Kapitel 9
UM UNS ZU STRAFEN UND ZU SCHÜTZEN
Der Wind glich einer kalten Klinge, die ihm über die Kehle schrammte. Prediger Praxis schlug den Kragen hoch, um sich davor zu schützen. Der Wind wurde zornig und drohte, ihn von dem schmalen Pfad zu reißen, der einer leichtsinnigen Bergziege weit angemessener gewesen wäre als jedem vernünftigen, zivilisierten Menschen. Natürlich hatte Torpeth vor ihm keinerlei Schwierigkeiten, gewaltige Sprünge zu machen und an den trügerischen Bergflanken Halt zu finden. Der Prediger hätte genauer auf die Stellen geachtet, die der Heide nutzte, um sich mit Händen und Füßen abzustützen, wenn er dazu nicht zugleich Torpeths unansehnliches nacktes Gesäß hätte vor Augen haben müssen. Praxis war sich sicher, dass der Heide absichtlich ein paarmal nur deshalb stehen geblieben war, weil er feststellen wollte, ob er die kultivierte Nase des Predigers in den ungewaschenen Arsch bekommen konnte.
»Das ist unzumutbar!«, verkündete der Prediger und richtete sich hoch auf. »Welches vernunftbegabte Wesen würde hier oben schon hausen? Keines. Nur der Wahnsinn des Chaos kann euer Volk hergeführt haben. Das ist ein weiterer Beweis für eure Verderbtheit.«
Torpeth hockte sich hin, drehte sich geschickt auf einem Fuß um und musterte seinen Schützling. »Pass auf, was du sagst, Flachländer«, sagte er halb tadelnd, halb flehend. »Diese Hänge sind allen Göttern heilig, aber vor allem Wandar von den Wütenden Winden, denn in dieser Höhe bleibt ihm nichts verborgen. Hier hat Gar vom Stillen Stein den Boden so erhoben, dass wir eine bevorzugte Aussicht auf die Welt genießen können. Hier spürt man den eiskalten Biss Akwars von den Wallenden Wassern schmerzlicher als irgendwo sonst. Hier scheint Sinisar vom Leuchtenden Pfad besonders hell und taucht alles in Licht. Die Luft ist klarer als der Kristall, der im oberen Dorf abgebaut wird. Es gibt hier Felsen, die so fest sind, dass selbst der stärkste Mann sie nicht zerbrechen kann. Das Wasser ist so rein und nahrhaft, dass es die Nahrung der Götter sein muss. Und hier oben brennen Feuer ohne Holz oder anderen Brennstoff.«
»Ha! Die Dämonen, die ihr Heiden Götter nennt, sind mir gleichgültig«, rief der Prediger zurück, obwohl der Wind ihm fast den Atem raubte und das Wort abschnitt. »Ich habe kein Interesse an ihrem Unfug und ihrem Mummenschanz.«
»Flachländer, sei bitte vorsichtig. Unsere Götter mögen zwar gebrochen sein, aber hier sind sie stärker als sonst irgendwo. Niemand kann Wandar trotzen und hoffen, es zu überleben. Die Krieger des oberen Dorfes widmen ihr Leben der Aufgabe, seinen Willen in Erfahrung zu bringen und ihm zu dienen. Er wird dich packen und von diesem Berg hinabschleudern.«
»Papperlapapp!«, schrie der Prediger, während der Wind auffrischte und ihn zwang, sich zu ducken, um nicht umgerissen zu werden.
»Siehst du, Flachländer? Die wütenden Winde zwingen sogar die Stolzen, den Kopf zu neigen.«
»Was für ein Unsinn! Ihr Heiden seid doch bloß unwissende Wilde. Aus welcher Einfalt heraus betet ihr die launischen Kräfte der Natur an? Aus welcher Verblendung heraus seht ihr Vorzeichen in jeder seltsam geformten Wolke, in der Art, wie die Blätter von den Bäumen fallen, und darin, wie eure Eingeweide sich morgens regen? Im Reich wird die Natur von den Erlösern und ihrem Volk beherrscht. Wir unterwerfen die Natur unserem Willen, sodass unsere ewige Zivilisation geordnet und weiter ausgebaut werden kann. Wir lassen uns nicht von törichtem Aberglauben oder albernen Geschichten über deinen Windbeutel von einem Dämon leiten!«
Torpeth sprang von seinem Felsen herab und stürzte sich auf den Prediger.
»Nur zu, Heide!«, kreischte der Prediger und stemmte sich gegen den Anprall des Windes und den anstürmenden Heiden. Aber sein Mantel flatterte um ihn auf, und die Luft hob ihn beinahe vom Boden hoch. Seine Fußballen schleiften über den Pfad, als er rückwärts auf den Abgrund zugerissen wurde. Jetzt stand er auf den Zehenspitzen und wankte auf der Kante. Erst sackte ihm das Herz in die Hose, dann drehte sich ihm der Magen um. Er schrie den Erlösern zu, einzugreifen und ihm das Leben zu retten.
Torpeth stieß mit den Beinen des Predigers zusammen und schlang die Arme eng darum. »Mächtiger Wandar, vergib ihm! Er weiß nicht, was er sagt. Er stammt aus einer anderen Welt als der unseren. Sein Verstand ist von einem hochmütigen Reich geformt worden, das das Volk dem Geas entwunden hat! Ihn zu töten wird ihm keine Lehre sein.«
»Lass mich los, du rotznäsiger Heide! Ich brauche die Vergebung deiner Dämonen nicht. Mein Glaube wird mich aufrecht halten. Wandar also, Heide? Er sollte besser Wenn-denn-überhaupt-da heißen!«
Der heulende Wind warf sie zu Boden, riss sie dann wieder hoch und schleuderte sie weit in die Luft empor. Der Prediger landete unbeholfen auf Torpeth, dem es den Atem verschlug, als die Luft aus ihm herausgepresst wurde. Der Wind peitschte wieder auf den Prediger ein, drückte ihn grausam nieder und rammte seinen Ellbogen in Torpeths Rippen.
»Bitte ihn um Vergebung, du Narr, sonst sind wir beide todgeweiht!«, hustete Torpeth gequält. »Ich kann das nicht mehr viel länger aushalten. Wen kümmert es schon, ob er Gott oder Dämon ist! Kannst du Wandars Kraft nicht sehen?«
»Was, soll ich etwa eine vorübergehende Bö anbeten?«, schrie der Prediger über den pfeifenden Wind hinweg. »Es ist nichts als ein Zufall, dass sie gerade jetzt aufkommt, da wir von den Manifestationen des Chaos sprechen. Solches Wetter ist hier oben bestimmt keine Ausnahme, also war es recht vorhersehbar …«
»Starrköpfiger Kerl!«, jaulte Torpeth. »Wenn du weißt, dass es nichts mit Wandar zu tun hat, dann weißt du auch, dass alle Worte, die du aufsagst, um Vergebung zu erbitten, so leer wie der Wind sind. Du vergibst dir nichts und begehst an nichts Verrat, gewinnst aber vielleicht viel.«
»Verrat an nichts außer meinen Prinzipien und meinem Glauben!«
»Ich gebe keinen geilen Bock um deine Prinzipien! Leere Worte sind nicht zu viel verlangt, wenn sie gegen unser Leben eingetauscht werden.«
»Die einzigen leeren Worte sind die, die ihr Heiden sprecht. Im Reich gibt es keine leeren Worte. Worte, die leer sein mögen, wenn ein Heide sie sagt, gewinnen an Gewicht und Bedeutung, wenn jemand aus dem Volk des Reichs sie äußert.«
Torpeth war ein wenig erleichtert, dass der Wind mittlerweile so laut heulte, dass er einen Großteil der hohlen Rhetorik des Predigers übertönte, aber er geriet erneut in Panik, als der Flachländer von ihm herab und auf eine Klippe zu gerissen wurde. Wolken begannen sich zu sammeln und aufzutürmen. Torpeth machte einen Satz auf den Prediger zu und verfehlte ihn.
Der Prediger wurde auf den Bauch gerollt und über einen Felsen geschleift, sodass er sich an Händen und Wange die Haut aufschürfte. Seine Beine hingen über dem Abgrund, und seine Hüften glitten ihnen nach.
»Hilfe! Mein Freund … hilf mir!«, stammelte der Prediger.
Torpeth sprang wieder auf ihn zu, schoss beinahe über das Ziel hinaus und packte Praxis beim Kragen seines Mantels. Der Prediger ergriff Torpeths Bart und zog kräftig daran.
»Aua! Lass los, damit ich zurücktreten und dich an den Händen und Armen heraufziehen kann!«
»Hilfe, Hilfe, Hilfe!«, schrie der Prediger hysterisch und trat wild um sich.
»Lass los! Du bringst uns noch beide um!«
Der Wind kreischte vor Entzücken, peitschte auf sie ein und hätte Torpeth beinahe einen Purzelbaum über den Prediger schlagen und ins Tal tief unter ihnen stürzen lassen.
»Lass mich nicht fallen! Schon gut, schon gut! Wenn ich den Wind gekränkt habe, bitte ich ihn um Verzeihung!«
Sofort legte sich der Wind, sodass es Torpeth gelang, rückwärts zu kriechen. Dann zog er, Hand über Hand, den Prediger an der Rückseite seines Mantels empor. Der Prediger wälzte sich auf den Felsen und rollte sich schwer atmend auf den Rücken.
»Komm schon, Flachländer. Wir müssen weg von hier, bevor der launische Wind es sich anders überlegt. Dort oben vor uns liegt eine kleine Höhle, in der wir uns ausruhen können. Hoch mit dir! Komm, ich helfe dir auf.«
»Gelobt seien die Erlöser!«, murmelte Prediger Praxis leise und behielt den sich zuziehenden Himmel aufmerksam im Auge.
Die Höhle war eng, aber mit einem Vorrat an trockenem Holz, Feuerstein und Feuerstahl ausgestattet. Torpeth entzündete ein kleines Feuer und musterte den zitternden Prediger. »Ich nehme an, du bist noch nicht überzeugt, oder?«
»Pah! Durch das launische Wetter überzeugt? Was für ein Mann wäre ich, wenn ich meinen Glauben mit den Jahreszeiten wechseln würde?«, antwortete der Prediger hochmütig, wenngleich die Wirkung durch seine klappernden Zähne verdorben wurde. »Ich täte besser daran, dich zu fragen, warum du in deiner heidnischen Verehrung der Unwägbarkeiten des Wetters verharrst. Sie hält dich beschränkt und unwissend. Du beschäftigst dich mit nichts sonst, beschneidest willentlich deine Fähigkeiten und verwehrst dir die Erleuchtung. Du lebst in einer dunklen Höhle der Verderbtheit.«
Torpeth starrte eine ganze Weile grübelnd in die dürftigen Flammen vor ihnen. Dann seufzte er. »Ich habe versprochen, dir Geheimnisse zu enthüllen, Flachländer, nicht wahr? Dann wisse, dass ich die Götter nicht aus unbegründeter Furcht und unverständigem Glauben an die Geschichten, die mein Volk sich erzählt, verehre, sondern weil ich die Götter schon lange kenne. Einst war ich ihr Lieblingssohn – vor sehr, sehr langer Zeit. Bevor die Anderen kamen, die du als deine Erlöser kennst, führte ich alle Menschen in ihrer Verehrung der Götter und des Geas an.«
»Was für ein Hirngespinst ist das denn?«, lachte der Prediger. »Vor dem Kommen der Erlöser gab es nichts von Bedeutung.«
»Man nannte mich Torpeth den Großen.«
»Du hattest sicher wahnsinnige Visionen und dämonische Erscheinungen, die dir diese veränderte Geschichte des Reichs eingegeben haben. Ich lasse mich nicht so leicht in die Irre führen.«
Torpeths Augen blickten in weite Ferne. »All die Jahre des Kriegs und der Eroberung hindurch war ich davon überzeugt, die gerechte Sache zu vertreten und ein ewiges, heiliges Reich zu errichten. Ich war sicher, ein perfektes, unsterbliches Volk schaffen zu können. Die Götter waren natürlich dagegen und versuchten mich zu warnen, aber in meinem Hochmut glaubte ich, dass sie einfach nur ihre Macht über das Volk eifersüchtig bewahren wollten. Mittlerweile weiß ich, dass Unsterblichkeit nicht in der Natur des Geas liegt. Ich war verblendet.«
»Das warst du in der Tat und bist es immer noch, Heide.«
Torpeths Augen wurden feucht. »Vielleicht. Und so war der Zusammenbruch all dessen, worum ich gekämpft hatte, unvermeidlich. Ich habe dem Volk unvorstellbaren Schaden zugefügt.« Seine Stimme begann zu zittern. »Nicht auszudenken, wie viele unter meiner Tyrannei gestorben sind. Ich habe das Volk, die Götter und das Land gebrochen!« Er stieß einen wortlosen Verzweiflungsschrei aus. Tränen strömten ihm über die Wangen. »Ich war es, der es den Anderen so leicht gemacht hat. Ich habe es immer wieder versucht, war aber nicht in der Lage, irgendetwas zurückzugewinnen. Ich habe das Ende meines Volks nur beschleunigt.«
»Albträume, das ist alles, Heide. Du kannst gar nicht so alt sein. Nur die Erlöser sind ewig.«
Torpeth nickte. »In vielerlei Hinsicht bin ich noch nicht alt, was mein Verständnis angeht. Ich bin ein bloßes Kind. Aber es ist wahr, dass ich schon lange vor den Anderen da war. Es ist meine Strafe weiterzuleben und den Zusammenbruch all dessen mit anzusehen, wonach ich gestrebt habe, den Sturz der Götter, die Unterdrückung meines Volks durch die Anderen und unseren langsamen Niedergang hier in den Bergen. Das Geas hat beschlossen, dass ich des Todes und der Erneuerung nicht würdig bin. Die Götter haben ihr Antlitz von mir abgewandt. Mein Volk nennt mich zuweilen den heiligen Mann, aber man verehrt mich nur so sehr, wie man mich hasst, verspottet und bemitleidet. Die Leute wissen, was ich bin. Sie wissen um meine Schande, denn sie hat ihre Lebensweise bestimmt. Sogar die Ziegen fliehen meine Gegenwart.«
»Aber verstehst du denn nicht, Heide? Du tust nichts anderes, als deinen ursprünglichen Fehler am Leben zu erhalten. Deshalb setzt sich der Niedergang fort. Deshalb hat deine Verderbtheit kein Ende. Du bist der heilige Mann deines Volkes und damit der Angelpunkt von Überlieferung und Irrglaube. Es liegt an dir, dass die Leute weiterhin den falschen Göttern huldigen. Warst du es, oder war es nur jemand wie du, der sie ursprünglich in diese Berge geführt und ihnen die Gelegenheit versagt hat, dem ruhmvollen Reich der Erlöser beizutreten? Siehst du nicht, dass du immer noch derselbe fehlerbehaftete und hochmütige Mensch bist, der all den Ärger verursacht hat? Siehst du nicht, dass du deinem Volk weiterhin Schwierigkeiten machst? Warum muss es ein armseliges Leben hier oben in den Bergen führen, obwohl es doch stattdessen im zivilisierten Reich Aufnahme finden könnte?«
Torpeth sah dem Prediger trostlos in die Augen. »Vielleicht haben die Götter dich hergeschickt, um mir meinen Fehler deutlich zu machen, Flachländer. Zugleich würden sie sich aber wünschen, dass du daraus lernst. Kannst du denn nicht sehen, dass deine Erlöser auf genau die gleiche Weise wie damals ich ein ewiges, heiliges Reich aufzubauen versuchen? Es kann abermals nur in einem Fehlschlag enden. Es ist eine Tyrannei, die dem Volk Freiheit und Leben raubt. Aber diesmal wird es kein Entkommen in die Berge geben, denn die Erlöser werden dafür sorgen, dass es mit den Göttern, dem Volk und dem Geas endgültig aus ist. Alles wird vernichtet werden!«
»Ich werde mir diese Blasphemie nicht länger anhören! Oh, List und Tücke des Chaos sind grenzenlos! Es passt sich dem an, was es beneidet, und äfft es nach, sodass der Zuhörer in Verwirrung gerät und sich täuscht, und verdirbt dann seinen Glauben und sein Verständnis. Du versuchst, dir die Geschichte des Reichs der Erlöser anzueignen, um sie dann umdeuten zu können.«
»Flachländer, nimm dir meine Warnung zu Herzen, bevor es zu spät ist. Begeh nicht den gleichen Fehler wie ich, ich flehe dich an!«
»Oh, du bist gerissen, Heide! Wie sonst könntest du auch noch überleben? Aber wir werden ja sehen, was dein Volk sagt, Heide. Wir werden sehen, ob die Leute sich hier oben immer noch an ihr verzweifeltes, elendes Leben klammern wollen, wenn ich ihnen von der Fülle und der Vergebung erzählt habe, die sie im Reich erwarten. Du hast doch gesagt, dass sie dich verabscheuen, nicht wahr? Überrascht dich das, da doch dein Irrglaube und deine Eigensucht sie in dieser eisigen Festung gefangen halten? Glaubst du wirklich, dass sie hierbleiben wollen, wenn sie eine Wahl haben? Werden sie sich nicht viel lieber von mir aus dieser selbst auferlegten Hölle ins gelobte Land des Reichs führen lassen? Du wirst am Ende allein zurückbleiben, Heide, und zur Gesellschaft nichts als den Wind und den Widerhall deiner selbstquälerischen Seele haben. Du weißt, dass es wahr ist!«
Weitere Tränen rannen aus Torpeths Augen. »Ich bedaure, dass ich dich nicht dazu bringen kann, es zu verstehen, Flachländer, aber vielleicht hast du recht. Ich sollte nicht ihr Kerkermeister sein. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich endlich meinen Glauben in mein Volk setze und es den Leuten gestatte, sich selbst zu entscheiden. Schließlich ist es in gewisser Weise schon ein Wandel, wenn man eine Entscheidung fällt und kundtut, und irgendetwas muss sich ändern, wenn wir je von diesem langsamen Verfall frei werden wollen und das Geas wieder blühen soll. Wir werden sehen, Flachländer. Ja, wir werden sehen, aber gib acht, die Nase des Häuptlings nicht zu erwähnen. Da ist er sehr empfindlich!«
In seiner Benommenheit fand Jillan sich am Fuße des hohen grünen Hügels wieder. Oberhalb von ihm kämpften sich Menschen erbittert die Hänge hinauf. Viele wurden von den anderen zertrampelt, aber niemand blieb stehen, um ihnen zu helfen. Die Leute schnappten nacheinander, rissen sich an den Haaren, stachen sich die Augen aus, zerrten an Mündern, schlugen einander, versetzten sich Rippenstöße oder würgten sich, und all das nur, um an den Menschen neben ihnen oder vor ihnen vorbeizukommen. Alles, um zu der wartenden Reihe von Helden mit ihren tödlichen Sonnenmetallspeeren zu gelangen.
