Kapitel 14
ODER ZU BEENDEN,
WAS BEGONNEN HAT
Die maskierte Heilige und ihre Kinder tasteten sich durch die reglosen Körper und die Trümmer, die beinahe alles waren, was von Gottesgabe noch übrig war. Izat wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb, den Jungen zu finden und zu den Erlösern zu ziehen, wenn er denn überhaupt noch lebte.
Plötzlich stand ein ungepflegter, aber hochgewachsener Waldläufer vor ihr. Die Kinder der Heiligen zischten und stoben davon.
»Du solltest nicht hier sein, Unreiner«, sagte Izat herausfordernd, doch die Maske des Sonderbaren, die sie noch immer trug, dämpfte die Autorität ihrer Stimme.
»Du auch nicht, Heilige. Wie wäre es damit: Ich verrate dich nicht, wenn du mich nicht verrätst«, sagte Ash augenzwinkernd. »Du kommst in Teufels Küche, wenn bekannt wird, dass du dich ungebeten in der Region eines anderen Heiligen aufhältst, nicht wahr?«
»Du verstehst nichts von dem, was du da sagst. Aus dem Weg! Der verrückte Heilige ist nicht mehr am Leben, und ich führe hier für das Reich den Befehl.«
»Oh, ich glaube nicht, dass das Reich auch nur ansatzweise in der Lage ist, hier irgendjemandem Befehle zu erteilen, meinst du nicht auch?«, erwiderte der Waldläufer und sah sich in den von Körpern übersäten Ruinen um. Sein Lächeln wurde zu einem wölfischen Grinsen. »Warum nimmst du nicht einfach die Beine in die Hand, Izat? Denn du steckst doch hinter dieser Maske, die dir überhaupt nicht steht, oder? Dann muss gar nicht erst etwas Unschönes geschehen. Davon hatten wir für einen Tag schon genug, findest du nicht?«
Empört stieß Izat hervor: »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Solche Dreistigkeit kann ich nicht einfach ohne Tadel und Zurechtweisung dulden. Ich bestehe darauf, dass du augenblicklich den Weg frei machst. Ich würde mir lieber nicht an einem derart Unreinen die Hände schmutzig machen und das Gewand zerknittern, aber ich werde nicht zögern, das zu tun, wenn du dir nicht sofort einen ehrerbietigeren Tonfall angewöhnst. Der Junge ist ein Bürger des Reichs, und so erhebe ich Anspruch auf ihn. Das ist mein göttliches Recht!«
»Genug des Großtuns, Prahlens und Posierens, Heilige. Was ist mit den Rechten des Jungen?«
»Er hat keine. Er ist noch nicht zu den Erlösern gezogen worden. Ich werde ihm Mutter und Vater sein und alle Entscheidungen für ihn treffen. Kinder, schafft diesen dreisten Kerl aus dem Weg, aber achtet bitte darauf, mich dabei nicht zu bespritzen. Schnell jetzt!«
Ein Dutzend Kinder huschte hinter halb zusammengebrochenen Mauern und umgestürzten Fässern hervor und versuchte, Ash zu umzingeln. Sie wirkten verwildert, aber der Waldläufer ließ sich keine Besorgnis anmerken. Er schüttelte den Kopf. »Nicht auszudenken, dass du diese Kinder verdirbst und dazu einsetzt, für dich die Drecksarbeit zu erledigen. Wie kannst du guten Gewissens diese unschuldigen Kinder in Gefahr bringen? Du möchtest wohl nicht das Wagnis eingehen, dir einen Fingernagel abzubrechen? Wie kommt es nur, dass man dich als heilig bezeichnet? Ich sage, du bist nicht heilig, Izat. Ich sage, dass es an der Zeit ist, dass dir und deinesgleichen der Garaus gemacht wird. Mein Freund hier ist ganz meiner Meinung und hat einen unersättlichen Heißhunger. Es überrascht mich, dass du nicht schon geflohen bist.«
Izat wich vorsichtig einen Schritt zurück und wandte den Kopf hierhin und dorthin, um eine mögliche Bedrohung wahrzunehmen. Sie starrte durch treibenden Rauch und blickte in Schattenflächen. Überzeugt, dass nichts anders war, als es sein sollte, wandte die Maske sich schließlich wieder Ash zu, und die Heilige trat selbstbewusst mit gebieterisch erhobenem Kopf auf ihn zu.
