Kapitel 6
DENN WIR KÖNNEN DEM, WAS WIR SIND, NICHT ENTKOMMEN
Der Boden grollte, und Freda erwachte allmählich. Sie war im Schlaf in die Erde eingesunken und hatte nun Mühe, sich zu orientieren. Wo war oben? Sie machte sich in Richtung der sandigeren Schicht auf, und ihr Kopf brach erneut in die Welt der Hohen Herrscher durch. Die ganze Welt war wieder hell wie Sonnenmetall, und sie tastete blind umher, bis sie ein Stück ihres Sackleinens fand und es sich vor die Augen binden konnte.
Sie spürte die Erschütterungen durch die sechs schweren Männer, als sie durchs Lager gingen und die Kinder weckten. Ein paar von ihnen liefen zu den hölzernen Säulen, hinter denen sie sich versteckt hielt, und ließen Wasser. Wie seltsam, dass diese Wesen eine Substanz ausschieden, die einen solch großen Teil ihres Körpers auszumachen schien – taten sie es, um sich daran zu hindern, zu groß zu werden, bevor sie ins rechte Alter dafür kamen? Dann hielt sie sich die Nase zu, als einer der schweren Männer Wasser ließ – seines roch schlecht und nach der Flüssigkeit, die er getrunken hatte, bevor er schlafen gegangen war. Kein Wunder, dass sein Körper sie loswerden wollte! Es roch, als ob er krank war oder im Sterben lag. Der schwere Mann, der eine Pfeife geraucht hatte, begann zu husten und klang auch, als ob er krank war oder im Sterben lag. Sehr seltsame Geschöpfe. Und der schwere Mann begann schon, sich eine weitere Pfeife zu stopfen. Norfred hatte dann und wann eine Pfeife geraucht und dabei immer glücklich und entspannt gewirkt, also hatte der Rauch auf diese seltsamen Geschöpfe vielleicht dieselbe Wirkung wie Diamantablagerungen auf ihre Haut – sie kratzten und schadeten ihr, aber sie fühlten sich ja so gut an!
Die Kinder und die schweren Männer aßen und tranken nasses, fließendes Zeug und gaben den starken Geschöpfen, die sich nicht beklagten und die Wagen zogen, trockenere Nahrung. Dann wurden die beiden Wagen bereit gemacht und rumpelten wieder davon. Sie folgte und blieb dabei so weit im Boden, wie die Netze aus lebendem Holz es ihr gestatteten, um keinen zu großen Teil ihres Körpers dem schmerzhaften Licht der Kugel aus Sonnenmetall auszusetzen, die hoch oben an der blauen Wand der riesigen Höhle hing, in der die Welt der Hohen Herrscher lag. Die Körperteile, die sich über der Erde befanden, verhüllte Freda mit Sackleinen, so gut sie konnte, aber an manchen Stellen fand das Licht trotzdem einen Weg darunter.
Nachdem sie ein paar Stunden lang so gereist war, wurde ihre Haut schmerzhaft trocken und bekam Risse. Solange die Risse sich nicht über ihre gesamte Haut ausbreiteten oder tiefer in sie eindrangen, würde sie schon zurechtkommen. Doch nach noch ein paar Stunden begann sie zu leiden und spürte, dass sie sich nicht mehr so frei wie zuvor bewegen konnte. Wollten sie denn gar nicht Halt machen? Nach den schrillen Geräuschen zu urteilen, die sie ausstießen, brauchten die Kinder eindeutig etwas Erholung. Das Licht der Sonnenmetallkugel brannte erbarmungslos auf sie hernieder, und Freda spürte, wie es auch die Haut der Kinder verbrannte.
Gerade als sie sich zu fragen begann, ob sie die Wagen selbst aufhalten sollte, um den Kindern zu helfen, begann die Sonnenmetallkugel sich zurückzuziehen, und es wurde kühler. Die Wagen hielten ähnlich wie beim letzten Mal, als die Kugel sich zurückgezogen hatte. Die Kinder wurden wie zuvor herumgescheucht, und die Feuer wurden genau auf die gleiche Weise angezündet. Freda ließ ihr Sackleinen an einem sicheren Ort zurück und legte sich an der Stelle, wo die schweren Männer beisammensaßen, unmittelbar unter die Erdoberfläche, um ihr Gespräch zu belauschen.
»… erreichen wir die Alte Festung morgen, nehme ich an«, sagte der Pfeifenraucher gerade, »da es ja unterwegs keine Schwierigkeiten gegeben hat.«
Der Älteste brummte: »Wann gibt es denn je Schwierigkeiten, hm? Aber es ist dennoch schön, dass wir so schnell zurück sind, dass wir Zeit für ein Bad und eine Frau in der Stadt haben, bevor wir die Kinder zu den Musterungsoffizieren der Festung bringen müssen. Am Tag danach eskortieren wir dann das Sonnenmetall nach Erlöserschmiede, sodass ihr ein paar Stunden Freizeit in der Stadt haben könnt, wenn ihr nicht gerade damit an der Reihe seid, den Wagen zu bewachen. Aber bringt euch nicht in Schwierigkeiten, verstanden? Ich will am nächsten Morgen nicht in irgendeiner Absteige, Hinterhoftaverne, Spielhölle oder Bestrafungskammer nach euch suchen müssen. Falls ihr nicht alle anwesend und vorzeigbar seid, wenn ich zum Aufbruch bereit bin, melde ich euch als Deserteure, verstanden?«
Die Männer bejahten fröhlich.
»Ich wette, du findest Pferd am nächsten Morgen im Stall!«, sagte Hager leise und brachte die anderen damit zum Lachen, obwohl Freda nicht verstand, was er andeuten wollte.
»Wenigstens hat ein Pferd eine höfliche Zunge im Maul«, antwortete der Mann, der sich um die starken Tiere kümmerte, die sich nie beschwerten.
»Kann sich nicht beklagen, meinst du«, entgegnete Hager rasch.
Ein lauter Schlag und ein Knacken ertönten, dann schrie Hager vor Schmerz.
»Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dir nur die Nase gebrochen habe«, sagte der Älteste mit gehöriger Befriedigung. »Das war die letzte Warnung für dich, Hager. Wenn du einfach nicht in der Lage bist, deine Zunge respektvoll im Zaum zu halten, schlage ich vor, dass du sie dir herausschneiden lässt, bevor dir stattdessen jemand die Kehle durchschneidet. Und nun hör auf zu heulen – was für ein Soldat weint wegen solch einer Kleinigkeit wie einer gebrochenen Nase?«
»Sieh ’s von der guten Seite«, riet ihm der Große Harald und senkte die stinkende Flasche, aus der er getrunken hatte. »Ich finde, der Hauptmann hat dafür gesorgt, dass du ein bisschen besser aussiehst. Du solltest ihm dafür danken, weißt du.«
Alle lachten. Der Mann mit der Pfeife schien am Ende Mitleid mit dem jaulenden Hager zu bekommen. »Los, rüber hier! Mach dir keine Sorgen. Ich habe so etwas schon einmal gemacht.«
Ein lautes Knacken und Knirschen ertönte, dann schrie Hager sogar noch lauter als zuvor.
»Sterbende sind leiser«, bemerkte Pferd.
»Er scheint reichlich Luft in die Lunge zu bekommen. Das ist ein gutes Zeichen«, befand der Hauptmann.
»Hat auch einen guten Stimmumfang. Er könnte eine Frau auf der Bühne spielen«, wagte der Jüngste sich vor und war entzückt, als die meisten Älteren lachten oder nickten.
»Ich musste sie richten, Hager«, erklärte Pfeife. »Glaub mir – ich habe dir einen Gefallen getan. Wenn sie schief geblieben wäre, hättest du bis ans Ende deiner Tage Schwierigkeiten beim Atmen gehabt.«
»Oder hätte er vielleicht um die Ecke riechen können?«, überlegte der Große Harald laut. »Das wäre nützlich, denn dann würde man wissen, wer um die Ecke kommt, bevor er einem begegnet. Vielleicht sollten wir Hager wieder einen Knick in die Nase machen.«
»Stimmt«, pflichtete Pferd ihm bei. »Wenn man mit einer Freundin spazieren geht und dann riecht, dass eine andere Freundin um die Ecke kommt, dann hätte man Zeit, zu verschwinden oder schnell dafür zu sorgen, dass man ans andere Ende des Reichs versetzt wird.«
»Dann müffen deine Freundinnen ja dziemlich sdinken, Pferd!«, rief Hager, so gut er konnte.
»Was hat er gesagt?«
»Sagst du’s noch mal, Hager? Ich hab’s nicht ganz verstanden. Liegt vielleicht an meinen Ohren.«
»Ich glaube, er hat gesagt, dass Pferds Freundinnen ziemlich stinken müssen«, warf Pfeife hilfreich ein.
Pferd wandte den Kopf zum Ältesten und fragte sanft: »Darf ich ihn diesmal schlagen, Hauptmann?«
Der Älteste dachte einen Augenblick darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Ihr habt alle genug Spaß für heute Abend gehabt. Noch mehr und ihr seid so aufgekratzt, dass ihr nicht ordentlich schlafen könnt. Dann seid ihr morgen müde und gereizt. Ihr wisst doch, wie ihr seid!«
»Stimmt«, räumte Pferd ein.
»Hager, du übernimmst die erste Wache«, sagte der Älteste zu dem leidenden Mann mit dem Maulwurfsgesicht. »Versuch, nicht allzu laut zu sein, ja? Je mehr Schönheitsschlaf dieser hässliche Haufen hier bekommt, desto besser.«
Freda träumte wieder vom Felsgott. Warum sie ihn für den Felsgott hielt, wusste sie nicht, und sie hatte auch keine Ahnung, ob es wirklich der Felsgott war. Es war schließlich ein Traum, und Träume ergaben für Freda nur selten einen Sinn.
»Warum hilfst du mir nicht?«, stöhnte das gewaltige Wesen, während es qualvoll gegen den Schaft aus Sonnenmetall in seinen Gedärmen ankämpfte.
»Ich weiß nicht, wie«, gestand Freda. »Das Sonnenmetall tut mir auch weh. Sag mir, was ich tun soll.«
»Ich habe nicht mehr viel Zeit. Finde Freistatt«, sagte der Felsgott mit ersterbender Stimme.
»Erst muss ich Jan finden, das habe ich Norfred versprochen. Was ist Freistatt?«
Sie erhielt keine Antwort und verlor den Felsgott aus dem Blick.
»Wenn du Freistatt nicht findest, dann trotzt du Gar und bist seine Feindin«, zischte eine Stimme hinter ihr.
Freda drehte sich um und sah, wie sich ein gewundenes Wesen aus grünem Stein durch die Erde auf sie zuschlängelte. Sie wich schnell zurück. »Ich bin niemandes Feindin … außer vielleicht Darus’ Feindin, weil er Norfred verletzt hat. Ich bin nicht deine Feindin. Ich kenne dich ja nicht einmal.«
»Ich bin der Jadedrache von Gars fabelhaftem Willen. Du wirst Freistatt finden, sonst wirst du dich vor meinem Zorn hüten müssen. Wach auf und gib acht!«
Gib acht!
Freda fuhr aus dem Schlaf hoch. Alles war dunkel. Einer der schweren Männer bewegte sich durchs Lager … leise, um sich heimlich anzuschleichen, oder in dem rücksichtsvollen Bemühen, die anderen nicht aufzuwecken? Gedämpft wie die Schritte waren, war sie sich nicht sicher, um wen es sich handelte. Sie hob den Kopf aus dem Boden hervor und konnte im Feuerschein Hager erkennen. Ein Messer funkelte in seiner Hand, und er näherte sich dem schlummernden Hauptmann!
Freda tauchte wieder in die Erde ab, unter dem Lagerfeuer hindurch und dann zurück nach oben, um die Steinhände um Hagers Knöchel zu schließen. Er schrie auf und stach mit der Messerspitze nach unten, sodass sie stumpf wurde.
