein Vater, aber während der Älteste Corin eine Art sanfter Riese war, nutzte Haal seine Körpergröße aus, um die anderen Schüler zu zwingen, das zu tun, was auch immer er sagte. Jed hatte Jillan erklärt, dass die Natur denen, die geistig langsam waren, gelegentlich zusätzliche Kraft verlieh, weil sie sonst unfähig gewesen wären, auf der Welt zu überleben. Jillan wusste nicht, ob das zutraf oder nicht, und es spielte ohnehin keine Rolle, da Prediger Praxis sich hütete, mit dem Sohn des Ältesten zu hart umzuspringen, obwohl dieser stumpfsinnig und faul war. Jillans Einschätzung nach hätte Haal der dümmste und schwächste Mensch auf der Welt sein und dennoch müheloser als alle anderen überleben können, nicht ohne diese dabei noch töricht zu verspotten.

Gewöhnlich hätte Jillan Haals Bemerkung gar nicht weiter beachtet, denn Haal sagte schon seit Jahren solche Dinge, aber heute fühlte Jillan sich nicht so wie immer. Heute war kein Tag wie jeder andere, sondern ein Tag, an dem Eltern sich stritten, Helden Schwäche zeigten und Freunde wütend wurden. Heute war der Tag, an dem Jillan seine Furcht vor dem Prediger eingestanden hatte, seinen Traum ausgesprochen hatte, Jäger zu werden, sich darauf gefreut hatte, zu den Erlösern gezogen zu werden, und sich Gedanken darüber gemacht hatte, irgendwann eine Frau zu finden. Heute war der Tag, an dem Jillan nicht länger so tun konnte, als ob er ein Kind war. Heute begann der Kampf, der den Rest seines Lebens andauern würde.

Er straffte die Schultern, wandte sich Haal zu und starrte ihn böse an. Es befriedigte Jillan, eine gewisse Unsicherheit in den Augen des anderen aufscheinen zu sehen.

»Jillan, tu das nicht!«, flüsterte Hella, da sie Jillans Stimmung spürte und begann, sich Sorgen zu machen.

»Was du riechst, Haal, ist zweifelsohne dein eigener Atem, denn der Dreck, der aus deinem Mund kommt, ist so verfault wie jeder Unrat. Man muss sich fragen, was du isst, um so zu stinken und aufzuquellen. Was für verwesenden Abfall stopfst du in dich hinein, und wo bekommst du ihn nur her? Du schleichst dich doch wohl nicht in finsterer Nacht zu den Unratgruben, oder? Wenn so ein Geschöpf sein Unwesen treibt, ist es ja kein Wunder, dass die Heiden Angst davor haben, in die Nähe von Gottesgabe zu kommen. Das Chaos selbst fürchtet sich vor deinem gewaltigen Appetit und davor, dass du es in einem Stück verschlingen könntest!«

Es herrschte Stille. Sogar der Wind kam wie entsetzt zum Erliegen.

»Was ist denn, Haal?«, fragte Jillan mit einem hämischen Grinsen. »Bist du so dumm, dass du es noch nicht einmal bemerkst, wenn du beleidigt worden bist?«

Karl und Silus standen mit offenem Mund da. Ihre Blicke huschten von Haal zu Jillan und wieder zurück. Alle anderen Schüler rückten instinktiv von ihnen ab.

Haals Gesicht begann rot anzulaufen, und in seinen kleinen schwarzen Augen flammte Zorn auf. Sprachlos vor Wut rang er nach Luft. Dann senkte er die niedrige Stirn wie ein Wildschwein, das zum Angriff übergeht.

»Nein! Nicht!«, quiekte Hella.

Jillan war seltsam ruhig. Sollte das Chaos doch kommen. Entweder würde es ihn vollkommen zerstören, oder er würde seine Feinde demütigen. Es war einfach. Es war klar. Er empfand keine Zweifel, die Verwirrung gestiftet oder seine Urteilskraft getrübt hätten. Es gab nur Konzentration, Zielstrebigkeit und Beherrschung. Er würde nicht versagen. Der Sturm tobte um ihn, aber er stand ruhig inmitten seines Auges. Er beobachtete mit seltsamer Losgelöstheit, wie der Strudel von Macht um ihn herum Haal hin und her zu schleudern begann …

Die große Schultür schwang plötzlich auf und gab den Blick auf nichts als Dunkelheit frei wie ein höhlenähnlicher Schlund, der weit aufklaffte, um seine Beute in einem Stück zu verschlingen. Ein kalter Lufthauch kam von der Tür.

»Kommt herein, Kinder!«, knarzte Prediger Praxis’ Stimme. »Beeilt euch, denn wir sollten so viel Zeit wie möglich damit verbringen, zu unserer eigenen Besserung mehr über die gesegneten Erlöser zu lernen.«

Dieses eine Mal trödelten die meisten Schüler nicht, in die Dunkelheit zu eilen. Jillan kam plötzlich wieder zu sich und stolperte, als ihm schwindlig wurde. Hella streckte mit verängstigten blauen Augen die Hand aus, um ihn zu stützen.

»Was ist geschehen?«, flüsterte sie. »Das war so seltsam!«

Haal stand immer noch da und starrte Jillan böse an. Er verhieß ihm stumm, dass sie die Sache nach der Schule klären würden, und drehte sich dann auf dem Absatz um, gefolgt von Karl und Silus, die beide blass waren.

»Ich … ich weiß nicht«, keuchte Jillan. »Vielleicht werde ich krank.« Doch er zwang sich, munter zu tun und sich aufzurichten, um Hella nicht noch mehr zu verstören. »Komm schon, lass uns hineingehen. Sonst beschließt der Prediger noch, uns zu bestrafen, weil wir faul sind.«

Aber Jillans Gedanken ließen sich nicht so leicht wieder aufrichten wie sein Körper. Sie wirbelten, als ob der Sturm in seinem Kopf tobte und verzweifelt einen Weg ins Freie suchte. Er bekam Schmerzen in den Schläfen, und es kostete ihn Mühe, nicht zusammenzuzucken. Er konzentrierte sich angestrengt darauf, auf dem Steinboden schön regelmäßig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es gelang ihm, alles andere in den Hintergrund zu drängen und seine Kopfschmerzen zu einem dumpfen Pochen zusammenschrumpfen zu lassen, das ihn zwar noch so peinigte und piesackte, dass seine Schultern dann und wann zuckten, aber er erkannte befriedigt, dass er sich größtenteils in der Gewalt hatte. Er brachte ein Lächeln für seine Freundin zustande und zog sie mit in die Schule.

Prediger Praxis stand da und musterte sie beide nacheinander von Kopf bis Fuß. Er war so groß und dünn, dass er unnatürlich langgestreckt wirkte. Seine Augen waren wie Wasser, manchmal farblos, manchmal so, dass sie den Farbton aller Dinge in ihrer Umgebung widerspiegelten. Jedes Mal, wenn der Prediger ihn ansah, hatte Jillan den Eindruck zu ertrinken. Alles andere an Praxis bestand aus scharfen Kanten – die unverwüstliche Stirn, die wie mit dem Lineal gezogenen Wangenknochen, die Hakennase. Der Prediger war die Zuchtrute, die jede Gemeinde benötigte, wenn sie nicht allzu weit vom Willen der gesegneten Erlöser abweichen wollte.