Jillan war übel und wandte den Blick ab. Rechts und links von ihm klafften Risse und Spalten am Fuße des Hügels, aus denen Dampf und giftige Gase aufstiegen. Die Spalte gleich neben ihm schien allerdings untätig zu sein und war offenbar breit genug, dass er sich seitlich hineinzwängen konnte. Azual würde nicht in der Lage sein, ihm durch die schmale Öffnung zu folgen, also würde sie ein gutes Versteck bilden, bis er aufwachen und diesem Albtraum entkommen konnte.
Seine Rüstung schützte ihn von vorn und von hinten, als er sich in die Erdspalte schob. Er wusste, dass durchaus die Gefahr bestand, dass er dort stecken bleiben würde, aber er beschloss, dass das immer noch besser war, als dem Heiligen oder seinen Helden die Stirn bieten zu müssen. Er zwängte sich immer tiefer ins Herz des Hügels. Die Erde wurde weich und dann wulstig und fleischig wie das Hirn der Jagdbeute, die sein Vater manchmal nach Hause brachte.
Jillan fand im Kern des Hügels eine große, widerhallende Höhle. In ihrer Mitte stand eine seltsam beleuchtete Statue. Sie war grau und regte sich wie die meisten Statuen nicht, aber ihre Gliedmaßen waren ungewöhnlich dünn, und anders als jede Statue, die er bisher gesehen hatte, schien sie zu schweben. Der große Kopf wurde nur von einem spindeldürren Hals getragen, was dafür sprach, dass der Stein, aus dem sie bestand, unglaublich widerstandsfähig war.
Das Gesicht wies kaum Züge auf und hatte nur Schlitze dort, wo sich Augen, Nasenlöcher, Mund und Ohren hätten befinden sollen. Die Oberseite des Kopfes war breiter als der Rest, obwohl keine Haare eingemeißelt waren.
Schwarze Augen musterten ihn, und Jillan machte einen Satz rückwärts, als ihm bewusst wurde, dass die Augen sich geöffnet hatten. Ansonsten hatte die lebende Statue sich nicht bewegt.
Wie kannst du es wagen, du widerliches Ungeziefer!, zischte eine Stimme.
»T… tut mir leid«, stieß Jillan hervor.
Wie bist du hierhergekommen, in diesen Teil des Wachtraums? Sag es mir rasch!
»Ich … ich weiß es nicht.«
Wir wissen, wer du bist! Du kannst dich vor uns nicht verstecken!
»Ich habe es nicht böse gemeint.«
Gemeint? Es steht dir nicht an zu bestimmen, wie du es gemeint hast! Wir bestimmen alles!
»Wer seid ihr?«
Wie kannst du es wagen, uns eine Frage zu stellen, verfluchtes Geschöpf? Wir sind die Unendlichen. Wirf dich vor uns nieder!
Jillan zitterten die Knie und drohten, ihn vor dem Wesen niederzustrecken, bei dem es sich nur um einen der gesegneten Erlöser handeln konnte. Es war etwas, das über seinen beschränkten Verstand hinausging, ganz so, wie es ihm immer beigebracht worden war. Er war ebenso bevorzugt wie verflucht, sich hier in Anwesenheit des Göttlichen wiederzufinden. All seine Angst und Unzulänglichkeit wurden ihm bewusst, seine Verbrechen und Blasphemien waren enthüllt. Er verspürte aufs Neue das Schuldbewusstsein, das er stets in Prediger Praxis’ Gegenwart empfunden hatte.
»Ich … ich wollte niemandem etwas tun«, bekannte er. »Ich habe mich mit dem Chaos eingelassen. Ich bitte um Vergebung, so unwürdig ich auch sein mag und immer sein werde. Leite mich, gesegneter Erlöser!«
Vergebung!, tadelte ihn die Stimme. Dein Dasein an sich ist schon die Anmaßung, die Vergebung erfleht. Und doch tust du noch einen Atemzug und noch einen und begehst das Verbrechen wieder und wieder. Schon dadurch wird deine Reue zur Heuchelei. Es gibt nur einen Weg zur Vergebung.
»Nenne ihn mir!«, flehte er.
Finde das Geas und enthülle es uns. Dann werden Anmaßung und Verbrechen endlich ein Ende haben, und deiner verabscheuungswürdigen Art wird Vergebung zuteilwerden. Du wirst das Geas finden und es uns enthüllen, verstanden?
Er nickte stumm.
Damit bist du eine Verpflichtung eingegangen. Wenn du uns wieder enttäuschst, verschlingen wir dich bei lebendigem Leib. Die Statue begann sich zu regen, erst langsam, dann immer schneller. Wir werden dich jetzt an diesem Ort verschlingen, damit du weißt, was dich erwartet, wenn du versagst.
Jillan schrie und fuhr ruckartig aus dem Schlaf hoch. Er war schweißüberströmt und erkannte, dass es wohl daran lag, dass er sich nahe bei einem Feuer befand. Jemand hatte eine Decke über ihn gebreitet.
»Er ist wach«, rief eine tiefe Stimme, die er nicht erkannte.
»Ah, da bist du ja.« Aspin beugte sich lächelnd in sein Gesichtsfeld. »Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.«
Jillan reckte den Hals und entdeckte, dass der Schmied auf einem Holzklotz saß. Er hatte die meisten dunklen Locken von seinem Kopf verloren und hatte nun ein paar auffällige Zahnlücken, aber seine Wangen wiesen einen Hauch von Farbe auf, und seine Augen waren klar. Er schien sich auf wundersame Weise von der Seuche erholt zu haben.
»Hier ist etwas Wasser«, sagte Aspin und streckte Jillan einen Becher hin. Indem er sich näher herabbeugte, fügte er flüsternd hinzu: »Schon gut, er ist vertrauenswürdig … Zumindest hält er Wort.«
Das tun auch viele Mörder.
Jillan trank einen Schluck und sah sich dann schnell am Lagerfeuer um. »Wo ist mein Schwert?«
Der Schmied stieß eine Scheide mit dem Fuß an. »Hier. Ziehst du immer noch in Erwägung, es zu verkaufen?«
»Nein. Es steht nicht zum Verkauf.«
»Bist du dir sicher? Du bist etwas jung für solch eine Klinge. Ich zahle dir einen guten Preis dafür.«
»Rühr es nicht an! Es gehört mir!«, entgegnete Jillan heftiger, als er vorgehabt hatte.
Der Schmied hob die Hände. »Schon gut, schon gut. Sonnenmetall, nicht wahr? Woher hast du es?«
Vertrau ihm nicht. Du hast schließlich keinen Grund dazu.
»Das geht dich nichts an.«
Der Schmied nickte langsam. »Du hast recht, es geht mich nichts an. Und anscheinend habe ich dir dafür zu danken, dass du mich von der Schwelle des Todes zurückgeholt hast, Jillan.«
Jillan starrte Aspin böse an. »Was fällt dir ein, ihm meinen wahren Namen zu nennen? Du hattest kein Recht dazu! Es gibt auch Dinge, die ich ihm über dich verraten könnte.«
»Er wusste schon, wer du warst«, wandte Aspin ein.
Er ist ein Spion des Heiligen!
»Sieh mal, man muss doch nicht der Schlaueste sein, um darauf zu kommen, oder?«, gab der Schmied zu bedenken. »Alle in Erlöserparadies wussten, dass sie nach einem blonden Jungen in deinem Alter Ausschau halten sollten. Ich hatte auch gehört, dass ein Junge namens Jillan die Hand bei einem Mord in Gottesgabe im Spiel gehabt hätte, der Stadt, in der die Pest zuerst ausgebrochen ist.«
»Wie konntest du all das wissen, wenn du nicht für den Heiligen arbeitest? Er beobachtet uns jetzt durch deine Augen, nicht wahr?«, fragte Jillan herausfordernd und warf seine Decke ab.
In Windeseile packte Aspin einen dicken Ast aus dem Holzstapel und behielt den Schmied angespannt im Auge. Der Bergkrieger hatte offenbar in der möglichen Antwort des Schmieds etwas gelesen, das ihm nicht gefiel.
Die Augen des Schmieds huschten zwischen Jillan und Aspin hin und her. Er ließ den Kopf auf dem sehnigen Hals kreisen und spannte die Unterarme an, die so breit wie Jillans Oberschenkel waren. Dann ballte er die Hände zu hammergroßen Fäusten und drückte sie zusammen, bis seine Fingerknöchel knackten. Aspin packte den Ast fester.
Plötzlich lachte der Schmied herzhaft auf, sodass seine laute Stimme auf der Lichtung widerhallte. »Ich mache doch nur Spaß mit euch, Jungs! Ihr tut recht daran, auf der Hut zu sein, aber wenn ich euch etwas antun wollte, dann hätte ich es bereits getan, darauf könnt ihr Gift nehmen! Junger Aspin, dein Ast da könnte nicht viel mehr ausrichten, als mir den Schädel ein bisschen zu kitzeln, und der Zauberer da ist zu erschöpft, um dir auch nur in Ansätzen zu helfen. Es würde mehr als euch zwei Schlingel brauchen, um es Thomas Eisenschuh zu zeigen!«
Jillan sackte vor Erstaunen der Unterkiefer herunter. »Du bist Thomas Eisenschuh?«
»Ja, Zauberer, der bin ich. Du hast wohl schon von mir gehört?«
»Ich bin kein Zauberer«, sagte Jillan.
»Aber natürlich bist du einer! Komm schon, es ist doch keine Schande. Einer meiner besten Freunde ist Zauberer, aber verratet ihm ja nicht, dass ich ihn meinen Freund nenne, denn wir wollen doch nicht, dass ihm der Kamm allzu sehr schwillt oder dass er annimmt, ich wäre bereit, ihm Gefallen zu tun! Mit Zauberern ist das so eine Sache, wenn ihr versteht, was ich meine – aber das ist natürlich dir gegenüber nicht böse gemeint, Jillan.«
Aspin nickte. »Ich habe schon ähnlichen Ärger mit ihnen gehabt. Nur deshalb bin ich hier, und dabei bin ich auch noch im Gefängnis gelandet und musste um mein Leben kämpfen.«
»Du kennst noch andere Zauberer?«, fragte Jillan den Schmied. »Also bist du ein … ein …«
»Heide? Dämonenanbeter? Gespiele des Chaos? Finsterer Verderber der Unschuld? Das würden einige wohl sagen, und diese Leute würden genau das Gleiche über dich behaupten, Zauberer, meinst du nicht auch? Jillan, ich bin nur ein gewöhnlicher Mann, mit einer Familie, Hoffnungen, Träumen und Ängsten wie jeder andere. Nicht weit von hier liegt ein Weiler, in dem viele ähnlich geartete Leute leben, und wenn ihr wollt, nehme ich euch dorthin mit. Und um deine frühere Frage zu beantworten, nein, der Heilige beobachtet euch jetzt nicht durch meine Augen. Es gibt Möglichkeiten, den Geist zu umwölken, die dafür sorgen, dass er aus einer gewissen Entfernung sehr wenig ausspähen kann. Ich kann dir den Kniff beibringen, wenn du möchtest. Das ist wohl das Mindeste, was ich tun kann. Oder hattest du das Glück, darum herumzukommen, zu den Erlösern gezogen zu werden?«
Jillan nickte langsam. Warum vertraute er diesem anscheinend so umgänglichen Mann immer noch nicht? Seine Eltern hatten ihm schließlich geraten, Thomas Eisenschuh zu suchen, und Aspin schien sich auch gut mit ihm zu verstehen. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir Zeit haben, in dein Dorf zu reisen. Ich suche Freistatt, und danach muss ich nach Hyvans Kreuz, das weit von hier entfernt liegt.«
Thomas erstarrte. »Was weißt du über Freistatt? Wo hast du den Namen gehört?«
»Von meiner Mutter Maria.«
»Und wie lautet der Name deines Vaters?«
»Jed. Jedadiah.«
Thomas’ Augen weiteten sich. »Maria und Jedadiah aus Neu-Heiligtum? Sind sie also in Gottesgabe gelandet? Ich habe mich immer gefragt, was aus ihnen geworden ist. Du weißt nicht, was es mir bedeutet zu hören, dass es ihnen gut geht. Es war klug von ihnen, sich davonzumachen – das waren dunkle Zeiten damals! Und du bist ihr Junge, ja? Kein Wunder. Dann ergibt alles ein wenig mehr Sinn. Freut mich, dich kennenzulernen, Jillan aus Gottesgabe! Es ist mir eine Ehre. Aber du stammst deinem Akzent nach zu urteilen nicht aus Gottesgabe, Aspin?«
Aspin schüttelte den Kopf. »Aber aus der Nähe.«
»Nun, Aspin-aus-der-Nähe, es ist mir ebenfalls eine Ehre. Gepriesen seien die Götter, dass sie uns zusammengeführt haben!«
Jillan rutschte bei dieser offenen Anrufung der heidnischen Götter unbehaglich hin und her, während Aspin zustimmend nickte. Thomas entging diese unterschiedliche Reaktion der beiden nicht, und er lächelte bei sich.