Freda stieg weiter auf, bis Hager kopfüber etwa einen Fuß über dem Boden hing. Er wand sich, zappelte und stach mit dem Messer um sich. Zu Fredas Glück hatte er sein Schwert aus Sonnenmetall bei seinem Bettzeug zurückgelassen, weil die leuchtende Klinge ihn zu verraten gedroht hätte. Hager erkannte, dass er sich ihrem Griff nicht würde entwinden können, und so begann er, um Hilfe zu rufen.
Die anderen schweren Männer wälzten sich von ihrem Lager hoch und kamen auf die Beine. Der Hauptmann schwenkte sein Sonnenmetall vor ihr. »Wer da?«
Freda ließ Hager fallen und senkte die Hände, um nicht allzu bedrohlich zu wirken.
»Es hat sich an mich herangeschlichen und mich angegriffen!«, rief Hager. »Ich habe versucht, mich zu verteidigen! Holt die Missgeburt von mir weg!«
Die Augen des Hauptmanns richteten sich auf Freda.
»Ich musste ihn aufhalten«, sagte sie und strengte sich an, ihre Stimme nicht zu rau und furchterregend klingen zu lassen. »Er hatte sein Messer in der Hand und wollte dir etwas antun.«
Der Hauptmann drehte sich mit grimmiger Miene zu Hager um.
»Nein, das ist nicht wahr, Hauptmann. Du kannst doch nicht einem Ungeheuer wie dem da eher glauben als einem deiner eigenen Männer! Es muss das Ding sein, das aus dem Bergwerk ausgebrochen ist, das Monster, das wer weiß wie viele Leute getötet hat. Es sagt nur, was nötig ist, um seinen eigenen Hals zu retten.«
»Oder hat getan, was nötig war, um meinen Hals vor deinesgleichen zu retten, Hager.«
»Aber Hauptmann, das kannst du doch nicht glauben!«, winselte das Maulwurfsgesicht. »Ich wäre doch verrückt, so etwas zu versuchen!«
»Was ich glaube, Hager, ist, dass du in der Lage bist, dich aus fast allem herauszureden. Ist es so verrückt anzunehmen, dass jemand mir nachts die Kehle durchschneiden könnte? Ist es so verrückt anzunehmen, dass man, wenn ich am Morgen tot und kalt gefunden würde, vermuten würde, dass über Nacht irgendein Dieb ins Lager eingedrungen ist? Ist es verrückt anzunehmen, dass die Kinder durchsucht werden würden und man bei einem von ihnen ein blutiges Messer finden würde, ein Messer, von dem das Kind nichts zu wissen behaupten würde? Ist es verrückt anzunehmen, dass du am lautesten danach schreien würdest, mich zu rächen, Hager? Nein, es ist nicht verrückt. Sei still, Hager! Gibt es irgendjemanden hier, der etwas zu seiner Verteidigung zu sagen hat?«
Keiner der Männer meldete sich zu Wort, obwohl der Jüngste von Gesicht zu Gesicht sah, bevor er sich entschloss, den Mund zu halten.
»He, warte mal, Hauptmann. Das hier ist kein Geschworenengericht oder Militärtribunal«, protestierte Hager. »Das kannst du nicht machen! Es ist Mord!«
»Du wirst jetzt gehenkt oder kommst in der Alten Festung vors Kriegsgericht. Ich verschwende nicht die Zeit eines Tribunals auf dich, Hager, und ich traue es dir auch durchaus zu, ungeschoren davonzukommen, also lasse ich dich hier und jetzt hängen, wie es in mein Ermessen als Offizier der gesegneten Erlöser gestellt ist. Harald, Pferd, haltet ihn. Du«, wandte sich der Hauptmann an den Jüngsten, »holst ein Seil.«
Hager wehrte sich wild, aber der Große Harald hielt ihn im Schwitzkasten.
»Ich verlange, vom heiligen Goza gehört zu werden, wie es mein gutes Recht ist! Der Heilige wird wissen wollen, warum du dich mit diesem heidnischen Ungeheuer gegen einen Mann aus dem Volk gestellt hast, das unter seinem Schutz steht. Es gibt noch nicht einmal einen Beweis gegen mich. Er wird euch alle hinrichten lassen und bis in alle Ewigkeit verdammen! Du wagst es nicht, mir mein geheiligtes Recht zu verweigern!«
»Ich übernehme die volle Verantwortung für die Hinrichtung«, erklärte der Hauptmann seinen Männern. »Pferd, kneble ihn und bring ihn dann zwischen die Bäume. Die Kinder sollen das hier nicht mit ansehen müssen.«
»Hauptmann, er hat ein Recht auf letzte Worte. Was, wenn er bereuen möchte, bevor er gehenkt wird? Oder wenn er zu denen beten möchte, die ihm vorausgegangen sind?«
Der Hauptmann schwieg einen Augenblick. »So sei es. Sollen doch alle seine Lügen und sein Geschrei hören.«
Freda trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und zog so dank ihrer Körpergröße die Aufmerksamkeit aller auf sich. »Ihr … ihr wollt ihn töten? Ich mag es nicht, wenn jemand getötet wird. Ich habe H…Hager aufgehalten, damit niemand getötet wird. Was, wenn Hager sagt, dass es ihm leidtut, und verspricht, es nicht wieder zu tun? Oder könntet ihr ihn nicht vielleicht bestrafen, ohne ihn zu töten?«
Der Große Harald sah sie ausdruckslos an, der Jüngste so, als wäre sie wahnsinnig.
»Seht ihr? Es ist nicht bei Verstand. Ihr könnt das Wort einer Kreatur des Chaos doch nicht über meines stellen. Das ist es! Es ist ein Teil des Chaos und wandelnde Verderbtheit. Es lügt von Natur aus!«, schrie Hager.
»Wenn ich du wäre, Hager«, schlug Pfeife vor, »würde ich einen Augenblick still sein. Vielleicht versteht sich das Ungeheuer besser darauf, deine Haut zu retten, als du selbst.«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Ich danke dir, dass du eingegriffen hast, um Hagers bösen Absichten zuvorzukommen, aber das hier ist jetzt eine Armeeangelegenheit. Wenn ein Mann versucht, mein Blut zu vergießen, dann darf ich im Gegenzug seines vergießen. Wenn Hagers Verbrechen sich nur gegen mich allein gerichtet hätte, wäre ich vielleicht geneigt, irgendeine andere Wiedergutmachung anzunehmen. Aber sein Verbrechen war auch gegen die Armee, das Reich, die Heiligen und die gesegneten Erlöser selbst gerichtet. Der Tod ist das Mindeste, was er verdient hat. Eine Armee ist nur so stark und schnell wie ihre Disziplin und ihre Strafen. Wenn ich jetzt keine angemessene Strafe verhängen würde, würde ich mich nur mit dem Verbrechen verschwören und es noch weiter schüren. Man kann Hager nie mehr Vertrauen schenken, nachdem er das Vertrauen und die Gemeinschaft seiner Kameraden verraten hat.«
Alle Männer bis auf Hager nickten auf die Worte des Hauptmanns hin.
»Führt ihn ab.«
»Neeiin!«, schrie Hager jämmerlich. »Habt Erbarmen! Ich habe nichts getan. Der Heilige und die Erlöser sehen, was ihr tut!«
Der Große Harald und Pferd führten Hager in die Dunkelheit zwischen den Bäumen, indem sie ihn halb schleiften, halb trugen. Die anderen folgten ihnen. Der Hauptmann warf einen Blick über die Schulter auf Freda, die wie angewurzelt dastand.
»Bitte mach es dir am Feuer bequem. Ich möchte mit dir sprechen, nachdem wir uns um Hager gekümmert haben. Es dauert nicht lange.«
Aber Freda wollte von diesem Ort fortkommen, um nicht die Schreie des Mannes hören zu müssen, den sie zum Tode verurteilt hatte. Sie hielt sich die Ohren zu und rannte davon. Sie tauchte in den Boden ein, aber ganz gleich, wie tief sie sich vergrub, sie konnte ihn noch immer hören. Ich bin ein Ungeheuer, dachte sie düster.
Prediger Praxis versuchte, nicht zu schlecht von dem Heiligen zu denken, als er, wie schon unzählige Male zuvor an diesem Tag, vor Unbehagen schauderte, während er auf dem harten Rücken des übel riechenden Maultiers auf die Ausläufer der südlichen Berge zuritt. Er war in Versuchung gewesen, das Tier Azual zu nennen, hatte aber gerade noch widerstehen können, eine derart offene Blasphemie zu begehen. Der Heilige wusste schließlich alles, was er sagte und tat … vielleicht sogar, was er dachte.
Ja, er musste einen Weg finden, solch ketzerische Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Sonst würden sie ihn von seiner heiligen Mission abhalten, zum heiligen Praxis vom Gebirge zu werden. Nichts durfte seine Mission gefährden, nicht einmal die Gedanken in seinem Kopf. Außerdem waren die Gedanken wohl noch nicht einmal seine eigenen, sondern höchstwahrscheinlich die wispernde Stimme des Chaos, die von nun an eine noch unablässigere Bedrohung darstellen würde, da er sich über die Grenzen des Reichs und der Zivilisation hinausbewegte.
Ich wette, Azuals Mutter wäre dieses Maultier als Sohn ohnehin lieber gewesen. Siehst du, da war noch einer von diesen Gedanken! Aber wie sollte er sie verbannen? Schmerzen würden seinen Verstand von dem Wispern ablenken, wie er wusste, und so verschwendete er keine Zeit, seinen langen schwarzen Mantel auszuziehen und den weißen Ärmel seines Hemds hochzukrempeln, um das milchweiße Fleisch darunter freizulegen. Dann hob er seine Reitgerte – die das Maultier bisher ohnehin fröhlich ignoriert hatte – und peitschte sich damit über den Unterarm. Er wimmerte vor Schmerz, und ein roter Striemen erschien auf seiner Haut. Sein Körper war offensichtlich zu schwach, seine gottgewollte, angemessene Bestrafung klaglos zu ertragen, und würde weiterer Bestrafung bedürfen, bis er gelernt hatte, nicht mehr so wehleidig und damit anfällig für die verlockenden Versuchungen des Chaos zu sein.
Wie gern er mit einer Peitsche auf Azual eingeprügelt hätte! Nein! Er schlug abermals zu, biss die Zähne zusammen und weigerte sich aufzuschreien. Besser so. Wenn er seine Schüler häufiger verprügelt hätte, wäre er jetzt vielleicht nicht allein in der Wildnis. Wer die Rute schont, verdirbt das Kind. Jillan war schuld, dieser böse, verhexte Junge. Der Junge war sogar so verabscheuungswürdig, dass er wahrscheinlich noch nicht einmal ein Mensch war – ja, er war zweifelsohne irgendein Wechselbalg aus dem Chaos. Und seine Eltern hatten in dieser Jauchegrube des Chaos, Neu-Heiligtum, gelebt, bis der Heilige gekommen war und den Ort gesäubert hatte. Die Mutter hatte es bei irgendeinem heidnischen Ritual sicher mit Dämonen und Teufeln getrieben – ja, jetzt konnte er es vor sich sehen! Wie schwach doch das Fleisch war! Er schlug wieder auf seinen Unterarm ein und spürte den Schmerz kaum noch, da sein Glaube ihm nun die Ränke des Chaos enthüllt hatte, um ihn in die Lage zu versetzen, verderblichen Einflüssen und Blendwerk zu widerstehen.
Der Heilige war so weise und barmherzig gegen das Volk, wie er schrecklich und unerbittlich gegen das Chaos war. Der Heilige hatte gesehen, dass Jillan und nicht der pflichtbewusste Prediger die Schuld an allem trug, was vorgefallen war. Er hatte auch gesehen, dass jemand, der so fromm wie der Prediger war, an ein Nest wie Gottesgabe verschwendet war – und dass Praxis bereit war, auf den Weg zur Heiligsprechung entsandt zu werden, denn nichts anderes war die Reise in die Berge. Auf seiner letzten Reise als Prediger würde er seinen Verstand und Körper vollkommen reinigen, um sich darauf vorzubereiten, zum Gefäß für den göttlichen Willen der gesegneten Erlöser zu werden. Zugleich würde er die Berge von den Heiden säubern oder aber die Heiden von ihrer Verderbtheit. Er würde das Reich zum Wohle aller und zum künftigen Ruhm der gesegneten Erlöser vergrößern.