»Guten Morgen, Kinder!«, krächzte der Prediger.

»Guten Morgen, Prediger Praxis!«, antworteten sie im Chor und mussten seinem Blick standhalten. Jillan konnte ein Zittern nicht unterdrücken. Sein Nacken fühlte sich nass und kalt an. Er wankte leicht, und sein Stuhl scharrte über den Boden.

»Jillan Jägersohn, hast du kein Benehmen?«, fragte der Prediger. »Ihr anderen dürft euch setzen.«

Haal machte sich nicht die Mühe, sein Lächeln zu verbergen. Unter dem Scharren und Schaben von Stühlen ließ sich die Klasse an ihren Schreibtischen nieder. Jillan sah auf seine Füße hinab.

»Nun, Jillan Jägersohn? Wir warten. Oder willst du uns mutwillig von unserem Studium der gesegneten Erlöser abhalten?«

»Entschuldigt, Prediger, es wird nicht wieder vorkommen.«

»Hör auf, so zu nuscheln, Junge! Versuchst du, deine Entschuldigung herunterzuschlucken, bevor sie zu hören ist? Bist du nicht aufrichtig? Bist du nicht ehrlich? Hebe den Kopf und entschuldige dich deutlich bei uns allen.«

Jillan hob den Kopf und die Augen, die sich noch nie so schwer angefühlt hatten, und sagte: »Es tut mir leid.« Er krümmte leicht die Schultern, um das Zucken zu verbergen, das sein Kreuz durchlief.

»Weißt du, mein Junge, ich bin neugierig. Geht dein schlechtes Benehmen auf deine armselige Erziehung zurück – oder auf finstere und heimtückische Gedanken? Nun? Was von beidem steckt dahinter?«

Jillan war so verwirrt, dass ihm keine einfache Antwort einfiel. Die Frage des Predigers war eine Falle. Entweder musste er seinen Eltern die Schuld geben und so Haal und seinen Kumpanen Gelegenheit zur Häme verschaffen, oder er musste gestehen, den Versuchungen des Chaos erlegen zu sein.

»Ich …«

»Er hat sich eine Erkältung oder so etwas eingefangen! Deshalb zittert er«, platzte Hella heraus.

Prediger Praxis bedachte die blonde Tochter des Händlers der Stadt mit einem zornigen Blick. Er sagte ein paar Augenblicke lang nichts, und die Klasse hielt den Atem an.

»Die Erlöser haben ihm eine Zunge geschenkt, Hella Jacobstochter! Wenn er nicht vor dem Prediger der Erlöser für sich selbst sprechen kann, wozu taugt diese Zunge dann? Und wir müssen uns fragen, welches Geheimnis ihn wohl davon abhält zu sprechen. Hüte dich davor, Hella, bei der Wahl deiner Freunde oder bei der Entscheidung, für wen du eintrittst, unklug zu handeln. Verstehst du, was ich dir damit sagen will, oder soll ich vielleicht deinen Vater und die Stadtältesten bitten, es dir zu erklären?«

Mit zitternder Unterlippe brachte Hella ein Nicken zustande und stotterte: »J…ja, Prediger. Ich verstehe. Es … es tut mir leid.«

Der Prediger nickte und wandte sich mit einem Schnauben an Jillan: »Setzen! Du hast uns schon genug Zeit gekostet und unsere Aufmerksamkeit keinen Augenblick länger verdient, da wir uns doch den gesegneten Erlösern widmen sollten. Nun gebt gut acht, Kinder, denn einige von euch werden bald in dem Alter sein, in dem sie vom göttlichen, heiligen Azual zu den Erlösern gezogen werden. Dann könnt ihr euren Platz als vollgültige Mitglieder dieser Gemeinde einnehmen und beginnen, uns für Nahrung, Unterkunft und Unterweisung zu entlohnen, mit denen wir euch jahrelang versorgt und einige von euch höchstwahrscheinlich zu sehr verwöhnt haben.«

Jillan widerstand dem Drang, sich unter dem bösen Blick des Predigers unbehaglich zu winden.

»Der Besuch des gesegneten Heiligen in dieser bescheidenen Gemeinde und die Ziehung zu den Erlösern sind Anlass genug für ein großes Fest. Es wird in der Nacht der Ziehung einen Tanz auf dem Versammlungsplatz geben, aber diejenigen, die daran teilnehmen, sollten darauf achten, es mit dem Feiern nicht zu übertreiben, damit ihre Urteilskraft nicht getrübt wird und gar noch das Chaos Einlass in ihre Gedanken findet. Diejenigen, die gezogen werden sollen, werden den geweihten Heiligen im Laufe des Tages allein treffen. Was zwischen euch und dem geweihten Heiligen geschieht, muss ein heiliges Mysterium bleiben, über das ihr niemals sprecht, da sonst die Heiden zu viel erfahren und Wege ersinnen könnten, in das Sakrament einzudringen. Ihr werdet eure finstersten Gedanken beichten und euch dann einer Prüfung unterziehen müssen, um festzustellen, ob ihr würdig seid, gezogen zu werden. Bei manchen wird sich unweigerlich erweisen, dass sie mit dem Makel befleckt sind …«

Jillans Kopfhaut prickelte, und er senkte den Blick auf die schlichte Platte des hölzernen Schreibtischs.

»Die Befleckten werden vom Heiligen gereinigt werden. Das ist kein angenehmer Vorgang, aber ihr müsst den Anweisungen des Heiligen ohne Zögern gehorchen, da sonst der Makel alle Kräfte aufbietet und sich gegen seine Entfernung sperrt. Mehr sage ich nicht über die Prüfung und die Reinigung, denn sie sind Teil des heiligen Mysteriums. Fürchtet euch nicht, denn der Heilige wird ohnehin viel unternehmen, um das heilige Wissen wieder aus eurem Verstand zu entfernen. Lasst euch nur von dem Heiligen leiten, ganz gleich, was er von euch verlangt, und alles wird gut. Habt ihr das alle verstanden?«

»Ja, Prediger Praxis!«

Der Prediger nickte, dieses eine Mal zufrieden. »Dennoch täten wir gut daran, uns die entsetzlichen Opfer ins Gedächtnis zu rufen, die der heilige Azual im Namen der Erlöser gebracht hat, damit wir auch wirklich verstehen, welch große Ehre er uns mit seinem Besuch erweist. Wie das Buch der Erlöser uns sagt, war er einst ein Kind wie ihr, in einer Gemeinde wie dieser. Aber seine Gemeinde war stolz und eigensinnig geworden und wollte lieber selbst über ihre Zukunft entscheiden, statt sich vom Willen der Erlöser leiten zu lassen. Das Chaos hatte den Verstand seiner Eltern verderbt und sie dazu gebracht, ihn im Dunkeln der Nacht abscheulichen Versuchungen auszusetzen. Seine Seele war in ständiger Gefahr, und es schien niemanden zu geben, der ihn hörte, wenn er um Hilfe rief oder sich in den Schlaf weinte.«

Da war wieder dieser wissende Blick. Da war die heiße Röte, die Jillan in die Wangen stieg.