»Du siehst ihn immer noch nicht, oder, Izat? Das überrascht mich nicht wirklich, denn er ist die Dunkelheit und kann nicht gesehen werden. Er schleicht dir auch aus dem Dunkeln heraus nach, kleine Heilige. Er ist das Chaos! Fürchtet ihr euch vor der Dunkelheit, Kinder? Das solltet ihr. Sicher seht ihr doch etwas in den tiefen, tiefen Schatten unter der Mauer dort drüben? Ist das da nur orangefarbene Glut, die der Wind vor sich hertreibt, oder sind es die brennenden Augen eines schwarzen Wolfs, der euch beobachtet und belauert? Seht genauer hin. Da! Habt ihr ihn nicht blinzeln sehen?«
Eines der Kinder schrie plötzlich auf und rannte davon. Das gab den anderen den Anstoß, und binnen wenigen Augenblicken flüchteten sie alle in heller Panik, sprangen über Mauern und schlugen Haken, so gut sie nur irgend konnten.
»Das Chaos!«, stieß die heilige Izat hervor. »Es kann nicht hier sein! Wartet auf mich!« Eilig warf sie ihre beengenden Gewänder und die Maske ab und rannte den Kindern nach.
Ash lachte leise. Er rief ihnen nach: »Denkt nur ja daran, bei Licht zu schlafen, sonst holt euch der finstere Wolf!« Er sah ihnen eine Weile nach und lächelte jedes Mal, wenn jemand wild vor einem besonders großen oder dunklen Schatten zurückzuckte. Er war überzeugt, dass sie nicht zu laufen aufhören würden, bis sie die Region weit hinter sich gelassen hatten. Dann tastete sich Ash zu Freda hinüber, die schützend neben dem hingestreckten Jillan kauerte.
Jillans Augen öffneten sich, als der Waldläufer näher kam. »Ich bin froh, dass du nicht zu weit weggegangen bist«, flüsterte der Junge. »Sie hat schon einmal versucht, mich zu holen, weißt du?«
Ash zuckte mit den Schultern. »Es ist alles eine Frage des rechten Augenblicks, Jillan. Manche von uns können ihn abpassen, andere dagegen nicht.«
D’Selle war hocherfreut über das, was D’Shaas wahnsinnigem Heiligen und der Stadt Gottesgabe zugestoßen war, und überzeugt davon, dass D’Shaa nun mit der Todesstrafe belegt und ihre Region ihm übergeben werden würde. Er fühlte sich so bestätigt, dass er sich einfach nicht zwingen konnte, besonders verärgert darüber zu sein, dass es seiner eigenen Heiligen, Izat, nicht gelungen war, den Jungen zu fangen. Die Jahrtausende der Demütigung, jemanden, der so unreif wie D’Shaa war, als seinesgleichen dulden zu müssen, und die zusätzliche Kränkung, dass sein Angriff auf sie von der unerklärlichen Entscheidung des Ältesten Thraal, den Sonderbaren loszulassen, untergraben worden war, waren nun vorüber, und der Sieg und die unweigerlich damit verbundene Belohnung gehörten D’Selle allein. Seine sorgfältige Planung, seine Mühen und sein Genie hatten die Welt geprägt und seinen Willen Wirklichkeit werden lassen. Gewiss hatte niemand jetzt einen größeren Anspruch auf den Besitz dieser Welt als er: D’Shaa hatte Schande über sich gebracht und sich so ihr eigenes Urteil gesprochen, D’Zel aus dem Norden, der sich ehrgeizig für D’Shaa erklärt hatte, würde sich glücklich schätzen können, wenn er die Maßregelung, die ihm gewiss war, überlebte, und D’Jarn war unbedeutend, da die Zähmung des Ostens misslungen war. Sogar die Urteilskraft des Ältesten Thraal würde nun infrage gestellt werden, denn hatte er nicht die in Ungnade gefallene D’Shaa gerettet? Der Ältestenrat fragte sich doch sicher, ob der Älteste Thraal noch weiter als Wächter dienen sollte und überhaupt noch nützlich war. Sicher hatten sie D’Selle schon im Blick und fragten sich, ob er vielleicht ein geeigneterer Kandidat sein würde. Wächter D’Selle! Der Älteste D’Selle! Sein Name würde sich bis ans äußerste Ende des Kosmos herumsprechen, und alle würden erfahren, dass mit ihm eine neue Macht aufstieg, eine Macht, die seinesgleichen zum Heil führen konnte, was bislang noch niemandem gelungen war.
