Kapitel 10
UM DER SÜNDE DES DASEINS WILLEN
UND AUS IHR HERAUS
Ah, du bist wach, meine Liebe. Du hast mehrere Stunden geschlafen. Wie fühlst du dich?«
»Es geht mir gut, Freund Anupal, danke«, antwortete Freda und beschirmte ihre Augen vor dem hellen Himmel. »Wo sind wir?«
»Auf dem Weg nach Süden. Was meinst du, bist du in der Lage zu laufen? Dann könnten wir schneller vorankommen. Die Welt hält nie inne und wartet auf niemanden, verstehst du, nicht einmal auf mich. Wenn wir nicht rechtzeitig an den Ort gelangen, an dem wir sein müssen, ist er vielleicht gar nicht mehr da, und wir finden ihn nie, denn Orte haben genauso ihre eigene Persönlichkeit wie Felsen, Bäume und Gebäude. Orte sind Augenblicke in der Zeit. Verstehst du, was ich sagen will, meine Liebe?«
Sie streckte vor Anspannung die Zunge heraus. »Wenn ich jetzt also ins Bergwerk zurückkehren würde, wäre es nicht mehr derselbe Ort?«
»Genau.« Er lächelte wohlwollend. »Einige derselben Felsen wären noch dort, andere hingegen nicht. Einige derselben Menschen wären dort, andere nicht, und wahrscheinlich wären auch neue da. Gewiss wäre es kein völlig anderer Ort, aber er wäre in sehr wichtiger Hinsicht durchaus verändert.«
Das konnte sie nachvollziehen. Ohne Norfred würde das Bergwerk für sie nie mehr derselbe Ort sein. »Also kann man jeden Ort nur ein einziges Mal aufsuchen? Man kann nicht … in der Zeit dorthin zurückkehren? Das ist seltsam. Und auch sehr traurig, Anupal.«
Ihre Beobachtung ließ ihn ein wenig stutzen. So hatte er es bisher noch nie betrachtet. Ja, es war wirklich traurig. Die wunderbaren Orte, die er einst gekannt hatte, aber nie wiedersehen würde, waren nicht zurückzuerlangen. Was für eine Schande, dass die Sterblichen dieser Welt so kurze Leben hatten wie Blätter an einem Baum, die nur darauf warteten abzufallen! Er zwang sich, die Mundwinkel hochzuziehen. »Lass uns nicht melancholisch oder niedergeschlagen sein, meine Liebe, denn wir sind jetzt an einem guten Ort. Wir haben einander, nicht wahr?«
»Ja, Anupal.« Sie nickte und ahmte sein Lächeln nach, obwohl es ihre Wangen knirschen ließ. »Aber ich habe eine Frage. Wenn wir nicht wissen, ob ein Ort noch da sein wird, wenn wir an ihn gelangen, woher wissen wir dann überhaupt, wohin wir reisen?«
»Ah! Da kommt die Natur des Willens ins Spiel. Dein Wille muss entscheiden, was er möchte oder braucht, und dann den Ort schaffen, indem er rechtzeitig dorthin reist. Bei den meisten Orten besteht keine große Notwendigkeit, sich zu beeilen, aber bei anderen wird man bis an seine Grenzen getrieben. Und manche Orte sind unmöglich zu finden, bloße Phantasiegebilde.«
»Ich verstehe. Was möchte oder braucht dein Wille denn, Anupal?«
»Nun, ich habe gehört, dass sich im Süden Leute aufhalten, die auch meine Freunde werden könnten, wenn ich rechtzeitig dorthin gelange und etwas für sie tue. Erinnerst du dich, dass ich gesagt habe, dass ich Gutes zu tun versuche, um gute Freunde zu gewinnen? Das genügt mir. Was möchtest oder brauchst du, meine Liebe?«
Freda zögerte. Er hatte ihr verraten, was er wollte, also erschien es ihr nur recht und billig, ihm dasselbe zu erzählen. Und er war ihr Freund. »Nun ja, ich muss jemanden finden, der Jan heißt und entweder nach Osten oder nach Süden gegangen ist, obwohl ich nicht weiß, was Osten ist. Und ich muss … muss …«
»Stotterst du? Hab keine Angst davor, es mir zu erzählen, meine Liebe«, sagte der Sonderbare und berührte ihre verletzte Hand.
Bei seiner Berührung durchlief sie ein prickelnder Schauer. Bis auf Norfred war er der Einzige, der sie je auf eine Art berührt hatte, die nicht schmerzhaft war. Er fühlte sich nicht so warm und fest wie Norfred an – seine leichten Finger erinnerten sie eher an die Spinne, die einmal über sie hinweggehuscht war –, aber es war dennoch aufregend. Hastig sagte sie: »Ich muss drei verlorene Tempel finden, um danach Freistatt finden zu können.«
Sein Kopf zuckte hoch und zurück, als hätte sie ihm einen Fausthieb versetzt. Sie machte sich auf einmal Sorgen, dass sie ihn vielleicht gekränkt hatte, aber dann nahmen seine Lippen ihr gewohntes Lächeln wieder an. »Wirklich, meine Liebe? Das sind seltsame Orte, die du da aufsuchen musst, und sie bringen uns vielleicht an unsere Grenzen, aber ich werde dir helfen, sie zu finden, wenn du mir hilfst, diese neuen Freunde zu gewinnen, und versprichst, eines Tages mit mir zum Großen Tempel zu kommen.«
»Was ist der Große Tempel? Ist er einer der verlorenen Tempel?«
»Nichts gar so Interessantes, so leid es mir tut. Er klingt weit großartiger, als er wirklich ist. Er ist nur mein Zuhause, das ist alles. Ich muss manchmal dorthin gehen, um mich auszuruhen, aber ich könnte es nicht ertragen, von dir getrennt zu sein, meine Freundin.«
»Ich werde mitkommen, wenn es dich glücklich macht, Anupal.«
»Das ist gut. Jetzt sind wir uns einig und einer Meinung und eines Willens. Wir sind eins, Freda.«
»Wir sind eins«, wiederholte sie. Es klang schön, wenn auch etwas seltsam.
»Dann lass uns zusammen loslaufen, Freda! Wir machen ein Wettrennen. Erst einmal bis an den Horizont, die Linie dort in der Ferne.«
Entzückt von der Idee sprang sie vom Wagen und in den Boden. Die Straße hier war gepflastert, also gab es nicht zu viele Baumwurzeln, die sie hätten aufhalten können. Sie kam wieder hoch und stürmte voran, wobei ihr Fleisch mit dem Material der Straße verschmolz und es rasch durchschnitt.
»He, du schummelst!«, rief der Sonderbare, als er eilig das Pferd freiließ und ihm im Geiste befahl, ihnen zu folgen. Dann verlängerte er seine perfekten Gliedmaßen und begann, hinter Freda herzurennen. Er huschte über den Boden und berührte ihn nur leicht etwa alle zehn Meter. Er überholte sie rasch und schuf sich dann einen Umhang, sodass er mit noch höherer Geschwindigkeit in die Luft steigen und voransegeln konnte.
Hinter ihm polterte Freda einher wie ein Erdbeben und brachte seine flüchtigen Schritte absichtlich aus dem Takt, wann immer er gezwungen war, den Boden zu berühren. Der Sonderbare lachte wie ein entzücktes Kind, obwohl er kaum genug Luft dazu bekam. Er wurde unweigerlich langsamer, und Freda konnte zu ihm aufschließen.
Was für ein erstaunliches Geschöpf sie doch war. Einer der Gründe, weshalb der Sonderbare das Wettrennen vorgeschlagen hatte, war der gewesen, dass er sie auf die Probe hatte stellen wollen. Die Tatsache, dass sie mit ihm mithalten konnte, war an sich schon überraschend, aber auf einer längeren Strecke wäre sie mit ihrer unermüdlichen, auf Stein gegründeten Ausdauer vielleicht sogar in der Lage gewesen, ihn zu überholen, weil er früher oder später müde werden würde. Kein Wunder, dass die Andersweltler sie haben wollten!
Und doch hatte der Narr Goza einfach vorgehabt, sie als Zwischenmahlzeit zu verspeisen. Hieß das, dass den Andersweltlern gar nicht so recht bewusst war, was in ihr steckte? Das hätte zugleich bedeutet, dass sie höchstwahrscheinlich auch nichts von ihrer Suche nach den verlorenen Tempeln, den alten Göttern und Freistatt wussten. Umso besser für ihn. Konnte es sein, dass dieses schlichte Gemüt von einem Golem ihm endlich das Geas ausliefern würde, nachdem alles andere versagt hatte? Unglaublich, wenn es so sein sollte, aber bezeichnend ironisch. Dort, wo seine Ränke und Intrigen zu oft vereitelt wurden, fanden Vertrauen und Unschuld einen Weg. Und er war noch nie jemandem begegnet, der so unschuldig wie Freda war. Er stellte fest, dass sie ihn so sehr bezauberte, wie seine Natur sie verabscheute. In mancherlei Hinsicht würde es eine Schande sein, den Augenblick zu erreichen, in dem jede ihrer Illusionen zerstört und sie dadurch zugrunde gerichtet werden würde. Aber so waren der Lauf der Dinge, das Wesen seiner Existenz und die Natur seines Willens. So, wie es immer gewesen war, würde es auch immer sein, und dorthin zu gelangen bereitete ihm noch immer Freude.
Bei Einbruch der Dunkelheit lenkte Thomas ihren Wagen zwischen den Bäumen hervor auf eine Straße, die durch eine Ansammlung kleiner, schwach beleuchteter Gebäude führte. »Willkommen in Linderfall! Es sieht vielleicht nicht nach viel aus, aber es gibt noch ein paar Einödhöfe ringsum und ein Sitzungshaus dahinten. Meine Schmiede liegt gleich hinter dem Bach dort drüben.«
»Es ist still«, sagte Jillan und sah sich misstrauisch um.
»Aber wir werden beobachtet«, erklärte Ash und rieb sich den Nacken, als ob er kribbelte.
»Die Leute hier sind zurückhaltend, aber friedfertig«, sagte Thomas leise. »Sie begegnen Fremden aus gutem Grund mit Misstrauen. Einige der anderen Waldsiedlungen sind weitaus kriegerischer als wir. Aber die Leute werden morgen früh alle kommen und euch begrüßen, ihr werdet schon sehen, wenn Bion erst Gelegenheit gehabt hat, euch in Augenschein zu nehmen und allen zu sagen, dass die Luft rein ist.«
»Bion ist euer Zauberer, nicht wahr?« Aspin nickte. »Ist er euer heiliger Mann?«
Thomas zögerte mit der Antwort und sagte schließlich: »So könnte man das ausdrücken. Die Leute bitten ihn von Zeit zu Zeit, ihnen etwas zu erklären, und dann entschließt er sich, entweder ihnen zu antworten oder nicht. Es ist nicht immer klar ersichtlich, ob er eine Antwort weiß oder ihr aus dem Weg geht. Einmal habe ich ihm eine recht einfache Frage gestellt, und er hat geschwiegen. Ich dachte, er wäre nicht bereit zu antworten, und habe ihn auf seinem Felsen sitzen lassen. Aber am nächsten Tag hat er mich aufgesucht, mir die Antwort gegeben und mir erklärt, dass er so damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, dass er noch nicht einmal bemerkt hat, dass ich gegangen bin. Er sagt recht häufig seltsame Dinge, die – da bin ich mir sicher! – Antworten auf Fragen sind, die man ihm schon vor Jahren gestellt hat. Aber ob er heilig ist? Wir beten ihn nicht an, und er leitet auch keinen Gottesdienst, wenn es das ist, was du meinst. Jeder von uns entscheidet sich selbst für ein bestimmtes Verhältnis zum Geas und bringt den Göttern auf eine Art, die er ebenfalls frei wählt, Verehrung entgegen.«
»Hat er verfilztes Haar, läuft nackt durch die Gegend und isst ständig Pinienkerne?«, fragte Aspin.
»Äh … nein. Er ist bucklig, gut gekleidet, raucht immer Pfeife und isst mehr als zehn andere Männer zusammen, ohne jemals zuzunehmen. Es reicht wohl zu sagen, dass er von niemandem mehr zum Abendessen eingeladen wird.«
»Das klingt so schlimm wie mein Wolfsfreund, obwohl der Wolf gewöhnlich nicht abwartet, bis er eingeladen wird. Wenn ich zu Abend esse, ist er gemeinhin der Ansicht, dass ich das Essen aus dem Wald gestohlen habe und damit ihm, da der Wald ja ihm gehört. Deshalb hat er keine Gewissensbisse, es sich einfach zurückzuholen, wenn es ihm so gefällt.«
»Dann bete ich darum, dass Bion und der Wolf sich nicht begegnen, damit der Wolf den Zauberer nicht noch auf dumme Gedanken bringt.«
Sie lachten alle, obwohl Jillan des Geplänkels zwischen Thomas und Ash längst müde war. Er musste nach Hyvans Kreuz, um seine Eltern zu befreien. Alles andere war bestenfalls eine unwillkommene Ablenkung, schlimmstenfalls gefährliche Zeitverschwendung. Er verstand Aspins Argument, dass es ein nützliches Mittel zum Zweck sein könnte, nach Linderfall mitzukommen, aber es fiel ihm schwer, noch an irgendetwas oder irgendjemanden zu glauben.