»Einer von euch wird nun aus der Legende von Azual vorlesen. Hört gut zu, Kinder, und sitzt still, denn ich werde gleich danach Verständnisfragen stellen. Hella, du scheinst heute erpicht darauf zu sein, deine Stimme zu gebrauchen, also geh bitte zum Buch und schlag die richtige Seite auf.«

Prediger Praxis forderte Hella oft auf, die Lesung vorzunehmen, weil er wusste, dass sie ihrem Vater bei der Buchführung half und sich deshalb gut mit Buchstaben und Zahlen auskannte. Viele der anderen Schüler hatten Mühe beim Lesen, und der Prediger konnte es nur schwer ertragen, die geheiligten Worte des Buchs der Erlöser entstellt aus den Mündern der Ungebildeten zu hören.

Hella ging zu dem schlichten Lesepult neben dem Schreibtisch des Predigers und hob mit beiden kleinen Händen den schweren Buchdeckel. Die Seiten waren mit Gold überzogen und ließen ihr Gesicht erstrahlen. Jillan fand, dass sie wie ein Engel aussah. Er starrte sie hingerissen an, während sie die markierte Seite aufschlug und langsam und betont zu lesen begann.

»Und in ihrer Weisheit schenkten die gesegneten Erlöser dem Volk von Flaumklamm einen Knaben. Er wuchs unter dem Namen Damon auf, den schon sein Vater getragen hatte. Der Knabe bereitete seinen Eltern und allen, die ihn sahen, große Freude, denn in seiner Unschuld war er ein Liebling der Erlöser und zog darum alle Herzen an, wie die Sonne eine Pflanze aus der Erde hervorwachsen lässt oder wie eine Flamme die flatternden Chaoswesen der Nacht anlockt und verschlingt. Doch oft wirft die Sonne ohne eigene Schuld einen Schatten, wenn jemand sie abzuwehren versucht. Und sogar ein frischer Schössling kann Mehltau anziehen, und daran ist nicht die Sonne schuld. Auf dieselbe Weise suchte die Verderbnis des Chaos den jungen Damon in Flaumklamm heim. Sein Vater wurde eifersüchtig auf die Liebe seiner Frau zu ihrem Sohn. Er war fernerhin eifersüchtig auf all diejenigen, die Zeit mit seinem Sohn verbrachten, wenn er es nicht konnte. Deshalb wandte er sich gegen Damon, sein geliebtes Kind, und hielt ihn in einer kleinen Kammer in seinem Haus eingesperrt. Außerdem verbot er seiner Frau, ihren Sohn jemals zu besuchen, denn es war ihm darum zu tun, seinen Sohn vollkommen zu besitzen und zu lieben. In den dunkelsten Stunden der Nacht, wenn der Einfluss des Chaos am stärksten war, besuchte er Damon und versündigte sich an ihm. Doch wenngleich die Sonne für eine Weile untergeht, kann sie doch nicht dauerhaft zurückgehalten werden. Und so wurde Damon von seiner Mutter befreit, die ihre geziemende mütterliche Liebe nicht länger verleugnen konnte. In großer Angst, dass sein Vater vollkommen dem Chaos anheimfallen könnte, ging Damon zum Stadtrat, um seinen Vater und alle, die sich nicht dem Willen der Erlöser beugen wollten, bloßzustellen. Doch selbst zu dem Zeitpunkt vergab Damon im Herzen seinem Vater seine Sünden, denn Damons Tat war selbstlos und aus Sorge um das Volk geboren. Aber der Stadtrat hatte sich längst von heidnischer Magie und Blendwerk beeinflussen lassen und sah die Welt nicht, wie sie war, sondern so, wie er sie sehen wollte, da er dann wohlgemut sein konnte, ganz gleich was geschah und was dem Volk zustieß. Die Ältesten verspotteten Damon und tadelten ihn dafür, dass er sich gegen die Züchtigung sträubte, die sein Vater für notwendig erachtete. Sie nannten seine Behauptungen unberechtigt und gehässig und verlangten sodann von ihm, alles zu widerrufen. Als Damon dazu nicht bereit war, weil er nur auf dem Pfad der Wahrheit wandelte, fällte der Rat das Urteil, dass er verbannt werden und nie nach Flaumklamm zurückkehren sollte, und das trotz der flehentlichen Bitten seiner reuigen Eltern. So wurde Damon in die Wildnis verbannt, mit nichts als dem Hemd, das er am Leibe trug. Lange wanderte er und lebte von Beeren, Pilzen und Pflanzen, bis er ins heilige Herz des Reichs gelangte. Die Erlöser waren höchst betroffen, als sie hörten, was dem jungen und unschuldigen Damon angetan worden war. Fernerhin waren sie betrübt zu hören, was aus Flaumklamm geworden war, und sie schworen Rache, um das Chaos zum Wohle des Volks und des Reichs zurückzudrängen. Die Helden des Reichs wurden ausgeschickt, um das Volk zu beschützen, mit Damon an der Spitze, da er die Gegend gut kannte, aber auch, weil er tun wollte, was er nur konnte, um so viele Bewohner von Flaumklamm wie möglich zu retten. Trotz der Prüfungen und Qualen, die ihm auferlegt worden waren, wollte Damon den Einwohnern immer noch Vergebung und jede Gelegenheit zur Buße anbieten. Als ehrliches und frommes Kind aus dem Volke war er darauf bedacht, dem Vorbild der gesegneten Erlöser zu folgen, das Volk zu retten und so viele wie möglich zu den Erlösern zu ziehen. Und so geschah es, dass Flaumklamm erobert wurde, nachdem der ehrliche Damon den Helden die Geheimgänge durch die Stadtmauern gezeigt hatte. Viele wurden getötet, denn sie waren nicht mehr zu retten; viele wurden gerettet, und einige wenige flohen im Schutze der Dunkelheit. Damon führte die Armee der Helden bei ihrer Verfolgung an und fand viele Heidenschlupfwinkel tief im Wald. Die Kämpfe waren entsetzlich. Der Erdboden und die Flüsse waren rot vor Blut, und die Felder wurden mehrere Fuß tief unter den Leibern der Gefallenen begraben. Doch dank des Willens der Erlöser, ihn zu beschützen, triumphierte der tapfere Damon. Er säuberte alles Land südlich des heiligen Herzens und drängte die unbußfertigen Heiden zwischen die Berggipfel. So wurden das Volk und das Land errettet und gelangten zu neuer Blüte. Neue Siedlungen wurden gegründet und erhielten die Namen Neu-Heiligtum, Erlöserparadies, Heldenbach und Gottesgabe, um den gesegneten Erlösern für ihre Weisheit und ihre Taten zu danken. In Anerkennung seiner Ehrlichkeit und seines Glaubens im Angesicht außerordentlicher Versuchungen und Widrigkeiten wurde Damon von den Erlösern seliggesprochen und als ewiger Heiliger wiedergeboren, den man den heiligen Azual nennt. Er wurde fernerhin von den Erlösern damit beauftragt, die Lande südlich des heiligen Herzens auf ewig unter seinen Schutz zu nehmen, damit das Chaos nie wieder Einfluss auf das Volk dieser Gegend gewinnen könnte. Und so geschah es, dass in Hyvans Kreuz der Tempel des heiligen Azual errichtet wurde, damit der gesegnete Heilige in angemessenem Rahmen Pilger empfangen konnte und zugleich einen Rückzugsort zur Verfügung hatte, an den er alle paar Monate zurückkehren konnte, nachdem er in den Gemeinden im Süden all denen, die volljährig wurden, das heilige Sakrament der Ziehung gespendet hatte. Hier endet die Legende«, verkündete Hella schließlich und sah Prediger Praxis an.