»Was ist Freistatt?«, fragte Jillan, um ihn abzulenken.
Thomas maß ihn mit einem prüfenden Blick. Nach einem Augenblick sagte er: »Freistatt ist hier.« Er legte sich eine Hand aufs Herz. »Und hier.« Er berührte seinen Kopf. »Und hier.« Er wies auf seinen Magen. »Es ist das Zuhause des Geas, unserer Lebensenergie. Es ist die Energie, die wir alle miteinander teilen, die allem Leben innewohnt. Es ist das, was uns munter und lebendig hält. Du musst es nicht suchen, denn es ist hier, überall um uns herum, Jillan.«
Er sagt dir nicht alles. Der Erlöser war sicher, dass es sich um einen Ort handelt, den man finden kann. Du tust gut daran, ihm nicht zu vertrauen.
Aspin warf den Ast, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, aufs Feuer und trat zwischen die beiden. »Wie Jillan schon sagte, wir müssen weiter. Wir können nicht die Zeit erübrigen, dein Dorf zu besuchen, Thomas, es sei denn, wir werden dort mit Pferden ausgestattet.«
»Natürlich, Aspin-aus-der-Nähe! So, wie ich es sehe, verdanke ich euch beiden mein Leben, also sind Pferde das Mindeste, was ich euch geben kann. Meine Frau würde gar nichts anderes dulden und wird auch darauf bestehen, euch das beste Mahl zu kochen, das ihr je gegessen habt, wie ich wetten möchte. Ja, sie wird darauf bestehen, und ich kann nicht glauben, dass ihr beiden ablehnen werdet, so verhungert, wie ihr ausseht.«
Aspin nickte und wandte sich an Jillan. »Was meinst du? Die Pferde würden uns wertvolle Zeit erkaufen«, flüsterte er.
»Es ist gut, dass du daran gedacht hast«, erwiderte Jillan dankbar und freute sich unaussprechlich darüber, dass Aspin sich nicht auf Thomas’ Seite gestellt, sondern anscheinend beschlossen hatte, mit ihm nach Hyvans Kreuz zu reisen. Es war, als ob er wieder einen Freund hätte, und obwohl niemand je Hellas Stelle einnehmen konnte, hieß es doch, dass er nicht mehr allein war, und sorgte dafür, dass er sich tapferer und stärker fühlte. »Warum hast du ihm nicht gesagt, dass du aus den Bergen stammst? Ich dachte …«
»Ich weiß, ich weiß, aber ich spüre, dass du Zweifel hast, was ihn betrifft. Er hält Wort, da bin ich mir sicher, aber dann und wann spüre ich etwas Seltsames in ihm aufblitzen. Es ist jedoch so rasch vorüber, dass ich es nicht richtig wahrnehmen kann, als ob er es absichtlich unterdrückt, bevor ich die Möglichkeit habe, es zu lesen. Ich richte mich gern nach dir, Jillan, wie schon als du mich unbeschadet aus der Zelle und aus der Stadt gebracht hast. Das von vorhin tut mir leid … Du weißt schon, als ich gesagt habe, du wärst zu jung und so weiter. Das war nicht richtig. Und du hattest recht damit, Thomas nicht einfach am Straßenrand zum Sterben zurückzulassen.«
Jillan konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Und es tut mir leid, dass ich dich einen … einen … mordlüsternen Heiden genannt habe.«
Das tut dir doch nicht wirklich leid, oder?
»Na ja, wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich zu einem geworden.«
»Du hast nur getan, was du für das Beste gehalten hast. Und wer kann schon sagen, ob du völlig unrecht hattest? Sicher wissen wir das erst, wenn wir das hier unbeschadet überstehen. Gute Hausmannskost klingt aber nicht schlecht, oder? Ich würde Dörrfleisch und Zwieback keine Träne nachweinen, wenn ich sie nie mehr auch nur ansehen müsste.«
»Wenn ihr euch immer noch Sorgen darum macht, Zeit zu verlieren«, rief Thomas zu ihnen hinüber, »kann ich euch Abkürzungen und Schleichwege durch den Wald zeigen und euch binnen kürzester Frist nach Hyvans Kreuz bringen. Komm, Jillan, du musst unseren Zauberer kennenlernen. Er kann dir vielleicht helfen. Außerdem erzähle ich euch unterwegs von der Zeit, als deine Eltern noch jung waren und du noch gar nicht geboren warst.«
Er trägt ein bisschen dick auf, nicht wahr?
»In Ordnung, wir kommen mit, aber morgen früh müssen wir wieder aufbrechen«, sagte Jillan, während er erprobte, ob seine Beine sein Gewicht tragen würden. »Aber erst möchte ich mein Schwert zurückhaben, danke, Thomas Eisenschuh.«
In ihrer Verzweiflung hatte sie alles in den Wind geschlagen, und jetzt konnte sie nichts vorhersehen. Welche Hoffnung bestand noch für einen ordnenden Intellekt, der keine Ereignisse voraussehen und somit auch ihre Auswirkungen weder beeinflussen noch beherrschen konnte? Ja, sie hatte D’Selles Pläne für den Augenblick durchkreuzt und sich eine Gnadenfrist erkämpft, indem sie den Ältesten Thraal dazu überredet hatte, den Sonderbaren loszulassen, aber jetzt hatten die anderen Blut gewittert und umkreisten sie. D’Shaa wiegte sich keine Sekunde lang in der Sicherheit, dass D’Zels Bündnisangebot ihre Macht oder Stellung in irgendeiner Hinsicht festigen würde. Seine öffentliche Erklärung für sie war überraschender und vielversprechender und hatte bei den anderen ordnenden Intellekten wahrscheinlich Bestürzung hervorgerufen, aber nach allem, was sie gelesen hatte, war im Laufe der Zeitalter keine der Erklärungen unter ihresgleichen gut ausgegangen. Unweigerlich wurde eine der Parteien der Erklärung dominant und vernichtete die geringere. Manche Geringere hatten jahrtausendelang überlebt, bevor sie kapituliert hatten, aber am Ende war das Ergebnis immer dasselbe gewesen. D’Shaa zweifelte nicht daran, dass D’Zel sich bald wünschen würde, der Dominante in ihrer Erklärung zu werden, sodass alles, was sie ausmachte und was ihr unterstand, sein werden würde.
Sie war nicht nur unfähig, das Handeln anderer ihres Ranges vorauszuahnen und ihnen zuvorzukommen, sondern konnte nicht einmal mehr den Bewohnern ihrer Region vorgreifen, die in ihrem Bann standen. Sie kam zu dem Schluss, dass sie mit Azual viel zu lange übertrieben nachsichtig gewesen war. Er war unbesonnen, eigensinnig und launisch. Sie hätte ihn nach dem Vorfall in Neu-Heiligtum sofort vernichten lassen sollen. Warum hatte sie das nicht getan? Weil sie der unerfahrenste ordnende Intellekt war und damals befürchtet hatte, ihre Stellung noch weiter zu untergraben. Jetzt war offensichtlich, was ihr damaliger Mangel an Selbstbewusstsein und Voraussicht ihr eingebracht hatte: Ein nachlässiger Heiliger hatte einen Jungen viel zu lange ungezogen gelassen, sodass die Magie des Kindes sich manifestiert hatte, was wiederum hieß, dass der Junge die Macht hatte, den Heiligen abzuwehren und zu überwinden, und das bedeutete, dass der Junge gelernt hatte, die eigene Natur des Heiligen gegen ihn einzusetzen und damit durch den Heiligen im Wachtraum Zugang zu ihr zu finden. Es war unglaublich. Der Junge war ein Gräuel. Allein schon die Begegnung mit ihm war für sie so abscheulich und verstörend gewesen, dass es ihr schwerfiel, die geistige Disziplin aufrechtzuerhalten, die vonnöten war, um weiter im Wachtraum zu bleiben. Wie nahe sie daran war, der Vernichtung anheimzufallen! Wenn sie zu lange aus dem Traum abwesend war, würde es dem Ältesten Thraal sofort auffallen. Er würde sehen, dass die Magie des Geas sich wie ein Virus in ihrer Region und auf ihren ordnenden Intellekt ausgebreitet hatte, und er würde keine Wahl haben, als sie zu vernichten, bevor das Virus sich durch den Rest der Hierarchie weiter fortpflanzen konnte. Was, wenn es aufgrund der Erklärung schon auf D’Zel übergegriffen hatte?
Da die Panik an ihrem Verstand zu nagen begann, vollführte sie Übung um Übung, als wäre sie wieder Novizin, nur um ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, die ruhige Mitte, die sowohl das Selbst als auch die Abwesenheit des Selbst ist: in den Wachtraum eintreten. Abermals unendlich werden. Die Anforderungen des körperlichen Gefäßes verschwinden, weil es nicht länger das Gefäß ist. Ja, sie hatte die Kontrolle über ihre Region verloren, und ja, sie hatte dem Geas gestattet, sich dort einzunisten, aber sie hatte auch begonnen, das Geas sichtbar zu machen und den Jungen ihrem Willen zu unterwerfen. Azual hielt die Eltern des Knaben als Geiseln und schien in den Bergen unerwartete Fortschritte zu machen. Und der Sonderbare war im Spiel. Alle Mechanismen ihres Willens und ihrer Herrschaft über die Region waren immer noch vorhanden. Nun kam es darauf an, diesen Willen kraftvoller durchzusetzen, ihre Wünsche den Gedanken des Volkes und damit sogar den einfachsten alltäglichen Verrichtungen aufzuprägen, der gesamten Geschichte und Wesensart dieser Welt und ihrer Energien ihren Stempel aufzudrücken.
»Azual!«, rief sie durch den Wachtraum.
Heilige Erlöserin, antwortete ihr der überraschte und nervöse Gedanke. Was ist dein Wille? Befiehl!
»Du hast bis jetzt versagt.«
Zögern. Furcht. Ja, heilige Erlöserin. Es ist unentschuldbar.
»Du bist unzulänglich, Dämon, der Heiligkeit unwürdig.«
Beschämung. Verzweiflung. Selbsthass. Ja, heilige Erlöserin.
»Der Fehler muss zugleich bei mir liegen, da ich dich überhaupt erhöht habe.«
Nein, heilige Erlöserin! Vergib mir, aber ich muss dich zu Anfang auf irgendeine Weise getäuscht haben.
»Ruhe!« D’Shaa musste zugeben, dass sie seine Ergebenheit trotz allem bewunderte. Daran hatte er es nie fehlen lassen. »Abgesehen von deiner Täuschung – wie konnte das hier geschehen? Es müssen Verräter gegen uns arbeiten oder Unschuldige unwissentlich gegen uns eingesetzt werden. Wer oder was benutzt den Jungen? Da du es noch nicht weißt, hast du wohl weder scharfsinnig noch gründlich genug gesucht.«
Zweifel. Gereiztheit. Argwohn. Heilige Erlöserin, ich bin weder weise, noch verstehe ich mich darauf, die Wahrheit der Vergangenheit zu ergründen, aber der Junge hat eindeutig Hilfe von seltsamen Kräften erhalten, deren Ursprung ich nicht feststellen kann. Seine Eltern stammen aus Neu-Heiligtum, aber was ist der Ursprung der Macht, die sich ihrer bedient hat? Ich habe die meisten von denen vernichtet, die diese Macht gelenkt hat, aber ich glaube jetzt, dass ich die Macht selbst nicht auslöschen konnte. Durch mich musst du den Soldaten Samnir gesehen und gehört haben, der von jemand anderem zu den Erlösern gezogen wurde. Vielleicht war er ein Spion eines anderen Heiligen. Außerdem war da noch der merkwürdige Krieger, der in Erlöserparadies gefangen genommen und von dem Jungen befreit worden ist. Ich habe den Krieger nicht erkannt und weiß nicht, woher er kommt. Wie kann er in irgendeiner Verbindung mit dem Jungen stehen, wenn der Junge doch zum ersten Mal Gottesgabe verlassen hat? Außerdem ist da noch die Pest, die alles zusätzlich erschwert.
»Eine ganze Reihe von Kräften steht gegen uns«, befand D’Shaa. »Alle wirken durch den Jungen und in seinem Umkreis. Er ist ein mächtiger ordnender Angelpunkt für sie, doch er hält sich immer noch im Netz meiner Region und meines Willens auf, und ich werde dir die nötigen Anweisungen erteilen, damit es auch so bleibt. Doch zuvor gibt es etwas, das du wissen solltest. Ich habe den Sonderbaren losgelassen, und er wird bald in meine Region gelangen. Er stellt sicher, dass Kräfte, die von dem Jungen abhängig sind, letztendlich den Erlösern anheimfallen, wenn auch vielleicht nicht unmittelbar dir und mir.«
Erstaunen. Verunsicherung. Entsetzen. Es gibt den Sonderbaren wirklich?
»Der Beschaffenheit dieser Welt gemäß muss es ihn geben.«
Ich habe nur Bruchstücke und zusammengefasste Halberinnerungen über ihn gelesen. Ich dachte, er sei bloß ein heidnischer Mythos. Wenn es ihn wirklich gibt …
»Es reicht, Azual. Du wirst nicht über solche Dinge nachgrübeln, denn sie übersteigen dein Verständnis, und du kennst die Gefahren sehr gut, die daraus erwachsen, etwas nur teilweise zu verstehen. Zugleich wirst du jede Begegnung und jeden Zusammenstoß mit dem Sonderbaren vermeiden.«
Was, wenn er mir den Jungen zu nehmen versucht?
»Du wirst sicherstellen, dass der Junge längst tot ist, bevor sich die Möglichkeit überhaupt ergibt, Azual. Das heißt allerdings auch, dass du jetzt schnell handeln und meine Anweisungen genau befolgen musst. Also hör gut zu. Folgendes wirst du in meinem Namen tun …«
»Allervortrefflichster Häuptling Schwarzschwinge …«, wandte sich Torpeth volltönend an den dicken alten Mann, der sie von seinem absonderlichen Thron ganze zehn Fuß über dem Boden argwöhnisch beäugte.
Wie ist er da überhaupt hinaufgekommen, ohne sich den Hals zu brechen?, fragte sich Prediger Praxis. Es ist keine Leiter zu sehen. Er ist doch sicher nicht mit diesem Federumhang dort hinaufgeflogen, nicht wahr? Nein, es sind nicht genug Federn, um sein Gewicht zu tragen.
»Ich bringe diesen Flachländer zu dir …«
Sein Haar und Bart mögen einst rabenschwarz gewesen sein, aber jetzt sind sie ganz grau. Also ist er eitel, dieser Heidenhäuptling. An seinen Männern ist aber nichts Eitles, befand der Prediger, während er den Raum voller sehniger, schmuckloser Krieger in sich aufnahm.
»… um … äh … Nun, das ist es. Ich bringe diesen Flachländer zu dir.«
Lange, angespannte Augenblicke folgten. Ein Krieger, der breiter, aber ein wenig jünger als die übrigen war, drängte sich nach vorn, baute sich am Fuße des Throns auf und sah sie an. Er musterte den Prediger mit offensichtlicher Verachtung von oben bis unten und fragte Torpeth dann: »Ist das das beste Geschenk, das du dem oberen Dorf machen kannst, heiliger Mann? Es ist wertlos für uns. Ist das vielleicht einer deiner verrückten Scherze? Niemand lacht darüber. Oder ist es eine bewusste Kränkung?«
»Tapferer Pralar«, fragte Torpeth theatralisch, »wie geht es dir?«
»Antworte mir«, knurrte Pralar Unheil verkündend, sei es, weil er vor dem Fremden und den versammelten Kriegern nicht das Gesicht verlieren wollte, sei es, weil er Torpeth wahrhaftig gern in Stücke gerissen hätte.
