Kapitel 13

UM UNS VOR DEM ZU RETTEN,
WAS SCHON GESCHEHEN IST

Der alte Heilige macht keine allzu gute Figur, was?«, bemerkte Ash trocken, während ihre Pferde den Hohlweg entlangtrotteten.

»Wahrscheinlich ist er froh, dass er blind ist und sich selbst nicht im Spiegel ansehen muss«, schnaubte Aspin.

»Mir kam es so vor, als könnte er ganz gut sehen«, sagte Ash.

»Ich glaube, er sieht mit den Augen anderer«, erklärte Thomas grimmig.

»Ich wette, das ist ganz schön seltsam für ihn. Sicher verwechselt er ständig rechts und links, und sich zu rasieren muss auch schwierig sein, besonders mit nur einer Hand«, sagte Ash nachdenklich. »Glaubst du, dass er sich auch von anderen beim Scheißen zusehen lassen muss, damit er nicht gezwungen ist, allzu sehr herumzutasten?«

Aspin unterdrückte ein Kichern. »Scheißen die Heiligen des Reichs also wie alle anderen?«

»Nun ja, davon gehe ich zumindest aus, weil Azual einst wie du oder ich war. Wenn Miserath hier wäre, könnten wir ihn fragen, ob Götter auch scheißen. Wohin ist er überhaupt verschwunden?«

»Er hat sich auf die Suche nach Freda gemacht«, antwortete Thomas und behielt die Straße vor ihnen im Blick, damit die Pferde nicht im schwachen Licht über eine freiliegende Wurzel stolperten. Das Letzte, was sie gebrauchen konnten, war ein lahmendes Reittier. »Er hat gesagt, er würde in Gottesgabe wieder zu uns stoßen.«

»Dorthin reisen wir also?«, fragte Aspin.

»Das nehme ich an.« Der Schmied nickte. »Wir müssen Hella und Samnir warnen, dass der Heilige es auf sie abgesehen hat. Danach machen wir, dass wir wegkommen, so schnell wir können.«

»Ich war noch nie in Gottesgabe«, sagte Ash und rieb sich das Kinn. »Was ist mit dir, Schmied? Habe ich nicht gerüchteweise gehört, dass in Gottesgabe das eine oder andere gute Bier gebraut wird?«

Wie konnten sie nur? Nach allem, was geschehen war! So viele waren gestorben und alle seinetwegen.

Sie sind erleichtert, noch am Leben zu sein, Jillan, das ist alles. Deswegen sind sie albern. Wäre es dir lieber, wenn sie ewig in Grabesstille dahinreiten würden? Sie sind bereits einen ganzen Tag und eine Nacht unterwegs. Sie langweilen sich und sind müde. Aber sie sind auch traurig und wissen, dass sie, wenn sie sich nicht rasch wieder aufmuntern können, nicht mehr in der Lage sein werden, sich dem zu stellen, was vor ihnen liegt. Sonst würde die Verzweiflung sie übermannen, und sie würden sich absichtlich in Gefahr bringen. Dann müsstest du der Liste der Todesfälle noch weitere hinzufügen.

Nein, daran lag es nicht. Als er endlich aus seiner Betäubung erwacht war und festgestellt hatte, dass er hinter Thomas auf dieses Pferd gebunden war, war er in einer anderen Welt zu sich gekommen. Sie sah so aus wie die alte und roch und klang auch so, aber irgendetwas an ihr war leicht verändert. So war sie beispielsweise kälter, und die Umrisse waren schärfer, als ob alles irgendwie flach war und keine Tiefe mehr hatte. Die Farben waren auch nicht mehr so leuchtend, und wenn sie es doch waren, taten sie ihm in den Augen weh. Und die Leute, die er zu kennen geglaubt hatte, waren nicht mehr dieselben. Sie waren übersteigerte Versionen derer, die er gekannt hatte. Ash versuchte, witziger zu sein, Aspin war übertrieben gut gelaunt und Thomas war noch schroffer. Das waren nicht seine Freunde! Sie waren Gestaltwandler oder dergleichen, die versuchten, ihn aus seiner eigenen Welt und von denen, die ihm wichtig waren, wegzulocken.

»Ich muss sagen, dass deine Bogenschüsse mich beeindruckt haben, Aspin. Und dein Kampfstil. Er war fast wie eine Art Tanz«, sagte Ash zu dem Bergkrieger.

Aspin lächelte. »So kämpfen bei meinem Volk alle, im Gleichgewicht und mit fließenden Bewegungen, genau wie wir sie in der umgebenden Natur sehen, die vom Geas geschaffen ist. Jeder Einzelne, ob jung oder alt, kann das lernen, wenn er sich der Betrachtung und Anbetung der Götter weiht. Die ältesten von uns sind gewöhnlich die geschmeidigsten und tödlichsten. Es ist ein großes Kompliment, wenn jemand, der älter als man selbst ist, sich auch nur dazu herablässt, einen zu beachten. Je älter jemand ist, desto bedeutender ist er. Jeder Mann sucht eine ältere Frau und jede Frau einen älteren Mann.«

Ash runzelte die Stirn. »Wirklich? Unsere alten Leute sind gemeinhin gebrechlich, sitzen herum und klagen und furzen den lieben langen Tag. Aber vielleicht ist das kein Wunder, da ihre Götter doch auch gebrochen sind.«

Das ist es. Es war, wie der Doppelgänger von Ash gesagt hatte. In dieser Version der Welt war irgendetwas gebrochen. Etwas Wichtiges war vorüber oder tot. Eine gewisse Unschuld war verloren gegangen. Die Unschuld in ihnen war gestorben, und sie waren finstere und verformte Abbilder ihrer selbst geworden.