Der Prediger nickte langsam und bedeutete ihr, zu ihrem Platz zurückzukehren. Sein Blick schweifte über die Klasse, hielt nach allen Ausschau, die nicht mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache waren, und blieb am Ende auf Jillan ruhen.

»Jillan Jägersohn, was waren die drei Wunder, die der heilige Azual vollbrachte, als er noch als Damon bekannt war?«

Jillan hörte nur ein Rauschen in den Ohren. Er sah, wie sich die Lippen des Predigers bewegten, aber er konnte die Worte nicht richtig ablesen. Er spürte einen Druck hinter seinen Augen, und bevor er wusste, wie ihm geschah, fragte er auch schon: »Herr Prediger, es ist meine Pflicht, die Lesung besser zu verstehen. Könntet Ihr mir wohl sagen, ob einige der Heiden in die Berge entkommen sind? Und gibt es Flaumklamm noch?«

Die Klasse schnappte leise nach Luft. Instinktiv spürten alle, dass Jillan eine Grenze überschritten und sich an einen verbotenen Ort vorgewagt hatte. Sie wussten nicht, warum es falsch war, sondern nur, dass es falsch war, und das war alles, was sie wissen mussten.

Das Gesicht des Predigers wurde so streng, wie sie es noch nie gesehen hatten. Seine hohlen Wangen waren umschattet, seine Nasenlöcher eingezogen, seine Lippen blutleer.

»Du wagst es?«, flüsterte er. »Du wagst es, mich, einen Prediger des Reichs, auszufragen? Was für ein Makel ist in dir, Junge, dass dich die Heiden so brennend interessieren?«

Das Rauschen toste mittlerweile in Jillans Ohren, aber diesmal würde er sich nicht in die Falle locken lassen. »Sie sind unsere fürchterlichen Feinde, Herr Prediger. Wir müssen genug über sie erfahren, um zu wissen, wie wir uns am besten vor ihnen schützen können. Leben noch immer welche in den Bergen?«

In drohendem Ton und mit zusammengekniffenen Augen sagte der Prediger sehr leise: »Unsere beste Verteidigung gegen die finsteren und heimtückischen Schliche des Chaos ist das rechte Verständnis des Willens der Erlöser, und das ist alles, was wir benötigen, um uns zu schützen, wie du längst wissen solltest, Junge. Die genaue Lektüre der Heiligen Schrift und die Unterweisung, die der Prediger der Erlöser in Gottesgabe dir angedeihen lässt, sind genug!« Jetzt wurde seine Stimme lauter, und die Worte sprudelten schneller aus ihm hervor: »Genügt dir diese heilige Lehre in deinem Stolz und deinem Hochmut nicht, Junge? Du bist zu neugierig, um deine Gedanken zu bändigen und in sichere Bahnen zu lenken! Hüte dich, Jillan Jägersohn, denn das Chaos lauert beiderseits des rechten Weges, der dem Willen der Erlöser entspricht, und solltest du dich zu fragen beginnen, ob die Lichter und das Funkeln rechts und links davon der einladende Glanz eines verlorenen Schatzes sind, dann wirst du nur allzu leicht vom rechten Weg abweichen und für immer in die Irre gehen!« Speichel sprühte aus dem Mund des Predigers und glitzerte im matten Licht, das durch die Fensterläden drang. »Wenn du ein besserer oder frömmerer Schüler wärst, Jillan Jägersohn, dann hättest du nicht so rasch die heilsame Lektion über Kaspar den Neugierigen aus der Heiligen Schrift vergessen! Was benebelt deinen Verstand mit Vergessen? Nun? Du weißt es doch selbst, oder? Es ist der Makel der Verderbtheit, nicht wahr?«

Die anderen Schüler starrten Jillan entsetzt an. Sogar Hellas Gesicht verriet Zweifel und Angst.

Jetzt schrie der Prediger mit wildem Blick: »Du bist eigensinniger, als es dir guttut, Junge! Unberechenbar wie deine Eltern, ich sage es ja! Das macht dich so gefährlich wissbegierig. Solange du deine Fehler nicht einsiehst, stellst du für all deine Mitschüler eine Gefahr da. Sie sollten dich meiden, damit der Makel nicht auf sie übergeht! Dich meiden, ja! Hinaus, Kinder, hinaus! Geht nach Hause und betet darum, dass die Erlöser euch leiten mögen. Hella und Jillan, ihr werdet hier bei mir bleiben, die Heilige Schrift studieren und Erlösung suchen. Danach werde ich mit dem Rat sprechen, um festzustellen, was wir unternehmen können, um euch von den anderen abzuschirmen, bis der gesegnete Heilige erscheint, um den Makel von euch zu ziehen. Hinaus!«, kreischte er.

Die Kinder rappelten sich panisch auf, und ein paar schrien vor Schreck, als sie von den anderen angerempelt und beiseitegestoßen wurden. Jillan blinzelte entsetzt und versuchte zu verstehen, was da vorging. War er wirklich von einem Makel besudelt? War das die Erklärung für den Ärger heute und dafür, dass alle so wütend zu sein schienen? Und was sollte es bedeuten, dass seine Eltern unberechenbar waren? Er sah Hella an, aber sie hatte zu weinen begonnen und wich seinem Blick aus. Ihre Schultern zitterten, aber er wagte es nicht, zu ihr zu gehen.

Der Prediger scheuchte die letzten Kinder hinaus und begann dann erregt auf und ab zu gehen. Von Zeit zu Zeit starrte er die beiden an und murmelte etwas in seinen Bart. Er faltete die Hände und rang sie in innigem Gebet. Jillans Schultern zuckten heftig, aber zum Glück bemerkte der abgelenkte Prediger nichts davon. Am Ende blieb Praxis stehen und war anscheinend zu einer Entscheidung gelangt.