»Es ist kein Geschenk, kein Scherz und keine Beleidigung von mir«, antwortete Torpeth leichthin und sprang von einem Fuß auf den anderen. »Es ist ein Flachländer, dem die Götter gestattet haben, herzukommen. Es mag also ein Geschenk, ein Scherz oder eine Beleidigung von ihnen sein. Ich schlage vor, dass du deine Beschwerde gleich den Göttern selbst vorträgst, tapferer Pralar.«
»Verspottest du mich?«, knurrte Pralar, aber die Stimme versagte ihm kurz vor dem Ende und das Wort mich war nur noch ein Quieken.
Torpeth erstarrte mitten im Sprung, einen Fuß auf Kniehöhe erhoben, sodass seine Hoden auf seinen Oberschenkel klatschten. Er legte den Kopf schief. »Ich glaube, ich habe eben einen Vogel gehört. Hast du sie aus den Nestern gestohlen und verschlungen, Pralar, in der Annahme, dass sie dir die Macht verleihen würden, auf dem Wind zu reiten und dem göttlichen Wandar näherzukommen?«
Zorn verdüsterte Pralars Gesicht, und er hob die geballte Faust, aber nun meldete sich Häuptling Schwarzschwinge barsch zu Wort: »Es reicht, Troll! Du bist erst seit ein paar Augenblicken hier, aber du bist bereits nicht mehr willkommen. Ich dachte, ich hätte dich schon beim letzten Mal gewarnt, dass wir dich, wenn du je ins obere Dorf zurückkehren solltest, vom höchsten Gipfel werfen würden, nur um festzustellen, wie lieb du den Göttern tatsächlich bist und ob der heilige Wandar seinen Winden gestatten würde, deinen Fall abzufedern.«
Torpeth unterdrückte ein Kichern. »Ich dachte, deine Worte wären nichts als ein Wind gewesen, verursacht von schlechter Verdauung und zu üppigem Essen. Vielleicht solltest du es lieber einmal mit Pinienkernen versuchen. Ich schwöre auf sie! Sie halten mich ganz gut zusammen. Ich vermute, deine üble Laune und dein Groll gehen auf Verstopfung zurück, großer Häuptling. Nicht einmal deine Federn kitzeln dich und zaubern dir ein Lächeln aufs Gesicht, nicht wahr?«
»Das ist nicht sehr klug, Heide«, seufzte Prediger Praxis.
»Ergreift den Troll!«, brüllte der Häuptling den Dutzenden von schlanken Kriegern im Raum zu, von denen einige bereits auf Torpeth zugetreten waren.
Der heilige Mann fuhr mit seinem seltsamen Hüpftanz fort, setzte über einen geduckten Krieger hinweg und sprang dann hinter den Prediger, um einem anderen zu entgehen. Er stieß gegen den Prediger, sodass dieser mit einem Aufschrei vornüberfiel.
»Siehst du, Flachländer? Wandar ist auch als ›der schreiende Gott‹ bekannt!«, rief Torpeth, während er mit einem Sprung kurz auf dem gebeugten Rücken des Predigers landete. »Also werde ich jetzt ein Gebet zu ihm beginnen. Wandaaaaaaa …« Er fing an zu heulen und stieß sich vom Rücken des Predigers ab, um zwei Kriegern mit seinen harten Fußsohlen einen Tritt ans Kinn zu versetzen. »… aaaaaaa …« Torpeth landete geschmeidig und sprang sofort wieder hoch, sodass zwei weitere Krieger direkt unter ihm zusammenstießen. Er landete auf ihnen, je einen Fuß auf dem Rücken eines der beiden, und schmetterte ihre Stirnen auf den Boden aus gestampftem Lehm. »… aaaaaaa …«
»Fangt ihn, ihr lahmen Kerle!«, stieß der Häuptling hervor und fiel vor Wut fast von seinem hohen Sitz.
»… aaaaaaa …«
Vier Krieger stürmten von den Seiten, von vorn und von hinten auf Torpeth zu. Gewiss gab es kein Entkommen. Der kleine nackte Mann wartete ab, bis die Rücken der Krieger unter ihm sich anspannten und wölbten, und sprang dann auf den Krieger direkt vor ihm zu, landete mit den Händen auf seinen Schultern und überschlug sich über seinen Kopf. Die vier Krieger stolperten übereinander.
»Benutzt eure Waffen, ihr Schwachköpfe!«, schrie Häuptling Schwarzschwinge mit rotem Gesicht, einem Schlaganfall nahe. »Tötet ihn!«
»… aaaaaaa …«
Pralar wartete den rechten Augenblick ab und stürmte dann mit tödlicher Schnelligkeit auf den Rücken des heiligen Mannes zu. Torpeth nickte, als ob er den Luftzug von Pralars Bewegung spürte und sie guthieß. Er schoss zwischen Kriegern hindurch zur Tür des Saals, riss sie auf und ließ eine eisige Windbö ein, die den Häuptlingssohn und alle in der Nähe aus dem Gleichgewicht brachte.
»… aaaaaarr …« Torpeth wandte dem Wind den Rücken zu und flog mit ihm denjenigen ins Gesicht, die immer noch auf ihn zuhielten. Seine freien Hände peitschten auf Augen und Kehlen ein, eine harte Ferse prallte auf einen Solarplexus, seine Füße stiegen in die Luft, und er war schon über die Köpfe der Krieger hinweg, als sie sich unter erhobenen Armen zusammenkauerten, um sich zu schützen.
Er ist ein wahrer Dämon des Unheils, ein teuflischer Elementargeist! Wie gern diese Heiden doch Ärger anrichten, für sich selbst ebenso wie für jeden anderen.
»… rrrrr …«
»Um der Götter willen«, flehte Häuptling Schwarzschwinge, »fangt oder tötet ihn!«
Der Wind wirbelte immer schneller im Kreis durch den Saal, die Fackeln flackerten, und die Luft um Torpeth herum schien zu verschwimmen. Ein Wirbelwind wankte und tanzte auf den schwankenden Thron zu.
»… rrrrrRR …« Das Heulen wurde tiefer, bis es ein malmender, tobender Sturm über den Bergen war.
Einem Krieger gelang es, einen Pfeil abzuschießen, aber er wurde weit von seinem Ziel weggeschleudert und klapperte gegen die Wand. Überwältigt und in Todesangst fiel Prediger Praxis auf die Knie, duckte sich und hielt sich die Ohren zu. Standen Torpeths Füße etwa schon wieder auf seinem Rücken und stießen sich ab, um geradewegs auf den Häuptling zuzusausen?
»… RRRRR!«
Dann ertönten ein Kreischen, das Knirschen und Krachen von berstendem Holz und ein lautes Plumpsen, als Häuptling Schwarzschwinge unwürdig auf dem Boden landete.
Plötzlich herrschten Schweigen und schmerzliche Starre. Die Männer fürchteten sich davor, wieder zu atmen und sich zu bewegen, um ja nicht die Aufmerksamkeit des Geistes auf sich zu ziehen, der beschlossen hatte, sie alle zu bestrafen. Der Häuptling stöhnte leise.
»Das sollte zur Vorstellung des Flachländers dienen«, sagte Torpeth milde, »denn er ist hergesandt worden, um uns Prüfungen aufzuerlegen. Besinnt euch darauf, wenn ihr in den kommenden Tagen seine Worte hört. Besinnt euch darauf, dass die größten Kämpfer des oberen Dorfs mühelos von einem unbewaffneten, nackten Krieger besiegt worden sind. Besinnt euch darauf, dass sie von einem einsamen und noch dazu schmutzigen alten Mann niedergestreckt wurden. Besinnt euch darauf, wenn ihr euch fragt, ob ihr die Kraft habt, es mit dem Reich aufzunehmen. Besinnt euch schließlich darauf, um zu ergründen, ob das, was euch kampfeslustig macht, wahrer Glaube oder bloße Eitelkeit ist. Fragt euch, ob es besser ist, ruhmreich zu sterben oder mit dem inneren Frieden des Geas zu leben. Und wenn ihr eine Antwort auf diese letzte Frage findet, lasst sie mich wissen, ja?«
Und dann war er verschwunden, sodass die Krieger des oberen Dorfs wieder beginnen konnten, zu atmen und sich zu bewegen.
Hella zog ihren Umhang um sich und eilte durchs fahle Licht der Morgendämmerung zum Versammlungsplatz. Sie fand Samnir wie immer dort sitzen, wie er ausdruckslos den Boden unmittelbar vor seinen Füßen anstarrte.
Natürlich war niemand sonst da, weil es noch so früh war. Außerdem war die Stadt ohnehin seit dem Zwischenfall, dem Besuch des Heiligen und dem Ausbruch der Pest in gedämpfter und träger Stimmung. Die Leute schienen sich an die Schatten zu halten, wann immer sie die Stadt durchquerten, und weniger Anlass als früher zu haben, ihre Nachbarn zu besuchen. Es gab auch weniger Streitigkeiten als gewöhnlich und kaum einen Grund, den Ältestenrat anzurufen. Allgemein herrschte die unausgesprochene Überzeugung, dass die Jahreszeit so weit fortgeschritten war, dass es nicht mehr viel genützt hätte, Arbeiter auf die Felder hinauszuschicken, und die meisten Leute, die bei Verstand waren, ihre Tage ohnehin lieber zu Hause am Feuer verbringen würden. Hella traf noch nicht einmal mehr ihre Schulkameraden, denn es war noch kein neuer Prediger aus Hyvans Kreuz hergesandt worden.
»Hallo, Samnir. Ich bin’s mal wieder, Hella«, sagte sie sanft. »Wie geht es dir heute? Ich hoffe, es war gestern Nacht nicht zu kalt. Sind die Decken, die ich dir gebracht habe, warm genug? Hält der Verschlag einen Großteil des Windes ab?«
Samnir antwortete nicht. Sie wartete. Nach einer Minute begannen seine roten Augen zu tränen, und er brachte ein automatisches Blinzeln zustande.
»Das ist gut. Mein Vater ist gestern Abend aus Erlöserparadies zurückgekommen. Und nun stell dir mal vor!« Sie senkte die Stimme und flüsterte aufgeregt: »Er hat Jillan gesehen! Mit ihm gesprochen! Die Helden und der Heilige haben Jagd auf ihn gemacht, aber er ist entkommen. Ist das nicht unglaublich?«
Ein einsamer Vogel zwitscherte ein oder zwei Mal und gab dann auf. Eine kalte Brise zerrte an ihren Haaren. Hella wandte den Blick ab, während Samnir reglos blieb.
»Jedenfalls schwatze ich hier, obwohl du doch wahrscheinlich Hunger hast. Es ist wieder nur Suppe, so leid es mir tut. Entschuldige, aber es scheint das Einzige zu sein, was du magst.«
Sie nahm den Deckel von dem kleinen, braun glasierten Topf, den sie mitgebracht hatte, und tauchte einen Holzlöffel in den dickflüssigen Inhalt.
»Riecht gut, oder? Ich habe etwas Bärlauch gefunden, also sollte sie schmackhaft sein.«
Sie neigte Samnirs Kopf sanft zurück und zog dann an seinem Kinn, sodass sein Mund sich öffnete. Sie vergewisserte sich, dass die Suppe nicht zu heiß war, und löffelte dann etwas zwischen seine Lippen. Nach mehreren Löffeln zwang der sanfte Druck des Essens seinen Körper zu schlucken.
»Gut so«, sagte sie wie immer. »Möchtest du noch etwas? Bitte schön.«
»Wie geht es ihm?«, fragte eine leise Stimme.
Hella schnappte nach Luft, sprang auf und versteckte den Löffel im Herumwirbeln hinter ihrem Rücken. Haal stand etwa ein Dutzend Schritte entfernt und beobachtete sie. Sein Blick ruhte noch ein paar Momente auf ihr und richtete sich dann auf Samnir, der immer noch mit zurückgeneigtem Kopf dasaß und den Himmel anstarrte.
»Was willst du denn hier?«, fragte sie verächtlich. »Was machst du, die Leute ausspionieren?«
Sein Blick wanderte zu seinen Füßen. »Ich wollte nicht spionieren«, murmelte er. »Ich bin nur vorbeigekommen, das ist alles.«
»Du willst mich wohl verpetzen, Haal Corinsohn?«, fragte sie anklagend und stemmte die Hände in die Hüften. »Du willst deinem Vater und den anderen Ältesten alles erzählen, nicht wahr? Ich habe nichts Böses getan. Ich kümmere mich nur um meinen Nächsten, das ist alles.«
Haal nickte mit hochroten Wangen. »Du tust es für ihn, nicht wahr?«
Er sprach von Jillan, aber Hella hatte nicht vor, sich so in Verlegenheit bringen zu lassen, obwohl auch ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Tue ich nicht! Und was würde es dich kümmern, selbst wenn ich es täte? Überhaupt: Warum kommst du so früh am Morgen hier vorbei? Weiß der Älteste Corin, dass du dich aus dem Bett geschlichen hast? Du bekommst einen ganzen Haufen Ärger, wenn du so dumm bist, ihm zu verraten, dass du mich hier gesehen hast.«
Er sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, der sie stutzen ließ.
»Was ist denn? Was ist los, Haal?«
»Mein Vater ist krank, Hella. Schrecklich krank! Meine Mutter hat mich losgeschickt, um den Arzt zu holen.«
»Ist es … die … du weißt schon?«
Er weigerte sich zu nicken, für den Fall, dass die Bestätigung es wahr machen würde. Seine Augen glänzten feucht, und er biss sich besorgt auf die Lippen. »Ich weiß es nicht. Ich bin ja damals schnell wieder gesund geworden, und sonst hat bisher niemand in der Familie die Pest bekommen. Meine Mutter hat gesagt, dass es das Beste ist, niemandem etwas zu erzählen, damit keine Panik ausbricht. Du sagst es doch niemandem, nicht wahr? Ich verrate auch nichts über Samnir, versprochen!«
Sie wollte kein Mitleid mit ihm haben. Er war dumm, prahlte ständig damit, wie bedeutend sein Vater war, und stieß die anderen Kinder herum, weil er größer und wohlgenährter war als sie. Sie wusste, dass er sie mochte, aber sie wollte seine Zuneigung nicht. Sie hatte den starken Verdacht, dass er Jillan bloß so piesackte, weil sie Jillan lieber mochte als ihn. Das sorgte nur dafür, dass sie ihn noch mehr verabscheute. Es hatte sie dazu gebracht, sich fast zu freuen, als Haals Freund Karl gestorben war, und das obwohl sie sich doch nie freute, wenn ein Mensch oder Tier starb. Es brachte sie dazu, sich fast darüber zu freuen, dass der Älteste Corin krank war. Sie wollte kein Mitleid mit Haal haben, weil es sich anfühlte, als würde sie Jillan verraten. Aber sie hatte dennoch Mitleid. Genau wie sie Mitleid mit Samnir hatte, obwohl er ein Ketzer und ein Verräter am Reich war. Warum war alles so schwierig?
Sie seufzte. »Natürlich verrate ich nichts. Mein Vater ist gerade erst aus Erlöserparadies zurück. Wenn der Arzt irgendetwas braucht, kann mein Vater es vielleicht beschaffen. Aber ich bin sicher, dass dein Vater sich wieder erholen wird. Du weißt doch, wie das ist: Das kalte Wetter bringt immer ein gewisses Maß an Erkältungen und Schüttelfrost mit sich, und es ist dieses Jahr kälter als sonst.«
»Glaubst du?«, fragte Haal mit geheuchelter Zuversicht. Dann machte er ein langes Gesicht. »Man munkelt, dass der kalte Wind die Verderbtheit des Chaos aus den Bergen herträgt. Es heißt, dass die Pest in Gottesgabe ausgebrochen ist, weil das Chaos in letzter Zeit stärker geworden ist und das Volk der Stadt gestraft werden muss, wenn es auf den rechten Weg zurückfinden soll. Der Heilige hat uns besucht, weil wir der Züchtigung bedurften.«
Sie wurde beinahe wieder wütend auf ihn, aber sie wusste, dass er nicht die Schuld daran trug, dass er nicht so schlau war wie alle anderen. »Musste dein Vater denn gezüchtigt werden?«
Er runzelte die Stirn. »Nein.«
»Na, da siehst du’s.«
Er nickte langsam und blickte verwirrt drein.