Nun, es waren deine Eltern, die dir überhaupt erst geraten haben, diesen Thomas Eisenschuh aufzusuchen, weißt du noch?, bemerkte der Makel.
»Vertraust du ihm denn?«, fragte Jillan stumm.
Ich? Ha! Ich vertraue niemandem, oder? Ich vertraue mir manchmal ja selbst kaum.
»Genau.«
Das würde dann heißen, dass deine Eltern sich geirrt haben, nicht wahr?
»Vermutlich«, räumte Jillan ein.
Ich nehme an, Eltern machen ständig Fehler. Thomas hat doch auch gesagt, dass er sie schon sehr lange nicht mehr gesehen hat. Vielleicht hat er sich in der ganzen Zeit verändert?
»Wie verändert?«
Woher soll ich das wissen? Du hast dich schon in der kurzen Zeit verändert, seit du aus Gottesgabe aufgebrochen bist, nicht wahr? Menschen verändern sich. Das heißt aber nicht, dass es unmöglich ist, an irgendetwas oder irgendjemanden zu glauben.
»Ich habe mich nicht verändert.«
Natürlich hast du das.
»In welcher Hinsicht?«
Du bist weit lästiger geworden und stellst viel mehr dumme Fragen als früher.
»Das stimmt nicht. Prediger Praxis hat auch immer gesagt, ich würde zu viele unwissende Fragen stellen.«
Ja, und deine Fragen haben all das hier doch überhaupt erst ausgelöst. Hast du nichts daraus gelernt, dass du sie gestellt hast? Warum kannst du nicht den Mund halten und dich benehmen wie alle anderen auch? Warum kannst du nicht einfach tun, was alle dir sagen, hm?
»Weil sich dann nie etwas ändern würde. Alles Schlimme würde für immer bestehen bleiben.«
Genau. Nichts würde sich je ändern, und wo stünden wir dann? Es ist wichtig, dass du das nicht vergisst und auch künftig daran glaubst.
»Was meinst du damit? Makel, antworte mir! Warum ist es wichtig, dass ich es nicht vergesse? Bitte, Makel. Hat es etwas mit Thomas zu tun? Oder damit, meine Eltern zu befreien?«
Aber es herrschte nur Schweigen, und jetzt hielten sie vor einem langgestreckten, zweistöckigen Fachwerkhaus mit weiß gekalktem Putz zwischen den Querbalken. Laternen leuchteten hinter halb geschlossenen Fensterläden hervor, und ein Kohlenfeuer glomm einladend im Hausinneren. Ein betörender Geruch nach frisch gebackenem Brot, gekochtem Fleisch und Gemüse lag in der Luft. Ans Haupthaus angebaut war ein großer Schuppen, der einen mächtigen Amboss und eine ganze Auswahl an Eimern, Zangen, teilweise übermannshohen Hämmern und anderen Werkzeugen enthielt.
»Das ist dein Zuhause?«, fragte Aspin ehrfürchtig.
»Das müssen Riesen gebaut haben«, flüsterte Ash.
Thomas lächelte mit einem gewissen Stolz. »Ehrliche harte Arbeit – und natürlich die Hilfe meiner Nachbarn und des Zauberers. Aber ich brauche ein solches Haus, um meine gute Frau und unsere drei Mädchen im Zaum zu halten, denn wie ihr bald selbst feststellen werdet, sind sie wahre Naturgewalten. Was sagst du, Jillan? War das den Besuch wert?«
Jillan wurde einer Antwort enthoben, weil ein Sturm aus aufgeregtem Geschrei über sie hereinbrach.
»Papa! Papa!«
»Papa ist wieder zu Hause!«
»Und er hat Besuch mitgebracht, Mama!«
»Hast du uns Bänder gekauft, Papa?«, rief die jüngste der Stimmen. »Du hast mir doch ein gelbes versprochen!«
Thomas sah seine Begleiter reumütig an. »Mir wird ja nachgesagt, dass ich sie verwöhne, aber ich bin einfach machtlos gegen sie.« Dann sprang er vom Wagen und breitete die Arme aus, als drei Mädchen aus dem Haus hervorgestürmt kamen und sich alle zugleich auf ihn stürzten. Obwohl Thomas ein Hüne war, rissen sie ihn beinahe um. Unstete Augen warfen Blicke über die Schultern ihres Vaters und an ihm vorbei auf Jillan, Aspin und Ash.
»Sieh dir den mal an, Betha! Er ist in deinem Alter.«
»Nein, Ausa, er ist älter. Zu alt für mich. Igitt!«
»Nein, doch nicht der. Der da!«
»Oooh ja!«
Nur die Jüngste bemerkte, dass ihrem Vater die Haare ausgefallen waren.
»Mach dir keine Sorgen, das wächst schon nach, sobald Bion einen magischen Kuhfladen gefunden hat, der groß genug ist, meinen Kopf zu bedecken«, sagte er, und sie kicherte. »Darf ich dir jetzt meinen guten Freund Jillan vorstellen, Stara? Stara, Jillan hat mir das Leben gerettet.«
Stara starrte und starrte. Dann wurde sie schüchtern und versteckte sich hinter ihrem Vater, bis er sie wieder hervorzog und zwang, Jillan anzusehen. Sie streckte plötzlich die Hand aus, und ein verlegener Jillan musste vom Wagen steigen und sie ihr schütteln. Danach ließ Stara seine Hand einfach nicht wieder los, sondern zog ihn hinter sich her mehrere Stufen hinauf ins Haus.
»Mama!«, rief Stara. »Das hier ist Jillan, und er hat Papa das Leben gerettet!«
»Dann soll er den Ehrenplatz am Tisch haben, und wir trinken ihm alle zu. Stara, leg zusätzliche Gedecke auf. Vielleicht hilft Jillan dir ja?«
Hölzerne Schüsseln und Löffel wurden Jillan in die Hand gedrückt, und Stara führte ihn zu einem großen Esstisch. Es gelang ihm kaum, der unscheinbaren Frau in der Küche auch nur zuzunicken. Sie trug ein verblüffend weißes Kleid wie auch all ihre Töchter. Wie um alles in der Welt gelingt es ihnen, sie sauber zu halten? Er blickte schuldbewusst auf seine eigenen schmutzigen und zerrissenen Kleider herab. Seine Mutter hätte ihm eine lange Strafpredigt gehalten, wenn er so nach Hause gekommen wäre.
»Na komm, du Schnecke, ich kümmere mich darum«, sagte Stara resolut und riss ihm die Schüsseln wieder aus der Hand.
Er ließ mehrere Löffel fallen.
»Tollpatschige Pfoten!«, kicherte sie und hatte die Löffel schon aufgesammelt, bevor er sich auch nur bücken konnte.
Ash und Aspin kamen herein; jeder von beiden führte eine von Thomas’ Töchtern am Arm, Ash Ausa, eine hochgewachsene Dunkelhaarige mit porzellanweißer Haut, während Aspin neben Betha ging, die kastanienbraunes Haar und Grübchen in den Wangen hatte. Stara stand plötzlich mit blitzenden Augen und rosigen Wangen wieder vor Jillan. »Komm, setz dich neben mich«, hauchte sie, und ihr Atem roch nach Zimt, dessen Farbe ihr Haar hatte. Sie legte Jillan die Hände auf die Schultern und schob ihn um den Tisch herum zum Stuhl am Kopfende. Thomas’ andere Töchter lösten sich von ihren Begleitern, um ihrer Mutter dabei zu helfen, überladene Platten voller Speisen aufzutragen, während Thomas aus einem Fässchen Bier in Becher zapfte und Aspin und Ash zu Plätzen am Tisch herüberwinkte.
Binnen wenigen Augenblicken saßen alle da und starrten sehnsüchtig das Brot, das Gemüse und den Käse an. Thomas’ Frau schöpfte mit einer Kelle duftenden Eintopf in die Schüsseln, die schnell am Tisch herumgereicht wurden.
Thomas erhob sich, den Bierbecher in der Hand. »Ich weiß, dass es eine schreckliche Zumutung darstellt, euch zu bitten, euren Appetit noch eine Minute länger zu zügeln, aber der Eintopf ist kochend heiß und wird hastige Esser ohnehin nur verbrennen. Ich möchte Ash und Aspin an unserem Tisch willkommen heißen und natürlich Jillan, in dessen Schuld diese Familie steht. Deshalb möchte ich euch alle bitten, eure Becher auf ihn zu erheben. Das Bier ist mein bestes und so belebend, wie das Essen meiner Frau Sabella herzhaft ist. Auf Jillan und auf neue Freunde!«
Alle wiederholten den Trinkspruch und tranken aus ihren Bechern. Ash leerte seinen in einem Zug und bemerkte erst dann, dass alle anderen an ihren nur genippt hatten. »Tut mir leid«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. »Ich glaube, in meinem war weniger als in allen anderen.«
Die Mädchen kicherten, und Thomas zapfte ihm noch eine großzügige Portion ab. Dann sah der Schmied Jillan erwartungsvoll an.
Jillan wand sich ein bisschen und errötete. »Ich … Nun ja, weißt du, es war nichts … Ich weiß wirklich nicht, was ich sonst sagen soll.«
Stara, die neben ihm saß, strahlte Jillan stolz an, als hätte er mit berückender Eleganz etwas ganz Wunderbares zum Ausdruck gebracht. »Können wir jetzt essen, Papa?«, fragte sie und rettete einen unendlich dankbaren Jillan vor noch größerer Verlegenheit.
Thomas lachte voller Zuneigung. »Natürlich, Tochter.«
Und alles andere, was er sonst vielleicht noch sagte, ging im Gewirr der Stimmen, dem Klappern der Becher und der allgemeinen Aufregung unter. Aspin verschwendete keine Zeit: Er riss sich ein großes Stück Brot ab, häufte Eintopf darauf und schob sich zu viel auf einmal in den Mund.
»Er frisst ja noch gieriger als mein Wolf!«, verkündete Ash und zog so die Aufmerksamkeit aller drei Mädchen zugleich auf sich, die nach Luft schnappten, glucksten und darum baten, mehr über das Tier zu hören.
Aspin machte das gar nichts aus; er grinste Jillan mit ausgebeulten Wangen an, während ihm Bratensaft am Kinn hinunterlief. Jillan musste lächeln, als er seinen Freund so glücklich sah. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf seine eigene Schüssel und erkannte, dass er unglaublich und unbeschreiblich hungrig war. Er schaufelte sich Essen in den Mund, schluckte und fühlte sich eine Sekunde lang schwindlig. Er hatte im Magen Leere und Übelkeit verspürt, seit er Gottesgabe verlassen hatte, aber der gut gewürzte Eintopf half sehr, dem ein Ende zu setzen. Im Laufe des Essens begann sich Jillans Laune zu heben, und er empfand eine seltsame Mischung von Gefühlen: übersprudelnde Erleichterung, schuldbewusstes Vergnügen, glückliches Unbehagen und unterdrückte Furcht. Er trank sein Bier aus, und Stara füllte ihm den Becher erneut.
»Es macht mir nichts aus, euch zu gestehen, dass wir in den Bergen nie so etwas Gutes hatten«, sagte Aspin, während er einen bröckeligen weißen Käse anschnitt.
»Du stammst aus den Bergen!«, seufzte Betha und hing förmlich an seinen Lippen. »Ich wusste ja, dass du etwas Besonderes an dir hast. Die Berge müssen schön sein. Ich würde sie gern eines Tages sehen.«
So unterhielt Aspin sie mit Geschichten über die Berge und einen wunderlichen heiligen Mann namens Torpeth, der nackt durch die Gegend lief und die Ziegen scheu machte. Der Bergkrieger genoss es, eine Weile im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, und niemand missgönnte es ihm. Thomas lauschte aufmerksam allem, was gesagt wurde, und lächelte und nickte wie die anderen. Jillan erinnerte sich, dass Aspin es auf der Fahrt durch den Wald vermieden hatte zu sagen, dass er aus den Bergen stammte, aber jetzt schien das keine Rolle mehr zu spielen. Welchen Unterschied sollte es auch schon machen?
Jillan lächelte gewinnend, als Stara ihm noch einen Becher einschenkte. Er verspürte leichte Gewissensbisse, als ihm Hella zum ersten Mal, seit sie in Linderfall eingetroffen waren, in den Sinn kam, aber er unterdrückte alle Schuldgefühle. Ich habe nichts Falsches getan, sagte er sich, und ihre Augen sind ja auch ganz anders als Hellas.