Nun waren ihm das Brennen und der Schmerz der Gerte willkommen, denn sie brachten ihn der Reinheit und Göttlichkeit näher. Der Schmerz war jetzt eine Freude, eine religiöse Ekstase der Offenbarung und Erleuchtung. Und der knochige Rücken des Maultiers war keine Strafe mehr, sondern eher eine süße Geißel für den Teil seines Fleisches, der am anfälligsten für Versuchungen und die wüsten Einflüsterungen des Chaos war. Er durfte es seinem Körper nicht gestatten, ihn zu beherrschen und gar noch seinen Glauben in Mitleidenschaft zu ziehen: Vielmehr musste sein Glaube seinen Körper beherrschen.
Doch wird dein Glaube dich nun nähren, da ein Großteil deines Proviants aufgebraucht ist? Schweig! Er schlug heftig mit der Gerte zu, riss das Fleisch auf und ließ Blut in sein weißes Hemd strömen. Genau wie seine Gemeinde ihn in Gottesgabe pflichtgemäß mit Nahrung, Unterkunft und Kleidung versorgt hatte, würde sein Glaube dafür sorgen, dass er hier in der Wildnis etwas zu essen fand. Er hatte auf seiner Reise schon mehrfach Winterbeeren und Pilze gesehen. Aber du weißt nicht, welche davon giftig sind, und wagst es nicht, sie versuchsweise an das Maultier zu verfüttern.
Er peitschte kräftiger und tiefer als zuvor, zuckte nicht und unterdrückte jedes Wimmern. Der Glaube verlangte keine Antworten und Garantien. Wenn überhaupt, dann wies der Glaube solche Forderungen von sich, denn sie waren aus dem Chaos geboren und versuchten, einen durch nachträgliche Zweifel, Angst und Einschüchterung zur Mitarbeit zu bewegen. »Aufopferung und Pflichterfüllung beschirmen das Volk vor dem Chaos«, zitierte er bei sich aus dem Buch der Erlöser. Außerdem war es ohnehin nicht gut, den Körper zu verzärteln, damit er sich gar nicht erst an solchen Luxus gewöhnte, sich selbst bemitleidete, wenn er nicht zur Verfügung stand, und dann zu schwach wurde, gottgewollte und angemessene Strafen klaglos zu ertragen.
Der Prediger lächelte, hob den Unterarm an den Mund und saugte das hervortretende Blut ein. Er tätschelte auch das Maultier, aber das dumme Vieh ließ nicht erkennen, dass es das auch nur bemerkte. Manche Geschöpfe konnten einfach nicht gezüchtigt oder ermuntert werden. Wie Jillan konnte man sie nicht erfolgreich unterweisen oder tadeln. Wie das Chaos waren sie von Natur aus verderbt, sodass man nur auf eine Art und Weise mit ihnen fertigwerden konnte: indem man sie vollkommen vernichtete.
Der Sonderbare ruhte nie und konnte keine Ruhe finden, so sehr und so lange er sich auch schon danach sehnte. Das Leben und die Gedanken anderer Geschöpfe nagten und zerrten ohne Unterlass an den Rändern seines Wesens. Je mehr das Geas gewachsen war, desto schlimmer war es damit geworden, und so war der Sonderbare froh über die Ankunft der Andersweltler und die brutale Verdrängung des Geas gewesen. Er hatte ihnen sogar geholfen, diese kindischen kleinen Götter Sinisar, Wandar, Gar und Akwar zu stürzen, war aber nicht so weit gegangen, den Andersweltlern zu helfen, das Geas und alle Macht dieser Welt an sich zu reißen. Er wollte schließlich nicht, dass die Andersweltler zu mächtig wurden, denn dann würden sie noch auf den Gedanken kommen, sich gegen ihn zu wenden, um ihm seine Geheimnisse abzupressen. Wenn die Macht dieser Welt irgendjemandem gehören sollte, dann ihm, und wenn er sie nicht bekommen konnte, dann würde er dafür sorgen, dass sie zerstört wurde, damit sie nicht in die falschen Hände fiel.
Er hatte seine Beweggründe immer vor den Andersweltlern geheim gehalten, denn er wollte nicht, dass sie ihn verstanden und so in die Lage versetzt wurden, seine Handlungen vorauszusagen. Seine anfängliche Hilfsbereitschaft hatte sie verwirrt, und er hatte sich geweigert, ihnen seinen Namen zu nennen, sodass sie ihn stattdessen immer den Sonderbaren genannt hatten. Ihnen seinen Namen mitzuteilen hätte es ihnen ermöglicht, einen Teil seines Wesens zu verstehen, und das wollte er wahrhaftig nicht.
Es bestand ein unsicheres Bündnis zwischen ihm und den Andersweltlern. Sie hatten keinen Grund, ihm zu vertrauen, und nach allem, was er gesehen hatte, vertrauten die Andersweltler nicht einmal einander. In mancherlei Hinsicht überraschte es ihn, dass es ihnen überhaupt gelungen war, zu einer Macht im Kosmos zu werden, aber so war es geschehen.
Die Andersweltler wandten sich gelegentlich mit der einen oder anderen Bitte an ihn. Manchmal tat er ihnen den Gefallen – wenn er fand, dass es in seinem Interesse lag, oder wenn die Sache harmlos war und er sie überraschen wollte –, manchmal wies er sie verächtlich oder mit geheucheltem Bedauern zurück. Im Gegenzug verlangte er, dass sie ihm ein Gehäuse aus Sonnenmetall bauten und darum ein weiteres und noch eines und so weiter, damit er einen Ort hatte, den das Leben und die Gedanken der anderen Wesen dieser Welt nur unter Mühen erreichen konnten, einen Ort, an dem die tosende Qual ihres Daseins zu einem raunenden Ärgernis zusammenschrumpfte, einen Ort, an dem er nicht ständig am Rande des Wahnsinns stand.
Das Gehäuse war sein einziger Zufluchtsort, aber nun klopfte jemand an die äußerste Hülle. Jemand kam herein! Er nahm rasch eine graue, vage menschenähnliche Form an, denn er wollte nicht, dass die Andersweltler seine wahre Gestalt und seinen Ursprung erkannten. So wartete er darauf, dass der Besucher sein Allerheiligstes betreten würde.
Der Besucher klopfte beim Näherkommen an die Wand jeder Kammer, um den Sonderbaren frühzeitig von seinem Erscheinen in Kenntnis zu setzen. Insgesamt pochte es sechs Mal, dann begann die kleine, letzte Tür sich zu öffnen. Ein gertenschlanker Andersweltler bückte sich tief, um hereinzukommen, und richtete sich dann zu seiner vollen Größe auf, mit der er bis fast an die Decke reichte. Der Andersweltler beschattete sich die Augen mit der Hand, da das helle Licht des Sonnenmetalls ihm einiges Unbehagen bereitete.
»Wer von ihnen bist du?«, fragte der Sonderbare in gleichmütigem Ton. »Für mich seht ihr alle gleich aus.«
Der Andersweltler nickte mit dem elegant geformten Kopf, eine Geste, die der Sonderbare nicht ganz verstand, aber für eine Art gutes Benehmen hielt. »Ich bin Thraal, derjenige, der schon die letzten drei Male mit dir gesprochen hat. Man sagt, dass meine Wangen breiter und kantiger sind als bei den meisten anderen meiner Art.«
»So? Nun, ich nehme an, es spielt ohnehin keine Rolle, welcher von ihnen du bist?«, fragte der Sonderbare ohne besondere Betonung.
»Wie du sagst, Sonderbarer. Ich besuche dich als Vertreter meiner gesamten Art, also spielt es wirklich keine Rolle.«
»Nur, damit ich es einschätzen kann: Wie viel Zeit ist seit deinem letzten Besuch vergangen?«
»Ungefähr dreihundert Jahre.«
»Hat sich die Welt sehr verändert? Wie steht es um euer Reich? Es kann darum ja nicht zu gut bestellt sein, wenn du mich besuchen musst.«
»Im Gegenteil«, antwortete der Andersweltler geschmeidig. »Und vielleicht wirst du das bald selbst sehen. Aber ich bin neugierig. Was hast du die letzten dreihundert Jahre über getan? Was machst du hier drinnen ganz allein in deiner Kammer? Was nährt dich? Hält das Sonnenmetall nicht fast alle Energie davon ab, hier einzudringen?«
Der Sonderbare unterdrückte ein Gähnen. »Hast du mir diese Fragen nicht schon bei deinem letzten Besuch und denen davor gestellt? Weißt du, ich halte mich beschäftigt. Ich schlafe ein bisschen, meditiere ein wenig, dichte schreckliche Verse – das Übliche eben, ungefähr das, was ihr auch tut, wie ich vermute. Und wovon ich mich ernähre, nun ja … Die Vorfreude auf deinen nächsten entzückenden Besuch ist alles, was ich brauche, um bei Kräften zu bleiben, Thraal. Aber genug von meinen unzüchtigen Gedanken über dich. Was kann ich für dich tun?«
Der Andersweltler blinzelte langsam, als ob er sich jedes Wort, das der Sonderbare gesprochen hatte, ins Gedächtnis einprägte oder die Äußerungen stumm mit anderen seiner Art teilte. »Wir möchten, dass du uns einen bestimmten Jungen bringst. Ihm steht die Art von Macht zu Gebote, die wir beim Volk seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben. Wir wollen, dass du der Pest Einhalt gebietest, die in der südlichen Region ausgebrochen ist. Wir vermuten, dass es eine Verbindung zwischen dem Jungen und der Pest gibt.«
»Sieh mal einer an! Ein altmodischer Bringer von Seuchen und Flüchen.« Der Sonderbare lächelte mit einem Anflug von Nostalgie.
»Es gibt noch etwas Drittes, das wir uns wünschen.«
»Oh, es tut mir leid, wenn ich dich unterbrochen habe. Ich bin nicht gut darin, die Form strikt zu wahren, das weißt du doch. Ich bekomme Rückenschmerzen, und die wiederum wirken sich nachteilig auf meine Hämorrhoiden aus, die mir fürchterliche Schwierigkeiten bereiten. Blut und das alles. Einmal sind ein paar vereitert. Ganz übel. Bekommt ihr überhaupt welche? Hämorrhoiden, meine ich?«
»Wir wollen, dass du uns eine Frau aus Stein bringst. Sie ist aus einem Bergwerk im Süden ausgebrochen. Zuletzt wurde sie auf dem Weg zur Alten Festung gesehen. Dort drüben.«
»Ihr wollt aber wirklich nicht viel, nicht wahr?«
»Erklär dich mir bitte, Sonderbarer. Ich verstehe deine Worte und dein Gebaren nicht.«
»Ist deinesgleichen unfähig, mit solchen offenbar ganz banalen Angelegenheiten fertigzuwerden? Ihr habt ein ganzes Reich zur Verfügung, mit Heiligen, Helden, Predigern und Sklaven, die euch die Latrinen reinigen, nicht wahr?«
»Wir werden dir ein siebtes Gehäuse bauen, obwohl das die gesamten Vorräte des Reichs aufbrauchen wird.«
»Weißt du, Thraal, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du verzweifelt klingst. Sag mir, warum hat der Wahnsinnige wieder zu schreien begonnen?«
Thraal zögerte. Dann sagte er gemessen: »Wir glauben, dass das Geas begonnen hat, sich zu regen.«
»Aber warum hast du das nicht gleich gesagt? Das lässt die Dinge in einem ganz anderen Licht erscheinen. In Ordnung, ich tue es. Allerdings unter zwei Bedingungen.«
»Wie lauten deine Bedingungen, Sonderbarer?«
»Erstens will ich, dass das siebte Gehäuse auch dann gebaut wird, wenn ich nur zwei der drei Aufgaben erledige, und zweitens will ich, dass mir, bevor ich aufbreche, ein Helm zur Verfügung gestellt wird, der ganz aus Sonnenmetall besteht.«
»Dann gibt es eine bindende Abmachung zwischen uns.«
»Und ich will, dass du etwas Hübsches trägst, wenn ich zurückkomme, Thraal. Diese steifen, hausbackenen Roben stehen dir wirklich überhaupt nicht. Hast du schon einmal an etwas mit einem Hauch Farbe gedacht? Rot vielleicht, obwohl das dein Gesicht womöglich noch blasser wirken lässt. Wie wäre es mit Grün? Welche Farbe haben eigentlich deine Augen?«
»Die Aufgaben müssen so schnell wie möglich erledigt werden.«
Der Sonderbare stieß ein übertriebenes Seufzen aus. »Du bist wirklich ein Spielverderber, was? Na gut. Ich ziehe in die Welt hinaus, sobald mein Helm mir überbracht worden ist. Macht ihn schön groß, damit ich hineinwachsen kann. Und keine Knauserei! Ich weiß doch, wie ihr alle seid. Ich bin sicher, dass die Wände des sechsten Gehäuses dünner als die der anderen sind. Sorgt dafür, dass das Metall des Helms gut und dick ist.«
»… und dann hat seine Frau ihn für den Rest seines Lebens jeden Tag im Hundezwinger schlafen lassen«, schloss Jacob.