»Das beweist, dass es nicht am Chaos liegt, Haal. Es zeigt, dass es nur etwas ist, was die Leute so daherreden. Es ist bloß eine Seuche, die nichts mit dem Chaos zu tun hat oder damit, dass das Volk bestraft werden muss oder etwas Böses getan hat. Verstehst du?«
Er nickte heftiger. »Ja, ja! Danke, Hella. Ich schulde dir etwas. Wenn du jemals etwas brauchst …« Er brach ab.
Sie nickte ihrerseits. »Natürlich. Danke. Ich hoffe, dein Vater wird bald wieder gesund, Haal.«
Er hatte einmal eine Geschichte über einen alten Mann gehört, der lebendig begraben worden war. Natürlich hatten alle ihn für tot gehalten, während er in Wirklichkeit wohl nur geschlafen hatte. Doch da er schon so gebrechlich gewesen war, hatte niemand auch nur den Hauch eines Atemzugs aus seinem Mund und seinen Nasenlöchern dringen fühlen oder einen flatternden Pulsschlag an seinem Handgelenk ertasten können, als man überprüft hatte, ob er gestorben war. Da es ein heißer Sommer gewesen war und die Söhne des alten Mannes nicht auf ihr Erbe hatten warten wollen, war der Mann hastig in seinen Sarg gelegt und der Deckel sofort zugenagelt worden. Die Trauerfeier hatte noch am selben Tag stattgefunden, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte.
Erst als der Totengräber das Grab am Abend schon fast zugeschaufelt hatte und alle anderen bereits nach Hause gegangen waren, hatte er gedämpfte Hilfeschreie des gefangenen Mannes gehört. Zuerst hatte der Totengräber geglaubt, von einem Spuk verfolgt zu sein, und war in die Stadt zurückgerannt, um ein Wirtshaus, heitere Gesellschaft und etwas Starkes zu trinken zu suchen, um seine Nerven zu beruhigen. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, hatte sich seine vernünftigere Seite geregt und ihn dazu gebracht, sich noch einmal auf den Friedhof zu wagen.
Alles war still gewesen, als er begonnen hatte, das Grab wieder aufzuschaufeln. »Hallooo!«, hatte er jedes Mal gerufen, wenn er im immer hektischeren Graben hatte innehalten müssen. Er hatte kein einziges Wort zur Antwort erhalten.
Der Totengräber hatte keine Mühen gescheut, sich zum Sarg hinabzuarbeiten, und fieberhaft den Deckel aufgestemmt. Leere Augen hatten ihn anklagend angestarrt. Die zu Klauen verkrümmten Hände des alten Mannes waren erhoben und blutig geschürft, weil er versucht hatte, sich freizukämpfen. An der Innenseite des Sargdeckels hatten Kratzspuren und ein abgerissener Fingernagel von seinem Ringen gezeugt. Der Totengräber hatte einen Moment lang dagestanden und dann den Deckel sanft wieder geschlossen. Er hatte das Grab zugeschaufelt und war ins Wirtshaus zurückgekehrt, aber die Gesellschaft dort war nicht mehr heiter genug gewesen, um die Schatten, die seine Stirn umwölkten, zu verscheuchen, und die Getränke auch nicht stark genug und nicht in ausreichenden Mengen vorhanden, um seine Nerven zu beruhigen.
Samnir fühlte sich wie der alte Mann aus der Geschichte, nur dass er nicht in einem Sarg, sondern in seinem eigenen Körper gefangen war. Sein Verstand versuchte sich hervorzukämpfen, aber er wurde immer schwächer. Vielleicht glich er eher einem Stein, der am Grunde eines Brunnens lag und von dem niemand wusste, dass er über ein Bewusstsein verfügte. Jemand mochte einen Eimer in den Brunnen werfen, und er mochte neben ihm landen, aber ihm fehlten die Mittel hineinzuklettern.
»Hallo, Samnir. Ich bin’s mal wieder, Hella. Wie geht es dir heute? Ich hoffe, es war gestern Nacht nicht zu kalt. Sind die Decken, die ich dir gebracht habe, warm genug? Hält der Verschlag einen Großteil des Windes ab?«
Ich spüre die Kälte und den Wind kaum, Kind. Ich spüre ohnehin kaum etwas. Du machst dir vergeblich all die Mühe. Vielleicht ist es das Beste, wenn du mich in Ruhe lässt. Mach es wie der Totengräber und schließ einfach sanft den Deckel.
»Das ist gut. Mein Vater ist gestern Abend aus Erlöserparadies zurückgekommen. Und nun stell dir mal vor: Er hat Jillan gesehen! Mit ihm gesprochen! Die Helden und der Heilige haben Jagd auf ihn gemacht, aber er ist entkommen. Ist das nicht unglaublich?«
Ha! Jillan! Also hat er den Heiligen überlistet, ja? Hehe. Es ist gut, dass ich mein Leben nicht für nichts und wieder nichts geopfert habe.
Selbst wenn Jillan gefangen genommen, bestraft und zu den Erlösern gezogen worden wäre, hätte Samnir es nicht bereut, dass er versucht hatte, ihm zu helfen. Er bereute fast alles andere in seinem Leben, aber nicht diese eine Tat. Er hatte Jillan eine Möglichkeit verschafft, das Leben zu führen, das er selbst viel zu widerstandslos aufgegeben hatte, als er jung gewesen war. Er war damals natürlich noch ein anderer Mensch gewesen, stolz und ohne jede Reue. Er hatte in seinem Leben keinen Fehler begangen und niemandem etwas geschuldet. Wenn überhaupt, dann hatte das Volk ihm etwas für die harte Arbeit geschuldet, die er leistete, um es als Held zu schützen, und für seinen Gerechtigkeitssinn bei der Schlichtung von Streitigkeiten. Doch die Leute erwiesen ihm nie Dankbarkeit und bescherten ihm in ihrer kleinlichen, eigensüchtigen Art nichts als Ärger. Er hatte weit härter werden und damit beginnen müssen, sie mit den Köpfen zusammenzustoßen, bevor sie einsahen, dass sie sich zivilisiert verhalten und zu ihrem eigenen Besten den Regeln gehorchen mussten. Er hatte sich bald den Ruf erworben, ein unnachgiebiger, ehrgeiziger Mensch zu sein, und war in den Großen Tempel entsandt worden, um zum Offizier ausgebildet zu werden, und danach in die Wüsten des Ostens, um seinen Verstand gegen die wilden Heiden und Barbaren einzusetzen, die dem Reich immer noch Widerstand leisteten. Jahre des Gemetzels waren gefolgt. Er hatte den weißen und goldenen Sand der Wüste rot gefärbt. Er hatte die blauen und grünen Wasser jeder Oase vergiftet, die er hatte finden können, und jeden Baum und Strauch niedergebrannt. Aber das hatte nicht ausgereicht, und trotz all seiner Anstrengungen hatte sich in der östlichen Region nichts geändert. Nein, das stimmte nicht. Nichts hatte sich geändert, bis auf ihn selbst. Er war gereizt und unzufrieden geworden, sogar rasend, als ob er nach etwas suchte, das er nicht finden konnte. Je brutaler, blutrünstiger und erfolgreicher er als Soldat des Reichs geworden war, desto schlimmer waren seine schwarzen Launen geworden. Seine Vorgesetzten hatten begonnen, ihn mit Furcht, Abscheu und Entsetzen zu betrachten. Keiner seiner Vorgesetzten war ein schwacher Mann, aber es war deutlich, dass er in ihren Augen fehlgegangen und zu der Art von Ungeheuer geworden war, die sie doch bekämpfen sollten. Der Einzige, der ihn anders behandelt hatte, war General Thormodius gewesen, und seine Reaktion war die schlimmste von allen gewesen, denn in seinem Blick hatte Mitleid gelegen. Der General war es gewesen, der entschieden hatte, dass Samnir lange genug im Osten gedient hätte und in den Großen Tempel zurückkehren sollte. Samnir war zornig gewesen und hatte den General beschimpft, der infolgedessen keine Wahl gehabt hatte, als seinen Offizier überwältigen und in Ketten aus dem Osten fortschaffen zu lassen.
Dann hatten für Samnir lange Jahre des Diensts im labyrinthartigen Großen Tempel begonnen. Die anderen Helden dort waren im Umgang mit ihm immer höflich, aber keiner hatte ihm je seine Freundschaft angeboten. Und seine schwarzen Launen waren auch nicht verschwunden, sondern wenn überhaupt noch schlimmer geworden, da er sie nicht mehr wie im Osten in der Schlacht hatte ausleben können. Er hatte begonnen, laut auszusprechen, was auch immer ihm in den Sinn gekommen war, ganz gleich, ob jemand in der Nähe gewesen war und ihn hatte hören können. Er hatte eine ganze Reihe von Blasphemien geäußert und die meisten seiner Kameraden in Kämpfen zusammengeschlagen, bevor er am Ende aus dem Großen Tempel verstoßen worden war.
Er war immer weiter vom heiligen Herzen des Reichs fortgeschickt worden, bis er schließlich in den Diensten des heiligen Azual geendet war, den man aufgrund der Geschehnisse in Neu-Heiligtum den verrückten Heiligen nannte. Doch selbst der Heilige hatte Samnir für zu tollwütig gehalten, als dass er nützlich hätte sein können, und ihn nach Gottesgabe geschickt, wo er seine einsame Wache am Südtor begonnen hatte. Er war sich nicht ganz sicher, wonach er Ausschau hielt, aber die Einsamkeit hatte mit der Zeit seine Launen abstumpfen lassen und ihm zu einer Art Frieden verholfen. Und dann war der Junge gekommen, der Junge, der er einst gewesen war, der Junge, der das genaue Gegenteil des Ungeheuers darstellte, zu dem Samnir geworden war.
»Jedenfalls schwatze ich hier, obwohl du doch wahrscheinlich Hunger hast. Es ist wieder nur Suppe, so leid es mir tut. Entschuldige, aber es scheint das Einzige zu sein, was du magst. Riecht gut, oder? Ich habe etwas Bärlauch gefunden, also sollte sie schmackhaft sein.«
Ich kann sie weder riechen noch schmecken, Kind. In vielerlei Hinsicht will ich sie gar nicht, weil sie mich in diesem Sarg am Leben hält. Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich weiß ja, dass es vielleicht undankbar von mir ist, aber du verlängerst nur mein Leid. Du sollst gesegnet sein, mein Kind, denn du kannst es ja nicht wissen. Du glaubst, dass alles Leben heilig ist, nicht wahr, dass es um jeden Preis erhalten werden sollte? Tut mir leid, so ist es nicht. Es betrübt mich, dass du allzu rasch erwachsen werden und das herausfinden wirst, falls die Pest dich so lange verschont. Falls du dich mit der Krankheit ansteckst, dann bring sie bitte auch zu mir, damit ich endlich frei werde. Und vielleicht wäre es das Beste, wenn du dich anstecken würdest, Kind, denn dann würde deine Unschuld nicht grausam von diesem Leben zerstört werden, und du müsstest dich nicht in ein Ungeheuer verwandeln.
Die heilige Izat beobachtete und belauschte das Mädchen durch den Soldaten Samnir, den Izat vor Jahrzehnten zu den Erlösern gezogen hatte. Die Heilige beglückwünschte sich zu all den Intrigen und Mühen, mit denen sie einst dafür gesorgt hatte, dass der junge Samnir zu dem getriebenen und unbarmherzigen Mann wurde, der erst vom Großen Tempel auserkoren und dann nach Osten geschickt worden war. Es war schwierig gewesen, und Izat hatte eine ganze Reihe wertvoller Hilfsmittel einsetzen müssen, um sicherzustellen, dass Samnir seinen Dienst in der Wüste überleben und in den Großen Tempel zurückgerufen werden würde. Danach war es vergleichsweise einfach gewesen, dafür zu sorgen, dass Samnir in den gegnerischen Süden versetzt wurde. Izat war entzückt gewesen, als sie in der Lage gewesen war, Azual direkt auszuspionieren und mitzuhelfen, die Zerstörung von Neu-Heiligtum in die Wege zu leiten. Es war solch eine Freude gewesen, zuzusehen, wie Azual dem Wahnsinn verfallen war und ein derartiges Gemetzel angerichtet hatte! Schade nur, dass Azual den Vorfall bislang überlebt hatte.
Nachdem Samnir aus Hyvans Kreuz verbannt worden war, hatte Izat das Interesse an dem Soldaten größtenteils verloren und bis zu der Nacht, in der es zu dem Zwischenfall mit Jillan gekommen war, kaum noch einen Gedanken auf ihn verschwendet. Izat hatte jeden Fetzen magischer Macht, der ihr zur Verfügung stand, nutzen müssen, um aus dem Westen bis nach Gottesgabe auszugreifen und Samnirs Verstand zu überzeugen, dass er dem Jungen bei der Flucht helfen sollte, aber die Anstrengung hatte sich für sie gelohnt! Nicht allein, dass der Junge immer noch auf freiem Fuß war und Azual unendlich viele Scherereien machte – anscheinend war auch irgendeine Seuche ausgebrochen (sofern das kein glücklicher Zufall gewesen war), sodass die Kaufleute aus den anderen Regionen jetzt zögerten, mit dem Süden Handel zu treiben. Die Wirtschaft des Südens begann zusammenzubrechen. Bald würde das Volk darüber zu klagen beginnen, dass Azual nicht genug unternahm, um ihm zu helfen, und dann würde Azual sich einem regelrechten Aufstand gegenübersehen, besonders wenn Izat ihre anderen Hilfsmittel im Süden besonnen zum Einsatz brachte. Ganz gleich, ob es Azual gelang, den Aufstand niederzuschlagen oder nicht, die gesegneten Erlöser würden es ihm nicht verzeihen, dass er überhaupt solche Unruhe hatte aufkeimen lassen. Die Erlöser würden nach einem anderen Heiligen suchen, der den Süden überwachen konnte, und es war niemand besser geeignet als Izat, deren eigene Region immer friedlich und wohlhabend gewesen war. Der heilige Dionan im Osten hatte ständig mit den heidnischen und barbarischen Wüstenstämmen alle Hände voll zu tun, und der heilige Goza im Norden war zu weit entfernt und zu träge, um zwei Regionen zugleich zu beherrschen. Es gab natürlich andere, geringere Heilige, die im ganzen Reich verteilt waren, aber keiner von ihnen stellte eine ernsthafte Bedrohung für Izat dar.
Bald würden sowohl der Westen als auch der Süden ihr gehören. Dann würde sie ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten. Sie hatte sich immer gewünscht, irgendwann einmal ein Sonnenmetallbergwerk zu besitzen, denn der Reichtum und die Macht, die es ihr einbringen konnte, waren beträchtlich.
Etwas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Was war das? Sie wälzte die nackten Jugendlichen von sich herunter, an denen sie schon längst kein Interesse mehr hatte. Sie waren zu sehr im Delirium, um zu protestieren, und würden sich wahrscheinlich erst im Laufe mehrerer Tage davon erholen, zu den Erlösern gezogen worden zu sein, vielleicht auch gar nicht. Die orgastische Seligkeit, von ihr gezogen zu werden, war für manche zu viel, aber für diejenigen, die die berauschende Leidenschaft überlebten, war sie etwas, an das sie sich für den Rest ihres Lebens sehnsüchtig erinnern würden. Sie war Izats Geschenk an sie. Nicht dass sie nicht selbst Vergnügen daran gehabt hätte, aber in den letzten paar Jahrhunderten war es, nun ja, ein wenig eintönig und beschränkt geworden. Sie hatte natürlich ausgedehnte Experimente durchgeführt, aber mit der körperlichen Gestalt der Menschen konnte man nur in begrenztem Umfang etwas anfangen. Deshalb war sie immer gieriger geworden, was Handel und Politik anging, und war stets bestrebt, ihren Herrschaftsbereich und Besitz zu erweitern, auf dem Wege etwas Neues zu entdecken und sich an unverbrauchten Sinneseindrücken und Erfahrungen zu ergötzen.