In der Dunkelheit leuchtete sein Helm so hell, dass es ihr schwerfiel, ihn anzusehen. Er beleuchtete das Wasser in der Nähe, das er einen Bach nannte, und die Senke zwischen den Bäumen, in der sie haltgemacht hatten, um für den Zeitraum zu rasten, den er als Nacht bezeichnete. Hoch oben sah sie weiße, funkelnde Gegenstände, die sie für große Diamanten hielt und die in die Decke der Himmelshöhle eingelassen waren, und einen silbernen Bogen, der wie eine Art Haken wirkte. Vielleicht führten die Hohen Herrscher Ketten über diesen Haken, um schwere Gegenstände zu heben. Vielleicht war das silberne Metall besonders widerstandsfähig, aber sie konnte nichts davon spüren.
»Anupal, tut das Sonnenmetall deinem Kopf nicht weh? Es würde mich verbrennen.«
Er sah sie blinzelnd an. »Mein Kopf würde ohne den Helm sogar noch viel mehr wehtun. Ja, er brennt ein wenig, aber ich nutze einen Teil meiner Kraft, um meine Haut wiederherzustellen. Das bedeutet natürlich einen ständigen Aderlass meiner Kräfte und ist der einzige Grund dafür, dass ich dich bei unserem Wettrennen nicht noch müheloser geschlagen habe.«
»Ich habe dich gewinnen lassen.«
Ihm sackte vor Überraschung der Unterkiefer herunter; dann runzelte er die Stirn. »Das hast du nicht! Du machst dich über mich lustig.«
Sie ließ die Luft in ihrem Brustkorb dröhnen, um zu zeigen, dass sie erheitert war.
»Ich wusste es. Du Schelmin!«
Sie dröhnte noch einmal und wurde dann still. »Also hilft dir das Sonnenmetall?«
»Ja«, antwortete er. »Es schützt mich vor allen möglichen Dingen.«
»Ich bin froh, dass es auch zum Schutz dienen kann. Ich dachte, man könnte es nur als Waffe einsetzen.«
»Ich weiß, was du meinst. Lass mich dir also die wesentliche Natur des Sonnenmetalls beschreiben. Es ist die verdichtete Gegenkraft zur Allmacht. Wenn es kein Sonnenmetall gäbe, wären die Götter allmächtig, aber das wäre unmöglich. Wenn sie allmächtig wären, dann gäbe es natürlich kein anderes Leben auf dieser Welt, und das hieße, dass die Götter auch nicht existieren könnten. Deshalb setzt die Existenz der Götter die Existenz des Sonnenmetalls voraus, das sie verwundbar macht. Ich nehme sogar an, dass es ohne die Götter auch kein Sonnenmetall geben würde, obwohl ich mich da irren könnte. Sonnenmetall ist, soweit ich weiß, träge, was es davon abhält, auch allmächtig zu sein. Verstehst du?«
»Nein.«
»Oh. Hmm, nun ja, lass mal sehen … Um zu verhindern, dass einer der Götter allmächtig wird, haben wir Sonnenmetall. Stell dir vor, einer der Götter würde verrückt werden und beginnen, alles zu zerstören. Das wäre schrecklich, nicht wahr? Wie könnte man ihn dann aufhalten? Nun, dafür haben wir das Sonnenmetall. Wie ist es damit?«
Es ergab einen gewissen Sinn. »Ja. Also ist Sonnenmetall gut?«
Der Sonderbare kratzte sich am Kopf, der sich als sein Helm erwies. »Das ist das einzige Problem damit«, murmelte er, hob einen dünnen Stock auf, schob ihn zwischen Helm und Stirn und wackelte dann kräftig damit. »Ah, so ist es besser! Was hast du gerade gesagt? Ach ja. Ob es gut ist? Nun, es ist träge – tot –, also ist es eigentlich weder gut noch böse. Es ist wohl gut, dass es existiert, weil sonst gar nichts existieren würde. Warte mal, stimmt das überhaupt? Ja, wahrscheinlich. Aber vergiss das. Sonnenmetall ist Waffe und Schutz zugleich. An und für sich ist es weder gut noch böse. Nur die Dinge, die man damit tut, sind gut oder böse. Nur Leute sind gut oder böse, aber es ist gewöhnlich sehr, sehr schwer festzustellen, wer gut oder böse ist. Was einer für gut hält, hält der andere oft für böse und umgekehrt.«
Freda ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen, während der Sonderbare die Motten beobachtete, die um seinen Helm tanzten, dagegen flogen und im Sterben aufloderten. »Aber du hast gesagt, dass du gern Gutes tust, um gute Freunde zu gewinnen. Denken manche Leute vielleicht, dass das, was du tust, böse ist?«
Oje. Ich habe sie schon wieder unterschätzt. Das wird mich lehren, meine Zunge nicht im Zaum zu halten! Das war schon immer eine Schwäche von mir, aber was soll man auch erwarten, da ich doch seit Jahrtausenden mit niemandem außer diesen verstaubten alten Andersweltlern gesprochen habe? Natürlich hilft mir auch meine Eitelkeit nicht dabei, den Mund zu halten. Aber wie könnte ich nicht eitel sein, da ich doch so schön bin? Unbekümmert erwiderte der Sonderbare: »Nun, da hast du wohl recht, Freundin Freda. Glaubst du, dass das, was ich tue, böse ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Du hast mich gerettet.«
»Na, da hast du’s. Nur wenn Leute sich so einig sind, können sie Freunde sein, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie glücklich. »Würde es dir helfen, Gutes zu tun, wenn ich dir noch mehr Sonnenmetall beschaffen würde?«
Was soll denn das jetzt? »Nun, ich denke schon. Es ist schließlich ein mächtiges Material. Glaubst du denn, dass du welches für mich finden könntest?«
»O ja. Es ist leicht zu finden. Weißt du, es vibriert auf eine bestimmte Weise.«
So? Erstaunlich! »Wenn es leicht zu finden ist, wäre ich dankbar dafür. Gibt es hier viel davon?«
»Nicht besonders viel, aber an manchen Stellen liegt etwas. Die Hohen Herrscher haben das meiste davon im Bergwerk schon abgebaut. Ich hole dir etwas, wenn wir an einen Ort gelangen, an dem es mehr davon gibt.«
Also geht den Andersweltlern das Sonnenmetall im Norden aus? Das ist besorgniserregend. Wenn sie im Osten nicht bald einen Durchbruch erzielen, stecken wir alle in Schwierigkeiten. Aber wenn du für mich mehr Sonnenmetall finden kannst, muss ich mich künftig nicht mehr mit ihnen abgeben. Ich behalte dich vielleicht sogar für mich, statt dich ihnen zu übergeben. »Das ist gut, meine Liebe. Aber du musst müde sein. Es wird Zeit, dass du dich schlafen legst, denn morgen werden wir einen anstrengenden Tag haben, weil wir durch die Zentralregion reisen. Wir könnten sie umgehen, aber dann würden wir zu viel Zeit verlieren. Die Zentralregion wird von einem niederen Funktionär verwaltet, einem gewissen heiligen Virulus. Er trägt nur für sehr wenig die Verantwortung, weil es in der Region keine Städte, Felder oder Bergwerke gibt. Die Hohen Herrscher wollen nicht, dass jemand ihnen in ihrem Großen Tempel – oder im Heiligen Herzen, wie sie ihn nennen – zu nahe kommt, verstehst du? Es fällt ihnen schon zu den besten Zeiten schwer, ihre dienstbaren Sklaven – Diener, wie sie sie nennen – zu ertragen. Die Region besteht überwiegend aus Felsspalten, Flechten und Moos. Natürlich gibt es kleine Festungen, aber sie sind mit in Ungnade gefallenen Angehörigen der Armee bemannt, weil niemand sonst gern in dieser Öde stationiert werden möchte. Die meisten Helden würden den Dienst im Osten dem in der Zentralregion vorziehen.«
»Warum wird es anstrengend, Freund Anupal?«
Der Sonderbare zupfte an einem Saum seiner Tunika und vermied es, Freda in die Augen zu blicken. »Nun ja, ich war vielleicht etwas unhöflich zu dem Heiligen, als ich neulich unterwegs war, um dich zu finden. Ich habe ihn vielleicht als kleinen Emporkömmling von einem Bürokraten bezeichnet. Ist es nicht unglaublich, dass er verlangt hat, meine Papiere oder so etwas zu sehen, als ob ein Stück Papier meine Identität belegen könnte? Ich, Anupal, Herr des … Nun ja, jedenfalls war es unerträglich! Ich war so verärgert über das Auftreten dieser Kreatur, dass ich nicht so hübsch bleiben konnte, wie ich es gewöhnlich bin, und deshalb konnte ich ihn auch nicht vollends bezaubern. Dann hat der kleine Wicht einigen seiner Grobiane befohlen, mich zu verhaften, weil ich kein Stück Papier hatte. Das habe ich mir natürlich nicht bieten lassen, und so habe ich am Ende einen ganz schönen Aufruhr angerichtet – oder Tumult, wie auch immer. Sie werden Ausschau nach mir halten, wenn wir dort durchkommen. Natürlich werden wir den Sinnen der Helden ohne Schwierigkeiten entgehen können, denn du kannst unter ihnen hindurchschlüpfen und ich über sie hinweg, aber die Heiligen sind unberechenbar, und Virulus ist vielleicht besser vorbereitet und kann besorgniserregende Kräfte gegen mich aufbieten. Ich werde ihn wenn nötig natürlich vernichten, aber das wäre doch sehr ärgerlich, und die Hohen Herrscher würden dann vielleicht beginnen, sich zu beklagen, und dann habe ich überhaupt keine Ruhe mehr. Sie werden mir damit ewig in den Ohren liegen, weil sie nie etwas vergessen, diese Hohen Herrscher, und sie hegen wirklich gern einen Groll. Sie können höchst lästig sein.«
»Anupal, du hast doch gesagt, dass die Hohen Herrscher sich im Großen Tempel in der Zentralregion aufhalten, ja? Ist der Große Tempel nicht auch dein Zuhause? Warum lebst du denn mit den Hohen Herrschern zusammen an solch einem öden Ort?«
Der Sonderbare verzog das Gesicht. »Nun, das ist eine verwickelte und lange Geschichte. Aber mittlerweile wird die Nacht kurz.« Er senkte seine Stimme um eine Oktave und ließ sie beruhigend schnurren. »Das sind erst einmal genug Fragen, meine Liebe. Schlaf ein und träum süß.«
Ihre Lider wurden schwer, und sie gähnte. »Ja, Freund Anupal.«
Jillan fuhr verwirrt aus dem Schlaf hoch. Wo war er? Er befand sich in einem Raum, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war niemand sonst dort. Helles Tageslicht strömte durch zwei Fensterläden, und zwar nicht das kalte Licht des anbrechenden Morgens. Es fühlte sich eher wie Mittag an. Wie konnte das sein?
Der Kopf tat ihm weh. Das Zimmer war klein und hatte goldfarbene Deckenbalken. Er lag auf einem erhöhten, mit Leinen bezogenen Bett. Es war seltsam, so hoch über dem Boden zu schlafen. Er schob den übergroßen Haufen Kissen von sich, um sich freier bewegen zu können.
»Makel, bist du da? Was ist gestern Nacht geschehen?«
Die einzige Antwort kam von den Vögeln, die jenseits der Fensterläden zwitscherten. Ihr Gesang klang schal.
Er setzte die Füße auf den Boden und bemerkte, dass er nur seine Unterwäsche trug. Wo waren seine übrigen Kleider? Eine Bodendiele knarrte unter seinem Fuß, und er hörte, wie sich daraufhin unter ihm jemand bewegte: Schritte kamen eine Treppe herauf und näherten sich ihm. Wo sind meine Kleider? Die Tür des Zimmers schwang auf.
»Bist du wach, mein Lieber?«, ertönte Sabellas Stimme, und die Frau des Schmieds trat ein. »Ich habe dir deine Kleider mitgebracht. Gewaschen und geflickt.«
»V…vielen Dank … gnädige Frau«, erwiderte Jillan, dessen Zunge sich im Mund geschwollen anfühlte.
»Unten stehen Brot und Honig, die du dir zum Frühstück nehmen kannst. Du magst doch Honigbrot, oder?«
»J…ja. Das ist meine Lieblingsspeise«, sagte Jillan und vermisste plötzlich schmerzlich sein Zuhause. Sabella sah fast wie seine Mutter aus, und sie war freundlich und liebevoll. »Ich komme sofort nach unten. Ich ziehe mich nur erst an.«
»Sehr gut, mein Schatz. Ich setze Tee auf.« Sie lächelte sanft und eilte geschäftig wieder aus dem Zimmer.
Jillan verlor keine Zeit und war bald unten in der Essecke, wo Stara schon saß und auf ihn wartete.