Aspin lachte laut. Mittlerweile hatte er wohl schon über jeden in Gottesgabe eine Geschichte gehört, aber dem Händler schienen die Anekdoten nicht auszugehen. »Jetzt erzähl mir etwas über Erlöserparadies. Ich war bisher nur einmal dort, und das war, als ich noch klein war.«
Jacobs Augenbrauen, die immer in Bewegung waren, schossen seine breite Stirn hoch. »Wirklich? Nun, ich habe gehört, dass manche Leute ihr ganzes Leben lang die Mauern ihrer eigenen Stadt nicht verlassen. Die alte Yulia in Gottesgabe findet sogar schon seit zehn Jahren, dass sie keinen Grund hat, sich auch nur über ihre Veranda hinauszuwagen, da sie doch einen Prachtkerl von Sohn wie …«
»Aber was ist nun mit Erlöserparadies?«
»Was? Ach ja, Erlöserparadies. Na, sieh mal, die Bäume weichen hier schon offenen Feldern. Alles Land, so weit das Auge reicht, gehört zur Stadt. Es ist ein großer Ort, größer als Gottesgabe und Heldenbach zusammen, schätze ich, und zugleich wohlhabend. Aber trotz all des Reichtums stehen die Einwohner in dem Ruf, sehr gut auf ihr Geld zu achten, wenn du verstehst, was ich meine. Ich bin ja niemand, der etwas für üble Nachrede übrig hätte, aber ich habe gehört, wie manch einer sie als geizig und knauserig beschrieben hat. Ich weiß nicht, ob ich selbst so weit gehen würde, aber sie verhandeln auf alle Fälle hart, wenn es ums Kaufen und Verkaufen geht – ich vermute, so sind sie überhaupt erst so reich geworden, hm? Sie feilschen jedenfalls gern sehr viel, und wenn du einen guten Preis für deine Felle bekommen willst, junger Aspin, dann musst du bereit sein, bis Sonnenuntergang oder gar bis zum nächsten Tag mit ihnen zu schachern, falls du so viel Zeit hast. Ein paar spannen einen bis zum Ende des Markts auf die Folter, so dass man dann verzweifelt jeden Preis nimmt, der einem geboten wird.« Jacob holte endlich Luft und fuhr dann fort: »Die Schwierigkeit besteht darin, dass so viele Leute nach Erlöserparadies kommen, dass die Händler dort es sich leisten können, einen Kauf abzulehnen, wenn ihnen ein bestimmter Preis nicht gefällt, und stattdessen von jemand anderem kaufen. Schlimmer noch, die Kaufleute von Erlöserparadies sind gut organisiert. Sie haben nämlich einen Oberhändler namens Johann Hünensohn, und er trägt nicht nur einen großen Namen, sondern ist auch ein massiger Mann. Sein Leibesumfang ist gar nicht zu übersehen! Wenn Oberhändler Johann festlegt, dass keiner der Händler in Erlöserparadies mehr als einen bestimmten Preis für deine Felle bezahlen soll, dann wird niemand einen höheren Preis bieten. Also mach ihn dir gewogen, falls du ihm begegnen solltest. Du musst ihm vielleicht eine kostenlose Warenprobe überlassen, wenn du verstehst, was ich meine. Außerdem müssen die Kaufleute aus anderen Städten für die Erlaubnis bezahlen, einen Stand auf dem Marktplatz der Stadt aufzuschlagen und dort zu verkaufen. Die Erlaubnis kostet acht Silberstücke – unfassbar, nicht wahr? –, allerdings ist sie dann auch für ein ganzes Jahr gültig. Also müssen die Händler aus anderen Städten höhere Preise für ihre Waren verlangen, um die Kosten der Verkaufserlaubnis wieder einzufahren, und das bedeutet, dass sie gewöhnlich teurer sind als die Händler aus Erlöserparadies, verstehst du?«
»Aber ich habe keine acht Silberstücke«, sagte Aspin.
»Hmm. Nun, du kannst auch einfach umhergehen und deine Waren zur Schau stellen, dann wird schon jemand kommen und dir einen Preis zuraunen. Wenn du damit einverstanden bist, kannst du dem Betreffenden an einen ruhigen Ort folgen, um den Handel abzuschließen, aber damit sind gewisse Risiken verbunden. Manchmal stellt man fest, dass jemand die Stadtwache bereitstehen hat, um einen dafür zu verhaften, dass man ohne Erlaubnis Handel treibt. Dann werden die Waren natürlich beschlagnahmt, und man sieht sie nie wieder – im besten Fall, denn es kann auch geschehen, dass sie beschließen, ein blutiges Exempel an einem zu statuieren, verstehst du? Ansonsten kannst du auch versuchen, sie außerhalb der Stadtmauern direkt an Kaufleute aus Erlöserparadies zu verkaufen, aber da wirst du keinen hohen Preis erzielen, und es sind reichlich Wachen dort, die darauf achten, dass die Kaufleute aus den anderen Städten nicht miteinander Handel treiben und einen konkurrierenden Markt aufbauen. Falls es ganz arg kommt, lasse ich dich die Waren von meinem Stand verkaufen, wenn ich ihn erst aufgebaut habe, junger Aspin. Für das Vorrecht verlange ich von dir auch nur eine Kupfermünze pro Fell – das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann, nachdem du mir auf unserer Reise hier so freundlich Gesellschaft geleistet hast.«
Aspin lächelte. Er musste kein Seelenleser sein, um diesen Mann zu durchschauen: Jacob war überwiegend ehrlich, aber im Grunde seines Herzens doch ein Händler. Das Angebot war redlich. Jacob würde Wort halten, und Aspin verstand genug, um zu wissen, dass er ein bisschen Geld aus diesem Reich würde an sich bringen müssen, wenn er darin überleben wollte. »Danke, mein guter Jacob. Ich nehme dein Angebot an, wenn ich darf.«
»Natürlich, Aspin, mein Junge. Hier, meine Hand darauf! Gut, abgemacht. Ich muss eine Weile vor den Mauern haltmachen, um ein paar alte Bekanntschaften aufzufrischen, Neuigkeiten über die Kaufleute in Erlöserparadies zu hören und so weiter. Du kannst auf mich warten, wenn du möchtest, oder dich in der Stadt umsehen und dann später zu meinem Stand kommen.«
Aspin ahnte, dass Jacob, wenn er erst mit den anderen Händlern zu tratschen begonnen hatte, länger als nur eine Weile brauchen würde. »Dann nutze ich die Gelegenheit, mich in der Stadt umzusehen, wenn es dir nichts ausmacht, um einen Eindruck von den Leuten und ihrem Reichtum zu bekommen, und so weiter.«
Jacob nickte beifällig. »Das ist klug von dir. Ach, ich erinnere mich …«
»Nur noch eines, mein guter Jacob, weil wir doch gerade von Erlöserparadies sprechen. Sind die Leute besonders … fromm? Beugen sie rasch das Knie vor Höhergestellten?«
Dieses eine Mal suchte Jacob nach Worten. »Nun ja, ich … das heißt … Ja, natürlich! Ich glaube, dass sie den Erlösern so treu ergeben sind wie die Bevölkerung jeder anderen Stadt. Ich hoffe, ich habe in dir mit meinem Gerede über ihre Gier beim Handel keinen falschen Eindruck erweckt. Die Kaufleute von Erlöserparadies sind für die anderen Gemeinden ein großer Segen! Ich weiß zufällig sogar, dass Oberhändler Johann ein außerordentlich großzügiger Wohltäter von Prediger Baxal ist und dem Tempel immer mehr als den erforderlichen Zehnten zahlt. Vermute gar nicht erst das Gegenteil, junger Aspin, denn wir wollen den Händlern von Erlöserparadies doch keinen unnötigen Ärger mit dem Heiligen bescheren, nicht wahr?« Dann schnappte Jacob auf einmal nach Luft und wirkte, als sei ihm übel.
»Geht es dir nicht gut, mein lieber Jacob?«
Mit schwacher Stimme antwortete der Händler: »Der Heilige weiß immer Bescheid. Er hat uns sicher gehört. Oh Erlöser, vergebt uns unsere neidischen und unreinen Gedanken! Komm, Aspin, stimm in mein Bußgebet mit ein!«
Aspin murmelte irgendwelchen Unsinn, um mitzuspielen. Anscheinend nannten die Flachlandbewohner die Anderen »die Erlöser« und beteten sie an. Es war offensichtlich, dass Jacob glaubte, dass die Erlöser über die Art von Kräften verfügten, die Göttern zu Gebote stehen mussten, aber wie konnte das sein? Die Anderen waren gewöhnliche Lebewesen, das hatte Aspins Volk jedenfalls immer geglaubt. Doch wie hätten gewöhnliche Lebewesen die alten Götter stürzen können? Wie konnte ein Mensch seinen Gott besiegen? Das war lächerlich, nicht wahr? Warum hätte ein Mensch seinen Gott auch nur stürzen sollen?
Er kratzte sich am Kopf. Vielleicht würde ein Mensch in den Rang des Gottes aufsteigen wollen, wie die Erlöser es getan hatten. Vielleicht würde ein Mensch den Gott auch einfach loswerden wollen. Beide Gründe waren schlüssig. Jetzt, da er darüber nachdachte, war er sich nicht mehr sicher, warum genau er die alten Götter finden und wiedereinsetzen wollte. Ließ er sich nicht einfach von Torpeth lenken? Warum sollte er überhaupt eine neue Autorität über sich aufrichten wollen? Überdies – wer wusste schon, ob die Erlöser nicht letztlich besser als die alten Götter waren? Nach allem, was Jacob ihm erzählt hatte, waren die Flachlandbewohner in ihrem Reich glücklich und wohlhabend und konnten relativ frei über ihr Leben bestimmen. Konnte es sein, dass es Aspins Volk im Reich besser ergangen wäre?
Er seufzte, als er sich an einen Teil seiner Offenbarung aus dem heiligen Eibenhain erinnerte. Es lief alles immer wieder auf das Geas hinaus. Die alten Götter waren die Beschützer des Geas gewesen, der Lebenskraft der Welt. Da die Erlöser an die Stelle dieser Götter getreten waren und ein Reich geschaffen hatten, in dem sie über eine Mehrheit der Menschen dieser Welt herrschten, waren sie nicht mehr weit davon entfernt, über das Geas gebieten zu können. Wenn es nicht Menschen wie Aspins eigenes Volk gegeben hätte, dann wäre die Herrschaft der Erlöser absolut gewesen. Also kam es darauf an, was die Erlöser mit dem Geas vorhatten. Wenn ihre Absichten ausschließlich eigensüchtig waren, dann würde es keinen Willen und keine Bedeutung mehr über das hinaus geben, was von den Erlösern vorgeschrieben wurde. Es würde keine Freiheit und kein Entkommen geben, niemals! Wenn sie es hingegen gut mit dem Geas meinten, dann würden alle bis ans Ende ihrer Tage ein erfülltes, glückliches Leben führen.
Glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Aspin konnte sich nicht vorstellen, was genau das heißen mochte. Das Leben verlief nie so, weil es immer neidische und selbstsüchtige Menschen wie Pralar gab, deren Version eines glücklichen Lebens sich nur auf Kosten anderer verwirklichen ließ. Außerdem war es ganz offensichtlich, dass Jacob Angst hatte, wann immer er den Heiligen erwähnte. Anscheinend hatte das Volk des Reichs etwas von seinen Erlösern zu fürchten.
»Mach dir keine Sorgen, mein guter Jacob. Wenn der Heilige immer Bescheid weiß, dann muss er doch auch wissen, dass wir uns zwar in Spekulationen ergangen, sie aber sogleich wieder bereut haben, als uns unser Fehler bewusst geworden ist. Der Heilige ist gewiss verständnisvoll und vergibt uns unsere Unvollkommenheit.«
»Äh … ja, natürlich! Das stimmt, der Heilige weiß sicher, dass wir es nicht böse gemeint haben. Er ist … b…b…barmherzig. Ja, er ist barmherzig. Dennoch sollten wir heute Abend lange und innig beten.«
»Erhört der Heilige solche Gebete?«
Jacobs fröhliches Lächeln und entspanntes Gebaren waren mittlerweile völlig verschwunden. Er sah Aspin entsetzt an. »Warum fragst du so etwas, Aspin, mein Junge?«, flüsterte er. »Bist du darauf aus, göttliche Vergeltung über unser Haupt zu bringen?«
»Ich wollte ja nur …«
»Nein, Aspin, kein Wort mehr!«, unterbrach ihn Jacob und brachte Tilly und Wuschel ruckartig zum Stehen. »Ich weiß nicht, was Prediger Stixis in Heldenbach so durchgehen lässt, aber dort, wo ich herkomme, gehört es sich nicht, das heilige Wirken des Vertreters der gesegneten Erlöser infrage zu stellen. Ihre Weisheit ist im Vergleich mit unserer eigenen unendlich und übersteigt unser begrenztes Verständnis bei Weitem. Sieh mal, wir sind nicht mehr weit von der Stadt entfernt. Ich schlage vor, du steigst hier ab und gehst den Rest des Weges allein. Es war schön, dich zur Gesellschaft zu haben, aber jetzt muss ich mich um andere Dinge kümmern. Ich wünsche dir viel Glück auf dem Markt und einen guten Tag, Aspin aus Heldenbach.«
Also hatte er ein Gesprächsthema entdeckt, das Jacob, den Händler, zum Schweigen bringen konnte. Das war womöglich ein zweischneidiges Schwert. Aspin konnte voraussehen, dass Jacob keinem anderen etwas über ihr Gespräch erzählen würde, aber es gab auch nichts, was Aspin jetzt hätte sagen können, um sich zu entschuldigen oder die heikle Lage zu entschärfen. Er beschloss, vorsichtiger zu sein, wenn er es das nächste Mal wagte, mit einem Flachlandbewohner über die Erlöser zu reden, griff nach seiner Waffe und seinem Bündel und stieg vom Wagen. Er winkte, als Jacob davonfuhr, aber der Händler warf keinen Blick zurück und beachtete ihn auch sonst nicht mehr.
Der Pfad hier – den Jacob als »Straße« bezeichnet hatte – war glatt und eben, sodass Aspin auch allein gut vorankam, obwohl er darauf achtete, nicht so schnell zu gehen, dass er Jacobs Wagen hätte einholen können. Der Himmel war von einem stumpfen Silbergrau, aber er roch keinen drohenden Regen oder Schnee. Für diese Jahreszeit wäre das in den Bergen als sehr gutes Wetter durchgegangen. Außerdem geriet jeder, der in den Bergen eine weite Strecke zurücklegte, unweigerlich außer Atem, wenn er bergauf stieg, oder hielt die Luft an, wenn er sich bergab tastete. Alles in allem ging es im Flachland also einfach und bequem zu, und Jacobs Erzählungen hatten in der Tat das Bild eines entsprechend verweichlichten und verwöhnten Volkes gezeichnet. Kein Wunder, dass die Anderen dieses Land und seine Leute vergleichsweise mühelos erobert hatten. Aspin durfte sich vom bereitwilligen Lächeln und von der Freundlichkeit der Menschen nicht einlullen lassen, wenn er sich nicht vergessen und ihnen zu ähnlich werden wollte.
Nach kurzer Zeit führte die Straße leicht bergauf, aber die Steigung bereitete ihm keine Schwierigkeiten. In der Ferne sah er allerdings, dass die Straße steiler wurde und die Felder felsigem Boden und Heideland wichen. Er konnte gerade eben die Krone einer Mauer erkennen, die auf einem Höhenrücken verlief. Je näher er herankam, desto besser sah er, wie hoch und lang die Mauer tatsächlich war. Wie groß war dieser Ort, und wie viele Menschen lebten wohl dort? Wie konnte sein Volk je hoffen, gegen die Heerscharen des Reichs zu bestehen, besonders wenn das Reich die Macht hatte, eine Stadt wie diese zu bauen? Er änderte seine Meinung über die Flachländer erneut.
Er stieg den Hang empor und fand sich auf einer gewaltigen Freifläche vor den Mauern wieder, die sich weiter erstreckten, als er es je im Leben gesehen hatte – vielleicht zwei Meilen weit –, und mindestens sechsmal höher waren als er. Diese Stadt musste von Riesen erbaut worden sein! Ihm stand vor Staunen und Furcht der Mund offen, aber bald blinzelte er und sah sich mit gleichem Staunen die zahllosen Wagen an, die den Boden verdeckten. Die meisten waren mit Säcken, Fässern, Kisten und Käfigen beladen. Ein Teil der Ebene wurde für Viehpferche genutzt. Das waren doch gewiss genug Tiere, um eine Armee zu tragen und zu ernähren! Der Lärm war fürchterlich, da Männer und Frauen sich lautstark begrüßten, Neuigkeiten austauschten und um Preise feilschten; Hühner gackerten, Hunde knurrten und bellten einander an, Pferde wieherten und stampften mit den Hufen, Kinder kreischten, während sie in der Menge Fangen spielten, Esel schrien, und hünenhafte Wachen in braunem Leder schrien Leute an, dass sie eine Handelserlaubnis benötigten, und teilten ihnen mit, dass jedes weitere Vergehen einen eingeschlagenen Schädel nach sich ziehen würde. Der Ort war entsetzlich, aber zugleich erregend.
»Ein Paradies ist es nicht gerade, was?«, bemerkte ein Passant lächelnd, als er Aspins Gesicht sah, und verschwand, bevor Aspin eine Antwort einfiel.
»Greif aus Heldenbach!«, rief eine vertraute Stimme irgendwo. »Na, das ist aber eine Überraschung! Dich hier zu treffen hätte ich gar nicht erwartet. Ich habe gehört, die Straße aus deiner Stadt würde noch unter Wasser stehen. Nein? Jemand, den ich unterwegs getroffen habe, hat aber erzählt …«
Aspin erkannte, dass es sich um Jacobs Stimme handelte, und ging schnell in eine andere Richtung, bevor er gesehen werden konnte. Er wurde mehrfach angerempelt und durchgeschüttelt, und jemand beschimpfte ihn. Die Leute begannen ihn anzustarren, und er kam sich schutzlos ausgesetzt vor, obwohl er sich mitten in einer Menschenmenge befand. Da er keine andere offensichtliche Richtung hatte, in die er sich wenden konnte, reihte er sich in die lange Schlange von Leuten ein, die darauf warteten, durchs Stadttor gelassen zu werden.
Sechs Wachen waren am Tor postiert. Sie musterten die Leute von Kopf bis Fuß, überprüften die Erlaubnisscheine gründlich und stellten Fragen. Aspin sagte sich, dass er sich keine Sorgen machen musste – niemand wusste, dass er aus den Bergen stammte, also würde er schon nicht in Schwierigkeiten geraten, oder? Doch die Schlange kam nie zur Ruhe, da einzelne Leute immer wieder den Kopf reckten und sich zur Seite beugten, um zu sehen, was vorne vorging. Anscheinend war diese Art Wartezeit ungewöhnlich.
»Was dauert denn hier so lange?«, rief eine Frau, die hinter Aspin stand. »Wenn ihr uns noch viel länger warten lasst, werden meine Pasteten schal. Wer will sie dann wohl noch haben, hm? Und ich werde alt, wenn ich noch länger hier herumstehe. Wer will mich dann wohl noch haben?«
Hier und da ertönte Gelächter von anderen in der Schlange. Aspin warf einen Blick hinter sich auf die Frau. Sie war mittleren Alters und trug ein tief ausgeschnittenes rotes Kleid, das nur sehr wenig der Phantasie überließ. Aspin vermutete, dass der Stoff teuer gewesen sein musste, denn er hatte noch nie solch eine Farbe gesehen, aber in den Bergen hätte ohnehin niemand ein solch enthüllendes Kleid getragen – zum Teil auch, weil es dort einfach zu kalt dafür war.
Die Frau ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte, und schüttelte die Haare auf. »Gefällt dir, was du da siehst, Süßer? Ich habe ein Feld, das gepflügt werden muss.« Sie grinste ihn auffordernd an und enthüllte zwei Reihen brauner Zähne, zwischen denen es schon einige Lücken gab.
Aspin errötete und wandte sich ab, worüber einige Zuschauer wissend lachten.
»Halt den Mund, Frau«, sagte der Mann vor Aspin über die Schulter. »Weißt du nicht, wer das da in dem dunkleren, goldbesetzten Leder ist? Das ist Skathis, der Hauptmann des Heiligen persönlich.«
»Wirklich?« Die Frau lächelte. »Vielleicht hat er ja gehört, dass ich zum Markt komme, und kann es gar nicht abwarten, mich zu sehen.«
Noch mehr Gelächter. Aspin hielt nach dem Mann namens Skathis Ausschau und sah ihn mit verschränkten, halb nackten Armen hinter den Wachen stehen. Er trug das dunkle Haar kurz geschoren, aber die weißen Narben, die über seine Kopfhaut verliefen, hätten es ohnehin nicht vielen Haaren gestattet, dort zu wachsen. Sein Gesicht war ähnlich furchterregend, da ein Großteil der Haut von den Narben, zu denen alte Schnittwunden und andere Verletzungen verheilt waren, straff gespannt oder verzerrt war. Aspin schloss daraus, dass Skathis zahllose Kämpfe bestanden hatte und ein Mann war, den man fürchten musste, da er sie alle überlebt hatte. Kraft und Kampfgeschick allein konnten dazu nicht ausgereicht haben – der Mann musste zusätzlich mit viel Glück oder einem raschen Verstand gesegnet sein. Skathis beobachtete alles stumm und lauschte, während die Menschen einer nach dem anderen das Tor passierten.
Aspin versuchte, den Mann besser zu lesen, konnte aber nichts herausfinden. Stand irgendetwas seinem Seelenlesen im Weg, oder hatte Skathis einfach zu wenig Seele, um durchschaubar zu sein? Aspin konnte nicht umhin, beunruhigt zu sein. Würde es ihm wirklich gelingen, unbemerkt solch eine genaue Musterung zu überstehen? Was hatte Jacob damit gemeint, dass der Heilige immer Bescheid wusste? Er kaute auf der Innenseite seiner Wange herum und fragte sich, ob er einfach von hier verschwinden und sich eine andere Stadt oder ein Dorf suchen sollte. Aber würde er dort nicht das Gleiche vorfinden? Und wenn er jetzt aus der Schlange ausscherte, würde er dann nicht gerade die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die er vermeiden wollte? Trotz der kühlen Luft spürte er, dass er zu schwitzen begann.