»Sieh doch, was deine Verderbtheit angerichtet hat, Junge! Sieh doch, wie sie unser rechtes Studium des Willens der Erlöser gestört hat. Siehst du ein, zu was für einer Gefahr du geworden bist?«

Zwischen Beschämung und Leugnen, Entschuldigung und Verweigerung hin- und hergerissen stellte Jillan fest, dass er nicht sprechen konnte. Es gelang ihm jedoch, bekümmert zu nicken, während sein Zucken nicht aufhörte.

»Lasst uns beten, dass es noch nicht zu spät ist! Deine eigene Verderbtheit einzugestehen ist der erste Schritt zur Erlösung, Junge. Wenn du bereust und dich dann als aufrichtig bußfertig erweist, besteht noch ein wenig Hoffnung für dich. Das Chaos kann vielleicht noch besiegt und der Makel von dem gesegneten Heiligen ausgetrieben werden! Dann werden wir alle deine Rückkehr zu uns feiern! Also darfst du nicht verzweifeln, Hella Jacobstochter, denn die Hoffnung aufzugeben bedeutet, es am Glauben an die ewigen Erlöser fehlen zu lassen. Wir müssen stattdessen stärker und entschlossener im Glauben werden, denn wir brauchen die Erlöser nun mehr denn je! Zeig mir, dass du das verstehst: Bereue deine Verzweiflung, Hella Jacobstochter!«

Das junge Mädchen bekam unter seinen Tränen einen Schluckauf, wischte sich den Rotz von der Nase und antwortete: »Ich bereue, Herr Prediger, wirklich, das tue ich! Ich versuche, ein braves Mädchen zu sein und die Lektionen zu lernen, so gut ich kann.«

»Das ist gut, Hella, das ist gut. Jetzt tritt an die Heilige Schrift und lies uns aus der Legende der Verdammnis vor, damit wir besser verstehen, welche Schrecken der Makel der Verderbtheit für uns bereithält. Lass uns von der heidnischen Hölle hören, in die das Chaos uns zu locken versucht, einem Ort, der so tief begraben ist, wie der heilige Azual die Leichen der Heiden auftürmte. Sie ist ein Ort des Verfalls und der Verderbtheit, an dem das Chaos sich von Unaufmerksamen und denen nährt, die aus der Sicherheit des Reichs fortgeschweift sind, ein Ort dunkler Heimlichkeit, an dem das Chaos Ränke schmiedet und lauert, um das Reich zu stürzen, während es zugleich vor dem enthüllenden Licht und strahlenden Glanz der gesegneten Erlöser und ihrer Heiligen zurückscheut. Komm, Hella, lies für uns, während Jillan zitternd und von Reue geschüttelt dasitzt! Sieh, wie die Verderbtheit in ihm sich vor Schmerzen windet, nun da sie enttarnt ist und die reinigenden Worte und den wahren Willen der Erlöser vernehmen muss!«

Prediger Praxis entließ sie erst, als die Sonne schon unterging. Er befahl ihnen, geradewegs nach Hause zu gehen, und wies sie an, mit niemandem zu sprechen – vor allem nicht miteinander – und ihren Eltern mitzuteilen, dass sie später am Abend mit einem Besuch von ihm und mehreren Ältesten zu rechnen hätten.

Von Schuldgefühlen und Schreckensvisionen gepeinigt stolperte Jillan blind nach Hause. Er war erschöpft, aber in ihm war etwas, das nicht zur Ruhe kommen wollte. Es war der Makel, davon war er mittlerweile überzeugt. Der Makel war nie zufrieden und bohrte sich in ihn wie ein Wurm. Wenn er ein Messer gehabt hätte, hätte er sich selbst aufgeschlitzt und versucht, den Makel herauszuschneiden. »Schließlich ist es doch so: Aufopferung und Pflichterfüllung beschirmen das Volk vor dem Chaos, nicht wahr?«, wiederholte er bei sich. Er musste bereit sein, sich selbst aufzuschneiden, um all die zu retten, die er liebte. Es war die einzige Möglichkeit, denn sonst würde er für andere eine Gefahr darstellen und es dem Makel gestatten, sich auszubreiten.

Sie warteten hinter der zweiten Ecke auf ihn. Irgendetwas traf ihn im Nacken, und er wurde vorwärtsgestoßen.

»Heide!«, zischte eine Stimme hinter ihm. Es klang nach Karl.

Jillan stolperte und musste losrennen, um auf den Beinen zu bleiben und nicht zu Boden zu stürzen. Er sah Silus mit geballten Fäusten kampfbereit vor sich stehen. Da er wusste, dass er nicht in der Lage sein würde, rechtzeitig anzuhalten, lief Jillan noch schneller und packte Silus auf Höhe der Hüfte. Der Junge fiel um und schlug mit den Fäusten wirkungslos auf Jillans Rücken ein. Als Silus landete, verschlug es ihm den Atem, und er keuchte. Jillan ließ den Kopf emporschnellen und traf seinen Gegner unter dem Kinn, sodass es Silus’ Schädel zurückriss. Dann versetzte Jillan Silus einen kräftigen Fausthieb ins Gesicht.

Ein massiger Schatten ragte aus der Dunkelheit auf. Es war Haal. Mit einem Ächzen schwang er einen schweren Stock in einem niedrigen Bogen. Im schwachen Licht sah Jillan ihn erst kommen, als es bereits zu spät war. Der Stock traf ihn unmittelbar oberhalb des rechten Auges und schleuderte ihn hintenüber in den Schmutz. Blut lief ihm in die Augen, und er stöhnte. Er bekam einen brutalen Tritt in die Seite, aber als er sich vor Schmerzen zusammenkrümmte, gelang es ihm, das Bein des Angreifers zu packen und ihn umzureißen.

»Mögen die Erlöser ihn verfluchen! Schnapp ihn dir, Karl! Prügle den Makel aus ihm heraus!«, rief Haal.

Und dann brach die Verderbtheit schließlich hervor. Der Sturm, der in Jillans Verstand gefangen gewesen war, umtoste sie und begann, an ihren Kleidern zu zerren. Jillan sah nur noch rot, während blutige Blitze knisternd von ihm ausgingen. Er richtete die rohe Energie gezielt auf Karl, und der Junge schrie entsetzt auf, als sie ihn traf. Es ertönte der ohrenbetäubende Knall einer Explosion, und dann riss die Druckwelle alle zu Boden, Jillan eingeschlossen.

Als der Nachhall verklang, war nur noch das Wimmern von Haal und Silus zu hören. Karl lag reglos da. Der Geruch von geschmolzenem Metall und gekochtem Schweinefleisch hing über ihnen.

Jillan versuchte, sich auf die Beine zu kämpfen, und sackte kraftlos wieder zu Boden.

Zitternde Stimmen begannen in die Nacht hinauszurufen.

»Hierher!«, schluchzte Silus.