»Da bist du ja, Schlafmütze. Mama hat gesagt, du hättest zu viel Bier getrunken.«
»Wo sind Ash und Aspin?«, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.
»Sie sind nicht mehr da.«
»Nicht mehr da!«, wiederholte er entsetzt. »Sind sie nach Hyvans Kreuz aufgebrochen?«
»Nein, du Dummkopf! Sie sind Bion besuchen gegangen. Betha und Ausa würden sie doch nicht einfach nach Hyvans Kreuz abreisen lassen. Aber du magst das Honigbrot nicht, oder? Ich kann deines mit aufessen, wenn du es nicht willst.«
»He, das ist meins!«, rief Jillan und schnappte sich die dicke Brotscheibe gerade noch, bevor sie in Staras Mund verschwinden konnte. Er war schon wieder ausgehungert.
»Gierschlund!«, murrte sie.
»Komm schon, Stara«, sagte Sabella tadelnd, als sie mit dem Tee hereinkam. »Du hattest heute Morgen bereits mehrere Portionen.«
»Ich wachse noch. Das sagst du die ganze Zeit.«
»Dann geh draußen im Wald auf die Jagd nach etwas, wenn du Hunger hast. Jillan ist unser Gast.«
»Der Wolf ist da draußen. Das ist mir zu unsicher.«
»Oh, der Wolf würde nie einen Menschen angreifen«, sagte Jillan zwischen zwei Bissen. »Zumindest glaube ich das nicht.«
»Da hast du ’s«, sagte Sabella mit verschränkten Armen und starrte ihre Tochter strafend an.
»Ach, schon gut«, seufzte Stara übertrieben. »Aber so werde ich doch nie groß und stark! Ich bringe Jillan zu Bion. Vielleicht schenkt mir der Zauberer eine Honigwabe.«
»Vielleicht«, räumte Sabella ein.
»Komm, Jillan. Bist du denn immer noch nicht fertig?«
»Fertig«, sagte er mit einem Schmatzen und schlürfte den Tee hinunter. »Danke, Frau Eisenschuh.«
»Gern geschehen, mein Lieber. Nun lauft zu, sonst ist die Sonne schon untergegangen, bevor ihr zurück seid.«
Jillan warf einen Blick zwischen den Fensterläden hindurch. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten. Er schob den Stuhl zurück und rannte Stara nach, so schnell er konnte. Sie liefen an der Schmiede vorbei, die voller Klirren, Zischen, Dampf und Rauch war.
Stara blieb einen Moment lang stehen, um zuzusehen. »Da kämpft Papa gegen einen Drachen. Das Klirren kommt davon, dass sein Hammer auf die Metallschuppen des Drachen trifft. Sie kämpfen ständig. Papa gewinnt immer, und dann hat der Drache eine Weile Angst vor ihm, aber er hat kein besonders gutes Gedächtnis und will bald wieder gegen ihn kämpfen, als wäre er ein ganz anderer Mensch. Aber komm weiter!«
Sie rannte davon, so dass ihr Haar wie der Schweif eines Kometen hinter ihr herströmte, und Jillan musste die Beine in die Hand nehmen, um sie auch nur in Sichtweite zu behalten. Sie sauste über die Trittsteine in einem Bach, dessen glucksendes Wasser so klar war, dass es schon fast gespenstisch wirkte. Im Zickzack liefen sie dann durch einen Hain und sprangen über die verspielten Wurzeln, danach durch eine wilde Wiese voller tückischer Brombeerranken, müde nickender Blüten, Insekten und kleiner Geschöpfe, die Verstecken spielten. Die Sonne wärmte und blendete sie. Wie kann es Winter sein?, fragte sich Jillan. Dieser Ort ist verzaubert.
Am gegenüberliegenden Ende der Wiese standen aufrechte Steine, hinter denen Rauchwolken emporstiegen. Der Wind trug Gesprächsfetzen zu Jillan herüber.
»… nicht so leicht zu überreden …« War das Ash?
»… Vernunft annehmen?« Er wusste nicht, wer das war. »… denke, Aspin?«
»… gewiss … ja selbst überzeugt, wenn ich ehrlich bin.«
Stara erreichte die Steine einige Sekunden vor Jillan. Sie schien noch nicht einmal außer Atem zu sein, aber Jillan musste sich vorbeugen und die Hände auf die Knie stützen. Vor ihm lag ein lang gestreckter, grasbewachsener Abhang, und er war plötzlich so unsicher auf den Beinen, dass er die Knie einknicken ließ, um sich auf den Boden setzen zu können.
»Uff!«, keuchte er und ließ die unglaubliche Aussicht auf sich wirken, die sich von ihrem Sitzplatz aus bot. Das Land fiel wellig immer weiter ab wie die Tuchbahn bei einem Schneider, bis hin zur fernen Schere des Horizonts.
»Da ist er ja«, sagte Aspin mit etwas wie Erleichterung in der Stimme und reichte eine langstielige Pfeife an einen Gnom von einem Mann weiter, den Jillan für Bion hielt und der auf einem der Steine hockte, der umgestürzt war und einen perfekten Sitzplatz bildete, von dem aus man den Blick in die Landschaft genießen konnte.
»Wunderbar, nicht wahr, Jillan?«, fragte Ash verträumt, während er Jillans Blick aufs Land hinaus folgte. Der Waldläufer nahm wie gebannt die Pfeife von dem Gnom entgegen, tat einen tiefen Zug und atmete langsam aus.
Jillan wedelte sich den duftenden Rauch aus dem Gesicht und hustete. »Ja, schöne Hügel.«
»Wie geht es dir, Stara?«, fragte Bion heiter.
»Ich habe natürlich Hunger.«
»Natürlich. Hier ist ein Stückchen Honigwabe. Und du findest in der Wiese da drüben Erdbeeren, wenn du Aspin und Ash zurück zu Betha und Ausa bringst, die schon ganz ungeduldig werden. Ich wette, sie ärgern sich über mich, weil ich ihnen ihre Verehrer gestohlen habe, auch wenn es nur für wenige Augenblicke war.«
»Ja, ich habe Betha versprochen, dass es nicht lange dauern würde«, sagte Aspin, dem die Augen zuzufallen drohten, gedankenverloren, schien sich aber nicht unverzüglich in Bewegung setzen zu wollen.
»Und Ausa hat gesagt, sie würde mich vielleicht vergessen, wenn ich zu lange brauche«, murmelte ein betörter Ash, dem die Pfeife aus den Fingern zu gleiten drohte.
Bion streckte die Hand aus und packte die Pfeife, bevor sie zu Boden fallen konnte. Er klemmte sie sich zwischen die Zähne und klatschte rasch in die Hände, so dass sie alle ein wenig zusammenzuckten. »Dann lauft lieber los. Wir sehen uns später. Ich muss mich mit Jillan hier unterhalten. Stara, hilf ihnen auf.«
Das Mädchen zog an Ash und Aspin, bis sie auf die Beine kamen, und dann stolperten sie hinter ihr her. Aspin fiel im letzten Augenblick ein, sich umzudrehen und Jillan unbeholfen zuzuwinken. Dann verschwanden sie hinter den Steinen.
Das Gesicht des Gnoms war knorrig und knotig wie Holz, wirkte aber eher natürlich und wie ein Charakterkopf als hässlich. Er hatte einen buckligen Rücken, lange, weit auseinanderstehende Finger und war in leuchtend rote und grüne Ledergewänder gekleidet. Jillan ertappte sich dabei, den Mann anzustarren.
»Entschuldigung«, sagte er.
In Bions Augenwinkeln bildeten sich Fältchen, als er das Gesicht zu einem Lächeln verzog. »Schon gut. Es ist besser, geradewegs einen ehrlichen Blick zu wagen, als jemanden aus den Augenwinkeln zu beobachten. Du bist also ein Zauberer, ja?«
Hatten Ash und Aspin Bion etwa alles erzählt? »Eigentlich nicht.«
»Oh. Schade. Ich hatte schon gehofft, einen Mitzauberer kennenzulernen. Es kann ganz schön einsam sein, der einzige Zauberer an einem Ort zu sein.«
Jillan zögerte. »Nun ja, es sind ein paar Dinge geschehen, aber ich würde nicht sagen, dass ich ein Zauberer bin.«
»Hmm. Bist du ausgebildet worden?«
»Nein.«
»Schade. Ich hatte gehofft, du könntest mir vielleicht ein bisschen was beibringen. Nun gut. Möchtest du einen Zug aus meiner Pfeife?«
»Nein danke«, antwortete Jillan höflich.
»Schon gut. Es war nur aus reiner Freundschaft.«
Jillan blieb stumm und begann sich unbehaglich zu fühlen. Er sah wieder auf die Landschaft hinaus. Sie hatte sich nicht verändert. Er spürte Bions Blick auf sich ruhen und rutschte unbehaglich hin und her. Was tat er nur hier? Wenn sie nicht bald aufbrachen …
»Was also willst du wissen, Jillan?«, fragte Bion auf einmal und unterbrach so seine Gedanken. »Frag mich nach der Magie. Ich weiß alles Mögliche.«
Jillan warf einen verstohlenen Blick auf den Gnom. »Nun, ich … Magie ist gefährlich, nicht wahr?«
»Oh ja, sehr gefährlich. Selbst wenn die Absicht dahinter gut ist, kommen dabei zu oft Unschuldige zu Schaden.«
Wie Karl. »Aber kann man sie denn nicht beherrschen?«, fragte er und versuchte, die Verzweiflung aus seiner Stimme herauszuhalten.
Bion seufzte. »Ach, wenn man das nur könnte! Es ist so: Der Magier greift auf die Lebensenergie in seiner Umgebung zurück und kanalisiert sie. Aber der Rückgriff auf die Magie verlangt von ihm, erst einmal seinem Kern die eigene Lebensenergie zu entziehen. Je größer der Zauber ist, den er in Angriff nimmt, desto stärker muss der Magier sich selbst einbringen. Sein Kern wird im Grunde genommen durch den Magiegebrauch verringert. Wenn du schon Magie gewirkt hast, hast du danach doch bestimmt eine schreckliche Müdigkeit verspürt? Ja. Der Kern verlangt dann, dass Lebensenergie abgezogen wird, um das zu ersetzen, was verloren gegangen ist. Es ist wie ein Hunger oder ein Bedürfnis. Je mehr ein Zauberer Magie gebraucht, desto stärker schrumpft sein Kern, und desto größer wird der Hunger. Die meisten reden sich ein, dass sie den Hunger beherrschen können, aber der Hunger wird immer größer, bis er am Ende den Magier beherrscht. Du hast mich gefragt, ob Magie beherrschbar ist. Wenn man jung und stark ist, ja, aber letzten Endes nicht. Magie macht eigentlich alle Zauberer zu gedankenlosen, gefräßigen Bestien. Sie werden gefühllos und kümmern sich nicht mehr um ihre Angehörigen und Freunde. Es gibt nur noch die Magie und das Bedürfnis, mehr zu verschlingen, obwohl sie selbst davon verschlungen werden. Zum Glück ist der Kern eines Zauberers zu dem Zeitpunkt, da die Magie die Herrschaft übernimmt, meist schon so geschwächt, dass der Magier lange vor seiner Zeit gebrechlich, verkrümmt und alt ist. Entweder siechen sie dann langsam dahin oder treten mit einer letzten großen Ruhmestat von der Bühne ab. Du glaubst mir nicht? Sieh mich doch nur an, Jillan! Ich war einst ein kräftiger, hübscher, sechs Fuß großer Mann!«
Jillan riss die Augen auf, bis sie riesig wie Wagenräder waren. Er glaubte Bion durchaus. Hatte der Makel denn nicht schon mehrfach die Kontrolle über ihn übernommen?
»Hehe. Nun, vielleicht war ich auch nicht ganz so groß und hübsch. Aber ich war viel stärker und aufrechter.«
»A…also sollte ich die Magie lieber gar nicht benutzen?«
Bion nickte. »Genau. Ich benutze sie selbst kaum noch. Ich möchte noch so viele Tage, wie ich kann, im Kreise der guten Leute von Linderfall genießen, meine Pfeife hier auf meinem Grübelstein rauchen und die Wunder des Geas auf mich wirken lassen. Könnte es ein schöneres Leben geben? Hier ist es sicher, und ich bin nie gezwungen, Magie zu wirken. Thomas ist mit allen gut Freund, und seine Töchter erfreuen die Seele, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Jillan wie betäubt. Er wollte den Makel anrufen, wagte es aber nicht, denn er hätte ja wieder die Kontrolle über ihn gewinnen können.