D’Selle schritt durch die endlosen Gänge des labyrinthartigen Großen Tempels, vernichtete unzählige Diener allein durch seine Gegenwart und bemerkte es doch kaum. Sie alterten so schnell, wenn seinesgleichen in ihrer Nähe war, dass sie völlig unbedeutend und unwichtig waren. Sie waren totes Laub, Sandkörner, Staub im Wind.
Er stieg ins Erste Allerheiligste auf, den einzigen Ort, an dem seinesgleichen je in großer Zahl zusammenkam. Hier wurde man Zeuge, wie der Rat Gericht hielt und seinen Willen kundtat. D’Selle schwebte mit wachsender Erregung dorthin empor, da er es kaum abwarten konnte, D’Shaas Vernichtung mitzuerleben. Er hatte noch nie gesehen, wie jemandem seiner Art der Garaus gemacht wurde, und erschauerte angesichts dieser Aussicht vor Staunen, Entsetzen und Aufregung. Wann hatte er das letzte Mal etwas Neues erlebt? Und das hier war nicht nur die Entdeckung irgendeiner neuen Blume oder eines Insekts, sondern etwas, das ihn mehr über sein Dasein und seinesgleichen lehren würde.
Er eilte in den vollkommen kugelförmigen Raum, in dem Sitzreihen vom untersten Punkt der Kugel bis ganz oben übereinander angeordnet waren. Die meisten seiner Art saßen im größten Ring auf halber Höhe und in den Rängen unmittelbar darunter. Die Erlöser in D’Selles eigenem Rang saßen natürlich weiter oben, wo es weniger Sitze gab. Der Älteste Thraal saß ganz allein in einem der höchsten Kreise. Offenbar hatten die anderen Ältesten beschlossen, in ihrer fast ewigen Ruhe zu verweilen. D’Selle verdrängte die Enttäuschung darüber, dass er heute also nicht an die Stelle des Ältesten Thraal treten würde. Es spielte keine Rolle – er war überzeugt davon, dass sich ihm in nächster Zukunft andere und bessere Gelegenheiten dazu bieten würden, wenn er nur erst die Beute seines jüngsten Sieges in Besitz genommen hatte.
Er begann die Treppen zum Kreis seines eigenen Ranges hinaufzusteigen und fragte sich, wann D’Shaa als Objekt des Urteils und Willens hereingeführt werden würde, um ganz unten in der Kugel zu stehen.
»Nein, D’Selle!«, sprach der Geist des Ältesten Thraal in die Stille des Ersten Allerheiligsten hinein. »Du wirst nicht weiter aufsteigen.«
Ein geistiges Aufkeuchen ertönte aus den ringförmigen Galerien. D’Selles Augen weiteten sich bis aufs Äußerste. D’Shaa saß im höheren Kreis! Sie hätte hier unten stehen sollen, nicht er! Wie konnte das sein? Nein! Er war nicht das Objekt des Urteils und Willens. Nein! Verrat!
D’Selle versuchte, die Kugel zu verlassen, aber der Wille des Ganzen hielt ihn an Ort und Stelle. Er konnte sich kein bisschen rühren. Seine Gedanken wurden gezielt verlangsamt, sodass er sich nicht in den Wachtraum flüchten konnte.
»Mein ist der Urteilsspruch!«, verkündete der Älteste Thraal geistig, so dass alle es hören konnten. »D’Selle, der ordnende Intellekt des Westens, hat seiner Heiligen befohlen, sich in die südliche Region zu begeben, ohne die Einladung oder Erlaubnis von D’Shaa, dem ordnenden Intellekt jener Region, abzuwarten. Das allein verdient eine Zurechtweisung. Schlimmer noch, D’Selles Heilige hatte die Aufgabe, einen direkten Agenten des Geas aus der Dynamik der Kontrolle zu entfernen, die ich bereits eingerichtet hatte. Dieser direkte Agent war der Junge Jillan, der durch eine Dynamik zwischen D’Shaas Heiligem und dem Sonderbaren kontrolliert wurde. Wenn es D’Selles Heiliger gelungen wäre, den Jungen zu entführen, wäre diese Dynamik zu einem unkontrollierbaren Strudel der Zerstörung geworden. Alle wissen, wozu der Sonderbare in der Lage ist. Der vorausschauende Rat hegt keinerlei Zweifel daran, dass das Geas und diese Welt uns auf immer verloren gegangen wären. Deshalb ist es das Urteil aller, dass D’Selle unseren Willen und unseresgleichen einer tödlichen Gefahr ausgesetzt hat. Es ist der Wille aller, dass D’Selles Dasein ein Ende gesetzt wird. Mit Erlaubnis des Rats werden D’Selles Lebensenergien unter den anderen unserer Art aufgeteilt. Hebt ihn in die Mitte!«
D’Selle war sich vage der Tatsache bewusst, dass seine Füße sich vom Boden der perfekten Kugel lösten und die Macht des Willens der Erlöser ihn genau in ihre Mitte hob. Er drehte sich langsam in der Luft. Die schwarzen Augen der anderen waren hungrige Abgründe. Jetzt, ganz am Ende, verstand er sein eigenes Dasein und die Natur seiner Art.