»Magie!«, jammerte Haal. »Mord!«

Jillan knurrte, und die Jungen schrien auf und wälzten sich weg. Mit vor Müdigkeit undeutlicher Stimme sagte Jillan: »Seid still, sonst töte ich euch auch noch!«

Sie gehorchten und beobachteten ihn mit dem Blick verschreckter Tiere. Jillan stand langsam auf, kämpfte gegen eine Welle der Übelkeit an und bemühte sich, nicht ohnmächtig zu werden. Er konnte sich gerade noch ans Bewusstsein klammern, als er einen torkelnden Schritt ins Dunkel hineinmachte. Seine Augen wollten einfach nicht klar sehen, und seine Gliedmaßen gehorchten ihm nur widerwillig. Es war wie in jener Nacht, in der er beschlossen hatte, etwas vom Bier seines Vaters zu probieren. Der Magen drehte sich ihm um, und er übergab sich an der Wand des nächsten Hauses.

»Wer da?«, fragte eine Männerstimme herausfordernd.

Jillan stieß sich ab und taumelte zum nächsten Haus und zum übernächsten. Plötzlich hoben ihn starke Arme hoch, und der Waldgeruch seines Vaters drang ihm in die Nase.

»Es ist alles gut. Ich habe dich. Du bist jetzt in Sicherheit«, brummte Jed.

Dankbar ließ Jillan den Kopf auf der Schulter seines Vaters ruhen. Er hätte vor Erschöpfung weinen mögen. Die Augen fielen ihm zu.

»Nein, nein«, flüsterte Jed, während er schnellen Schritts auf ihr Haus zueilte. »Bleib wach!« Er schüttelte seinen Sohn sanft. »Erzähl mir, was passiert ist, schnell, bevor wir nach Hause kommen.«

Jillan wollte gar nicht daran denken, aber er konnte es nicht verheimlichen. Sie würden ihn holen kommen. Tränen begannen ihm über die Wangen zu strömen, und er zitterte. Was hatte er nur getan? »Ich bin mit einem M… Makel besudelt, Vater!«, stöhnte er. »Sie haben mich angegriffen. Ich habe Karl ge… getötet.«

In angespanntem Ton fragte Jed: »Bist du dir sicher, dass er tot ist?«

Jillan schüttelte den Kopf. »Er hat sich nicht gerührt. Vater, ich bin befleckt!«

»Nein!«, entgegnete sein Vater mit unerwarteter Heftigkeit. »Mit dir ist alles in Ordnung. Karl war wahrscheinlich nur bewusstlos, das ist alles. Es gibt gar keinen Makel. Den Unsinn hat dir doch der Prediger in den Kopf gesetzt! Du hast dich einfach nur verteidigt.«

»Aber d… da waren Lichter und ein lauter Knall! Ich war in der Schule frech. Der P… Prediger und ein paar Älteste kommen euch besuchen.«

Sein Vater hielt ihn eng an sich gezogen und begann schneller zu gehen. »Hör zu!«, flüsterte er mit Nachdruck. »Was auch immer geschehen ist, war vollkommen normal. Lass dir ja von niemandem etwas anderes einreden, verstanden? Sie haben es selbst verursacht. Mit dir ist alles in Ordnung.«

Als ihr kleines Haus in Sicht kam, rannte Jed bereits. In den Fenstern standen wie immer einladende Kerzen, und drinnen würde ein behagliches Feuer brennen.

»Maria!«, rief Jed zwischen schweren Atemzügen. »Maria, ich habe ihn!«

Die Tür flog auf, und Jillans Mutter kam heraus, warf einen Blick auf die beiden und eilte wieder hinein.

»Etwas warmen Tee oder Brühe, Maria, schnell! Oder sogar Wasser, wenn sonst nichts da ist.«

Alles begann vor Jillans Augen zu verschwimmen. Da waren Schreie. Schatten. Bilder blitzten auf und verblassten wieder. Er saß in dem großen Sessel beim Feuer. Wurde wieder hochgehoben. Eine Decke. Das verhärmte Gesicht seiner Mutter. Sein Kopf lehnte an etwas Hartem. »Trink das hier!« Ein Löffel. »Jillan! Ja, gut so.« Licht, das ihm in den Augen wehtat.

»… unsere Sachen packen. Wir müssen fliehen!«, sagte sein Vater gerade.

Noch ein Löffel, dessen halber Inhalt Jillan am Kinn entlanglief.

»Wovon redest du? Wir können nirgendwohin«, sagte seine Mutter mit bemüht ruhiger Stimme.

»Es hat einen Unfall mit einem Jungen gegeben, Maria, du weißt schon, welche Art Unfall ich meine. Und du weißt, was sie ihm antun werden. Das lasse ich nicht zu.«

Noch ein Löffel, dessen Inhalt etwas zu heiß war, aber Jillan konnte gar nicht anders, als zu schlucken.

»Nun mach doch nicht gleich die Pferde scheu, Jedadiah! Wir müssen nachdenken. Hör zu, wir sagen einfach, dass es ein Missverständnis war. Es ist auf dem Nachhauseweg geschehen, nicht wahr? Wer kann sich da schon sicher sein, was im Dunkeln passiert ist? Die Kinder waren nach dem Schultag müde und überdreht und sind einfach in Nachtangst geraten. Viele der Ältesten sind vernünftig, ganz gleich, was du von ihnen halten magst. Sie werden hier keinen Ärger wollen, nicht nach dem, was in Neu-Heiligtum geschehen ist.«

»Nein! Du weißt doch, wie der Prediger ist. Und der Heilige wird wissen, was geschehen ist. Sie wissen so etwas immer! Sie werden Jillan holen, und wir werden ihn verlieren. Wir werden ihn wahrscheinlich nie wiedersehen.«

Noch ein Mundvoll, dann konnte Jillan wieder schmecken und die köstliche Gemüsesuppe seiner Mutter mit allen Sinnen wahrnehmen.

Seine Mutter schwieg einen Moment lang. Er spürte ihre Bestürzung. »Aber wir können nirgendwohin, Jedadiah«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Sie werden die Helden auf uns hetzen. Wir haben kein Pferd. Wir werden noch nicht einmal ungeschoren durchs Tor kommen.«

»Samnir hilft uns bestimmt!«, sagte Jillan hustend, während das Zimmer wieder Gestalt annahm.

Seine Eltern tauschten einen Blick. Plötzlich stand Jed in der Schlafkammer und zog die Bettlaken von den Strohsäcken. Er holte sich Säcke aus der Küche und begann, sie zu packen.

»Nein, Jedadiah! Hör mir zu! Hör auf damit!«

Jed hörte nicht auf.

»In diesen Belangen habe ich mehr zu sagen als du; du hörst jetzt sofort auf!«, befahl Maria in eisernem Ton.

Jed wurde langsamer, hielt dann inne und sah seine Frau an. Sein Gesicht wirkte sogar im Feuerschein gequält.

»Du hörst mir jetzt zu, alter Bär. Hör zu und denk nach! Wenn wir alle zusammen aufbrechen, wird man unverzüglich beginnen, jenseits der Mauern nach uns zu suchen. Ja, du kennst die Waldwege besser als manch ein anderer, aber man wird die übrigen Jäger auf unsere Fährte ansetzen. Jillan und ich werden nicht mit dir Schritt halten können. Zu Pferde werden sie uns binnen weniger Stunden einholen.«

»Was also tun wir?«, fragte der hünenhafte Mann flehentlich.