»Bist du dir sicher, dass du keinen Zug möchtest? Du wirkst ein bisschen überwältigt, Jillan. Der Rauch wird dich beruhigen und dir helfen, alles klarer zu sehen.«
Die Pfeife wurde ihm in die Hand gedrückt, und er hielt sie schlaff und starrte wie im Traum in die Landschaft. Magie war gefährlich. Sie schadete Unschuldigen. Sie machte ihn zu einem Ungeheuer, das sich um nichts und niemanden mehr kümmerte. Sie würde alles nur noch schlimmer machen, wenn er versuchte, sie einzusetzen, um jemandem zu helfen. Es würde das Beste sein, wenn er nichts tat und sich von Orten fernhielt, an denen er in Versuchung geraten oder gar gezwungen sein würde, seine Magie einzusetzen. Vielleicht war es angeraten, stattdessen an einem Ort wie Linderfall zu bleiben.
Als die Sonne den Horizont berührte, brach sich ihr Licht für einen Augenblick und ließ ihn blinzeln. Wie lange saß er schon hier? Die Pfeife war ausgegangen. Er streckte sie Bion wieder hin.
»Ich muss los«, sagte er drängend. »Wenn wir vor dem Dunkelwerden nicht aufbrechen …«
»Aber wir haben unsere Plauderei über die Magie doch noch gar nicht beendet, Jillan«, sagte der Gnom tadelnd.
»Ich muss meine Eltern in Hyvans Kreuz retten.«
»Aber sie würden nicht wollen, dass du dein Leben aufs Spiel setzt, Jillan. Als sie dir bei der Flucht geholfen haben, wussten sie genau, was das bedeuten würde. Wenn du nach Hyvans Kreuz gehst, haben sie sich umsonst geopfert. Und du kannst keine Magie benutzen, um sie zu befreien. Sie haben dich zu Thomas geschickt, weil sie wollten, dass er dich nach Linderfall bringt, damit du in Sicherheit bist und vielleicht eines Tages glücklich wirst.«
»Wer hat dir von ihnen erzählt? Weder Ash noch Aspin wissen das alles.«
»Aber das hast du doch selbst getan, Jillan«, sagte Bion überrascht. »Wir sitzen nun schon eine ganze Weile hier und reden über alles Mögliche. Vielleicht war der Rauch stärker, als mir bewusst war. Manchmal bewirkt er, dass Leute etwas vergessen, besonders, wenn sie ihn nicht gewohnt sind.«
Er hatte dem Zauberer doch nicht von seinen Eltern erzählt, oder? Er konnte sich nicht erinnern. In seinem Kopf ging alles durcheinander. Er musste gründlich nachdenken, aber dazu hatte er keine Zeit.
»Mach dir keine Sorgen. Wenn du nach Hyvans Kreuz musst, kann ich dir einen geheimen, direkten Weg zeigen. Du wirst schon fast da sein, bevor du aufgebrochen bist. Vertrau mir, es wird alles gut. Wie lange noch, bis du dort sein musst?«
Jillan stand schwankend auf. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe den Überblick verloren. Zehn Tage vielleicht.«
»Na, dann gibt es doch keinen Grund, sich Sorgen zu machen, nicht wahr?«
»Ich … ich muss Ash und Aspin finden. Auf Wiedersehen und vielen Dank.«
»Warte! Ich dachte, du wolltest etwas über Freistatt hören?«
Aber Jillan riss sich los und rannte zurück über die Wiese. Von wo aus hatte er sie auf dem Hinweg betreten? Er erkannte die Bäume jetzt, da ihre Schatten länger geworden waren, nicht wieder. Er hörte den Bach in einiger Entfernung zu seiner Rechten und lief darauf zu. Hier gab es keine Trittsteine, aber er wusste, dass er auf die andere Seite musste. Er watete spritzend hindurch und folgte dem anderen Ufer, im Vertrauen darauf, dass es ihn zu der Stelle führen würde, an der er vorhin hinübergewechselt war. Aber nach einer Weile begann der Bach sich weiter nach rechts zu krümmen und führte ihn in eine Richtung, die, wie all seine Instinkte ihm sagten, falsch war. Dann endete der Bach an der bewaldeten Seite des Steilhangs in einem tosenden Wasserfall. Jillan kehrte um und versuchte, dem Bach die ganze Strecke zurück bis an den Ort zu folgen, von dem er gekommen war.
Er sagte sich, dass er ein Dummkopf war, da er nicht von Anfang an besser aufgepasst hatte. Jetzt gelangte er an eine Stelle, an der ein weiterer Bach in seinen mündete, und erkannte, dass er wohl die ganze Zeit über dem falschen Bach gefolgt war. Er entschloss sich, an dem neuen Bach entlangzugehen, und fand sich bald in einem dicht bewachsenen, dunklen Teil des Waldes wieder, den er nicht erkannte. Keine Angst! Denk nach! Er kehrte dorthin zurück, wo die Bäche zusammenströmten, und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Sollte er es wagen, einfach die Bäche zurückzulassen und durch den Wald in eine Richtung zu gehen, die er für die richtige hielt, oder würde ihn das nur in noch größere Schwierigkeiten bringen?
»Hallooo! Kann mich irgendjemand hören? Ash! Aspin! Stara! Hallo? Ich habe mich verlaufen!«
Freda wand sich durch den Boden. Es war so viel schöner, durch anständigen Fels zu reisen als durch den dünnflüssigen Schlamm, den alle als Matsch bezeichneten. Harter Fels schabte sie sauber und sorgte dafür, dass sie sich frisch fühlte. Er streifte all die Milben und Käfer ab, die sich so gern in den Rissen ihrer Haut einnisteten. Sie konnte sie natürlich auch selbst töten, indem sie die Risse zudrückte, aber das, was infolgedessen in ihre Gelenke einsickerte, fühlte sich äußerst unangenehm an. Außerdem blieben Stücke von Insektenkörpern in ihr haften, schabten und waren ihr lästig.
Der Fels hier war auch noch besonders dicht, sodass er sich für sie echter anfühlte als die meisten Orte in der Welt der Hohen Herrscher. Hier wohnten viel Kraft und Macht, die vermutlich vom Großen Tempel ausgingen, als ob er eine Art Schwerpunkt bildete, der vom Rest der Welt getrennt war. Die Empfindungen, die die Zentralregion in ihr auslöste, erregten sie, machten sie aber zugleich nervös. Es war wahrscheinlich das Beste, wenn sie diese Gegend so schnell wie möglich durchquerte.
Sie drängte machtvoll weiter und nahm dann auf einmal eine ferne Erschütterung wahr. Es handelte sich nicht um das Vibrieren, das dem Fels selbst von Natur aus zu eigen war; er trug vielmehr die Lautäußerungen und Bewegungen von etwas weiter, das tief unter ihr in der Falle saß. In der Falle? Was brachte sie auf den Gedanken, dass der Ausgangspunkt der Vibrationen in der Falle saß? Sie wagte sich näher heran. Schreie. Schrill und unangenehm, dann tief und animalisch. Was für ein Ungeheuer konnte solche Laute hervorbringen? Wie entsetzlich musste sein Leid sein?
Sie wusste, dass sie es gar nicht hätte beachten sollen, weil sie keine Zeit hatte, etwas anderes zu tun. Sie wollte Freund Anupal schließlich nicht enttäuschen. Sie hatte versprochen, mit ihm an den Ort zu reisen, an dem sie Gutes tun konnten, um gute Freunde zu gewinnen, und dieser Ort würde nur da sein, wenn sie ihn rechtzeitig erreichten. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, den Schreienden – ob nun Ungeheuer oder nicht – in solcher Verzweiflung zurückzulassen. Sie würde sehen, was sie tun konnte, und die Zeit nachher aufholen, wenn nötig, indem sie Freund Anupal durch die Nacht trug, sodass er die Ruhe bekam, die er benötigte.
Als sie noch näher herankam, spürte sie eine unheimlichere Vibration unter den Schreien. Sonnenmetall! Der Schreiende saß in einem Würfel aus Sonnenmetall gefangen. Freda war entsetzt. Wer konnte so grausam sein, das einem anderen Lebewesen anzutun? Es war die schlimmste Folter überhaupt, eine ewige Herabwürdigung, ein Entzug des Daseins. Kein Wunder, dass das Geschöpf ständig schrie. Es musste von seiner Gefangenschaft in den Wahnsinn getrieben worden sein und sich nach dem Tod sehnen.
»Ich sehe dich!«, rief es widerhallend, tobte in dem Würfel herum und sprang an die Decke, bevor es sich in eine Ecke hockte. »Bist du gekommen, um mich zu verhöhnen? Gar schickt dich, nicht wahr? Aber was soll man schon von Gar vom Stillen Stein erwarten? Trägheit. Keinen Anstoß für kraftvolle Veränderungen. Keine Beschleunigung. Nichts! Was für ein Gott ist das?« Ein kurzes Zögern. »Aber was für Götter gibt es überhaupt noch? Keine. Lass mich allein! Du bekümmerst mich. Lass mich allein!«
Seine Forderung war so schrill, dass es schmerzte, ihr zu lauschen. Freda wich zurück und wusste ohnehin nicht, wie sie überhaupt helfen sollte. Sie war machtlos gegen das Sonnenmetall.
»Lass mich allein, lass mich allein, LASS MICH ALLEIN!«
Agonie. Die des Schreienden. Ihre eigene. Die des Steins. Ihr Verstand geriet durcheinander und zerbrach. Bruchstückhaftigkeit. Sie musste fliehen, bevor es sie ganz zerschmetterte. Sie spie Staub und Geröll aus, und der Fels um sie herum wurde zu einer Flutwelle. Sie rannte und schwamm und kämpfte sich nach oben, weigerte sich, sich davon in den bodenlosen Abgrund der Ewigkeit reißen zu lassen, wo die strafenden Niederen Herrscher das Weltenende erwarteten. Sie verhärtete sich, wurde fest, verwandelte sich in unbeweglichen Fels und stellte sich der reißenden Sturzflut entgegen. Sie würde sich davon nicht ertränken lassen.
Endlich begann die Flut abzuebben, als die Gedanken des Schreienden abschweiften und er sich wieder vergaß. Erschöpft hievte sie sich nach oben in Sicherheit und war dieses eine Mal froh über das Licht der Himmelshöhle auf ihrer Haut.
»Werft das Netz über sie!«, befahl eine dünne Stimme.
Sie sah verschwommen Rot und Gold, als ein spinnennetzfeines Gewebe aus Sonnenmetall über sie geworfen und zugezogen wurde. Es begann sich in sie hineinzufressen.
»Bitte nicht!«, flehte sie. »Ich habe nichts Böses getan!«
»Es steht dir nicht an, darüber zu urteilen«, widersprach die Stimme. »Ich bin hier die Autorität. Ich möchte wetten, dass du auch keine Papiere hast, oder? Wahrlich, dieses Reich würde völlig zusammenbrechen, wenn ich nicht hier wäre, um unberechtigtes Eindringen aufzudecken, die Scherben einzusammeln, wenn die ordnungsgemäßen Abläufe vernachlässigt worden sind, und so weiter. Es würde absolut keine Ordnung oder Organisation geben, wenn wir alle kommen und gehen würden, wie es uns gefällt. Es wäre das reine Chaos. Nichts würde je erledigt werden, nicht wahr? Ich frage dich noch einmal: Hast du Papiere?«
»Neeiin!«, stöhnte sie.
»Woher soll ich dann wissen, wer du bist? Woher soll ich wissen, ob du eine Bedrohung darstellst oder nicht? Schließlich bist du ziemlich seltsam und wirkst gefährlich. Wenn jemand Papiere braucht, dann eine wie du! Was soll ich also mit dir tun, hm?«
Durch die Pünktchen und Sterne, die ihr vor den Augen tanzten, konnte sie eine steife Gestalt ausmachen, die ganz Starrheit und Angepasstheit war. Sogar das Gesicht des Mannes war perfekt und unauffällig symmetrisch. Im Gegensatz dazu wirkte das halbe Dutzend schwerer Männer, das er bei sich hatte, lässig und abgerissen: lose Riemen an den Rüstungen, ungekämmte Haare, schmutzige Gesichter, schiefe Grimassen und dergleichen mehr.
»Was? Soll ich dich etwa auf den Rest des Reichs loslassen, damit du wer weiß welchen Ärger anrichten kannst? Wohl kaum. Das wäre sehr nachlässig von mir. Und wie kannst du erwarten, die Grenze zu einer anderen Region überschreiten zu dürfen, wenn du doch keine Papiere hast? Nein, ich werde dich festhalten müssen, bis du zu meiner Zufriedenheit beweisen kannst, wer du bist.«
»Aber wie kann ich ohne Papiere beweisen, wer ich bin?«
»Nun, darüber hättest du nachdenken sollen, bevor du beschlossen hast, ohne Manieren, Einladung und Erlaubnis hier durchzustürmen, nicht wahr? Mach dir keine Sorgen, du wirst reichlich Zeit haben, in deiner Zelle darüber nachzudenken, wie du beweisen kannst, wer du bist. Alle Zeit der Welt sogar. Führt sie ab!«
»Ja, Heiliger«, antworteten die schweren Männer. Drei von ihnen packten das Netz und machten sich daran, Freda davonzuschleifen.