Der Älteste Thraal ließ sich wieder in seiner Kammer nieder. Alles war verlaufen, wie er es beabsichtigt hatte. Er hatte die unerfahrene D’Shaa genau zu dem Zweck zum ordnenden Intellekt erhoben, den übermäßig ehrgeizigen D’Selle aus der Reserve zu locken und zu vernichten, aber auch, um dafür zu sorgen, dass der höchst gefährliche D’Zel sich aus Selbsterhaltungstrieb mit einer Erklärung für D’Shaa selbst im Weg stand. Weit mehr noch: Es war auch der Älteste Thraal gewesen, der D’Shaa vor langer Zeit ermuntert hatte, den launischen Azual zu ihrem Heiligen zu machen. Das hatte dazu gedient, ihre Region unsicher zu machen und die Heiden und das Geas hervorzulocken. Jetzt war das Geas unentrinnbar mit dem Jungen verbunden, der sie unweigerlich alle nach Freistatt führen würde. Zu guter Letzt würde das Geas dem Reich anheimfallen, und die Deklination würde die Macht haben, sich weiter im Kosmos auszubreiten. Diese Welt würde als Sprungbrett dienen. Und es war sein Wille, der das alles Wirklichkeit werden ließ. Die Deklination würde keine Wahl haben, als ihn in den Rang einer kosmischen Macht zu erheben.
Es war niemand niederen Ranges mehr übrig, der ihn hätte herausfordern können: D’Shaa hatte nun wahrscheinlich eine Vorrangstellung unter den ordnenden Intellekten inne, aber sie würde zu beschäftigt damit sein, einen neuen Heiligen zu ernennen und darum zu ringen, ihre Region wieder unter Kontrolle zu bringen, als dass sie Unfug hätte anstellen können. Doch um auf der sicheren Seite zu sein, würde er sie anweisen, den eifernden Prediger von Gottesgabe zu ihrem neuen Heiligen zu ernennen. Und es war an der Zeit, General Thormodius und seine Armee aus dem Osten zurückzubeordern. Sie würden dafür sorgen, dass der Süden niedergeworfen und gesäubert wurde und dass Gottesgabe ein für alle Mal aus der Geschichte gelöscht wurde. Das Fehlen einer größeren Armee würde zugleich den heiligen Dionan zwingen, sich eine neue Vorgehensweise gegen die Barbaren und Heiden des Ostens einfallen zu lassen. Schließlich konnte ein vorgetäuschter Friede oft zersetzender als alle kriegerischen Auseinandersetzungen wirken. Aber wen soll man zum neuen ordnenden Intellekt des Westens ernennen? Hmm. Und eine Aufgabe für die Jünger würde vielleicht mehrere Zwecke zugleich erfüllen, nicht zuletzt den, sie aus dem Großen Tempel und von ihren Posten bei der Bewachung des Großen Erlösers selbst zu entfernen.
Sie legte die Lippen auf seine und küsste ihn, erst sanft, dann so leidenschaftlich, dass es schmerzte. Das machte ihm nichts aus, im Gegenteil. Erst als er nicht mehr atmen konnte, schob er sie von sich. Er keuchte, rang nach Luft und sah sie dann mit einem verlegenen Lächeln an. Er ergriff ihre Hand.
»Du zitterst ja«, sagte Hella lachend. »Eben noch warst du größer als der Himmel und hast Magie über einen Heiligen ausgeschüttet, und jetzt hast du Angst vor einem Kuss.«
»Habe ich nicht! Na, und wennschon.«
»Hast du noch nicht viele Mädchen geküsst?«
»Natürlich habe ich das! Haufenweise! Wie viele hast du denn geküsst?«
»Ich küsse keine Mädchen!«, kicherte sie.