Genau, wie deine geliebten Eltern gestorben sind, Jillan. Genau wie etwas in dir gestorben ist. Das ist ein Teil des Erwachsenwerdens.

Er verschloss die Ohren vor dem Makel, der raunenden, tückischen Kraft, die all dies überhaupt erst verursacht hatte. Jetzt wurde ihm bewusst, dass der Makel wahrscheinlich schon sein Leben lang seinem Verstand anhaftete, seine Taten beeinflusst und den Ereignissen seinen Stempel aufgedrückt hatte, obwohl Jillan das selbst nicht so recht bemerkt hatte: Wann immer er daran gedacht hatte, in Prediger Praxis’ Unterricht verstörende Fragen zu stellen, wann immer er zornigen Gedanken über Haal und die anderen nachgehangen hatte, wann immer er Albträume gehabt hatte, wann immer er gegen die Art aufbegehrt hatte, wie die Dinge nun einmal waren … Der Makel hatte all das getan, all diese Leute getötet und ihn hierhergebracht. Warum? Warum?

Der Makel seufzte. Wenn das Reich fallen soll, dann müssen viele sterben. Aber fürchte dich nicht vor dem Tod. Sei tapfer, Jillan, wie deine Eltern es dir gesagt haben.

Wage es nicht, sie zu erwähnen! Ich lasse nicht zu, dass du sie für deine Lügen missbrauchst, wie du alle anderen benutzt. Denn ich kenne deine Schliche und weiß, wer du bist und was du willst. Du bist der Tod! Du versuchst, alles und jeden zu vernichten. Du willst, dass das Reich und die Heiden gleichermaßen fallen. Das werde ich aber nicht zulassen, hörst du? Ich will, dass das Morden ein Ende hat! Es muss enden.

Vor seinem inneren Auge sah er wieder seine Eltern, von Feinden umzingelt. Seinetwegen hatten sie entsetzliche Verbrechen begangen und waren zu Ketzern geworden. Für ihn hatten sie sich selbst verdammt. Seinetwegen hatte seine Mutter ihrem Leben ein Ende gesetzt, seinetwegen hatte sein Vater sein Fleisch den Schwertern des Reichs in den Weg gestellt.

Warum ich? Ich wollte nicht, dass sie für mich sterben! Ich wollte den Fluch dieser Magie nicht. Ich werde sie nie wieder einsetzen, um zu töten, schwor sich Jillan.

Magie ist eine Sache des Willens, Jillan. Bevor er zu den Erlösern gezogen wird, kann jeder Magie aus sich und aus dem Geas ziehen, wenn er nur den Willen dazu hat. Dieser Wille muss eine Veränderung der Gegebenheiten anstreben und tapfer genug sein, etwas gegen die alteingesessenen Machthaber in seiner Gemeinschaft zu unternehmen. Nur sehr wenige wagen es, in solch jugendlichem Alter etwas zu unternehmen, denn von dem Augenblick an, in dem man zur Welt kommt, werden einem Verhaltensweisen, Gedanken, Glaubensinhalte und Lehrsätze von anderen eingegeben, die einen zu besitzen wünschen. Man wird von angeblich wohlmeinenden Eltern getadelt und bestraft, die selbst so behandelt worden sind, als sie noch jung waren; man wird von ebenso ängstlichen wie furchteinflößenden Predigern unterrichtet und gezüchtigt, und dann wird man ausgesaugt. Es wird einem selbst das Lebensnotwendige vorenthalten, wenn man sich nicht dem Dasein voller Mühsal und Selbstaufopferung widmet, das der Heilige und die Erlöser von einem fordern. Magie ist kein Fluch, der dir auferlegt worden ist, Jillan, sondern sie ist das, was du von dir und vom Geas willst und was du, ausgehend von dem, was du glaubst, zu tun bereit bist.

Nein! Du bist das hinterlistige, verderbliche Chaos. Meine Magie hat nur unzähligen Menschen den Tod gebracht. Es ist so, wie man es mir immer beigebracht hat: Du willst einfach nur das Reich zerstören, um das Volk für dich beanspruchen zu können. Du bist genau wie das Reich bestrebt, das Volk zu besitzen, doch während das Reich einem dafür wenigstens Nahrung, Leben und Gemeinschaft bietet, bringst du nur den Tod. Ich werde nicht mehr für dich töten!

Jillan, der Verstand erinnert sich immer schneller an das Schlechte als an das Gute. Deine Magie hat nicht nur den Tod gebracht. Sie hat Thomas von der Pest geheilt, weißt du noch? Sie hat Aspin vor dem Heiligen gerettet. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre er jetzt tot. Ash wäre sicher gestorben oder hätte für immer allein gelebt, wenn du nicht gewesen wärst. Genau wie deine Magie ein Teil von dir ist, bin ich es auch. Wir sind eins, Jillan. Ich bin kein mystischer Makel und auch nicht die Stimme deines Wahnsinns, sondern einfach dein wissenderes Selbst. Du kannst mich die Stimme deiner Magie nennen, wenn du möchtest, aber du und ich sind eins. Also war ich natürlich schon immer hier in deinem Verstand. Wo sollte ich auch sonst sein?