Die gewissenhafte Ordnungsmacht blickte zum Himmel empor. »Und bereitet eine zweite Zelle vor, da wir bald einen weiteren ungebetenen Neuankömmling empfangen werden. Letzterer hat sich schon einmal so strafbar gemacht, also werde ich hart durchgreifen müssen, sonst glauben bald alle, einen Freibrief zu haben!«
Der Sonderbare jagte den Adler hinauf in die Wolken, sperrte den Mund lächerlich weit auf und verschlang den Vogel in einem Stück. Er rülpste. Der Adler zappelte in ihm, ließ seinen Magen in Form des Schnabels und des Kopfes und dann in der der Klauen hervortreten.
»Oh! Das kitzelt! Das liegt an deinen Federn. Aua. Das hat wehgetan.«
Er hustete und spuckte den Vogel wieder aus. Er stürzte eine ganze Strecke ab, bevor es ihm gelang, sich zu fangen und seinen Fall abzubremsen. Der Adler landete schwer, wirkte aber, als ob er überleben würde, sofern kein zeitversetzter Schreck ihn das Leben kostete.
»Ich mochte den Geschmack von Adlern ohnehin noch nie«, sagte der Sonderbare mürrisch. »Sie schmecken wie Frösche, die ihrerseits wie Hähnchen schmecken, die wie Karpfen schmecken, die Kot und Schlamm vom Grund der Flüsse fressen. Eine viel zu primitive Lebensform, als dass sie je gut schmecken könnte. Ach, ich wünschte, es würden noch Lindwürmer den Himmel zieren! Die waren eine echte Herausforderung! Und listig. Sie haben sogar fast so gut wie Menschen geschmeckt, wenn nicht gar besser als so manch einer. Was ist überhaupt aus den Lindwürmern geworden? Ich wette, Goza hat sie allesamt verschlungen. Heutzutage bleibt einem nicht viel Neues. Die Welt ist natürlich im Niedergang begriffen, weil die Kraft des Geas langsam von den Andersweltlern aufgesogen wird. Ja, das Verschwinden mancher Arten hat zweifelsohne mit dem Nachlassen des Geas zu tun. Doch ich frage mich, wie die Andersweltler wohl schmecken. Sie sehen ein bisschen knochig aus. Hmm. Darüber muss ich nachdenken.«
Er geriet in einen Lufteinschluss, und der Wind unter ihm verschwand. Er stürzte ab wie gerade eben der Adler.
»Oh weh. Zu viel nachgedacht! Ich hätte besser aufpassen sollen, wohin ich fliege.«
Gleich darauf geriet er in einen Abwind und wurde auf die Erde zugeschleudert. Er entschloss sich, keine Kraft darauf zu verschwenden, seinen Fall abzubremsen, weil es ihm wichtiger war, so schnell wie möglich zum Boden zu gelangen. Er hatte einfach genug von diesem zudringlichen Heiligen. Es wurde Zeit, ihn ein für alle Mal zu erledigen.
»Das wird wehtun«, sagte er zu sich selbst.
Sein Körper prallte auf den Boden und ließ eine Fontäne aus Kieseln und Steinen aufspritzen. Nachdem er etwa eine Minute damit verbracht hatte, seine Gliedmaßen und sein Fleisch neu zusammenzuwirken, zog er sich aus der tiefen Kuhle hoch, die er hinterlassen hatte. Er schob langsam erst die rechte, dann die linke Schulter nach hinten und seufzte, als seine Wirbelsäule wieder an ihrem angestammten Platz einrastete.
»Ah! So ist es gut!«
»Sieh an, wer ist denn da wieder hereingeschneit?«, säuselte die Stimme des heiligen Virulus.
»Weißt du nicht, wer ich bin, du einfältiges Großmaul? Ich kann nicht glauben, dass du noch nie vom Sonderbaren gehört hast, auch bekannt als Herr des Chaos, als Großer …«
»Es kümmert mich nicht, für wen du dich hältst!«, rief der heilige Virulus von einem Felsen herab, der ihn größer als seine Handlanger wirken ließ. »Das hier ist meine Region, und ich habe die Absicht, dafür zu sorgen, dass alles hier seine Ordnung hat. Das ist die einzige Möglichkeit, dem Chaos einen Strich durch die Rechnung zu machen und die Ewigkeit zu gewährleisten.«
»Ich weiß nicht, wie es dir gelungen ist, die Luft da oben zu verändern, aber wenn du glaubst, dass du auch nur die geringste Aussicht hast, den Herrn des Chaos in ›Ordnung‹ zu bringen …«
»Ruhe! Ich kontrolliere die Elemente dieser Region. Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle. Nicht einmal die Luft strömt ohne mein Gebot. Niemand kann ohne meine Erlaubnis auch nur atmen oder sprechen. Ruhe, sage ich!«
Dem Sonderbaren wurde ein Knebel aus Luft in den Mund geschoben, um ihn am Sprechen zu hindern. Er spuckte ihn wütend aus. »Das reicht! Ich werde dich wie Dung über diese Region verschmieren. Der Boden hätte es ohnehin nötig. Freu dich, dass du in deinem geistlosen Leben zumindest ein einziges Mal von einem gewissen Nutzen sein wirst!«
»Ich werde dich Ordnung lehren!«, rief der Heilige. »Ich habe genug von deinen widerspenstigen Worten und tollwütigen Tiraden, du … du … Vagabund. Werft das Netz über ihn!«
Ein hauchdünnes Netz aus Sonnenmetall wurde über den Sonderbaren geworfen. Er streifte es schulterzuckend ab und lachte leise. »Nicht auszudenken, dass ich neulich tatsächlich gezögert habe, dich zu töten, weil die Erlöser deswegen einen Aufstand machen könnten! Jetzt ist mir klar, dass ich ihnen einen Gefallen tun werde. Und ich muss ja schließlich auch an meinen Ruf denken. Wenn ich dir das durchgehen lassen und die Sache sich herumsprechen würde, dann würde jeder alberne Heilige, dem ich begegne, es sich nicht nehmen lassen, mir in die Quere zu kommen.« Er machte einen Schritt auf den Heiligen zu.
»Fangt ihn! Fangt ihn!«, drängte der heilige Virulus. »Ich sorge für Ordnung!«
Zwei Netze wurden zugleich geworfen. Der Sonderbare verflüssigte sich und glitt zwischen ihnen hindurch, wobei sein Sonnenmetallhelm vom Strom getragen wurde.
»Und was nun?«, fragte der Sonderbare.
Der Heilige hob die Hände mit nach innen gerichteten Handflächen über den Kopf, als ob er einen Steinklotz festhielte. Er schleuderte die Luft auf den Sonderbaren. Der Sonderbare wurde zum Geist, und die Macht ging geradewegs durch ihn hindurch, aber sein Helm verrutschte ein wenig.
»Und was nun?«, fragte er, während er sich den Helm zurechtrückte und noch einen Schritt näher kam.
»Greift ihn an!«, rief der Heilige seinen sechs Männern zu. »Für das Reich!«
»Bleibt, wo ihr seid!«, bannte der Sonderbare sie mit einem Melodiefetzen und einem verliebten Seufzen. Er trat noch einen Schritt näher heran. »Und was nun? Deine Befehle haben versagt, und deine Bemühungen, über die Materie zu gebieten, sind beschränkt. Was nun, geistloser kleiner Heiliger? Gibst du zu, dass Unordnung genauso eine Daseinsberechtigung hat wie Ordnung? Gibst du zu, dass nichts allbeherrschend und allmächtig sein kann, wenn es diese Welt überhaupt geben soll? Gibst du zu, dass deine Erlöser nicht ewig sind?«
»Anarchist!«, stieß der Heilige mit zusammengebissenen Zähnen hervor und ließ Flammenspiralen aus seinen Händen aufsteigen, um den Sonderbaren darin einzuhüllen.
»Wie töricht von mir«, sagte der Sonderbare. »Natürlich gibst du es nicht zu. Das wäre ein zu großes Eingeständnis eines Fehlers und Irrglaubens und deiner eigenen Unzulänglichkeit. Der Mensch ist ein Geschöpf, das sich derart selbst belügt! Welch eine selbstzerstörerische Weltsicht und Philosophie. Allein der Gedanke, dass man sich der Welt aufzwängen kann, die einen erschaffen hat, und dass man sie absolut beherrschen kann! Welch Zirkelschluss, welch Irrtum! Siehst du nicht, dass es der Versuch selbst ist, der dir immer zum Verhängnis wird? Aber ich weiß, warum deinesgleichen so handelt. Ich bin nicht verständnislos, noch nicht einmal unbarmherzig. Es liegt daran, dass ihr euch so allein und verloren im Universum fühlt, nicht wahr? Komm, lass mich dich halten.«
Die feurige Gestalt brannte in allen Regenbogenfarben, als sie auf den Felsen stieg und den Heiligen umarmte.
»Neeiin!«, schrie der tadellos frisierte Mann, als sein Haar Feuer fing, seine Haut zu schmelzen begann und seine Uniform verbrannte. Der Geruch nach geschmortem Fleisch lag in der Luft.
»Ganz ruhig! Es ist alles gut. Ich bin ja jetzt da.«
Das Fleisch des Heiligen wurde schwarz und knusprig. Sein ersterbendes Stöhnen ging im Tosen des Infernos auf. Einen Moment lang blieben seine Gliedmaßen als dürre, verkrümmte Dochte für die bunten Flammen erhalten, doch gleich darauf waren sie nichts mehr als Asche im Wind. Das Feuer erlosch so plötzlich, als hätte es den Heiligen nie gegeben.
Der Sonderbare stieg vom Felsen herab, klopfte sich den Staub von den Händen und nahm wieder seine vorherige Gestalt des schmerzlich schönen Jünglings an. »Ich habe ihn gewarnt. Ihr habt doch gehört, wie ich ihn gewarnt habe, nicht wahr?«
Die sechs gaffenden Helden nickten.
»Freund Anupal!«, rief eine Stimme. »Ich bin hier unten gefangen.«
Die Brauen des Sonderbaren zogen sich in glühender Verstimmung zusammen. »Ihr Schufte habt meine Freundin eingesperrt? So behandelt man doch eine Dame nicht!«
»Ein Ungeheuer, meinst du wohl«, sagte ein Held mit kantigem Gesicht, der den Zauberbann abzuschütteln schien.
»Nimm dein Schwert und schneide dir die Zunge heraus. Gut so! Jetzt schluck die Klinge zugleich mit deinen Worten herunter.«
Die übrigen fünf sahen in hilflosem Entsetzen zu.
»Du da!«, sagte der Sonderbare zu einem, der sich in die Hose gemacht hatte. »Lass meine Freundin frei.«
Der Held machte mit zitternden Knien einen zaghaften Schritt vorwärts. Der Sonderbare schnalzte mit der Zunge und berührte den Soldaten an der Schulter. Der Mann fiel mit überraschter Miene tot um.
»Zu langsam. Ich bin sehr, sehr beschäftigt! Ich muss dringend anderswo sein. Du da! Lass meine Freundin frei.«
Der nächste Held verschwendete keine Zeit und gelangte bis zur ersten Stufe zur Bestrafungskammer, bevor der Sonderbare gähnte und mit den Fingern schnippte. Der Mann stolperte und fiel die Stufen hinab. Die plötzliche Stille dort unten verriet den verbliebenen drei, dass ihr Kamerad sich den Hals gebrochen hatte.
»Du!«
Der vierte Mann hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.
»Löbliche Geistesgegenwart und Entschlusskraft!«
Die übrigen beiden seufzten vor Erleichterung. Der Sonderbare richtete den Blick auf sie.
»Anders als bei euch beiden.«
Einer warf sich auf die Knie und faltete die Hände vor dem Körper. »Gnade, Heiliger!«
Der Sonderbare berührte ihn an der Stirn, als würde er ihn segnen. »Nun gut. Ich werde es kurz und schmerzlos für dich machen.« Dann wandte er sich dem letzten Helden zu. »Nun?«
»Ich … ich …« Er zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid?«
Der Sonderbare bedachte ihn mit einem unnachsichtigen Lächeln. »Guter Versuch, aber was nützt es, wenn es einem im Nachhinein leidtut, hm? Es muss einem im Voraus leidtun, damit gar nicht erst etwas passiert.« Er streichelte dem Soldaten die Wange. »Vergiss das nicht, wenn das Geas geruht, dir ein weiteres Leben zu schenken.« Er fing den Mann auf, als er umfiel, und legte ihn sanft auf dem Boden ab.
Der vierte Held kehrte mit Freda zurück. Er schaute zu seinen toten Kameraden und schluckte verängstigt.
»Ah, da bist du ja, meine Liebe. Geht es dir gut?«
»Ja, Freund Anupal.«
»Das ist gut. Dann sollten wir all dies Unschöne hinter uns lassen und weiterreisen.« Er nahm sie an die Hand, und sie schritten davon und ließen den Helden zurück.