»Es schmerzt mich unaussprechlich, mein Liebster, aber du und ich müssen hierbleiben.«

»Was? Wie? Er kann doch nicht allein in die Wälder gehen! Er ist noch ein Junge!«

»Wenn sie zu uns kommen und nach Jillan suchen«, beharrte Maria, »sind wir hier und warten besorgt darauf, dass er nach Hause kommt. Dann werden sie die ganze Nacht über die Stadt nach ihm durchsuchen, sodass Jillan Zeit haben wird zu entkommen. Es wäre für sie ganz unvorstellbar, dass ein Held ihn aus der Stadt lassen könnte, ohne es zu melden.«

»Der Heilige wird es erfahren!«

»Aber er wird nicht in der Lage sein, rechtzeitig herzukommen, um ihn an der Flucht zu hindern. Und wären wir denn als Eltern nicht bereit, allen Tadel zu erdulden, Liebster? Samnir hat sicher seine eigenen Gründe, uns zu helfen, Gründe, die wir zweifellos nicht einmal in Ansätzen erahnen können. Er war doch schon immer ein seltsamer Vogel.«

»Ich sollte bei meinem Jungen sein, um ihn zu beschützen!«, sagte Jed hilflos mit versagender Stimme und ließ die Schultern hängen.

»Du kannst ihn am besten beschützen, indem du ihn gehen lässt. Er ist fast volljährig, Mann, kein kleiner Junge mehr, das zeigen dir doch wohl diese Ereignisse deutlich! Also versuch nicht, ihn länger ein Kind bleiben zu lassen, sonst wird es ihm vielleicht noch zum Verhängnis«, erklärte Jillans Mutter mit fester Stimme. Je mehr sie Jed nachgeben sah, desto stärker wurde sie anscheinend. So zerbrechlich und klein sie im Vergleich zu seinem riesenhaften Vater zuweilen auch auf Jillan gewirkt hatte, nun war sie diejenige, die sich über Jed beugte und den Raum mit ihrer Gegenwart ausfüllte. Dann fuhr sie sanfter fort: »Jetzt ist Eile geboten, Liebster. Pack Jillans Sachen in einen Lederbeutel, während ich ein bisschen Proviant zusammenstelle. Schnell! Jillan, bist du stark genug, die Suppe allein aufzuessen?«

»Ja, Mutter.« Jillan nickte, und ihm kamen abermals die Tränen, da er wusste, dass es vielleicht das letzte Mal war, dass er die wunderbare Suppe seiner Mutter schmeckte. »Vater, denkst du bitte an meine Steine?«

Jeds Miene wurde schmerzerfüllt, und er wandte sich verlegen ab. »Natürlich, mein Sohn.«

Maria redete unablässig, während sie daranging, Dörrfleisch, Hartkäse und kleine Äpfel in ein Tuch zu stecken. »Jillan, geh nach Erlöserparadies. Dort lebt ein Mann, der deinen Vater und mich von früher kennt. Er nennt sich Thomas Eisenschuh, wenn er seinen Namen nicht geändert hat. Wiederhole mir seinen Namen so, dass ich es hören kann.«

»Thomas Eisenschuh.«

»Gut. Wenn er dich fragt, was du willst, sag ihm, dass du Freistatt suchst. Sag es.«

»Ich suche Freistatt. Aber was ist Freistatt?«

Maria maß ihn mit einem Blick. »Das weiß ich nicht, und es ist auch unwichtig. Thomas Eisenschuh wird dich entweder bei sich aufnehmen, bis dein Vater und ich nachkommen und zu dir stoßen können, oder er wird dich zu anderen guten Menschen schicken. Nein, unterbrich mich nicht! Jetzt zählt jede Sekunde. Du wirst durchs Südtor gehen und dann einen Bogen um die Stadt nach Norden schlagen. Folge der Straße, aber bleib ihr bei Tageslicht fern. Wandere durch die Wälder und behalte die Straße immer im Blick. Wenn du zufällig jemandem begegnest, dann bist du auf Pilgerfahrt nach Hyvans Kreuz, um im Tempel des Heiligen zu beten. Hast du verstanden?«

»Ja, Mutter«, antwortete Jillan, obwohl sie so schnell sprach, dass es ihm schwerfiel, ihr zu folgen.

»Fertig!«, verkündete Jed, ließ den Beutel auf den Tisch fallen und legte Jillans Bogen und Köcher daneben.

Maria schob das Essen gebündelt in den Lederbeutel. »Die Tasche ist schwer, und wenn du müde wirst, gerätst du vielleicht in Versuchung, etwas wegzuwerfen, aber tu es nicht. Die Dinge in deinem Gepäck halten dich in kalten Nächten am Leben. Leg dich nie auf den nackten Erdboden, da dir das die Wärme entzieht und du dann vielleicht nie wieder aufwa…« Die Stimme versagte ihr, und sie presste die Lippen zusammen, weil sie es nicht wagte fortzufahren.

»Es reicht, Maria«, sagte Jed leise. »Ich sage ihm unterwegs den Rest.«

Maria nickte und brachte einen zittrigen Atemzug zustande. Sie breitete die Arme aus und beugte sich vor. »Dann komm und gib deiner Mutter einen Abschiedskuss, kleiner Junge und erwachsener Mann! Sieh mir ins Gesicht und präge es dir ein. Hab kein schlechtes Gewissen, wenn es mit der Zeit verblasst; erinnere dich nur daran, dass ich dich immer lieb haben und immer an dich denken werde, ganz gleich, was geschieht oder wo du bist.«

Sie umarmte und küsste ihn, bis er keine Luft mehr bekam, und sogar dann noch dachte er, dass sie ihn nicht loslassen würde. Am Ende zog sie sich zurück, wischte sich die Wangen ab und richtete sich auf. »Wenn sie kommen, solange du fort bist«, sagte sie zu Jed, »erzähle ich ihnen, dass er nicht aus der Schule nach Hause gekommen ist und dass du in die Stadt gegangen bist, um ihn zu suchen, weil du vermutest, dass er sich irgendwo mit der Tochter von Jacob, dem Händler, herumtreibt. Geht jetzt, ich muss die Betten neu beziehen und die Vorräte umstellen, damit es nicht so aussieht, als ob irgendetwas fehlt. Geht!«

Jillan starrte seine Mutter an und wollte nicht, dass dieser Blick der letzte war. Niemand war schöner als seine Mutter, nicht einmal Hella. Sie hatte Sorgenfalten um die Mundwinkel und haselnussbraune Augen, die dazu beitrugen, sie liebevoll und gütig wirken zu lassen. Sie klagte über weiße Haare in ihren langen, blonden Zöpfen, aber in Jillans Augen fingen sie das Licht ein wie Gold und Silber. Und dann war da noch der Blick, den sie nur Jillan allein schenkte, nie jemand anderem, nicht einmal seinem Vater, obwohl es auch für ihn einen ganz besonderen Blick gab.