»Was sollen denn all die Fragen?«, wollte die Frau über Aspins Kopf hinweg wissen. »Erkundigen sie sich nach mir?«
»Wart mal kurz«, sagte der Mann vor Aspin und fragte den Mann, der vor ihm stand. Weniger als eine Minute später raunte der Mann ihnen zu: »Sie fragen, woher die Leute kommen und ob sie unterwegs jemandem begegnet sind, der merkwürdig war – jemandem aus Gottesgabe.«
Die Frau schnaubte verächtlich. »Alle aus Gottesgabe sind merkwürdig. Die hausen zu nahe an der Wildnis! Es heißt, dass die kleinen Kinder der Stadtbewohner nachts von dunklen Geistern geraubt und gegen Wechselbälger ausgetauscht werden. Ich kannte einmal einen Mann von da. Er hatte fürchterliche Begierden und dichtes Haar auf dem ganzen Rücken, gar nicht zu reden von seinen zusammengewachsenen Augenbrauen!«
»Spricht doch nichts dagegen, wenn ein Mann ein paar Haare auf dem Rücken hat«, erwiderte eine Matrone ein paar Plätze weiter hinten in der Schlange. »Das ist nur männlich und gibt einem etwas, woran man sich festhalten kann. Sie beklagen sich auch nicht gerade, wenn man sie stattdessen an den Ohren festhalten muss. Und die meisten Männer sind doch ohnehin Tiere, wenn sie auch nur den Hauch einer Gelegenheit dazu haben!«
Gekicher, Rippenstöße, zustimmendes Nicken oder – von den Ehrbareren – vernichtende Blicke. Die Schlange schob sich Stück für Stück vorwärts, und dann kam Aspin an die Reihe. Vier Wachen standen um ihn herum. Hatte Skathis gerade einen halben Schritt auf ihn zu gemacht? Hatten sich seine Augen verengt?
»Woher kommst du?«, fragte ein Wachsoldat, der eine flache Nase und einen durchdringenden Körpergeruch hatte.
Aspin leckte sich die Lippen. »Heldenbach. Die Straße von dort ist nicht mehr überflutet. Ich heiße Aspin Langbein.«
»Nach deinem Namen habe ich dich nicht gefragt«, sagte der Soldat mit sichtlich argwöhnischer Miene. »Und du bist klein. Warum sollte man dich Langbein nennen?«
»Äh … das ist so ein Witz.«
Der Soldat brummte. »Ist sonst noch jemand hier, der für dich sprechen und bestätigen kann, dass du aus Heldenbach stammst?«
Aspin zögerte und dachte verzweifelt nach. »Warte mal … äh … Ja, Greif aus Heldenbach. Greif, der Händler. Sein Wagen steht da drüben. Er hat gesagt, ich könnte meine Felle nachher auf dem Marktplatz von seinem Wagen aus verkaufen, und hat versprochen, auch nur eine Kupfermünze pro Fell dafür zu nehmen.« Er versuchte, nicht zu offensichtlich zu schlucken, und achtete darauf, den Mann namens Skathis nicht anzusehen.
»Du bist also hier, um Ziegenfelle zu verkaufen?«, fragte der Wachsoldat stirnrunzelnd. »Die gibt es doch überall. Warum kommst du von so weither, um Ziegenfelle zu verkaufen?«
Warum sonst hätte er einen Markt besuchen sollen? »Es geht nicht nur um die Felle. Ich habe gehört, dass es in einer Stadt, die so groß wie Erlöserparadies ist, Mädchen geben könnte, die noch niemandem versprochen sind. In Heldenbach scheinen alle schon in festen Händen zu sein.« Es gelang ihm, überzeugend zu erröten und so verlegen zu klingen, dass einer der Soldaten für einen Augenblick grinste, bis ihm auffiel, dass keiner seiner Kameraden lächelte.
»Ist dir auf der Straße irgendjemand begegnet?«, fragte der Soldat mit der platten Nase, der das Interesse zu verlieren begann.
Aspin nickte unschuldig mit großen Augen. »Natürlich. Es kommen doch viele Leute zum Markt.«
»Irgendjemand, der merkwürdig war? Aus Gottesgabe? Der vielleicht eine Rüstung mit reicher Goldverzierung trug?«
Aspin konnte lesen, dass der Wächter ihm nun glaubte und ihn durchlassen wollte. Er stellte diese letzten Fragen nur, weil es ihm befohlen worden war und weil Skathis zuhörte. »Ha! Alle aus Gottesgabe sind etwas merkwürdig, habe ich gehört.«
»Stimmt genau!«, sagte die Frau im roten Kleid hinter Aspin.
Plattnase schaute zu der Frau hoch, und Interesse blitzte in seinem stumpfen Blick auf. Er winkte Aspin durch und hatte ihn bereits vergessen.
Aspin hielt den Blick gesenkt und eilte vorwärts, doch mit wachen Sinnen. Im allerletzten Moment las er, dass Skathis auf ihn zustürmte. Er wich nach links aus, aber etwas Schweres traf ihn im Nacken und ließ ihn stocksteif stehen bleiben.
Alles wurde dunkel. Er spürte rauen Stoff an Stirn und Wangen, und der Geruch eines einschläfernden Krauts drang ihm in die Nasenlöcher. Sie hatten ihm einen Sack übergestülpt, als ob er ein ungezähmtes Tier wäre.
»Bewegt euch, ihr elenden Mistkerle!«, bellte eine schneidende Stimme, die nur Skathis gehören konnte. »Er ist es! Die Beschreibung passt auf ihn. Legt ihm die Eisen um Handgelenke und Knöchel. Schnell! Er ist gefährlich. Nein! Zieh ihm die Hände auf den Rücken, Schwachkopf! Fuß in die Kniekehle. Haltet ihn nieder.«
Zwei Männer drückten Aspin zu Boden. Wie konnte das nur geschehen? Seit er im Flachland war, hatte er nur Jacob getroffen, und der Händler konnte noch keine Gelegenheit gehabt haben, ihn zu verraten, und sei es auch unabsichtlich. Wie konnten diese Männer wissen, dass sie ihn abpassen sollten, obwohl er doch nicht einmal selbst gewusst hatte, dass er nach Erlöserparadies kommen würde?
»He, was macht ihr denn da mit ihm?«, schrie die Stimme der Frau im roten Kleid. »Er ist nur ein Junge. Ihr müsst doch nicht gleich alle über ihn herfallen! Es gibt keinen Grund, so zu übertreiben!«
Skathis ignorierte sie. »Habt ihr den Knebel? Zieht ihm den Kopf in den Nacken.«
Der Stoff vor seinem Gesicht straffte sich, und sein Hals wurde vom Boden hochgebogen.
»Jetzt.«
Die Kapuze löste sich. Aspin blinzelte verwirrt. Von irgendwoher kam eine Faust und versetzte ihm einen kräftigen Hieb ins Gesicht. Seine Oberlippe platzte auf, und ein Zahn brach ab. Der Unterkiefer hing ihm schlaff herunter. Ein zusammengeknülltes Stück Stoff wurde ihm in den Mund gezwängt und als Knebel festgebunden.
Vor seinen Augen verschwamm erst alles, dann richtete er den Blick auf Skathis’ erbarmungsloses Gesicht.
»Noch immer bei Bewusstsein, trotz der Kräuter, was? Zäher kleiner Kerl.« Skathis nickte einem Soldaten zu, der in der Nähe stand. Ein weiterer Fausthieb traf Aspin an Wange und Kinn und ließ ihn in die Dunkelheit trudeln.
»Ihr Rohlinge!«
»Ihr beiden schafft ihn in die Bestrafungskammer, und ich unterrichte den Heiligen von unserem Erfolg. Und bringt endlich diese Frau zum Schweigen!«
Jillan beobachtete von weiter hinten in der Schlange entsetzt, wie die Helden den unschuldigen Jungen wegschleiften. Er tauschte einen Blick mit Ash.
»Denkst du etwa …«
»Es ist das Beste, gar nicht zu denken – zumindest nicht laut«, murmelte Ash. »In Ordnung, mach einfach nach, was ich tue. Bereit? Jillan, pass doch auf!«
»Was? Ja, in Ordnung.«
»Bleib jetzt nahe bei mir. Gehen wir.«
Der Waldläufer schob sich unauffällig vorwärts, als die Reihe von Menschen sich nach rechts und links bewegte, um einen besseren Blick auf den Tumult zu erhaschen. Jillan hielt sich dicht hinter Ash und stellte fest, dass sie sich Stück für Stück dem Tor näherten. Dort standen jetzt weniger Wachen und hatten ihre liebe Not damit, die vielen Menschen, die in die Stadt drängten, in irgendeiner Form geordnet abzufertigen.
Ash schien instinktiv zu spüren, wann sich jemand vor ihm nach links oder rechts bewegen würde, denn er schob sich immer genau zum rechten Zeitpunkt in die Lücke, die ein anderer hinterließ. Er und Jillan kamen so glatt und mühelos voran, dass es fast wirkte, als würde die Menge sich vor ihnen teilen. Binnen kürzester Zeit waren sie beim Tor angelangt.
»Bleib bei mir. Warte hier eine Sekunde. Warte. Jetzt gehen wir.«
Sie traten genau in dem Moment vor, als der Wachsoldat vor ihnen einem jungen Mädchen beisprang, um einen wackeligen Stapel von Eierpaletten zu stützen. Ash drehte sich zur Seite – scheinbar, um dem Soldaten Platz zu machen – und schlüpfte zugleich an ihm vorbei.
»Danke«, sagte der Soldat abgelenkt, als er wieder Atem geschöpft hatte.
»Nichts zu danken«, murmelte Ash und zog Jillan in die Stadt.
Sie waren auf einer Straße mit Kopfsteinpflaster, die geradewegs ins Stadtzentrum und damit vermutlich zum Marktplatz führte. Sie war so breit, dass zwei Wagen aneinander vorbeifahren konnten, doch im Augenblick wäre aller Verkehr stadteinwärts geströmt, wenn er nicht zum Stillstand gekommen wäre, weil ein Karren ein Rad verloren hatte, sodass Hühnerkäfige aufs Pflaster purzelten und einer großen Anzahl aufgescheuchter Vögel die Flucht gelang. Ein paar Fußgänger standen daneben und sahen sich den Spaß an, während andere versuchten, die Hühner zurück zu dem rotgesichtigen Fuhrmann zu scheuchen, während wieder andere hinter ihm entweder wütend auf ihn einschrien oder die Ärmel hochkrempelten, um ihm zu helfen, das Rad wieder anzubringen.
»Wer braucht da noch das Chaos, hm?« Ash zwinkerte Jillan zu. »Die Leute sind mehr als in der Lage, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Komm schon, lass uns dort entlanggehen.«
Ash führte ihn nach links in eine schmale Gasse, der sie ein Stück weit folgten. Die hölzernen Gebäude auf beiden Seiten waren überwiegend zweistöckig und ragten über die Straße, so dass Regen und Unrat, der von oben kam, weit von den Haustüren entfernt landeten. Die Gosse quoll vor verrottendem Gemüse, Früchten, Haarballen und Schlimmerem über. Ein räudig aussehender Hund fraß etwas Unkenntliches, und eine verärgerte Ratte quiekte ihn dafür an. Ein nacktes Kleinkind, dem der Rotz aus der Nase lief, saß auf einer Türschwelle und prügelte mit einem Stock auf den Kadaver eines Nagetiers ein.
»Bei den Erlösern, das stinkt vielleicht!« Jillan würgte, und ihm schossen Tränen in die Augen.
»Oh, daran gewöhnt man sich, und was einen nicht umbringt, macht einen nur stärker«, erwiderte Ash fröhlich. »Es ist nicht das wohlhabendste Viertel der Stadt, gewiss, und könnte hier und da einen neuen Anstrich gebrauchen, aber hier bekommt man zugleich das billigste Bier.«
»Wir sind zum Biertrinken hier?«, fragte Jillan laut und blieb stehen.