»Ich bin froh, dass du sie nicht alle getötet hast«, murmelte Freda.
»Aber natürlich nicht, meine Liebe. Ich bin doch kein Ungeheuer. Wenn ich kann, versuche ich, Gutes zu tun, um gute Freunde zu gewinnen. Es betrübt mich, wenn ich das nicht tun kann.«
Außerdem muss doch einer am Leben bleiben, damit er die Geschichte der derzeitigen Generation dieser Welt erzählt. Mein Ruf muss wiederhergestellt werden.
Jillan fuhr verwirrt aus dem Schlaf hoch. Wo war er? In einem kleinen Raum mit goldfarbenen Deckenbalken. Es war niemand sonst dort. Helles Tageslicht strömte durch zwei Fensterläden, und zwar nicht das kalte Licht des anbrechenden Morgens. Es fühlte sich eher wie Mittag an. Wie konnte das sein? Er hatte etwas verloren, aber er wusste nicht genau, was. Ihm war übel bei dem Gedanken, dass er das hier schon einmal erlebt hatte.
Der Kopf tat ihm weh. Er war in Versuchung, nach dem Makel zu rufen, um ihn zu fragen, was in der vergangenen Nacht geschehen war, aber Bion hatte ihn davor gewarnt, Magie einzusetzen. Das war es: Er hatte mit Bion gesprochen und sich dann auf dem Weg zurück zur Schmiede und zu Thomas’ Haus verlaufen. Stara hatte ihn am Ende gefunden und ihn nach Hause geführt, aber als sie dort angekommen waren, war es schon stockdunkel gewesen. Er hatte den freundlichen Gesichtern und der Wärme des Feuers dankbar erlaubt, sein Leid zu lindern, und sich willig am fröhlichen Feiern beteiligt. Hatte er nicht irgendwann auf dem Tisch gestanden, um ihnen allen ein Lied vorzusingen? Es war ihm jetzt etwas peinlich, sich daran zu erinnern, aber es hatte Stara gefallen.
Er runzelte die Stirn. Noch ein verlorener Abend. Er schob den übergroßen Kissenhaufen beiseite, um sich freier bewegen zu können, setzte die Füße auf den Boden und bemerkte, dass er nur seine Unterwäsche trug. Wo waren seine anderen Kleider? Erleichtert sah er, dass sie über einen Stuhl gehängt waren, und streifte sie rasch über. Wo war sein Bündel? Was war aus seiner Rüstung geworden? War sie magisch und deshalb etwas, das er meiden musste? Nein, sie hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet, und er wollte sie wiederhaben. Hinzu kam, dass er sie sich eigentlich nur von dem heidnischen Häuptling geliehen hatte, also musste er sich bemühen, gut damit umzugehen. O nein! Wo war sein Sonnenmetallschwert, das Samnir geopfert hatte, obwohl er gewusst hatte, dass es das Einzige war, womit er sich gegen den heiligen Azual verteidigen konnte? Thomas war immer interessiert daran gewesen. Hatte er es etwa entwendet?
Jillan durchquerte das Zimmer und stieß die Tür auf. Stara wartete schon auf ihn und verstellte ihm den Weg.
»Da bist du ja, Jillan. Ich habe dich seit gestern Abend vermisst.« Sie errötete reizend. »Möchtest du mitkommen und mit mir Pilze für das Frühstück sammeln?«
Er nahm sie bei den Oberarmen und schob sie sanft beiseite. »Erst einmal muss ich mein Bündel finden und dann Aspin und Ash.«
Er stieg die Treppe hinab, und Sabella kam auf ihn zugeeilt. »Da bist du ja, Jillan. Gestern Abend hast du wieder zu viel Bier getrunken.« Sie zwinkerte verständnisvoll. »Du möchtest sicher ein bisschen Honigbrot. Das isst du doch am liebsten. Es steht schon alles für dich bereit.«
Er schenkte ihr ein kleines Lächeln und sah sich dann gründlich in dem großen, offenen Raum um. Alles glänzte, und man wusste gar nicht, was man zuerst ansehen sollte: die polierten Eichenstühle, die blanke Oberfläche des mit geschnitzten Blättern verzierten Tisches, das Messing um den frisch gefegten, stets brennenden Kamin, das Licht, das von den zarten Porzellantellern zurückgeworfen wurde und durch Gläser mit eingemachtem Obst schien, das funkelnde Besteck, Staras leuchtende Augen und ihr weißes Kleid, Sabellas rosige Wangen oder den Sonnenschein, der durch die offene Tür und die Fensterläden hereinströmte.
Jillan hielt nach Schatten Ausschau, in denen Gegenstände verborgen sein mochten. Ah, da drüben. Er ging zu der Nische unter der Treppe. Ganz nach hinten geschoben lagen seine Rüstung und sein Schwert. Er zog sie hervor und begann sie anzulegen. Dann sah er sein Bündel und die beiden Bögen, die er auf dem Wagen versteckt hatte, bevor er Aspin in Erlöserparadies befreit hatte. Auch die nahm er an sich.
Sabellas Lächeln schwand. »Aber Jillan, mein Lieber, willst du denn ausgehen? Du solltest etwas essen, bevor du aufbrichst. Wie wäre es mit Tee? Ich habe schon einen aufgesetzt. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn du gehen würdest, ohne dass dich etwas bei Kräften hält.«
Jillan zog die letzte Schnalle seiner Rüstung fest und fühlte sich sofort wieder mehr wie er selbst. Die goldenen Symbole auf seinem Brustpanzer funkelten, und er glaubte, in der Ferne etwas zu hören. War das ein Heulen? Nun, da er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass der Wolf schon eine ganze Weile heulte – oder etwa nicht? Er hatte es anscheinend bis jetzt nur nicht bemerkt.
»Ich komme mit«, erklärte Stara und folgte ihm durch die Tür. »Damit du dich nicht wieder verläufst.« Sie lachte voller Zuneigung und wirkte niedergeschlagen, als er nicht mit einfiel. »Willst du, dass ich dich erst zu Aspin bringe? Nach der Stimmung zu urteilen, in der Betha vorhin war, ist er wohl wieder bei Bion.«
Jillan nickte und ließ sich von ihr an der Schmiede vorbeiführen, in der Thomas gegen seinen Drachen kämpfte, über den Bach, durch den Hain und quer über die wilde Wiese. Abseits des Pfades hörte er Ash etwas flüstern und Ausa vor Entzücken quietschen.
Jillan legte einen Finger an die Lippen, und er und Stara schlichen sich näher an die Stimmen an.
»Also hätte dein Vater nichts dagegen, wenn wir zusammen wären?«, murmelte Ash, der im hohen Gras neben Ausa lag.
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Er lässt uns die freie Wahl. Du bist nicht so wie die anderen Jungen und Männer hier, Ash. Du bist anders, etwas Besonderes. Aber du bleibst hier bei mir, nicht wahr? Du gehst nicht weg?«
»Natürlich bleibe ich. Für immer! Wie könnte ich auch anders, da doch mein Herz hier ist?«
»Oh, Ash, das ist wunderbar!«, rief sie aus und schlang die Arme um ihn, zog sich dann aber wieder zurück. »Wird das Jillan auch nichts ausmachen?«
»Warum sollte es ihm etwas ausmachen? Er wird es verstehen, da bin ich mir sicher.«
»Vielleicht könntest du ihn überreden, auch zu bleiben.«
»Na, ich weiß nicht so re…« Er brach ab, als sie die Lippen fordernd auf seine drückte, und stöhnte vor Lust und Verlangen.
»Sag, dass du ihn überzeugen wirst, mein geliebter Ash. Ich könnte es nicht ertragen, mit anzusehen, wie er Stara das Herz bricht, und es wäre ohnehin besser für ihn, wenn er bleiben würde. Er wäre hier glücklich. Wir würden alle Freunde sein. Sag, dass du ihn überzeugen wirst. Für mich.«
»Für dich tue ich alles.«
Jillan schlich sich davon; mehr musste er nicht hören. Erschrocken rannte Stara los, um ihn einzuholen. Er erreichte die Steine im selben Augenblick wie sie.
»Ah, Jillan, komm zu uns!«, sagte Bion schleppend. »Hier, nimm einen Zug.«
»Aspin, ich muss mit dir reden«, sagte Jillan zu dem benebelt wirkenden Bergkrieger. »Hier drüben.«
»Ganz wie du willst, Jillan, natürlich«, murmelte Aspin. »Natürlich. Ganz wie du willst … Jillan.« Er kam im zweiten Versuch auf die Beine und stolperte Jillan nach, der sich hinter die Steine zurückzog.
Stara blieb in der Nähe stehen, beobachtete sie und lauschte besorgt. Jillan sah sie an und tat sein Bestes, beruhigend zu lächeln. »Geh ins Haus zurück, Stara. Mach dir keine Gedanken. Diesmal verlaufe ich mich nicht. Ich muss den Weg selbst lernen, wenn ich hier bei euch bleiben soll.«
»Wirklich?«, quietschte sie und klatschte in die Hände.
»Wirklich. Warum läufst du nicht schon los und überbringst deinen Eltern die gute Nachricht?«
»O ja! Sie werden sich so freuen!«, rief das Mädchen und rannte durch die Schmetterlinge und schwebenden Löwenzahnsamen davon.
Jillan packte seinen Freund am Ellbogen und begann, ihn über die Wiese zu führen. Er überprüfte den Stand der Sonne, die schon weiter über den Himmel geeilt war, als sie es hätte tun sollen. Jillan zweifelte nicht daran, dass zu dem Zeitpunkt, da sie die gegenüberliegende Seite der Wiese erreichten, die Dämmerung über sie hereinbrechen würde. Die Zeit verging hier zu schnell. Das Wetter war zu gut. Die Umgebung war zu perfekt. Es war alles falsch und allein darauf berechnet, sie von der Abreise abzuhalten.
»Komm schon!«, drängte Jillan, während er Aspin weiterzog. »Nimm die Beine in die Hand!«
»Was soll die Eile, hm? Wohin gehen wir? Bleiben wir denn nicht hier?«
»Hier, nimm deinen Bogen. Wir brechen auf.«
»Oh, na gut. Was ist mit Betha?«
Jillan antwortete nicht.
»Ich sollte ihr doch auf Wiedersehen sagen, oder?«, fragte Aspin benommen.
Jillan schleifte ihn weiter, während der Himmel sich hinter ihnen verdunkelte. »Wir müssen zum Stall. Wir brauchen Pferde.«
»Wo steckt denn Ash? Kommt er nicht mit?«
»Er wird uns einholen wie schon einmal. Kannst du den Wolf nicht hören?«
Aspin blinzelte schläfrig. »Den Wolf? Welchen Wolf?«
»Du weißt schon, Ashs schwarzen Wolf. Du hast ihn auf dem Weg hierher gesehen, erinnerst du dich nicht? Er war kaum zu übersehen. Jetzt heult er in der Ferne. Kannst du ihn nicht hören?«
»Ich … nicht wirklich. Bist du dir sicher? Bion hat gesagt, du wärst trau… Wie hieß das doch gleich? Ach ja, traumatisiert.«
»Vergiss, was er gesagt hat. Komm weiter! Glaubst du, dass du rennen kannst?«
»Rennen? Wohin rennen?«
»Folge mir einfach. Das ist alles.«
Sie liefen durch den Hain. Einmal schien Aspins Aufmerksamkeit abzuschweifen, und er blieb stehen. Jillan kehrte zu ihm um und stieß ihn weiter. Jillan hüpfte über die Trittsteine, aber Aspins Reaktionen waren zu träge, als dass er sie hätte treffen können, und so musste er durch den Bach waten. Es war jetzt tiefe Nacht.
Jillan führte sie hinter der Schmiede und dem Haus herum und blieb zwischen den Bäumen, so dass sie für niemanden drinnen zu sehen sein würden. Die Stallungen lagen jenseits des Hauses. Jillan und Aspin schlichen weiter.
Im Haus kam ein Mädchen an den offenen Fensterläden vorbei und zeichnete sich im Gegenlicht ab. Aspin trat vor. »Be…«
Jillan hielt Aspin mit der Hand den Mund zu und schleifte ihn unter einigen Mühen wieder zurück zwischen die Bäume. Der Schattenriss blieb stehen und lehnte sich eine Sekunde lang aus dem Fenster, schüttelte dann aber den Kopf und verschwand.
Jillan stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. Es war ein Glück, dass Aspin sich nicht zu sehr gewehrt hatte.