Instinktiv wusste er, dass der Makel ihm nicht alles sagte, sondern Einzelheiten ausließ, die er ihm nicht verraten wollte, und so immer noch versuchte, ihn zu lenken und zu belügen. Wie konnte er ein Teil von ihm sein, wenn er ihm schon mehrfach Dinge gesagt hatte, die Jillan eigentlich nicht hätte wissen können? Ja, Jillans Magie hatte Thomas geheilt, aber das war eher ein Unfall als sonst irgendetwas gewesen. Und wer konnte schon sagen, ob Ash und Aspin es nicht ohne Jillan besser getroffen hätten, da sie immer noch nicht von dem Heiligen befreit waren und höchstwahrscheinlich doch noch sterben würden? In der Hinsicht wären sie besser beraten gewesen, nicht bei ihm zu bleiben. Er entschloss sich zu versuchen, sie davon zu überzeugen, Gottesgabe zu verlassen, bevor der Heilige eintraf. Doch der Makel wollte ihn einfach nicht in Ruhe lassen und machte ihn mit seinen verwirrenden Worten und Eindrücken langsam verrückt. Es war schon so weit gekommen, dass Jillan seinem eigenen Verstand, seinen Gedanken und seinen Instinkten nicht mehr vertrauen konnte. Deshalb würde er den Makel von jetzt an belügen und Miserath, wenn er ihn das nächste Mal traf, fragen, wie er ihn dauerhaft ausblenden konnte.

»Und wer ist der Älteste bei deinem Volk?«, fragte Ash.

»Oh, das muss unser heiliger Mann sein, Torpeth. Er ist so alt wie unser Volk oder, wie manche behaupten, gar so alt wie die Berge, aber er ist verrückt.«

»Wer ist das heutzutage nicht?«, überlegte Thomas laut. »Man muss nicht alt sein, um verrückt zu sein, doch wenn man alt ist, wird es einem leichter verziehen. Ich meine … seht euch doch an! Die Millionen von Menschen im Reich würden sagen, dass ihr verrückt sein müsst, euch gegen sie zu wenden. Was genau hat euch nur auf den Gedanken gebracht, dass das ein guter Einfall sein könnte, hm?«

»Nun, wenn du es so ausdrückst, hast du vielleicht recht.« Ash zuckte fröhlich mit den Schultern.

»Es ist wohl eine Frage des Blickwinkels«, räumte Aspin schuldbewusst ein.

»Aber wenn du von Torpeth dem Großen sprichst«, fügte Thomas hinzu, »dann ist er wirklich verrückt. Schlimmer noch, er ist gefährlich. Betet, dass wir ihm nie begegnen.«

»Willkommen in Gottesgabe«, rief Torpeth liebenswürdig zu Aspin, Ash, Thomas und Jillan hinunter. »Was hat dich so lange aufgehalten, Aspin Langbein, hm?«

»Halt den Mund, du Narr«, blaffte Prediger Praxis und versuchte, seinem Diener eine Kopfnuss zu versetzen. Torpeth duckte sich jedoch in eine Verneigung und entging so dem Schlag.

»Seid still, alle beide!« Häuptling Pralar stieß sie beiseite, um an die Zinnen zu treten und von der Mauer auf die unten Stehenden hinabzublicken. »Ha! Langbein! Wie ich sehe, stößt du erst zu uns, nachdem alle Kämpfe vorüber sind.«

»Pralar. Wo ist Häuptling Schwarzschwinge? Ich bringe schlimme Neuigkeiten: Uns stehen weitere Kämpfe bevor. Der Heilige dieser Region zieht mit einer Armee seiner Helden gegen uns.«

Von den Kriegern, die beiderseits des Nordtors auf der Mauer aufgereiht standen, ertönte unbehagliches Gemurmel. Ein paar spuckten verächtlich aus.

»Du wirst ihn von nun an Häuptling Pralar‹ nennen, Aspin, mein Sohn«, sagte Slavin Schneehaar streng, während es ihm irgendwie gelang, eine Lücke zwischen dem Prediger und Pralar zu schaffen und sich hineinzudrängen.

Pralar warf sich in die Brust und zog sich die Bergedelsteinkette zurecht, die seine neue Stellung anzeigte. »Ha! Ich finde, das sind keine schlimmen Neuigkeiten. Wandars Krieger haben die sogenannten Helden des Reichs schon in einer glorreichen Schlacht besiegt. Sie frohlocken über die Aussicht, noch mehr von ihnen im Namen der Götter in die Knie zu zwingen.«

»Sogar, wenn diese Helden nicht so kränklich wie die anderen sind!«, rief Torpeth, während die Krieger die Worte ihres Häuptlings bejubelten.