»Was?«, sagte Ash, während eine Frau aus einer Tür hervortrat; an einer ihrer entblößten Brustwarzen nuckelte ein Säugling. Sie lächelte Ash an und machte dann einen Schmollmund, als ob das Kind ihr zugleich Freude und Schmerz verursachte. »Ich … äh …« Ash blinzelte und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf Jillan zu richten. »Hör mal, dahinten gibt es ein paar Wirtshäuser«, sagte er mit gesenkter Stimme, »in denen wir nach deinem Freund, diesem Thomas, fragen und Leute bitten können, die Augen nach deinen Eltern offen zu halten, ohne dass die Helden der Stadt darauf aufmerksam werden. Einer der Wirte mag meine Holzschnitzereien und nimmt sie mir gewöhnlich im Tausch gegen einen guten Tropfen ab – es sei denn natürlich, du hast Silber bei dir, mit dem wir Informationen kaufen können oder das Bier, das wir brauchen, um anderen die Zungen zu lösen. Wie ist das, hast du viel Silber dabei?«
Jillan schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Was ist mit dem Jungen, den die Helden angegriffen und mitgenommen haben?«
»Was soll schon mit ihm sein?«, antwortete Ash ungerührt.
»Na, es war doch meine Schuld, dass er verhaftet worden ist. Sollten wir nicht sehen, was wir unternehmen können, um ihm zu helfen?«
Ash blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Bist du wahnsinnig? Was glaubst du denn, was wir unternehmen können, wenn die Helden der Stadt ihn haben?«
»Ach, ich weiß nicht«, musste Jillan eingestehen. »Aber wir können doch herausfinden, wohin sie ihn gebracht haben, nicht wahr?«
»Sieh mal«, sagte Ash im Ton übertriebener Geduld, »wir wissen nicht sicher, dass sie ihn für dich gehalten haben. Vielleicht wurde er wegen eines Diebstahls oder so etwas gesucht. Und wenn sie einen Fehler gemacht haben, wird ihnen das bald auffallen, und sie werden ihn freilassen, nicht wahr? Ihm passiert schon nichts. Hör auf, dir Sorgen um andere Leute zu machen, Jillan, wenn du besser daran tätest, dir Gedanken um dich selbst zu machen. Findest du nicht, dass du so schon genug um die Ohren hast? Jetzt komm.«
Jillan folgte ihm, und obwohl er nicht ganz zufrieden mit der Art war, wie Ash alles für sie beide entschied, hatte er seiner Argumentation doch für den Augenblick nichts entgegenzusetzen. Außerdem hatte Jillan keinen eigenen Plan, wie er darangehen sollte, Thomas Eisenschuh oder seine Eltern in einer Stadt zu finden, die so groß wie Erlöserparadies war. Er kannte niemanden und wusste auch nicht, welche Spielregeln hier galten. Da er also kaum eine Wahl hatte, als sich fürs Erste an Ash zu halten, beschloss er, das Beste daraus zu machen. Er war auch neugierig, wie so ein Wirtshaus eigentlich aussah, denn er hatte in Gottesgabe nie eines besuchen dürfen. Wirtshäuser waren Orte, an denen Erwachsene sich offen über die Dinge unterhielten, die sie gewöhnlich nur mit gesenkter Stimme besprachen, wenn Kinder dabei waren, Orte, an denen Menschen sangen und an Winterabenden am hellen, warmen Feuer würfelten, Orte, an denen Männer und Frauen tranken, bis sie fröhlich wurden, Orte, an denen verbotene Verabredungen stattfanden. Sie waren gefährliche, aufregende Orte.
»Da sind wir«, verkündete Ash vor einer Tür am Ende einer Häuserzeile.
»Woher weißt du, dass es ein Wirtshaus ist?«, fragte Jillan.
»Alles, was man braucht, um das festzustellen, ist doch der Zustand der Straße an dieser Stelle, nicht wahr?«
»Vermutlich.« Jillan nickte und stellte fest, dass der Gestank nach Urin und Erbrochenem hier stärker war als anderswo in der Straße.
»Mach dir keine Sorgen, drinnen ist es besser. Aber überlass das Reden mir, abgemacht?«
Das Wirtshaus bestand aus einem einzigen großen Raum voller Tische und Bänke mit einer Theke in einer Ecke und einer engen Treppe, die ins Obergeschoss führte. Die Fenster waren klein und ließen den Schankraum düster wirken, obwohl es früher Nachmittag war und auf mehreren Tischen schwach leuchtende Kerzen brannten. Im Gegensatz zur Straße draußen war es hier jedoch vergleichsweise voll. Ein Grüppchen aus vier Händlern unterhielt sich laut und trank sich begeistert zu, als ob die Männer alte Freunde wären, die sich schon lange nicht mehr getroffen hatten. Ein hoffnungsvoll dreinblickender Jüngling, dem aber niemand viel Aufmerksamkeit schenkte, hockte in einer Ecke und zupfte unmelodisch an einer Laute herum. Mehrere alte Männer saßen allein da, nippten an ihren Getränken und beäugten verstohlen eine gelangweilte Hure. Zwei Männer stritten sich über den Preis irgendwelcher Waren, und ein magerer, sauertöpfischer Geselle saß da, säuberte sich die Fingernägel mit der Messerspitze und beobachtete nebenbei alle anderen.
Eine Schankmagd bewegte sich so träge durch den Raum wie die Fliegen, aber es war der Wirt selbst, der herübergeeilt kam, als Ash und Jillan einen kleinen Tisch für sich allein an der Wand neben der Treppe fanden. Der Wirt war ein recht kleiner Mann – einen guten Kopf kleiner als Ash –, hatte aber kräftige Arme und einen ausladenden Brustkorb. Er erwiderte Ashs unentwegtes Lächeln nicht, aber es lag auch keine Feindseligkeit in seinem Tonfall, als er das Wort ergriff.
»Die letzten beiden Schnitzereien haben sich mühelos verkauft. Ich kann dir sogar etwas zu trinken ausgeben, Waldläufer.«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Schankwirt Randvoll. Wie ist es dir so ergangen?«
»Hör auf mit dem Unsinn, sonst lasse ich dich von meiner Klinge an die frische Luft setzen«, sagte der Wirt und wies mit knapper Geste auf den mürrischen Mann, der sich die Nägel reinigte. »Ich nehme an, du hast kein Geld.«
»Noch nicht, aber …«
»Dann zeigst du mir, was du hast; wir einigen uns auf einen Preis, dein Getränk geht aufs Haus, und dann verschwindest du wieder, bevor du meine Gäste störst wie beim letzten Mal.«
»Nein, warte, das war doch nicht meine Schuld! Dieser Schafskopf …«
»Ich will es gar nicht hören«, fiel ihm der Wirt grob ins Wort. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich überhaupt einen Unreinen unter meinem Dach dulde, besonders, da der geweihte Heilige in der Stadt ist. Missbrauche meine Großzügigkeit nicht dadurch, dass du mir Ärger machst, verstanden?«
Ashs Lächeln verschwand, aber er brachte ein steifes, zustimmendes Nicken zustande.
»Der Heilige ist hier?«, fragte Jillan schwach, aber die beiden Männer beachteten ihn gar nicht.
»Was hast du mir also gebracht?«, drängte der Wirt. »Hast du daran gedacht, gütige Baum- und Naturgeister zu schnitzen, wie ich es dir gesagt habe? Die Erlöser mögen es dem Volk dieser Stadt vergeben, aber solche Trugbilder sind immer beliebt. Oder Totemtiere? Oder einen hölzernen Phallus, vielleicht auch zwei, für die Fruchtbarkeit?«
Ash suchte in seinem Lederbeutel und zog einige in Stoff gehüllte Gegenstände daraus hervor. Der erste war eine Schnitzerei, die den schwarzen Wolf zeigte und mit Holzkohle gefärbt war.
»Schön. Gut beobachtet. Das wird sich verkaufen. Aber lass ihn nächstes Mal wilder aussehen, sodass er mehr Zähne zeigt.«
Als Nächstes kam eine hübsche junge Frau mit Haaren, die wie ein Wasserfall an ihr hinabglitten.
»Ich glaube, ich bin verliebt. Siehst du solche Frauen vor deinem inneren Auge, Waldläufer? Du bist da draußen doch ziemlich einsam, was?«
Die dritte Schnitzerei war ein ziemlich gewöhnlicher Fliegenpilz.
»Was um alles in der Welt soll das? Die Leute können doch einen echten bekommen, wann immer sie wollen. Lächerlich. Lass ihn als Kerzenhalter hier, dann gebe ich dir noch etwas zu trinken aus.«
Der letzte Gegenstand war ein seltsamer, wirrer Knoten aus Schlangen, langstieligen Blumen, Aalen, gewundenem Efeu, Salamandern und summenden Bienen. Sie waren so naturgetreu dargestellt, dass das Durcheinander sich im Kerzenschein zu bewegen schien.
Der Wirt machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. »Bei den Erlösern, was hast du getan, Waldläufer?«, hauchte er. »Deine Kunstfertigkeit steht außer Frage, aber warum hast du sie hierfür benutzt? Das ist falsch. Ich weiß nicht, wie oder warum, aber falsch ist es. Schnell, steck es wieder ein, bevor jemand anders es sieht und sich die Sache gar noch bis zu Prediger Baxal herumspricht.« Seine Worte überschlugen sich, genau wie das Chaos des Lebens es in der Schnitzerei tat. Der Wirt blieb keuchend und mit schweißglänzender Stirn zurück.
»T…tut mir leid«, nuschelte Ash. »Ich weiß nicht, was mich veranlasst hat, das zu schnitzen. Ich habe zu dem Zeitpunkt an nichts weiter gedacht.«
»Auf alle Fälle will ich so etwas Monströses nie mehr sehen, bitte«, beharrte der Wirt, der nun, da die Schnitzerei in Ashs Tasche verschwunden war, wieder freier atmete. »Also, lass mal sehen … für den Wolf und das Mädchen vier Silberstücke. Für den Fliegenpilz einen Krug und noch einen, der aufs Haus geht.«
»Sie sind das Doppelte wert«, sagte Ash hoffnungslos.
»Dann versuch doch dein Glück bei anderen. Schlag ein oder lass es bleiben, aber nachher habe ich vielleicht keine vier Silberstücke mehr übrig. Komm schon, das reicht doch, um deine monatlichen Vorräte zu kaufen, solange du nicht alles für Bier ausgibst.«
»Gibst du mir noch ein Bier dazu, weil das Mädchen so besonders schön geworden ist?«
Der Wirt zögerte, gab dann aber nach. Er spuckte sich in die Handfläche und schüttelte Ash die Hand. »Also drei Bier. Willst du das erste jetzt gleich?«
Ash hielt die Hand des Mannes fest. »Eigentlich habe ich auch auf ein paar Informationen gehofft. Nicht viel, nur ein paar Neuigkeiten aus der Stadt – warum der Heilige so spät im Jahr noch hier ist und wo ich einen Mann namens Thomas finden könnte, all so etwas.«
Der Wirt entzog ihm seine Hand und wischte sie sich an der Schürze ab. »Ich habe ein Wirtshaus zu führen. Ich habe keine Zeit für Klatsch und Tratsch, Waldläufer. Außerdem scheint solches Gerede nur Ärger nach sich zu ziehen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ash sah ihn bekümmert an. »Natürlich hast du recht, mein guter Schankwirt, aber wenn ich diesen Thomas aufspüren kann, gibt er mir vielleicht ein bisschen Geld, Geld, das ich natürlich gern bei denen ausgeben oder anlegen möchte, die mir in der Vergangenheit geholfen haben.«
Der Wirt zögerte, denn wie alle in Erlöserparadies ließ er sich nicht gern die Gelegenheit zu Mehreinnahmen entgehen. »Warum bittest du nicht meinen Türsteher zu dir herüber? Er kennt sich besser mit denen aus, die kommen und gehen. Ich bringe dir das Bier und ein schwaches für den Jungen. Der Mann heißt Spiro.«
Auf einen Wink des Wirts hin trug Spiro einen Stuhl zu Ash und Jillan hinüber und setzte sich mit einem Nicken. Er war braun gebrannt und hatte die Art von dunklem Äußeren, die im Osten des Reichs weitverbreitet war, der Region, in der es die meisten Unruhen gab und in der ein Mann nur durch seinen Verstand und seine Kraft überleben konnte. Mit Spiro war wahrscheinlich nicht zu spaßen. Er wartete schweigend.