»Ich verstehe das nicht«, beklagte sich Aspin. »Es ist dunkel und kalt hier draußen. Ich will dorthin, wo es warm ist und wir Freunde und Familie haben. Ich will ein bisschen Bier und gutes Essen.«
»Ich auch, Aspin, aber es ist alles nicht echt.«
»Was? Natürlich ist es echt. Ich will, dass es echt ist.«
»Genau. Es ist alles, was du je gewollt hast, alles, was ich je gewollt habe. Deshalb weiß ich ja auch, dass es nicht echt sein kann.«
Aspin rieb sich die Schläfen, als ob er Kopfschmerzen hätte, und legte die Stirn in Falten.
Auf den hölzernen Stufen vor dem Haus erklangen Schritte. »Jillan! Aspin! Es wird Zeit hereinzukommen!«, rief Stara.
Das Heulen des Wolfs klang immer verzweifelter. Jillan hielt sich einen Finger an die Lippen und mahnte Aspin, still zu bleiben. Er zog seinen Freund um die Hausecke, quer über den Hof und in den Stall. Drinnen standen zwei Stuten – eine braune und ein Apfelschimmel – und schnaubten neugierig.
»Sattele sie«, wies Jillan Aspin an, der sich nun ein wenig zielstrebiger bewegte als zuvor.
Eine Minute später hatten sie die Pferde aus dem Stall geholt. Jillan stieg auf den Apfelschimmel und sah Aspin an. »Bereit? Wir müssen durch den Weiler zurückreiten, um eine Straße zu finden, die wir kennen. Wir müssen schnell reiten.«
»Bereit.« Aspin nickte müde. »Ich fühle mich aber gar nicht gut. So, als hätte ich seit Tagen weder gegessen noch geschlafen.«
»Ich weiß. Und du hast wahrscheinlich auch beides nicht getan. Komm schon. Los!«
Sie trieben die Pferde zum Galopp und preschten vors Haus. Thomas stürmte aus der Vordertür.
»Kommt zurück!«, schrie er. »Ich zeige euch die Schleichwege nach Hyvans Kreuz!«
Aber Jillan hatte nicht vor anzuhalten. Er beugte sich über den Hals seiner Stute, trieb sie in einen noch schnelleren Lauf und warf nur einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass Aspin nach wie vor bei ihm war.
Sie schossen durch den Weiler und ritten die blassen Gestalten nieder, die aus den Häusern hervortraten, um ihnen den Weg zu versperren. Eine Mutter, die sich einen Säugling an die Brust drückte, stand wimmernd vor ihnen.
»Halt nicht an!«, rief Jillan Aspin zu und trieb sein Pferd durch das Trugbild hindurch. »Reite dem Heulen des Wolfs nach!«
Sie kamen am letzten Gebäude von Linderfall vorbei und gelangten in die tiefe Schwärze unter den Baumkronen des Waldes, die das Mondlicht nur an wenigen Stellen zu durchdringen vermochte. Aspin zügelte sein Pferd.
»Jillan, bei der Geschwindigkeit ist es zu gefährlich. Die Pferde werden über eine Wurzel stolpern, oder wir prallen gegen einen tiefhängenden Ast.«
»Nein! Es ist alles nicht echt. Vertrau mir!«
Aspin setzte Jillan mit einem tollkühnen Aufschrei nach. Sie donnerten ein paar Meilen weit durch die Wälder und sahen dann jenseits der Bäume etwas helleres Grau.
»Die Straße. Endlich!«
Sie wurden langsamer, als sie näher herankamen und auf den fest gestampften Boden einbogen. Irgendwie wirkte es nicht richtig.
»Wir sind wieder auf dem Hof!«
Sie waren im Kreis geritten. Der Stall stand zu ihrer Rechten, Thomas’ Haus zur Linken.
»Aber wie kann das sein?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber wir bleiben nicht hier«, sagte Jillan entschlossen und rammte seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Der Apfelschimmel weigerte sich, auch nur einen Schritt zu machen.
Die dunklen Umrisse eines Riesen und eines Zwergs kamen um die Hausecke. Der Riese wog einen Hammer in der Hand, der so groß wie Jillan war. Rotes Licht aus der Pfeife beleuchtete Bions Gesicht.
»Diese Pferde wissen, wem sie gehören. Sie rühren sich nicht von hier weg. Sie sind zu Hause und werden sich nicht von zwei nächtlichen Leisetretern stehlen lassen!«, schnaubte Thomas.
Mit zitternden Händen hob Jillan den Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne. »Bleib uns vom Leib. Du hast uns diese Pferde versprochen, Thomas Eisenschuh, erinnerst du dich nicht mehr? Du kannst uns nicht aufhalten. Ich lasse mich hier nicht einsperren.«
»Gehört es sich etwa, so mit jemandem zu reden, der dich in sein Haus eingeladen, dir seine Gastfreundschaft und sein bestes Bier geschenkt und dir gar noch erlaubt hat, seine Tochter zu umwerben? Stiehlt man sich da einfach nachts davon, ohne auch nur danke und auf Wiedersehen zu sagen? Das ist kein anständiges Benehmen. Du solltest dich schämen, Junge.«
»Na, na«, sagte Bion begütigend. »Es ist spät, und wir sind alle müde. Wir versuchen doch nur, uns dir gegenüber nach allem, was du für Thomas getan hast, anständig zu verhalten, und hoffen, dass du uns im Gegenzug ebenfalls anständig behandelst. Wir glauben nicht, dass es klug von dir ist, nach Hyvans Kreuz zu reisen, aber wenn du das wirklich willst, steht es dir natürlich frei. Wie versprochen werden wir dir den schnellsten Weg dorthin zeigen.«
»Gut. Dann brechen wir jetzt nach Hyvans Kreuz auf. Zeigt uns nur die richtige Richtung, dann sind wir fort.«
Bion zog sinnend an seiner Pfeife. »Nun gut, dann tun wir das morgen früh. Aber eines solltest du wissen. Aspin glaubt nicht, dass es eine besonders gute Idee ist, nach Hyvans Kreuz zu gehen, nicht wahr, Aspin? Er glaubt nicht, dass ihr beiden Jungen allein große Aussichten habt, gegen die dortige Garnison aus Tausenden von Helden zu bestehen, ganz zu schweigen von dem Heiligen, der natürlich immer Bescheid weiß. Aspin glaubt, dass du dir etwas vormachst. Und Aspin will sogar bleiben. Das hat er Betha doch versprochen, stimmt’s, Aspin? Nun mach schon, erzähl es Jillan.«
Aspin senkte schuldbewusst den Blick. »Jillan, ich …«
»Schon gut. Sag nichts. Bleib auf dem Pferd!«, sagte Jillan mit zusammengebissenen Zähnen, ohne seinen Freund anzusehen. »Ich gebe dir noch eine letzte Gelegenheit, Bion: Zeig uns den richtigen Weg.«
»Dein Ton gefällt mir nicht, Junge!« Thomas trat auf sie zu.
»Nur ruhig, mein guter Thomas, ruhig«, beschwichtigte ihn Bion. »Jillan, wenn du schon fortmusst, dann denk wenigstens darüber nach, dich nach Westen zu wenden. In dieser Region hier wütet die Pest. Die heilige Izat hat aber verkünden lassen, dass Flüchtlinge aus dem Süden in ihrer westlichen Region willkommen sind. Und du weißt, dass deine Eltern nicht wollen, dass du dein Leben aufs Spiel setzt. Du bist einfach zu wichtig. Überlegst du es dir zumindest, Jillan?«
Aspin sah Jillan schief an. »Vielleicht sollten wir es uns wirklich überlegen.«
Selbstzweifel schrien von einer Seite auf Jillan ein, und von der anderen raunte ihm die Versuchung etwas zu. Es gab keinen Ausweg. Wie ist es hiermit, Jillan? Wie ist es damit, Jillan? Du hast nicht über dieses oder jenes oder sonst irgendetwas nachgedacht, nicht wahr? Halt einfach einen Augenblick inne, dann wird alles gut. Sogar sein Freund, sein einziger Freund, fand, dass er innehalten sollte. Aber dann würde sich nichts verändern.
»Den richtigen Weg, Bion! Sofort!«, sagte Jillan mit zitternder Stimme.
»Na gut. Wir zeigen ihn dir morgen früh, wenn wir uns alle ordentlich ausgeruht haben. Jetzt ist es zu dunkel. Wir gehen nach drinnen, essen, schlafen, verabschieden uns und brechen dann früh auf.«
Es klang vollkommen vernünftig. Unentschlossenheit lähmte Jillan. Er konnte nicht denken. Er war so müde. Er konnte nichts mehr hören, nur seinen eigenen Herzschlag, das Blut, das ihm in den Ohren rauschte, und den heulenden, heulenden Wahnsinn in seinem Verstand. Die reißende, ewig rastlose Bestie, den brutalen, schrecklichen Wolf. Der Wolf! Warum konnten sie ihn nicht hören?
Jillan wandte zitternd den Kopf und ließ den Pfeil fliegen. Er zischte durch die Luft und zerschlug Bions Pfeife, sodass die glühende Asche dem Gnom ins Gesicht stob und sich auf dem Hof verteilte. Thomas brüllte, riss den Hammer hoch und stürmte auf Jillan zu. Als der Gnom mit einem Aufschrei hintenüberfiel, wurden das Haus und der Stall für einen so kurzen Moment, dass es schien, als ob das Auge dem Verstand einen Streich spielte, zu Ruinen.
Jillan riss kräftig an den Zügeln, und der Apfelschimmel bäumte sich auf und hielt Thomas mit wirbelnden Hufen auf Abstand. Als der Schmied sich wieder vorwagte, versperrte Aspins wendendes Pferd ihm für eine Sekunde den Weg. Jillan ließ sein Pferd erneut steigen, aber Thomas stand nun neben ihm. Jillan spürte, wie er hintenüber aus dem Sattel rutschte, und versuchte, das Pferd an der Mähne zu packen, aber sie glitt ihm durch die Finger, und er hing plötzlich in der Luft. Der Sturz hielt ihn noch für ein paar Augenblicke außer Reichweite des Schmieds, aber der Aufprall auf dem Boden verschlug Jillan den Atem, und er rollte sich zusammen und krümmte sich vor Schmerz.
»Töte ihn nicht, Thomas«, befahl Bion. »Fessle ihn. Schlag ihn bewusstlos, wenn es sein muss.«
Die Stimme half Jillan, sich zu orientieren, und er wälzte sich von Thomas weg. Hufe stampften beiderseits von ihm auf; einer verfehlte seinen Kopf nur um die Breite eines Strohhalms. Er rollte sich erneut weg und versuchte verzweifelt, auf seine Magie zurückzugreifen, aber da war nichts.
Nichts bis auf den heulenden Wolf. »Ich kann dich nicht finden. Wo bist du? Kannst du nicht zu mir kommen? Komm zu mir!«
Endlich!, heulte der Makel hocherfreut. Endlich fällt es ihm ein, uns hereinzubitten!
Die Glut, die noch in der Luft schwebte, wuchs zu leuchtenden Augen. Die Dunkelheit erwachte zum Leben, und ein Wolf, der den Pferden bis zur Schulter reichte, aber doppelt so breit war, sprang in die Mitte des Hofs. Mit einem einzigen Tatzenhieb schleuderte er den Apfelschimmel von Jillan weg. Thomas warf sich beiseite, um nicht von der Stute getroffen zu werden, und ließ seinen gewaltigen Hammer fallen. Jetzt belauerte der Wolf den Schmied.
Magie durchströmte Jillan. Rotes Licht loderte aus seinen Augen und Händen. Er schleuderte es auf den Gnom.
»Herrin, ich habe versagt!«, schrie das verkrümmte Geschöpf, umlodert von entsetzlicher Helligkeit. Seine Nase sackte herab. Seine Augenlider liefen in seine Augäpfel. Der Gnom öffnete den Mund, um noch einmal zu schreien, aber sein Gesicht glitt ihm in die Kehle, und er verschlang sich selbst. Sein Körper verflüssigte sich, wurde zu einer dampfenden Pfütze und verdunstete dann in die Nacht.
»Neeiin!«, weinte Thomas so verzweifelt, dass es die Luft zerriss.
Das Haus und der Stall verfielen. Vier weiße Mäuse huschten aus der leeren Hülle des erträumten Hauses hervor und rannten auf Thomas zu. Der Wolf sprang …
»Bitte hab Gnade!«
… und verschlang alle Mäuse auf einmal.
Gebrochen kauerte der hünenhafte Schmied sich auf dem Boden zusammen und schluchzte.
»Was ist geschehen?«, fragte Aspin, als würde er gerade aufwachen.
Ein verwirrter Ash beförderte mit Fußtritten verrottende Bretter beiseite und stieg durch das, was die Seitenwand von Thomas’ Haus gewesen war. Seufzend trat der Waldläufer an ihre Seite. »Ich hätte wissen sollen, dass es zu schön war, um wahr zu sein. Also war sie eine Maus, ja? Ich nehme an, das wäre niemals gutgegangen.« Er musterte den Wolf. »Und du musst gar nicht so selbstgefällig dreinblicken. Das ist nicht lustig!«