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich weiß, Dummkopf. Ich wollte dich doch nur aufziehen.«
»Oh«, sagte er und kam sich töricht vor. Er kratzte sich am Kopf und sah auf seine Füße hinab. Dann blickte er wieder zu ihr hoch, lächelte und lachte laut los.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn erneut. Diesmal achtete er darauf, durch die Nase zu atmen, damit Hella niemals wieder aufhörte.
Der Sonderbare hockte, ein Schwert aus Sonnenmetall um den Kopf gebogen, da und beobachtete, wie Jillan und das Mädchen einander unter dem Baum küssten. Er würde ihnen diesen Augenblick gönnen – nicht weil er gefühlsduselig gewesen wäre, sondern weil es wichtig war, dass der Junge etwas oder jemanden hatte, um ihn in den Zeiten voller Fährnisse, die vor ihm lagen, bei der Stange zu halten und seinen Opfermut zu stärken. Wenn der Junge hier und jetzt keine Bindung einging, würde es dem Sonderbaren in Zukunft nicht gerade leichtfallen, ihn zu lenken. Also ließ er ihm dies hier.
Der Sonderbare wusste, dass ein Augenblick sowohl ein Zeitpunkt als auch eine eigenständige Kraft war. So kurz und scheinbar unwichtig er auch wirken mochte, wenn man ihn richtig einsetzte, wurde er zu dem winzigen Bruchstück, das etwas von unermesslicher Größe aus dem Gleichgewicht brachte. Ein Kuss konnte Welten zerstören, vielleicht sogar den ganzen Kosmos. Seht doch nur, wie mein theatralischer, aber genau zum rechten Zeitpunkt erfolgter Auftritt auf der Mauer Torpeth dazu verlockt hat, mir den Sonnenmetallhelm vom Kopf zu reißen, sodass ihn sich der aufgeblasene Azual seinerseits auf den Kopf setzen konnte, was ihm letztendlich zum Verhängnis geworden ist. Seht, wie die Tatsache, dass ich dem Heiligen ein einziges Tröpfchen meiner Macht gegeben habe, Jillan endlich gezwungen hat, sich auf seine eigene Macht einzulassen und zur Waffe meines Willens zu werden. Ach, wie einfach und mühelos ist diese Welt doch zu beherrschen! Weder das Geas noch das Reich können hoffen, gegen mich, den Herrn des Chaos, zu bestehen. Das Geas und das Reich lassen sich genauso leicht lenken wie der Junge. Bald wird meine alte Stellung im Kosmos vollkommen wiederhergestellt sein.
Und dazu muss ich nur warten. Ich werde nicht darauf bestehen, dass der Junge seinen Teil des bindenden Handels erfüllt, den wir bei unserem Eintreffen in Hyvans Kreuz geschlossen haben, solange er sich nicht erholt hat. Soll er doch erst Brot brechen, Trinksprüche ausbringen, mit seinen heidnischen Waffengefährten Geschichten austauschen und ihnen ewige Freundschaft schwören – Aspin Langbein, Slavin Schneehaar, dem lästigen Torpeth –, bis sie in die Berge zurückkehren müssen, um Pralar zu begraben und einen neuen Häuptling zu wählen. Soll er doch an der Seite des stoischen Samnir, des sturen Thomas, der lieben Freda, des unreinen Ash, des Händlers Jacob, des bodenständigen Haal und der süßen Hella arbeiten, lachen und lächeln, wenn sie bald darangehen, Gottesgabe wieder aufzubauen. Soll er sich diesem Liebesdienst widmen und daran denken, sich mit seiner Liebsten ein Zuhause zu schaffen, wenn im Frühling die Lebenskräfte eine Erneuerung erfahren. Soll er sich noch eine ganze Weile nicht vor dem eben geflohenen Praxis und vor Hauptmann Skathis fürchten. Sollen die Leute und Helden dieser Region, die nun von der Kontrolle ihres Heiligen befreit sind, beginnen, sich selbst kennenzulernen. Sollen sie die Welt staunend betrachten, als würden sie sie zum ersten Mal sehen. Sollen die Bewohner von Gottesgabe diesen Jungen doch ins Herz schließen und eine Stadt errichten, die dem Reich standhalten kann und den Andersweltlern endlose Schwierigkeiten bereitet. Sollen diese Sterblichen sich darauf besinnen, was Glück ist, damit sie etwas anderes als den Jungen haben, das sie nährt, und mir keinen unnötigen Widerstand leisten, wenn ich komme, um ihn ihnen zu nehmen. Sollen sie ihn dem Gott des Chaos opfern und mich wieder anbeten, wie die Menschen es einst getan haben.