Aspin bedeutete seinen Begleitern abzusteigen. Thomas sprang vom Pferd und half dann Jillan. Aspin verneigte sich tief und rief: »Sei mir gegrüßt, Häuptling Pralar! Wir bitten um Einlass und Unterkunft, so dass wir dir noch mehr gute Neuigkeiten mitteilen und auf deine weise Führung unseres Volks und den glorreichen Sieg, den du bereits für uns erfochten hast, trinken können.«

»Ich bin geneigt, sie einzulassen, und bin mir sicher, dass ich von dir keinen Widerspruch hören werde«, murmelte Pralar an Slavin gewandt. »Außerdem wäre es nur vernünftig, von ihnen mehr über unseren Feind in Erfahrung zu bringen. Aber was sagst du, Flachländer?«

Prediger Praxis stieß ein würgendes Geräusch aus, und die Augen traten ihm hervor, während er auf Jillan hinabstarrte.

»Ich glaube, das ist ein Ja‹«, schlug Torpeth vor.

»Dann sei es so!«, befahl Pralar so laut, dass seine Stimme vom Tor und von den Mauern widerhallte.

Ein oder zwei Augenblicke lang herrschte verlegenes Schweigen. Die Leute traten von einem Fuß auf den anderen.

Slavin seufzte und winkte zwei der Krieger heran, die in der Nähe standen. »Seid so gut und steigt hinunter, um das Tor zu öffnen. Dann können wir alle ins Warme gehen.«

Pralar runzelte die Stirn. »Wo sind unsere anderen Krieger?«

»Einige sind auf der Jagd, Häuptling Pralar, die Übrigen im Wirtshaus.« Es gelang Slavin, die Aussage zu treffen, ohne seine eigene Meinung über diesen Sachverhalt offenkundig werden zu lassen.

»Ich dachte, die Getränke wären alle aufgebraucht gewesen, nachdem wir den Göttern ein Trankopfer zur Feier unseres Sieges über die Schwächlinge aus dem Flachland dargebracht hatten?«

»Anscheinend haben sie noch einen Keller gefunden.«

»Was? Und das hat mir keiner gesagt?« Pralar schnaubte wie ein Stier. »Das … das ist …«

»Völlig respektlos?«, schlug Torpeth vor.

»Ja, verdammt! Respektlos! Wissen sie denn nicht, wer hier der Häuptling ist? Ich bin der Günstling der Götter. Dafür lasse ich ihnen die Schädel einschlagen.«

»Eingeschlagene Schädel im Namen der Götter.« Torpeth nickte weise.

»Ja!«

»Die Götter werden sicher sehr dankbar sein.«

Pralar senkte den Kopf, als hätte er Hörner und wollte zum Angriff übergehen. »Du solltest mich besser nicht verspotten, alter Mann. Flachländer, bring deinen Diener zur Vernunft, sonst lasse ich ihn vom Tor werfen.«

Der Prediger riss den Blick von den Neuankömmlingen los und blinzelte. Ihm war vieles von dem entgangen, was gerade vorgefallen war, aber er sah genug, um zu wissen, dass Torpeth den jungen Häuptling schon wieder geneckt hatte. Der Prediger streckte den langen Arm aus, packte den heiligen Mann am Ohr und drehte es brutal herum.

Torpeth hüpfte auf und ab. »He! Das kitzelt! Wenn du neidisch auf mein Ohr bist und so daran hängst, kannst du es gern haben, denn ich habe ja noch eines. Aber steh doch nicht mit großen Augen wie ein Kind vor diesem Schauspiel, mein guter Häuptling, sonst ist das Bier am Ende noch verschwunden, bevor du hinkommst. Ich höre deine Krieger rülpsen und kichern, dass du nicht in der Lage bist, so viel zu trinken wie sie.«

Slavin Schneehaar verdrehte stumm die Augen und hob den Blick gen Himmel.

»Ruhe, du vorwitziger Sklave!«, kreischte der Prediger und verdrehte Torpeth das Ohr noch grausamer. »Auf die Knie!«

»Pah!« Pralar winkte angeekelt ab und drängte sich an ihnen vorbei, um von der Mauer zu steigen. »Slavin, bring deinen Sohn und die anderen ins Wirtshaus. Das Gebäude wird von jetzt an mein Versammlungssaal.«

Jillan bemerkte, wie Prediger Praxis mit der Art von Empörung und Ekel auf ihn herabstarrte, die ihm auch früher stets anzusehen gewesen waren, wenn es Jillan im Unterricht nicht gelungen war, eine Frage korrekt zu beantworten, oder wenn er etwas getan hatte, das Praxis für blasphemisch hielt. Es war die gleiche Art von Empörung und Ekel, mit der der Prediger sie immer vor den finsteren und heimtückischen Gedanken des Chaos gewarnt und Jillan Schuldgefühle eingeflößt hatte. Denn der Makel gab ihm doch finstere, heimtückische Gedanken ein, nicht wahr, und war deshalb gewiss die Stimme des Chaos? Er fühlte sich schmutzig und sündhaft und ließ beschämt den Kopf hängen. Der Selbsthass übermannte ihn so heftig, dass er erbärmlich zitterte.

»Was ist mit ihm?«, fragte Aspin, aber Jillan hörte ihn kaum.

»Erschöpfung und Trauer. Ich glaube nicht, dass er geschlafen oder etwas gegessen hat, seit … Nun, ihr wisst schon. Er braucht Ruhe«, sagte Thomas.