»Äh … darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«, wagte Ash sich vor.
»Das wäre durchaus willkommen«, sagte Spiro mit einem Akzent, der nicht dem ortsüblichen entsprach. »Was willst du?«
»Es heißt, der Heilige sei hier. Das ist ein unverhoffter Segen für die Stadt.«
Spiro erstarrte und ließ den Blick ein zweites Mal prüfend über Ash und Jillan huschen. »In der Tat. Darin zeigt sich die Güte und Redlichkeit der gesegneten Erlöser, die das Wohl des Volkes gewährleisten, selbst wenn es Schwierigkeiten gibt.«
»Gepriesen seien die Erlöser! Haben diese Schwierigkeiten ihren Ursprung in Erlöserparadies, wenn der Heilige hierherkommt?«
»Nein, soweit ich weiß. Es ist in Gottesgabe zu einem feigen Mord gekommen. Der Mörder soll auf dem Weg hierher sein, womöglich in ungewöhnliches Leder gekleidet.« Spiros Blick wanderte zu Jillan hinüber. »Tut mir leid, aber ich habe eure Namen nicht verstanden.«
Der Wirt kehrte zurück und stellte zwei schäumende Krüge und einen halben Becher auf den Tisch. Jillan widerstand dem Drang, den Umhang zurechtzuziehen, der seine Rüstung verbarg. Er hielt seinen Gesichtsausdruck so natürlich und nichtssagend, wie er nur konnte, war sich aber nicht sicher, wie überzeugend er war. Wenn der Kämpfer nur aufgehört hätte, ihn so zu mustern!
Ash hob seinen Krug, prostete Spiro und Jillan damit zu und trank dann mehrere große Schlucke, bevor er sich den Schaum von der Oberlippe wischte. »Ah, das tut gut! Ich bin Ash, und …«
»Ich habe schon von dir gehört.«
»… und das ist mein Vetter Owain aus Heldenbach.«
»Ein ungewöhnlicher Name, Owain«, bemerkte Spiro und beobachtete Jillan weiter.
Ash lachte. »Seine Eltern wollten mit dem Jungen schon immer hoch hinaus. Er ist hergekommen, um die Tochter einer guten Familie kennenzulernen. Sie setzen große Hoffnungen in ihn, und Owain setzt große Hoffnungen in die Tochter, was, Owain?«
Jillan nickte stumm. Er hustete und sagte schwach: »Ich fühle mich nicht so gut.«
»Du siehst auch ein bisschen grün um die Nase aus. Er soll das Mädchen in ein paar Stunden zum ersten Mal treffen«, vertraute Ash dem Kämpfer an. »Warum schnappst du nicht ein bisschen frische Luft, solange ich mich hier mit Spiro unterhalte? Geh doch einfach eine Runde über den Markt spazieren. Wir treffen uns dann nachher dort.«
»J…ja, ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Jillan und zog sich zurück.
Der Waldläufer ist ein Trunkenbold und reine Platzverschwendung, flüsterte der Makel. Hast du die erbärmliche Art gesehen, wie er den Wirt geradezu angebettelt hat, ihm seine Schnitzereien abzukaufen? Der Waldläufer ist unrein. Er hat hier in Erlöserparadies weder Freunde noch Einfluss, aber er sehnt sich verzweifelt nach Anerkennung. Wenn er erst betrunken ist, wird er dich für einen Krug Bier an Spiro verraten. Vergiss ihn!
Jillan trat mit einem erleichterten Seufzen aus dem Wirtshaus ins Freie. Die Luft kühlte seine heißen Wangen und half ihm, die Beherrschung über seine Nerven zurückzugewinnen. Der Heilige war jetzt näher denn je. Und der Heilige wusste immer Bescheid! Vielleicht waren bereits Helden auf dem Weg zum Wirtshaus.
Jillan sah sich in beiden Richtungen in der Gasse um, aber alles schien ruhig zu sein. Er ging den Weg zurück, den sie gekommen waren, und schloss sich dem Gedränge aus Menschen und Wagen auf der Hauptstraße an. Er kam nur langsam voran, aber zumindest würde ihn in diesem Durcheinander auch niemand so leicht finden.
Nachdem er sich eine ganze Weile stückchenweise vorwärtsgeschoben hatte, stellte Jillan fest, dass die Straße, auf der er sich befand, sich verbreiterte und andere Durchgangsstraßen kreuzte, und auf einmal befand er sich im geordneten Gewirr des eigentlichen Marktes. Die meisten Wagen und Stände waren an den Rändern des gewaltigen Versammlungsplatzes aufgestellt, der so groß war, dass das ganze Zentrum von Gottesgabe vier- oder fünfmal darauf unterzubringen gewesen wäre, aber mehrere Dutzend hatten die günstigste Position in der Mitte und anscheinend fest eingerichtete Verkaufstische.
Es sah so aus, als ob jeder in Erlöserparadies zum Markt auf die Straße geströmt wäre, denn Jillan konnte höchstens ein paar Schritte machen, ohne mit einem anderen Menschen zusammenzustoßen. Die meisten trugen die Art feiner Kleidung, die in Gottesgabe nur an Tempeltagen zu sehen war. Diejenigen, die nicht reich genug waren, schöne Kleider zu besitzen, suchten sich eine Stelle, von der aus sie die anderen beäugen, um Münzen betteln oder Geldbeutel stehlen konnten.
Der Menschenstrom schwemmte Jillan in die Mitte, und er fand sich vor dem Stand eines hünenhaften Mannes wieder, bei dem es sich nur um einen Schmied handeln konnte. Auf seinem Tisch waren funkelnde Messer, Schwerter und Äxte jeder Art und Größe zur Schau gestellt. Sie waren weit mehr als nur Werkzeuge für bloße Bauern.
Die Waffen und ihre glänzenden Oberflächen hatten etwas Hypnotisierendes. Jillan hätte gern eine hochgehoben, sie in der Hand gehalten und erspürt, wie ausgewogen sie war, aber zugleich fürchtete er sich vor dem, was in den scharfen, hungrigen Schneiden steckte. Er brauchte eine echte Klinge, mit der er sich verteidigen konnte, das wusste er: Die Auseinandersetzung mit Wacker hatte es ihm bewiesen.
»Bessere wirst du nicht finden«, verkündete der Riese mit einer Stimme, die so tief war, dass man sie ebenso sehr spürte wie hörte.
Jillan blinzelte langsam und nickte.
»Natürlich sind sie teuer. Ich müsste Gold sehen, sogar für eine der kleineren Klingen … oder etwas Wertvolles, das du vielleicht zum Tausch anbieten kannst.«
Jillan starrte sein Spiegelbild in einem langen, zweischneidigen Messer an. Die Augen, die ihn ihrerseits ansahen, blickten ihm geradewegs ins Herz und ließen ihn wie gebannt stehen bleiben.
»Ich habe mein Handwerk im Osten erlernt«, brummte der Riese leise, »wo man die Klingen im Blut seiner Feinde härtet und kühlt. Es heißt, dass solche Klingen dem Besitzer die Kraft, das Wissen und die Fähigkeiten all derer verleihen, deren Leben und Blut geopfert wurden, um die Klinge zu schmieden.«
Jillan hatte einen Gegenstand im Gepäck, den der Schmied vielleicht im Austausch annehmen würde. Gib ihm Samnirs Klinge, flüsterte der Makel. Sie ist nur eine stumpfe, unhandliche Zeremonialwaffe, die einem im Kampf nichts nützt. Aber da sie aus dem Großen Tempel stammt, ist sie wahrscheinlich wertvoll. Der Schmied könnte sie einschmelzen, um etwas anderes daraus zu machen. Jillan begann, nach der klobigen Klinge zu suchen, die natürlich ungünstigerweise in seinem Bündel ganz nach unten gerutscht war. Er fand eine Schneide und tastete sich daran entlang, um den Griff zu finden. Seine Hand streifte mehrere der Steine aus seiner Sammlung, die er bis jetzt vergessen hatte. Er packte die sogenannte Waffe und zog daran, aber sie hing an etwas fest und wollte sich einfach nicht lösen.
»Dummes …«
»He, Junge!«, rief eine vertraute Stimme. »Hier drüben!«
»Was hast du denn da?«, fragte der Schmied neugierig, als er das polierte Metall erspähte, und beugte sich näher heran.
Jillan sah sich um. Seine Verärgerung wich Entsetzen, als er sah, dass Jacob, der Händler, ihm von einem Stand am Rande des Versammlungsplatzes zuwinkte. Sollte er davonlaufen? Nein, damit würde er nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und der Schmied näherte sich ihm ohnehin schon.
Er wandte sich um und sah dem Riesen in die Augen. »Ich bin gleich zurück. Leg das lange Messer für mich zurück, ja?«
Der Schmied sah zwischen Jillan und Jacob hin und her. »Na gut«, sagte er brummig und trat zurück. »Aber lass dir nicht zu lange Zeit. Ich werde keinen anderen kaufwilligen Kunden abweisen, wenn ich von dir noch nicht einmal eine Anzahlung bekommen habe.«
Jillan nickte und trottete zu Jacobs Stand hinüber. Er blieb aber ein paar Schritte entfernt davon stehen, nur für den Fall, dass der Händler vorhatte, ihn zu packen.
»Ich freue mich, dich zu sehen. Geht es dir gut?«, fragte Jacob mit einem schiefen Lächeln. Dann fügte er leiser hinzu: »Ich habe doch nicht deinen Namen gerufen, oder?«
»Es geht mir gut, danke.« Jillan lächelte und freute sich mehr, das verhärmte Gesicht des Händlers zu sehen, als er je erwartet hätte. »Hella ist aber nicht … mit dir hergekommen, oder?«
»Nein, tut mir leid. Aber es geht ihr gut, besonders jetzt, da der Prediger verbannt worden ist. Komm, tu so, als ob du dir meine armseligen Waren ansiehst, dann fallen wir nicht so auf.«
Jillan hielt das für ungefährlich und trat näher. »Was ist mit meinen Eltern? Sind sie mit dir gereist?«
Jacob blickte bekümmert drein. Er sah sich kurz um und vergewisserte sich, dass sie nicht belauscht wurden. »Der Heilige hat sie in Ketten abführen lassen. Aber das ist vielleicht auch besser so, denn in Gottesgabe ist die Pest ausgebrochen.«
»Was?« In Jillans Kopf überschlug sich alles. »Wenn der Heilige hier ist, dann sind auch meine Eltern hier. Ich muss sie finden.«
»Warte!«, sagte Jacob und hielt ihn zurück. »Du musst noch etwas wissen. Samnir … Samnir ist vom Heiligen grausam bestraft worden. Er ist noch am Leben, aber sein Verstand ist abhandengekommen, und er sitzt den ganzen Tag über in seinem eigenen Kot auf dem Versammlungsplatz von Gottesgabe. Ich weiß, dass ihr beiden euch nahegestanden habt. Ich werde mein Bestes tun, mich um ihn zu kümmern, wenn ich zurück bin, aber ich weiß nicht, wie viel ich wirklich für ihn tun kann.« Er hielt inne. »Jillan … Jillan, hast du daran gedacht, dich zu stellen? Das wäre vielleicht das Beste.«
Jillan begann zurückzuweichen. Jacob folgte ihm beflissen.
»Bleib mir vom Leib!«
Mehrere Leute warfen neugierige Blicke zu ihnen hinüber.
Wir könnten sie alle töten. Diese Leute wollen dich nur verraten, ausnutzen oder verkaufen.
»Jillan, ich will doch bloß …«
»Bleib mir vom Leib! Das ist nicht mein Name! Ich bin Irkarl! Ich bin Owain!«
»He, was ist denn da los?«, rief der Schmied. »Der Junge hat etwas, das ich sehen will.«
Jillan wich schneller zurück, sodass sein Umhang aufklaffte.
»Was hast du denn darunter an, Junge? He, ich glaube, das ist er! Der, den sie suchen! Halt ihn doch irgendjemand auf!«
Jillan rannte davon, so schnell er konnte.