Sie schlang sich einen Hausmantel um den schlanken, goldenen Körper, während ein junger Leibsklave hereingestürmt kam, um sich vor der Heiligen niederzuwerfen. Danach zu urteilen, wie schwer der Junge atmete, war er gerannt, was höchst ungehörig war, obwohl es seinen Wangen eine anziehende Röte verlieh.
»Was ist denn, Julian?«, gähnte Izat und hielt sich anmutig eine manikürte Hand vor den Mund. Sie zog es vor, von denen umgeben zu sein, die noch nicht zu den Erlösern gezogen worden waren, weil sie es erregend fand, von Menschen bedient zu werden, die noch von einem gewissen Geheimnis umgeben waren.
»Strahlende, der heilige Goza aus dem Norden nähert sich der Grenze.«
Die heilige Izat verlor fast ihre berühmte Beherrschung und Gelassenheit. »Was hast du gesagt?«
»Strahlende, der heilige …«
»Ja, Julian, mein Lieber, das war eine rhetorische Frage. Aber das ist noch nie vorgekommen. Kein anderer Heiliger hat diese Region seit … nun, seit Ewigkeiten betreten! Wie kann er es wagen, ohne dass ich ihn hergebeten habe? Ich hatte keine Zeit zu baden, mich zu frisieren oder sonst irgendetwas. Julian, lass sofort Wasser für mich einlaufen und meine schönsten Gewänder bereitlegen. Das dunkelblaue wäre das beste, findest du nicht? Wie konnte er überhaupt so weit kommen? Ich hätte nicht gedacht, dass diese stinkende Wampe überhaupt noch gehen kann! Ich muss aufpassen, gegen die Windrichtung zu stehen, was, Julian? Sonst müsste ich mir ja die ganze Zeit die Nase zuhalten.«
»Strahlende, der heilige Goza kommt auf einem Thron auf Rädern, der größer als jeder Wagen ist und von sechs Pferden gezogen wird.«
»So? Und wie viele Männer hat er bei sich?«
»Fünfzig, Strahlende.«
»Sehr gut. Sag Hauptmann Tyrius, dass er meine schönsten Tausend auf unserer Seite aufreihen soll, mit Bögen bewaffnet, die sowohl hübsch anzusehen als auch tödlich sind. Wenn auch nur eine Person – und sei es der heilige Goza selbst! – ohne meine Erlaubnis einen Fuß in diese Region setzt, dann soll der süße Tyrius schießen lassen, auch wenn das bestimmt äußerst unschön wird. Verstehst du, mein liebster Julian?«
»So gut ich kann, Strahlende.«
»Sehr gut. Dann lauf schon einmal los, während ich beschließe, ob ich mein Haar lieber kräusele oder in Korkenzieherlocken lege. Gewöhnliche Locken vermitteln mehr ernste Würde, aber Korkenzieherlocken sind weit kunstvoller. Oje, ich glaube, ich beschränke mich lieber auf welliges Haar, das wirkt weit lässiger und ungezwungener …«
Eine Stunde später war die heilige Izat bereit, ihrem Besucher über die Grenze zwischen ihren beiden Regionen hinweg die Stirn zu bieten. Sie saß auf ihrem kräftigsten Lustsklaven und schenkte dem heiligen Goza ihren kokettesten Blick. »Oho, anscheinend bedeutet dir Größe alles, nicht wahr? Oder kompensierst du vielleicht irgendetwas? Hattest du eine schlimme Kindheit, mein lieber Goza? Komm, mir kannst du es doch erzählen.«
»Ich habe diese lange Reise nicht unternommen, um deine Dreistigkeit ertragen zu müssen, Izat«, keuchte der heilige Goza, der ausgestreckt auf seinem Räderthron lag.
»Das ist unwesentlich, mein lieber Goza.« Izat lächelte und faltete die glatten Hände im Schoß. »Was sonst hast du erwartet, da du es doch bisher versäumt hast, mir ein Kompliment zu meiner Garderobe zu machen? Ich muss dich wissen lassen, dass ich deinetwegen große Anstrengungen unternommen habe. Was ist? Waren die Häppchen, die ich dir angeboten habe, nicht reichhaltig genug? Bist du deshalb so übellaunig?«
Der heilige Goza fuhr sich mit einer seiner breiten Hände durchs fettige Haar, während er um Beherrschung rang. »Izat, hör bitte auf. Ja, du siehst reizend aus. Das tust du immer. Es steht von vornherein fest. Vergib mir das Versäumnis, es bisher nicht erwähnt zu haben. Ich war von deiner Eleganz überwältigt und geistig … eine Weile verwirrt. Und so weiter. Reicht dir das nicht, Izat?«
Die heilige Izat sonnte sich ein Weilchen in dem Kompliment und fuhr gezielt mit der Fingerspitze über eine ihrer Augenbrauen, für den Fall, dass eines der Haare nicht an der richtigen Stelle lag. Sie lächelte ihren Mitheiligen strahlend an. »Siehst du, so schwer war es doch gar nicht, Goza. Das Volk folgt unserer Führung und unserem Beispiel, also sollten wir immer auf unsere Manieren achten, nicht wahr? Wie sonst können wir von den Leuten erwarten, dass sie sich bessern? Nun, da wir die Formalitäten hinter uns gebracht und damit bewiesen haben, dass wir Vorbilder in Sachen Etikette sind, sag mir doch bitte, was genau ich für dich tun kann.«
Die Augen des heiligen Goza schweiften über die umstehenden Helden. »Vielleicht sollten wir in größerer Zurückgezogenheit miteinander sprechen.«
Die heilige Izat zuckte sorglos die Achseln. »Ich werde einfach alle Erinnerungen an unser Treffen aus dem Verstand meines Volkes entfernen. Zu meinem Gefolge gehört niemand, den ich nicht selbst zu den Erlösern gezogen habe. Du kannst doch gewiss dasselbe mit deinen Wachen tun, nicht wahr, Goza?«
»Äh … ja, natürlich. Nun gut. Was weißt du über die Verhältnisse im Süden?«
Die heilige Izat legte sich einen Finger an die volle Unterlippe, um zu zeigen, dass sie nachdachte. »Nun … rein gar nichts. Und du?«
Der heilige Goza brummte: »Ich hätte damit rechnen sollen, dass du nicht damit herausrücken würdest. Gleichgültig. Du solltest wissen, dass im Süden die Pest wütet.«
Die heilige Izat hob die Hände an die Wangen, um ihre Bestürzung über das Verhängnis zum Ausdruck zu bringen. »Das ist doch nicht möglich! Die armen Leute! Und Azual ist solch ein Schatz.«
»Hör zu, ich habe Wachen an meiner Südgrenze aufgestellt, um jegliche Händler und Flüchtlinge aus dem Süden zurückzuweisen, die durch die Mittelregion kommen. Ich schlage dir vor, deine Grenzen zur südlichen und mittleren Region entsprechend zu sichern. Wenn du das nicht tust, besteht ein Risiko, dass Leute aus dem Süden durch deine Region und dann über die Grenze zwischen Westen und Norden in meine reisen. Ich habe nicht genug Wachen, um sowohl meine südlichen als auch meine westlichen Grenzen wirksam zu schützen, besonders, da ich ständig meine Ostgrenze gegen Einfälle der Heiden und Barbaren sichern muss. Deshalb schlage ich vor, dass wir unsere Kräfte vereinen, um sowohl die Sicherheit unserer eigenen Regionen als auch die des Gesamtreichs zu gewährleisten.«
»Oh, Goza, das klingt nach einem ganz wunderbaren Einfall. Du bist solch ein schlauer Kerl, doch, wirklich, das bist du. Natürlich würde ich gern meine Kraft mit deiner Kraft vereinen. Das Zusammentreten deiner Stärke und meines Glanzes wäre etwas Schönes, eine Ehe, die den Kosmos selbst beflügeln würde!« Sie klimperte mit den Wimpern. »Wir können gleich anfangen, wenn du möchtest.«
Der heilige Goza nickte, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und verdrehte dann die Augen. »Ich verstehe das als Einwilligung, Izat. Das ist alles, was ich mit dir abmachen wollte, wenn es also sonst nichts gibt, gehe ich dann wieder.«
»Derart kurze Flitterwochen? Ich habe sie ja kaum bemerkt! Und nun gehst du? Ich Arme.« Die heilige Izat winkte träge. »Aber so ist es eben mit Ehen. Allzu rasch verwelkt und vergeht die erste Blüte der Liebe und hinterlässt nur Dornen und Unbilden für den einst so glühenden Bewunderer. Doch solange wir weiter höflich miteinander umgehen können, sollte unser Zusammenleben nicht allzu beschwerlich sein. Leb wohl, grausamer Goza, leb wohl!«
D’Selle beobachtete und belauschte Goza durch die Sinne seiner heiligen Izat. Also warnte D’Zel ihn wohl davor, sich ja nicht im Süden einzumischen? D’Zel glaubte zweifelsohne, das Recht zu haben, D’Selle so zu kränken, nachdem er sich für diese Hexe D’Shaa erklärt hatte.
Er konnte nicht glauben, dass es ihr überhaupt gelungen war, so lange zu überleben, aber ohne Zweifel waren dies ihre letzten Todeszuckungen. Wie Izat zutreffend gefolgert hatte, würde der Süden so, wie er jetzt war, auf keinen Fall mehr lange überleben. Er würde bald genug der Pest, Aufständen oder den Vergeltungsschlägen des Sonderbaren anheimfallen. Also stellte sich die Frage, wer D’Shaa als ordnender Intellekt des Südens nachfolgen würde. Die Ältesten würden D’Zel gewiss nicht erlauben, D’Shaa nachzufolgen, denn aufgrund seiner Erklärung für sie würde die Schande von D’Shaas Sturz auch ihn treffen. Stattdessen würden die Ältesten doch gewiss D’Selle selbst den Vorzug geben, oder? Wenn der Süden erst gefallen war, konnte ihn sein gescheiterter Versuch, ganz offen D’Shaas sofortigen Sturz zu bewirken, nicht mehr in Verlegenheit bringen und ihm keinen Tadel mehr eintragen.
D’Zel wusste all das sicher auch. Was für ein Spiel spielte er also, wenn er sich erst für D’Shaa erklärte und dann D’Selle davor warnte, sich im Süden einzumischen? D’Zel war nie hochmütig oder übertrieben angriffslustig gewesen, also war es undenkbar, dass er einfach nur versuchte, den Süden und die andere Hälfte seiner Erklärung zu verteidigen. D’Zel glaubte doch gewiss nicht, dass der Süden und D’Shaa überleben konnten? Nein, lächerlich. In seinem Ehrgeiz würde D’Zel nicht wollen, dass der Süden überlebte, sich neu ordnete und womöglich noch zur künftigen Bedrohung seiner eigenen Interessen wurde.
Was war es also dann? Was war D’Zels Ziel? Es war einfach nicht möglich, dass D’Zel der nächste ordnende Intellekt des Südens werden würde, wenn man bedachte, dass die Region bald fallen und Schande über beide Hälften der Erklärung bringen würde.
Aha! Also musste D’Zels Ziel ein anderes sein. D’Zel hatte es nicht darauf abgesehen, zum ordnenden Intellekt des Südens zu werden, sondern auf … was?
Haha! Natürlich! Wenn D’Selle nicht im Wachtraum gewesen wäre, wäre er in Versuchung gewesen, vor Freude zu tanzen, obwohl er damit Gefahr gelaufen wäre, sich die Gliedmaßen zu brechen. Haha, ich hab’s! Keiner ist so klug und scharfsinnig wie ich. Ich weiß, worauf deine Intrigen abzielen, mein gar zu ehrgeiziger D’Zel! Auf den Jungen, den Jungen! Du glaubst, dass er für dich das Geas finden und enthüllen wird, nicht wahr? Haha! Ich durchschaue dich. Wahrlich, ich bin dir überlegen und besser als du, das wird der Gang der Ereignisse unweigerlich beweisen, und es wird sich zeigen, dass mein Wesen, meine Natur und mein Innerstes die des nächsten Ältesten sind! Törichter, beschränkter D’Zel! Ich werde dein Ende noch weit mehr als D’Shaas genießen, denn sie ist ein unerfahrenes kleines Ding, während du der älteste Erlöser unseres Ranges und weit größere Beute bist. Aber meine List und Tücke sind noch größer. Ich bin der Größte!
Sein Verstand wurde für einen Augenblick leichtfertig, aber dann begann er sich zu bezähmen und zu beherrschen, um seine Gedanken besser zu ordnen. Es war zwingend notwendig, dass er den Jungen zu fassen bekam.
»Izat, kannst du mich hören?«
Ja, Gottheit. Deine Stimme ist in meinem Verstand, antwortete die Stimme seiner Untergebenen ungekünstelt und ohne Großsprecherei.
»Es geht um den Jungen. Er muss unter meinen Einfluss gebracht werden. Du wirst deine Grenze zum Süden offen halten und unter den Bewohnern des Südens ausstreuen lassen, dass der Westen ihnen Zuflucht bietet. Vielleicht wird der Junge dann von dem Flüchtlingsstrom zu uns geschwemmt. Verstehst du?«
Ja, Gottheit. Ich habe Spione im Süden, denen ich den Befehl erteilen werde, Jillan ausfindig zu machen und nach Westen zu bringen.
»Wenn deine Spione den Jungen nicht aus dem Süden wegbringen können, dürfen sie nicht zögern, ihn zu töten. Verstanden?«
Ja, Gottheit.
»Aber die Zeit wird knapp, und der Sonderbare ist auf dem Weg in den Süden. Wenn er den Jungen vor uns findet, werden deine Spione nicht mehr die Möglichkeit haben, einen Schlag gegen ihn zu führen. Dann bist vielleicht nur noch du selbst dazu in der Lage, Izat. Deshalb wirst du dich sofort in die südliche Region begeben und den Jungen ergreifen oder töten. Verstanden?«
Der Sonderbare ist losgelassen worden?, fragte Izat unbehaglich. Dann soll es geschehen, wie du sagst, Gottheit. Aber wenn der verrückte Azual erfährt, dass ich seine Region ohne seine Erlaubnis betreten habe, ist es sein gutes Recht zu versuchen, mich zu töten. Habe ich deine Erlaubnis, diesen Heiligen zu töten, bevor er Gelegenheit hat, einen solchen Versuch zu unternehmen, Gottheit?
»Du hast sie, Izat«, antwortete D’Selle mit heiterer Großmut. »Und je mehr und länger der Wahnsinnige leidet, bevor er stirbt, desto besser.«
Wie du wünschst, Gottheit, wie du wünschst!
Viele der Himmelskrieger waren dafür gewesen, Prediger Praxis gleich an Ort und Stelle die Kehle aufzuschlitzen. Sie hatten ihn mit schnellen Schlägen und Fausthieben verprügelt, die zwar nicht allzu heftig, aber wohlgezielt gewesen waren und sofort dafür gesorgt hatten, dass er sich gekrümmt und nach Atem gerungen hatte. Dann war ihm eine rasiermesserscharfe Klinge an den Hals gepresst worden, sodass er es nicht gewagt hatte zu schlucken, um ja nicht seinen Adamsapfel zu bewegen und sich damit umzubringen.