Ein gertenschlanker, weißhaariger Krieger trat durchs Tor, um sie zu empfangen. Seine Haut war von dem langen Leben, das er zwischen den hohen Gipfeln verbracht hatte, kastanienfarben gebräunt. Sein Gesicht war von Falten durchzogen wie altes Leder, aber seine blauen Augen waren jung, und er bewegte sich so anmutig wie ein Mann, der halb so alt war wie er. Er strahlte eine Ausgeglichenheit aus, die davon zeugte, dass er entweder heilig oder ein tödlicher Krieger war, vielleicht sogar beides.

Aspin verneigte sich so tief, dass sein Kopf beinahe den Boden berührte, und Thomas und Ash hielten es ebenfalls für klug, die Köpfe zu neigen. Jillans Kinn ruhte ohnehin schon auf seiner Brust.

»Steh auf, mein Sohn. Ich bin froh, dich hier vor mir zu sehen.«

Aspin richtete sich stolz vor dem Ältesten auf. »Verehrter Vater, dies sind gute Männer, und ich bitte dich darum, sie zu beachten. Dies hier ist Thomas Eisenschuh, dessen Herz seine Brust ausfüllt und dessen Kraft die Berge erschüttert. Dies ist Ash aus den Wäldern, der ein Wesensverwandter der Wölfe ist und doch mit dem Wind lacht. Und das ist Jillan Jägersohn, der Bruder meines Herzens.«

Slavins blaue Augen musterten Thomas und Ash, bevor er sie jeweils mit einem sanften, anerkennenden Nicken bedachte. Dann richtete sich sein Blick auf Jillan und blieb eine ganze Weile auf ihm ruhen. »Dein Bruder ist übel zugerichtet. Die Reise muss ihn mitgenommen haben. Er ist vorerst von einer Audienz bei unserem jungen Häuptling entschuldigt.«

»Ich bringe ihn irgendwohin, wo er sich hinlegen kann«, bot Ash an.

Slavin neigte den Kopf. »Gut. Aspin und Thomas müssen sich sofort im Wirtshaus einfinden.«

»Im Wirtshaus?«, fragte Ash mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem seltsamen Schmatzen.

Slavin wandte sich ihm langsam wieder zu. »Anscheinend fühlt sich der junge Häuptling auf einem Thron aus Bierfässern am wohlsten.«

Wie betäubt folgte Jillan Ash durch die winterlichen Straßen von Gottesgabe. Wasser und Blut waren in den matschigen Karrenspuren gefroren, und die Gosse beiderseits der Straße war von Kot und Unrat verstopft. Eine Leiche lag mit aufgerissenen Augen und offenem Mund in einer der Rinnen und sah alles andere als menschlich aus. Sie war so aufgequollen und verfärbt, dass sie eher wie einer der seltsamen Fische wirkte, die man in den tiefen Waldteichen fand. Trotz der Kälte stank die Stadt nach Verwesung. Ash hielt sich mit dem Ärmel die Nase zu.

Sie kamen an der Veranda eines lang gestreckten Hauses vorbei. Ein alter Mann saß auf einem Schaukelstuhl am entgegengesetzten Ende und schien sie zu beobachten. Es war der alte Samuel. Jillan und die anderen Kinder von Gottesgabe hatten sich jeden Abend um ihn geschart, um seinen Erzählungen über die weite und wunderbare Welt jenseits der Stadtmauern zu lauschen. Der alte Mann hatte seine Pfeife geschmaucht und ihnen erzählt, dass sie, wenn sie nur schnell genug waren und aufmerksam hinsahen, kämpfende Drachen in den Rauchwolken erspähen würden. Er hatte behauptet, dass die Drachen nach oben stiegen, um mit den Wolken eins zu werden und dort zu wachsen, bis sie bereit waren, nach Osten zu fliegen und gegen die Barbaren zu kämpfen, oder sich dorthin zu wenden, wo andere Feinde des Reichs lauerten. Er hatte erzählt, dass die Regentropfen, die fielen, die Tränen wären, die alle Drachen vergossen, wenn einer der ihren bei der Verteidigung des Volks starb. Die Kinder waren darüber erschrocken oder traurig gewesen, aber Samuel hatte gelacht und ihnen versichert, dass es, solange Wolken am Himmel standen, immer auch Drachen geben würde, die über sie wachten, und dass das Reich bis in alle Ewigkeit sicher sein würde.

Heute hatten sich keine Kinder um den alten Samuel geschart, und er rauchte auch nicht seine Pfeife. Er hatte niemanden, der seinen Geschichten lauschte. Jillan war jenseits der Stadtmauern gewesen und hatte die weite, wunderbare Welt gesehen. Er wusste jetzt, dass die Geschichten des alten Samuel nur erfunden gewesen waren, um die Kinder zu unterhalten. Es gab nichts am Himmel, das weinte oder über sie wachte. Kinder waren nicht immer in Sicherheit, nur weil Wolken am Himmel standen. Wenn irgendjemand etwas anderes behauptete, dann war es eine Art Lüge und noch dazu eine gefährliche.

Denn der alte Samuel war tot. Er saß mit für immer schmerzverzerrtem Gesicht in seinem Schaukelstuhl. Seine Haut war mit purpurnen Flecken übersät, seine Wangen und sein Kinn mit schwarzen Rinnsalen aus getrocknetem Blut bedeckt.