Aber dann war die Haustür geschlossen, und seine Mutter war für ihn verloren. Er drehte sich um und sah nichts als Dunkelheit. Er wartete, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten, und folgte dann seinem Vater, der die ausgebeulte Tasche und Jillans Waffe schulterte.

»Du kannst dich allein auf den Beinen halten, oder?«, fragte Jed plötzlich.

»Ja, Vater, wenn wir zuerst langsam gehen können.«

Sie erreichten die Treppe zur Südmauer und begannen hinaufzusteigen.

»Wer da?«, rief Samnir von oben.

»Ich bin ’s!«, antwortete Jillan.

Eine Pause. »Jillan? Was treibst du um diese Zeit noch hier draußen?«

Jed und Jillan stiegen stumm hinauf, bis sie den Wehrgang erreichten. Die beiden Erwachsenen nickten sich argwöhnisch zu; dann sah Samnir Jillan an.

»Ich muss fort, Samnir. Ich stecke in Schwierigkeiten«, erklärte der Junge ohne Einleitung.

Samnir seufzte. »Ja, ich habe vorhin irgendein Getöse gehört, und alle möglichen Leute rennen wie aufgescheuchte Hühner hin und her. Weißt du, von hier oben entgeht mir nicht viel.«

Jillan fragte sich, ob Samnir in Wirklichkeit alles gesehen und gehört hatte. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte er schlicht.

»Ja, und die habe ich dir versprochen, mein Junge, die habe ich dir versprochen. Du sollst meine Hilfe bekommen, und ich habe im Gegenzug schon deine großzügige Gesellschaft und Freundschaft erhalten. Aber meiner Meinung nach tut ein bisschen Aufregung der Stadt ohnehin gut. Rüttelt alle ein wenig auf und ruft ihnen ins Gedächtnis, dass sie noch am Leben sind, wenn du verstehst, was ich meine. Du wirst durch dieses Tor gehen, ohne dass irgendjemand etwas erfährt, obwohl ich dich nicht gern gehen sehe, mein Junge, wirklich nicht gern. Aber fort musst du, also folge mir.«

»Danke«, sagte Jed. »Du weißt nicht, was uns das bedeutet.«

Samnir blieb stehen und sah sich mit unergründlicher Miene nach ihm um. »Oh, ich weiß nur zu gut, was es bedeutet, Jäger Jedadiah. Aber lasst uns nicht länger darüber nachdenken, sonst vergeuden wir noch zu viel Zeit.«

Eine Minute später stemmten Samnir und Jed den schweren Riegel des Südtors hoch. Sie schwangen einen der Torflügel nach innen, bis ein Spalt geöffnet war, der breit genug war, dass Jillan sich hindurchzwängen konnte.

Jed ließ eine Hand auf Jillans Schulter ruhen und drehte ihn zu sich herum. »Sei tapfer, Jillan, denn du bist ein Mann, wie deine Mutter sagt. Sei dir gewiss, dass ich immer stolz auf dich sein werde, ganz gleich, was geschieht oder was du sagst und tust. Denk immer daran, dass mit dir alles in Ordnung ist und dass es Dinge gibt, die das Wissen und die Erfahrung des einfachen Volks von Gottesgabe und die schlichten Worte des Buches weit übersteigen. Vielleicht wirst du einige von ihnen entdecken und eine Art Abenteuer erleben. Ich kann dir kaum Ratschläge erteilen, was das Reich betrifft, mein Sohn, denn zu meiner großen Beschämung habe ich nur wenig davon gesehen. Aber dieses eine sage ich dir: Es gibt viele böse und gefährliche Dinge, die noch nicht einmal einen raschen Tod verdient haben. Dennoch darfst du, wenn du je Jäger werden willst, nicht zögern zu töten, sonst könnte dir dieser Augenblick des Zögerns zum Verhängnis werden.«

Jillan nickte stumm und wollte eigentlich nicht an den einen Tod denken, den er bestimmt schon verschuldet hatte. Karls Zusammenbruch war so rasch erfolgt, dass er sich nur wünschen konnte, er hätte länger gezögert.

»Jillan, ich würde es als persönlichen Gefallen betrachten, wenn du diese Klinge mitnehmen wolltest«, warf Samnir ein. »Sie stammt aus dem Großen Tempel selbst und wird dich immer finden, wenn du nach ihr rufst. Sie wird dir freiwillig geschenkt, deshalb kannst du über sie gebieten.«

»Danke, Samnir«, sagte Jillan leise, obwohl das kurze, zeremonielle Schwert unhandlich in seinem Griff lag.

Eine Eule kreischte in den Wäldern, und die Nacht wurde still, als der Schatten des Raubvogels über die Bäume glitt.

»Leb wohl, Jillan!«, stieß Jed erstickt hervor. »Deine Mutter und ich werden bald zu dir kommen. Wir folgen dir so schnell wir können.«

»Leb wohl, Vater! Sag Hella … sag Hella, dass ich … dass ich sie sehr mochte.«

»Das werde ich, mein Sohn, und ich bin mir sicher, dass sie es schon weiß«, flüsterte Jed und umarmte seinen Sohn kräftig, bevor er ihm einen unbeholfenen Kuss auf die Stirn gab.

Jillan sah die umschatteten Gesichter ein letztes Mal an und trat dann hinaus in die Dunkelheit. Lange Sekunden später fiel das Tor mit einem leisen, dumpfen Poltern, das etwas sehr Endgültiges hatte, hinter ihm zu.

Jillan folgte dem Pfad an den stinkenden Abfallgruben entlang und suchte sich einen Weg über den unebenen Boden des Friedhofs. Er warf einen einzigen Blick zurück, um die Stadtmauern abzusuchen. Sein Vater, der bestimmt schon nach Hause geeilt war, um seinen Beitrag zur Überlistung des Predigers und der Stadtältesten zu leisten, war nicht zu sehen, aber Samnir war schemenhaft zu erkennen, ein einsamer Wächter gegen die Verderbtheit der Heiden, zu denen nun auch Jillan zählte.

Jillan wollte zurückrennen und schreien, um wieder eingelassen zu werden. Er wollte ableugnen, dass er etwas Falsches getan hatte. Er sehnte sich nach Vergebung dafür, dass er Prediger Praxis Fragen gestellt hatte, und für das, was Karl zugestoßen war. Aber solche Dinge waren, wie er wusste, unverzeihlich.

Stattdessen starrte er müde die ungeordneten Gräber an und fragte sich, wo man Karls Leichnam beisetzen würde. Wenn er eine Blume gehabt hätte, hätte er sie auf eine Freifläche gelegt. Er hätte sich selbst gern zu den Toten gelegt, aber das hier war kein Friedhof für die Leichen von Heiden, und so schleppte er sich in die Wälder. Schließlich hatten die bösen Wesen dieser Welt, wie er gerade gehört hatte, noch nicht einmal einen schnellen Tod verdient.

Samnir sah zu, wie die kleine Gestalt in den tiefen Schatten unter den Bäumen verschwand.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Der Junge soll verflucht sein!«