Ein neuer Stuhl war für Häuptling Schwarzschwinge geholt und vor den Überresten seines alten Sitzes aufgestellt worden, aber der Häuptling beachtete ihn gar nicht, sondern ging zornig vor dem Prediger auf und ab. Die erhobene Hand des Häuptlings hielt das Messer auf, damit alle Anwesenden ihn zuerst anhören und so gezwungen sein würden, die Wiederherstellung seiner angeschlagenen Autorität anzuerkennen.
»Ich werde dich ausbluten lassen wie ein Tier. Einem feigen Flachländer wie dir sollte man nicht die Ehre zugestehen, im Kampf zu fallen«, tobte der Heide, dessen Atem säuerlich nach Alkohol stank. »Du kommst also als Prüfung, ja? Von den Göttern? Die Götter würden sich nicht die Hände an einem verlogenen, diebischen Flachländer schmutzig machen. Ich werde dir nicht gestatten zu sprechen. Es beleidigt mich, dass du die geheiligte Luft des oberen Dorfes atmest. Jeder Augenblick, den du hier oben verbringst, besudelt die Luft und mein Volk. Die Worte des Verrückten sind bestenfalls bedeutungslos. Man kann ihm weder Glauben schenken noch vertrauen. Deshalb …«
»Und was hat dann die Dorfvorsteherin überzeugt, ihn überhaupt vorbeizulassen?«, warf einer der ältesten anwesenden Krieger ein, ein Mann mit schneeweißem Haar, an dem sonst bis auf einige Falten um die Augen nichts auf sein hohes Alter hinwies. Sein Körper war so sehnig wie der aller anderen.
Häuptling Schwarzschwinge zügelte sich, da die Worte des alten Kriegers einiges Gewicht zu haben schienen. »Ja, Slavin, die Frage ist berechtigt. Alle wissen, dass sie mit dem Verrückten zu nachsichtig und er durchaus in der Lage ist, sie zu überlisten. Wenn der Flachländer wahrhaftig eine Prüfung für uns ist, dann muss sie in der Frage bestehen, ob wir töricht genug sind, ihm zu erlauben zu sprechen. Sind wir so voller Selbstzweifel, dass wir ihn auch nur anhören müssen?«
»Oder sind wir so voller Selbstzweifel, dass wir seine Worte fürchten?«, erwiderte Slavin gemessen. Einige der anderen Anwesenden nickten daraufhin.
Der Häuptling starrte den Krieger böse an, und ein verärgerter Pralar trat neben seinen Vater. Anscheinend von der Geste seines Sohnes und der Tatsache, dass sie ihn hilfsbedürftig wirken ließ, aus dem Gleichgewicht gebracht, versuchte Häuptling Schwarzschwinge, Pralar zu verscheuchen. »Nein, Slavin. Keiner aus dem oberen Dorf fürchtet sich vor Worten oder Flachländern. Wir sind Wandars Lieblinge, und alle anderen müssen uns fürchten! Der Flachländer wird um Gnade winseln und diese Angst über uns ausspeien, so dass sie für alle deutlich sichtbar wird. Danach wird er sofort Wandar geopfert.«
Slavin nickte leicht und richtete den Blick erwartungsvoll auf den Prediger. Häuptling Schwarzschwinge hatte keine Wahl, als dem Krieger, der Praxis das Messer an den Hals hielt, zu bedeuten, die Waffe zu senken.
»Sprich, wehleidiger Flachländer!«, befahl Häuptling Schwarzschwinge.
Welche Erniedrigungen, Demütigungen und Entbehrungen habe ich doch für meinen Glauben auf mich genommen! Keiner der Heiligen in der Heiligen Schrift hat auch nur ansatzweise so viel durchlitten wie ich. Ich werde der größte aller Heiligen sein, der heiligste und verehrteste. Ich werde ein leuchtendes Vorbild für jeden Schüler in jeder Stadt des Reichs sein, sagte Prediger Praxis zu sich selbst. Aber erst muss ich das Chaos überwinden, das diese Heiden gefangen hält. Ich muss tun, was auch immer nötig ist, um für ihre letztendliche Erlösung zu sorgen, ob sie diese Erlösung nun lebendig überstehen oder nicht. Ich muss einen Weg finden, sie zu belügen und zu beschwatzen, obwohl das der grundsätzlichen Anständigkeit und Ehrlichkeit meiner Natur zuwiderläuft. Ach, niemand ist je so von der Welt gepeinigt worden wie ich! Der härteste und kälteste Krieger würde in Tränen ausbrechen, würde er die Geschichte meines Leids und meiner Nöte auch nur hören. Ganze Nationen würden zusammenbrechen. Die Erde würde abbröckeln und ins Meer stürzen. Die Himmel würden niederfallen. Der Kosmos selbst wird vor Mitgefühl erzittern, wenn er erfährt, was ich hier auszustehen habe. Ich bin der lebendige Wille der Erlöser. Ich bin die Fleisch gewordene Heilige Schrift. Nichts, was ich sage, tue oder beschreibe, kann falsch sein.
Von dort, wo er kniete, sah der Prediger dem fetten Heiden in die Augen. Er gestattete es seiner Stimme nicht zu zittern, als er sagte: »Ich bin gekommen, um Rache am Flachland zu nehmen, Häuptling Schwarzschwinge!«
Der Häuptling starrte den Prediger glasig an, als sähe er ihn zum ersten Mal und wüsste nicht ganz, was er von ihm halten sollte. Die Krieger murmelten etwas in ihren Bart oder tuschelten miteinander.
»Rache, weil ich von meinem eigenen unwissenden und neidischen Volk verbannt worden bin!«, stieß der Prediger hervor und stellte fest, dass er seinen Zorn nicht heucheln musste. So weit ist das schließlich von der Wahrheit nicht entfernt. »Ich kann deine Krieger zur Stadt Gottesgabe führen und ihnen zeigen, wie sie sie dem Reich entreißen können. Dann werdet ihr Rache dafür nehmen können, dass das Reich euch einst das Flachland gestohlen hat.«
Das Gemurmel der Krieger wurde lauter. Häuptling Schwarzschwinge taumelte einen Schritt zurück und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dann fuhr sein Kopf wieder zu dem Prediger herum, und er zog die Oberlippe hoch. »Du würdest dich gegen dein eigenes Volk stellen? Und du erwartest, dass wir bereit wären, uns von einem solchen Geschöpf führen zu lassen? Das Volk der Berge ist nicht so niedrig wie deinesgleichen. Du ekelst mich an. Ich habe genug gehört.« Der Häuptling blickte zu dem Mann mit der gezogenen Klinge.
»Ich bin nicht derjenige, der feige ist, Häuptling Schwarzschwinge«, sagte der Prediger rasch. »Ich bin nicht derjenige, der davor zurückscheut, im Kampf zu fallen. Ich wäre nicht damit zufrieden, alt und fett zu werden, während meine Feinde mit meinem Land und meinem Vieh machen können, was ihnen beliebt. Und worüber gebietest du eigentlich als Häuptling? Über ein paar unfruchtbare Felsen? Brauchen diese Felsen wirklich deinen Schutz?«
Der Krieger mit dem Messer zögerte, als unzufriedenes Gemurmel und spöttisches Gelächter von den anderen Kriegern zu hören waren. Pralar stieß den Mann an, und er ließ sein Messer fallen. In den Augen des Häuptlingssohns standen Gefühle, aber ob es sich um Zorn oder etwas anderes handelte, konnte der Prediger nicht beurteilen. Gewalt lag in der Luft. Die Krieger begannen einander anzustoßen, und einige drängten vorwärts. Jemand stürzte fluchend zu Boden.
Mit einem Brüllen drängte Häuptling Schwarzschwinge sich nach vorn. »Möge Wandar uns führen!«, schrie er inmitten der Menge, reckte die Arme und breitete die bunte Unterseite seines Flügelumhangs weit aus. »Wir beten dich an, heiliger Wandar!« Die Hälfte der Krieger im Saal fiel auf die Knie, während die, die stehen blieben, sich unsicher umsahen. »Wir sind nicht stolz, wenn wir vor dir stehen oder knien.« Die Stimme des Häuptlings hallte unter der hohen Decke wider. Die Hälfte derer, die noch standen, senkte jetzt die Köpfe und begann stumm zu beten. Die Übrigen sahen zu Slavin oder Pralar hinüber, aber es war unverkennbar, dass der Häuptling den Schwung des Augenblicks an sich gerissen hatte. »Wir sind nicht stolz, wenn wir darum beten, deiner Weisheit teilhaftig zu werden. Wir werden einen Tag und eine Nacht lang den Höhenwinden lauschen, bevor wir in deinem Namen eine Klinge erheben!«
Häuptling Schwarzschwinge starrte Slavin direkt an, während er sprach, und nickte ihm vielsagend zu, bis der weißhaarige Krieger schließlich aufgab und resigniert nickte.
»Es ist gut, dass wir jetzt seine göttliche Weisheit zu ergründen suchen. Wir haben sicher gerade den ersten Teil seiner Prüfung bestanden und sind für gut befunden worden. Führt den Flachländer an den Ort der hohen Meditation, denn er wird den Tag und die Nacht dort verbringen, sodass auch er auf die Probe gestellt wird. Ihr beiden, bringt ihn dorthin. Sofort!«
Zwei drahtige Krieger packten den Prediger unter den Achseln und zerrten ihn auf die Beine. Sie schleiften ihn aus dem Raum, schüttelten oder schlugen ihn, wann immer er eine Frage zu stellen versuchte, und führten ihn einen rutschigen Schotterpfad empor. An der Kante einer vorspringenden Klippe lag ein kleines Steinhäuschen. Sie führten ihn hinein und banden ihm einen Strick um die Taille.
»Da runter!«, befahl einer von ihnen knapp.
»Mögen die Erlöser mich behüten, was für ein unheiliger Ort ist dies! Ein heidnischer Abort! Es ist der Gestank des Chaos selbst!«
»Beweg dich, Flachländer«, hustete der andere und ließ ein Stück seines Messers aufblitzen. »Durch das Loch!«
Der Prediger trat auf das Loch im Boden zu, durch das die Heiden des oberen Dorfs ihren Unrat entsorgten. Der steile Abgrund darunter sorgte dafür, dass sich ihm der Magen umdrehte, und er versuchte zurückzuweichen, aber die heidnischen Teufel standen direkt hinter ihm, stießen ihn nach vorn und schoben ihn ins Loch hinab. Er schrie immer weiter, bis seine Lunge aufgab. Dann wurde er hinuntergelassen, während der Wind ihn beutelte und drehte. Er war in tausend Fuß Höhe! Tränen des Entsetzens gefroren auf seinen Wangen.
Seine Füße berührten eine Felssäule, die mehrere hundert Fuß aus dem Berghang aufragte und etwa ein Dutzend Fuß unter der überhängenden Klippe und dem Abort endete. Die Säule hatte eine recht flache Oberseite von ungefähr vier Fuß Durchmesser, und darauf wurde der Prediger abgestellt. Der Strick fiel herab und peitschte ihm dabei auf den Kopf und die linke Schulter. Er konnte ihn gerade noch auffangen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
Er war im Nichts gestrandet. Der Wind zerrte an ihm, und er war überzeugt, dass er fallen würde. Er sah die Einzelheiten des Talgrunds auf sich zurasen. Der Himmel segelte an ihm vorbei. Sieh die Wolken nicht an! Sie bewegen sich und rauben dir das Gleichgewicht! Sieh nicht nach unten! Schließ die Augen. Nein, nicht! Die Säule schwankt im Wind.
»Heiliger Azual, beschütze mich! Herr, wo bist du? Hilf mir!«
Praxis, du musst es erdulden. Du musst durchhalten, antwortete eine Stimme von überall und nirgendwo, aber er wusste nicht, ob es der Heilige war oder ob nur sein eigener Verstand laut sprach.
Er schob sich die Füße unters Gesäß und dann noch weiter nach hinten, bis er sich nach vorn beugen und flach auf den Bauch legen konnte. Jetzt bot er wenigstens dem Wind weniger Angriffsfläche.
Flüssigkeit spritzte von oben auf ihn herab, und die beiden Heiden lachten gehässig.
»… bis Lisa dann den Fehler begangen hat, Jed schöne Augen zu machen. Wehret den Anfängen, hat sich deine Mutter gesagt, und deshalb war keiner von uns überrascht, als Lisa plötzlich einen hässlichen Hautausschlag im ganzen Gesicht und fürchterlichen Juckreiz an den unbehaglichsten Stellen entwickelte. Na, das wollte sich dann keiner der Männer aus Neu-Heiligtum genauer ansehen, um sich ja nicht anzustecken. Lisa begann zu schreien, dass deine Mutter eine Hexe wäre, und das hat die Ältesten sehr verstört, denn im Reich ist es eines, wenn eine Frau sich mit Kräutern und Heilmitteln auskennt, aber etwas ganz anderes, wenn sie mit Zaubern und Flüchen etwas heraufbeschwört. Nun, und als Nächstes verliert Lisa dann die Stimme, sodass sie sich nicht mehr beschweren kann, und deine Mutter sagt vor aller Ohren zu ihr: ›Und du wirst noch viel mehr als das verlieren, dreiste Lisa, wenn du dich nicht mitsamt deiner Bosheit in eine andere Stadt verziehst. Beim nächsten Mal überlegst du es dir besser gründlich, bevor du versuchst, die Augen und den Verstand eines guten Mannes wie dem meinen zu betören, verstanden? Jetzt fort mit dir, denn meine Geduld und die Nachsicht dieser Stadt sind vollends aufgebraucht.‹ Und die dreiste Lisa rannte zum Stadttor hinaus und ward nie mehr gesehen!«
So kam Thomas zum Schluss der Geschichte, während er das Pferd, das ihren Wagen zog, auf eine fast unsichtbare Nebenstraße lenkte. Aspin lachte und schlug sich auf die Schenkel. Die Erzählungen des Schmieds hatten den ganzen Nachmittag über ihren Zauber entfaltet und dem Bergkrieger geholfen, sich zu entspannen und seine Schmerzen zu vergessen. Er war mittlerweile sehr von Thomas eingenommen.
Jillan blieb stumm. Zunächst war er von den Geschichten über seine Eltern in Neu-Heiligtum gefesselt gewesen, aber sein Unbehagen hatte sich mit jeder Anekdote gesteigert. Er konnte nicht genau benennen, woran es lag, aber irgendetwas an den Geschichten kam ihm einfach nicht richtig vor, so als ob Thomas schlecht von seinen Eltern sprach, ohne dass Jillan sich an einzelne dementsprechende Äußerungen hätte erinnern können. Während Aspin immer lauter vor Lachen gebrüllt hatte, hatte Jillan sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen.
Plötzlich hielt Thomas inne und sah sich mit zornblitzenden Augen um. »Jemand verfolgt uns.«
Aspin blickte sich ebenfalls um und tastete hinter sich nach seinem Bogen. »Woher weißt du das? Ich habe nichts gesehen oder gehört.«
»Es liegt an dem, was wir nicht gehört haben. Ich kenne diesen Wald. Er ist zu still. Irgendein Jäger ist da draußen. Ich kann ihn aber abhängen«, erklärte Thomas und schnalzte mit den Zügeln.
»Wie um alles in der Welt sollen wir ihn denn abhängen?«, fragte Aspin.
»Meine Leute kennen die verborgenen Wege durch die Wälder. Es gibt Straßen, die jedermann sehen kann, aber auch andere Pfade und Wildwechsel, denn sonst hätten der Heilige und seine Helden unseren Weiler schon längst gefunden.«
»Ist es Magie?«, fragte Aspin mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ja und nein. Es hat damit zu tun, dass alle Lebensenergie irgendwie miteinander verbunden ist, aber unser Zauberer, Bion, kann das besser erklären als ich. Häng dennoch die Bogensehne ein, Krieger.«
Aspin arbeitete schnell und hatte bereits einen Pfeil angelegt und die Waffe erhoben, bevor Jillan auch nur begonnen hatte, sich zu fragen, ob er das Gleiche tun sollte. Er beobachtete alles wie im Traum, als wäre er losgelöst von allem. Soweit er es einschätzen konnte, deutete nichts auf eine Gefahr hin.