»Es ist niemand hier«, flüsterte Ash, als ob er Angst davor hätte, die Toten zu stören. »Was meinst du, Aspins Leute haben doch wohl nicht alle umgebracht, oder?«

Jillan zuckte niedergeschlagen mit den Schultern und stapfte an ihm vorbei.

»Nein«, sagte Ash erleichtert. »Da drüben ist ein Kind. Siehst du es?«

Jillan erhaschte einen Blick auf etwas weit Entferntes, aber es war zu klein und flink, als dass man es genau hätte erkennen können.

»Und da drüben ist noch eines! Und dort! Sie verschwinden immer wieder, so als ob sie uns beobachten, sich dabei aber nicht erwischen lassen wollen. Sind die Leute hier in Gottesgabe so schüchtern?«

Diesmal sah Jillan zwei von ihnen klar und deutlich: Kinder, die etwas jünger waren als er. Er erkannte sie nicht. Woher kamen sie? Aber das spielte keine Rolle. Ihnen war es wahrscheinlich darum zu tun, den mörderischen Bergbewohnern und jedem, der pestkrank sein mochte, aus dem Weg zu gehen, und das umfasste mittlerweile wahrscheinlich so gut wie alle in Gottesgabe. Es war wohl das Beste, dass sie es so hielten, denn auf die Weise gab es zumindest eine geringe Hoffnung, dass ein oder zwei von ihnen lange genug überleben würden, um aus Gottesgabe zu fliehen und irgendeine Stelle im Wald zu finden, an der es genug Nahrung und Unterschlupf gab, um zu gewährleisten, dass sie dereinst zu freien Erwachsenen heranwuchsen. Sie taten gut daran, den Menschen aus dem Weg zu gehen, denn allzu oft brachten einem die Menschen den Tod. Und es gab keine Drachen am Himmel, die über einen wachten.

»In den Häusern sind wahrscheinlich Leute, aber sie liegen alle im Sterben«, sagte Jillan. »Es wird dort, wohin wir gehen, noch schlimmer sein, denn in der Südstadt wohnen vor allem Alte und Arme. Sie erkranken immer zuerst und sind selten stark genug, sich wieder zu erholen.«

»Äh … na gut. Sag mal, du siehst so aus, als ob du jetzt eigentlich ganz gut allein zurechtkommst, Jillan. Ich habe mir gedacht …«

»Natürlich, Ash. Wir sehen uns später. Geh zu den anderen ins Wirtshaus. Wenn du sie nicht überzeugen kannst zu fliehen, bevor der Heilige hierhergelangt, kannst du sie vielleicht wenigstens mit einem Lied unterhalten.«

Der Waldläufer trat von einem Fuß auf den anderen und zögerte, aber Jillan stapfte weiter.

»Ich bringe dir ein bisschen Brot und etwas zu trinken aus dem Wirtshaus mit«, rief der Waldläufer hoffnungsvoll.

Jillan nickte, ohne sich umzusehen, und lauschte, wie Ash erst langsam in die Gegenrichtung ging und dann losrannte. Er konnte es ihm nicht verdenken. Er hätte selbst gern dasselbe getan, um in einem warmen Wirtshaus zu sitzen und ein schäumendes Bier und Gesellschaft zu haben. Als Kind hatte er immer davon geträumt, später so zu leben. Jetzt, als Erwachsener, erkannte er, dass es etwas war, das die Menschen nur taten, um ihren Alltag zu vergessen. Kurze Augenblicke des Glücks und lange Augenblicke des Vergessens, die zusammengenommen eine Art Zufriedenheit und eine Möglichkeit ergaben, mit dem Leben zurechtzukommen. Es war nicht das Schlechteste. Allerdings war es eine Schande, dass solch bescheidene Freuden nicht imstande waren, Seuchen, Armeen, den Sturz von Göttern und das Vergessen aufzuhalten. Und was für eine Schande! Aber er konnte den Leuten keinen Vorwurf machen. Die Straßen und die Welt außerhalb des Wirtshauses waren finstere, furchterregende, schreckliche Orte. Welcher vernünftige Mensch wollte schon seinen gemütlichen Sitzplatz am warmen Feuer verlassen? Niemand, denn das Vergessen lauerte gleich hinter der Tür. Die gewaltige, hungrige Dunkelheit des Abgrunds harrte dort der Unschuldigen und Unaufmerksamen.

Was uns zu der Frage führt, was genau du hier eigentlich tust, Dummkopf. Gib acht! Es sind noch mehr von diesen Kindern unterwegs, und sie kreisen dich ein, treiben dich, glaube ich, vor sich her. Meinst du, dass sie sich vielleicht aus Nahrungsmangel dem Kannibalismus ergeben haben? Ich wette, sie haben scharfe, spitze kleine Zähnchen.

»Einer meiner Freunde ist hier draußen«, erklärte Jillan. »Ich muss ihn finden. Was für ein Freund wäre ich sonst?«

Äh … ein lebendiger Freund? Du wärst ein lebendiger Freund. Ich bin sicher, dass dein Freund dich nicht mehr zum Freund haben wollte, wenn du tot wärst. Außerdem findet er sich wahrscheinlich auch allein zurecht.

»Ich wäre sogar schon tot, wenn er nicht gewesen wäre, und die Schuld muss ich begleichen. Es ist immer ein Preis zu zahlen, Makel.«

Ein stummes Keuchen. Wo hast du den Ausdruck gehört?, fragte der Makel mit zitternder Stimme, floh aber, bevor Jillan sich entschied, ob er antworten sollte oder nicht.

Jillan trat auf den großen Versammlungsplatz im Zentrum von Gottesgabe und ging zum Sitzungshaus hinüber. Er hatte das Tappen kleiner Füße hinter sich und auf beiden Seiten gehört, aber es war schlagartig verstummt, als er die enge Gasse verlassen hatte. Auf dem weitläufigen Platz gab es keine Deckung, die seine Verfolger hätten nutzen können, und ihnen fehlte offenbar der Mut, ihn auf der Freifläche anzugreifen.

»Hallo, mein Freund«, sagte Jillan, als er auf den angeketteten, sabbernden Samnir hinabblickte. Der früher immer gründlich rasierte Soldat hatte jetzt einen ungepflegten grauen Bart, der ihn weit älter wirken ließ, als Jillan ihn in Erinnerung hatte. Doch Samnir sah nicht so hager oder schmutzig aus, wie Jillan befürchtet hatte. Hatte jemand ihn gefüttert und gewaschen? Es lag auch eine gute Wolldecke neben ihm, die der Grund dafür sein musste, dass er noch nicht erfroren war.

»Ich bin hier, um dir deine Klinge zurückzubringen, Samnir, denn ich habe sie gut genutzt und brauche sie nun nicht mehr. Lass mal überlegen … Was hast du gesagt, als du sie mir damals gegeben hast? Ach ja: Sie wird dir freiwillig geschenkt, deshalb kannst du über sie gebieten.«

Jillan nutzte das Schwert, um die Ketten seines Freundes zu durchtrennen, und legte es ihm dann auf den Schoß. Er holte tief Atem und rief die Magie zu sich. Als der Sturm um ihn zu wirbeln und tosen begann, stieg zur Antwort die Macht aus seinem Innersten auf. »Nicht, um zu töten!«, hauchte Jillan und ließ sanft Kraft in seinen Freund einsickern.

Nach ein paar langen Augenblicken war Samnirs Körper völlig damit durchtränkt, und Funken überschüssiger Energie tanzten in der Luft um seine Haut herum, aber die Augen des Soldaten blieben leer. Was stimmte nicht? Noch mehr Magie würde den alten Krieger töten. Die Beschwörung war so anstrengend, dass Jillan zu zittern und zu schwitzen begann. Wenn ihm nicht bald eine Lösung einfiel, würde er sie vielleicht beide umbringen.

Der Makel seufzte. Ich kann doch nicht zulassen, dass du dich wegen solch einer albernen Sache umbringst, nicht wahr? Das Problem ist sein Verstand, nicht sein Körper.

Verstand? Verstand! Der Heilige hatte Samnirs Verstand von seinem Körper getrennt. Hastig ließ Jillan die Macht durch alte Verbindungen strömen, rettete, erneuerte und heilte, was er nur konnte. Dann brach er ab und ließ sich keuchend zurücksinken. Er betete, dass er genug getan hatte.

Er sah Samnir in die toten grauen Augen. War das ein Aufblitzen oder nur eine Spiegelung des fallenden Schnees? Dann ein langsames Blinzeln. Ein Funke von Leben und Intelligenz.

»Gelobt seien die Erl… die Götter!«, hauchte Jillan.

»Jillan!«, stieß Samnir heiser hervor. »Sieh dir nur an, was du für Ärger angerichtet hast! Ich habe nicht übel Lust, dich übers Knie zu legen.«

»Samnir!«, schrie Jillan begeistert und umarmte den alten Soldaten.

»Uff! Pass doch auf. Entweder bist du stärker, als du aussiehst, oder ich bin schwächer, als ich es sein sollte. Ich bin völlig erfroren, und Hämorrhoiden habe ich auch noch.«

Jillan spürte heiße Tränen auf den Wangen, aber es waren gute Tränen, Tränen, die ihm einen Teil des Kummers und Entsetzens aus den Augen wuschen, Tränen, die ihm alles gnädig vor den Augen verschwimmen ließen, so dass die Welt etwas weniger schmutzig wirkte. »Und Hella?«, wagte er Samnir leise zu fragen.

Samnir nickte. »Was meinst du, wer mich am Leben erhalten hat? Igitt! Was stinkt denn hier so? Ich selbst! Komm, Jillan, mein Junge, bringen wir dich nach Hause und machen uns ein bisschen frisch. Wir sollten versuchen, vorzeigbar auszusehen, sonst lässt Hella uns gar nicht erst ins Haus, und dann kann ich mich nicht anständig bei ihr bedanken. Ich glaube, du musst mir aufhelfen. Ich bin steif wie ein P… äh… ein Brett. Sachte! Aua!«

Sie humpelten vom Versammlungsplatz zu Jillans altem Zuhause.