Ein großer Schatten verstellte ihnen den Weg. Der Schmied fluchte heftig, ließ die Zügel fallen und von nirgendwo scharfe, glänzende Klingen hervorschnellen. »Erschieß ihn, Krieger!«
Aspin hob den Bogen.
Jillan blinzelte. »Nein, Aspin, tu’s nicht.«
Der Bergkrieger zögerte, blinzelte selbst und schüttelte halb den Kopf.
»Erschieß ihn!«, befahl Thomas heiser.
»Nein! Er ist mein Freund! Du wirst nicht schießen, Aspin. Alles ist gut.«
Ein großer schwarzer Wolf saß ihnen im Weg und beobachtete sie aufmerksam aus orangefarbenen Augen. Das Pferd bäumte sich auf und scheute, und Thomas musste nach den Zügeln tasten, die ihm entglitten waren. »Ho! Ho! Verdammt.«
Ein Waldläufer trat zwischen den Bäumen hervor und lächelte sie entschuldigend an. Er hatte die leeren Hände seitwärts ausgestreckt. »Es tut mir leid, wenn mein Freund euch erschreckt hat. Er wusste nicht, wie er sich sonst einführen sollte, versteht ihr?«
»Ash!« Jillan grinste.
»Hallo, Jillan. Das ist aber eine Überraschung, dich hier zu treffen.«
»Es ist kein Zufall«, sagte Thomas mit düsterer Miene, woraufhin der Wolf leise knurrte und das Pferd die Augen rollte und vor Angst wieherte. »Niemand kann diesen Weg zufällig finden, ohne es darauf abgesehen zu haben. Du bist uns nachgeschlichen und sagst nicht die Wahrheit. Aspin, halt deinen Pfeil weiter auf die beiden gerichtet.«
Ash wiegte den Kopf hin und her. »Was soll ich sagen? Meinem Freund, dem Wolf, entgeht nicht viel. Er hat sich Sorgen um Jillan gemacht, und ich bin ihm einfach hierher gefolgt.«
»Aspin, es ist alles in Ordnung«, mischte Jillan sich ein.
Aspin schüttelte erneut den Kopf, als würde er von unsichtbaren surrenden Insekten umschwirrt. »Diesem Mann kann man nicht vertrauen. Er ist … widersprüchlich. Ich kann lesen, dass er dich eines Tages verraten wird.«
Ashs Lächeln verblasste.
Schließlich hat er mich schon einmal verraten. Aber wie kann Aspin wissen, dass Ash mich noch einmal verraten wird? Die Zukunft ist doch sicher nicht vorherbestimmt, oder? Wenn doch, dann befürchte ich, dass alles so geschehen wird, wie es im Buch der Erlöser steht. Sind wir alle dem Untergang geweiht? Ich, meine Eltern, Samnir, die liebe Hella, Aspin selbst? Sollte ich einfach aufgeben?
Jillan, vergiss dich nicht, seufzte der Makel. Ash mag dich ja schon einmal verraten haben, aber er hatte keine Wahl. Das weißt du. Es könnte auf die gleiche Art noch einmal geschehen. Na und? Wer bist du, ein Urteil über einen Verrat zu fällen, wenn du doch deine Stadt, das Reich und alle, die dich je geliebt haben, verraten hast? Es gibt aber eine Person, die du noch nicht verraten hast, oder? Dich selbst, Jillan! Wenn du dich selbst verrätst, dann ist wirklich alles vorbei, aber zumindest würde ich dir dann nicht mehr alle fünf Sekunden das Offensichtliche vor Augen führen müssen. Sieh mal, lass Ash doch mitkommen, und sei es auch nur zu dem Zweck, dem Schmied da eins auf die Nase zu geben. Und wer hätte nicht gern einen großen schwarzen Wolf an seiner Seite? Das Geschöpf würde doch sogar den verrückten Heiligen zurückscheuen lassen!
»Aspin, ist es Ashs Absicht, mich zu verraten?«
Guter Junge! Endlich hört er einmal auf mich.
»Nein, vermutlich nicht.«
»Dann kommt er mit. Ich nehme doch an, das ist es, was du willst, Ash?«
»Das macht mehr Spaß, als allein in der Hütte zurückzubleiben oder im Gefängnis, wie du es nennst. Der Wolf langweilt sich mittlerweile dabei, nur immer Eichhörnchenspieße am Feuer zu fressen, und ich kann seine gallige Laune nicht ausstehen. Du weißt doch, wie er dann ist.«
»Nein!«, sagte Thomas entschieden. »Ich gehe das Risiko nicht ein, ihn in den Weiler mitzunehmen. Die Entscheidung steht dir nicht zu, Jillan. Der Heilige wird alles erfahren.«
»Ash ist unrein, Thomas. Er ist nie zu den Erlösern gezogen worden. Der Heilige wird nichts erfahren. Entweder kommen Ash und der Wolf mit, oder Aspin und ich gehen jetzt.«
Die Stirn des Schmieds wurde zu einem Amboss, aber er hatte keine andere Wahl, als zuzustimmen. Er bedeutete Ash wütend, auf die Ladefläche des Wagens zu steigen, und trieb das tänzelnde Pferd dann mit einem Zügelschlag an. Der Wolf war bereits verschwunden.
In der Dunkelheit hielt Prediger Praxis sich stöhnend an der Spitze der Säule fest. Seine Finger waren so betäubt, dass er nichts mehr spürte. Er hätte ebenso gut die Luft umklammern und durch den ewigen Abgrund taumeln können. Seine Zähne klapperten ein Gebet zu allem, was ihn möglicherweise hören konnte. Er wusste kaum noch seinen eigenen Namen.
Etwas traf ihn am Rücken, und er schrie auf, als wäre er gekreuzigt worden.
»Psst! Schnapp dir den Strick, Flachländer. Leg dir die Schlinge um.«
Ganz langsam löste Praxis seinen Klammergriff und zog Ellbogen und Knie an. Er wusste nicht, ob sein Körper noch die Kraft hatte, auch nur sein eigenes Gewicht zu tragen. Sein Körper war eine tote Last für ihn. Stieg er hoch oder stürzte er? Er reiste mit dem Wind. Endlich frei! Aber dann verhedderte er sich im Strick. Er schlug danach, aber das Seil zog sich enger um ihn zu und riss ihn zurück in die Welt der Fährnisse und des Leids. Er saß in der Falle.
»Nein!«
»Was tust du nur, Flachländer? Hast du den Verstand verloren? Sei still, verflucht sollst du sein!«, rief die Stimme. »Pass auf deinen Kopf auf!«
»Aua!«
»Ich habe dich gewarnt. Und nun hoch mit dir. Es ist doch, als würde man neu geboren, nicht wahr? Das Loch ist eine Art Möse, wie man sagt. Die Fotze der Götter! So, hier. Trink das!«, dröhnte die Stimme mitten in sein Gesicht.
Ein Becher wurde ihm grob in die Hände gedrückt. Der Inhalt war warm, roch aber abscheulich, nach Ziegen oder etwas ähnlich Unreinem.
»Ich … kann nicht.«
»Dann hast du völlig den Verstand verloren, und ich kann dich genauso gut gleich zu Tode stürzen. Es ist fermentierte Ziegenmilch. Sie wird dich wieder auf die Beine bringen. Du bist doch nur Haut und Knochen. Ich hatte keine Schwierigkeiten, dich ganz allein heraufzuziehen. Isst du nichts? Trink sie, sonst stopfe ich dich zurück ins Loch, und du landest zerschmettert am Fuß des Berges. Dann bekommst du deine Rache nie, nicht wahr?«
Praxis, du musst durchhalten.
Der Prediger nippte versuchsweise an dem üblen Gebräu. Er blinzelte und sah seinen Retter schließlich an. »Du bist der Häuptlingssohn«, sagte er langsam und betrachtete das bullige Gesicht des Schlägers und seine kräftigen jungen Schultern.
»Erzähl mir von dieser Rache, die du planst«, drängte Pralar. »Und trink!«
Mehrere kleine Schlucke. »Ich … ich werde dafür sorgen, dass sie für das, was sie mir angetan haben, sterben. Allesamt, bis auf den letzten Mann!«
»Ja!«, sagte Pralar eifrig. »Aber mein Vater ist ein Feigling. Er wird nicht kämpfen. Er gereicht mir und allen Kriegern des oberen Dorfs zur Schande. Wie kann er behaupten, Wandar von den Wütenden Winden treu ergeben zu sein, wenn er keinen Krieg will? Sogar du, ein bloßer Flachländer, scheinst mehr Mut zu haben als er. Und doch weigert er sich abzutreten und einen wahren Mann das Volk führen zu lassen. Er lässt sich einfach nicht überreden.«
Diesmal nahm Praxis einen größeren Schluck. Er fühlte sich schon ein wenig besser. Durchhalten! »Ich verstehe, ich verstehe. Dann muss er … entfernt werden, zum Wohle aller, damit der Wille eurer Götter getan werden kann. Wenn ihr nicht tut, was die Götter wollen, dann werden sie sich gegen euch wenden und euer Volk vernichten. Siehst du nicht, dass Häuptling Schwarzschwinge entfernt werden muss, wenn du dein Volk und die Götter liebst? Wenn du den guten Namen deines Vaters liebst und hoffst, einst sein Gedächtnis ehren zu können, dann muss er aus dem Weg geschafft werden, bevor er sich selbst morgen vor all euren Kriegern Schande machen kann.«
»Ja, ja! Es muss heute Nacht geschehen. Du wirst es tun, Flachländer.«
Ein großer Schluck Flüssigkeit, die zu heiß war. »Ich?«
»Ja. Sonst habe ich keine Verwendung mehr für dich, und du kannst wieder durchs Loch hinuntersteigen.«
Seht doch, wie verderbt und hinterlistig diese Heiden sind. Nicht auszudenken, dass ein Sohn die Ermordung seines eigenen Vaters gutheißen könnte! Aber wie bezeichnend, dass dem Sohn der Mut und die Überzeugung fehlen, die Tat selbst zu begehen. Allerdings: Was war das Leben eines Heiden ihm schon wert? Weniger als nichts. Jeder Heide, der lebte, war eine Lästerung der Erlöser. Jeder Heide, der starb, bedeutete eine Schwächung des Chaos. Es würde kein Mord sein. Es würde eine Erlösung sein. »Wie soll es geschehen?«
»Mein Vater steigt jeden Morgen zum Gipfel empor, um Sturm, Sonne und Regen zu begrüßen und zuzusehen, wie die Welt neu geboren wird. In letzter Zeit trinkt er die ganze Nacht hindurch, bevor er hinaufklettert. Ich bete, dass er niemals abrutscht, aber wenn es der Wille der Götter sein sollte, dann sei es so, denn ich bin stets ihr treu ergebener Sohn.«
»Es wird geschehen.«
»Dann werde ich ihn jetzt ein letztes Mal aufsuchen und auf ihn trinken.« Pralar lachte.
Befriedigt beobachtete der Älteste Thraal im Wachtraum, wie die ordnenden Intellekte der Regionen intrigierten und einander bekämpften. Er hatte immer gewusst, dass D’Selle aus dem Westen und D’Zel aus dem Norden die Absicht hatten, ihn herauszufordern und selbst Älteste zu werden. Genau das war der Grund dafür, dass er den Rat überredet hatte, seiner Entscheidung zuzustimmen, die so junge und unerfahrene D’Shaa in den Rang eines ordnenden Intellekts zu erheben. Ganz wie Thraal es vorhergesehen hatte, war der ehrgeizige D’Selle unfähig gewesen, der Versuchung zu widerstehen, D’Shaa anzugreifen. Thraal hatte D’Selles Bestrafung für sein Versagen aufgeschoben, um D’Zel mit in den Konflikt hineinzuziehen. Da nun beide dergestalt abgelenkt waren, fehlten ihnen der Handlungsspielraum und die nötigen Hilfsmittel, um gegen Thraal Ränke zu schmieden.
Alles war genauso verlaufen, wie er es geplant hatte, und das hatte er im Voraus gewusst. Seine indirekte, aber absichtliche Destabilisierung der südlichen Region hatte mittlerweile auch schon den Erfolg, die Heiden und das Geas aus der Reserve zu locken. Wenn er das Geas im Namen der Deklination in Besitz nehmen konnte, dann würde aller Ruhm ihm gebühren, und nicht etwa dem Großen Erlöser. Gewiss würde die Deklination dann in Erwägung ziehen, ihn an die Stelle des Großen Erlösers dieser Welt treten zu lassen.
Der Älteste Thraal beglückwünschte sich dazu, schon vor Jahrtausenden so überaus vorausschauend gewesen zu sein, sich selbst als Wächter der Ältesten vorzuschlagen, als seinesgleichen in dieser Welt eingetroffen war. In seiner Rolle war er oft wach, stand in regelmäßigem engem Kontakt mit den ordnenden Intellekten und war in der Lage, sie und die Vorgänge in ihren Regionen direkt zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu lagen die anderen Ältesten und der Große Erlöser selbst so gut wie immer im Schlaf und übten nur indirekten Einfluss auf die Geschehnisse in diesem Reich aus, während sie sich mit ihresgleichen und dem Kosmos jenseits dieser Welt austauschten. Zwar alterte er infolgedessen auch schneller, aber den endgültigen Sieg würde doch er allein erringen.
Häuptling Schwarzschwinge stand am Rande der Ewigkeit und breitete die Arme weit aus, um die aufgehende Sonne willkommen zu heißen. Wie sie ihm in den Augen brannte! Das war der Preis dafür, das göttliche Licht zu betrachten. Der Wind betäubte sein Gesicht, und er ließ seinen Umhang zu Boden fallen, so dass er bis auf seine Edelsteinkette nackt war. Wenn er so stehen blieb, bis die Sonne ganz aufgegangen war, würde er erfrieren. Das war der Preis dafür, von der göttlichen Luft umfangen zu werden. Blut sickerte zwischen seinen Zehen hervor. Die scharfen Steine des Berggipfels hatten ihm die entblößten Fußsohlen aufgeschnitten, als er seinen Pilgergang in der Morgendämmerung unternommen hatte. Das war der Preis dafür, über göttlichen Boden zu schreiten. Die Wolken rings um den Gipfel machten seine Haut und die Felsen feucht. Wenn er nicht vorsichtig war, würde er abgleiten und sich den Kopf aufschlagen. Das war der Preis dafür, am Leben spendenden göttlichen Wasser teilzuhaben. Der Tod war der Preis, den ein Sterblicher dafür zahlte, sich dem Göttlichen zu sehr zu nähern. Doch kein Sterblicher konnte ohne das Göttliche bestehen oder sich seinem Lockruf widersetzen. Deshalb kam der Tod immer, das wusste er. Deshalb konnte er sich auch so ruhig damit abfinden.
Er war vorbereitet. Er war bereit, als er den Tod hinter sich heraufsteigen hörte. Er hatte sich von seinem Sohn verabschiedet, einem Sohn, dessen Augen ihm gezeigt hatten, dass seine Zeit gekommen war. Häuptling Schwarzschwinge bedauerte das Leben, das er geführt hatte, nicht und auch nicht den Tod, den er sterben würde. Wie hätte er das auch tun können? Das alles war, was seine Krieger von ihm benötigten, und er hatte immer sein Bestes getan, ihnen zu geben, was sie brauchten. Er hoffte nur, dass sie es nicht einst ihrerseits bedauern würden.
»Habe Vertrauen, oh mein Volk, habe Vertrauen!«
Ein Stein rutschte hinter ihm ab, und Häuptling Schwarzschwinge drehte sich lächelnd um. »Du bringst meinem Volk den Tod, nicht wahr?«
»Ja, das tue ich«, antwortete Prediger Praxis und stieß den Heiden vom Gipfel.