Unterwegs bemerkte Jillan, dass auf fast jede Tür im Südteil der Stadt ein großes weißes Kreuz, das Zeichen für die Pest, gemalt war. Die Türen und Fenster waren verrammelt, manche von außen. Es war niemand zu sehen, bis auf einen ausgemergelten Straßenköter, der etwas Rotes fraß und knurrte, als sie an ihm vorbeikamen.

»Wenigstens dringt noch Rauch aus dem einen oder anderen Schornstein«, sagte Samnir und hustete. »Sonst würde ich denken, dass wir über einen Friedhof gehen.«

»Zumindest haben die Heiden aus den Bergen sie in Ruhe gelassen.«

»Die Heiden fürchten sich zweifellos ebenfalls vor der Pest. Das hat wahrscheinlich einen Großteil der Vergewaltigungen, Plünderungen und Diebstähle verhindert, zu denen es sonst gekommen wäre.«

»Ich glaube nicht, dass Aspins Leute so sind.«

Samnir bedachte ihn mit einem matten Lächeln und zuckte die Achseln. Jillan bemerkte, dass sich der alte Soldat nun, da die Farbe wieder aus seinen Wangen wich, recht schwer auf ihn stützte und zu zittern begann.

»Wir haben es gleich geschafft. Da sind wir«, sagte Jillan, als sie sich unter die niedrigen, vorspringenden Dächer duckten und im Zickzack zwischen den alten Hütten, Regentonnen und Verschlägen nahe der Südmauer hindurchgingen. »Oh.«

Die Tür zu Jillans Haus hing verlassen von einer Angel und trug dort, wo die Helden, die gekommen waren, um seine Eltern festzunehmen, sie eingetreten hatten, sichtbare Narben. Schnee war ins Hausinnere geweht, und das Gebäude kam Jillan viel kleiner vor, als er es in Erinnerung hatte. Für eine oder zwei Sekunden war er überzeugt, dass sie sich im Gassenlabyrinth verlaufen hatten und zum falschen Haus gekommen waren. Die Oberseite seines Kopfes hatte nie so den Türsturz gestreift, und er hatte noch nie die Schulter leicht zur Seite wenden müssen, um sie sich nicht am Türrahmen zu stoßen. Und das da war doch sicher eine Spielzeugausgabe des großen, hölzernen Sessels seines Vaters? Nein, das hier war nicht sein Zuhause. Es war zu dunkel und beengt. Viel zu kalt, irgendwie kälter als draußen. Es war … zerbrochen. Er spürte einen Klumpen im Hals, und ihm wurde übel.

»Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wir bringen es binnen kürzester Zeit wieder in Ordnung, du wirst schon sehen. Schau mal, da drüben ist Holz gestapelt. Ich bekomme die Hütte schon warm. Geh du nach draußen und hol uns einen Eimer Wasser. Jillan! Komm, Junge, tu, was ich dir sage. Setz mich hier ab. Jetzt geh schon.«

Jillan blinzelte und stand dümmlich mit einem vollen Wassereimer vor Samnir. Er konnte sich nicht daran erinnern, nach draußen gegangen zu sein, um ihn zu holen, aber anscheinend hatte er es getan. Hatte er dazu eine Eisschicht durchbrechen müssen? Die Fingerknöchel einer seiner Hände wiesen brennende Schürfwunden auf.

»Füll den Kessel da, dann setzen wir ihn aufs Feuer. Aber gib mir erst einen Becher von dem kalten Zeug. Ich verdurste.« Samnir saß zusammengesunken auf dem Stuhl gleich neben dem Kamin; anscheinend hatte es ihm alles abverlangt, auch nur ein paar schwache Flammen zu entzünden.

Jillan tat wie geheißen und ging dann zu den Schränken, die größtenteils offen standen: Anscheinend waren ein paar seiner Nachbarn hier gewesen und hatten sich an den Wintervorräten seiner Mutter gütlich getan, bevor sie auch nur … Blind umschloss er mit den Händen ein paar trockene Brotkanten, die den Dieben entweder entgangen oder zu hart für ihre Zähne gewesen waren. Das Brot war von fahlem Schimmel bedeckt, aber es würde reichen müssen. Jillan tunkte die Stücke in Wasser, um sie aufzuweichen, spießte sie dann auf eine Röstgabel und lehnte sie neben den Kessel.

Er atmete, sah zu, wie das Brot dunkler und schließlich schwarz wurde. Es rauchte und knackte. Er sah es nicht mehr. Er ließ die Stirn an den warmen Ziegeln des Kamins ruhen und schloss einen Moment lang die Augen. Du weißt, was du zu tun hast, sagte er zu sich selbst.

Er schlug die Augen auf und zog das Brot aus dem Feuer, bevor es völlig verdorben war. Von Samnirs Platz drang leises Schnarchen zu ihm herüber. Jillan wollte ihn nicht stören, sondern legte das Brot auf die Ecke des Tisches, sodass es in Reichweite des Soldaten sein würde, wenn er erwachte.

Dann ging Jillan nach draußen und zog die Tür sanft hinter sich zu. Er ging zum nächsten Haus mit einem weißen Kreuz auf der Tür und rauchendem Schornstein. Er klopfte mehrfach und wartete.

Der Sonderbare saß mitten auf der Kreuzung und grübelte. Er war zu lange der Welt entrückt gewesen, das wusste er inzwischen. Die Zeit war genauso ein Ort wie die Eigenheiten der Landschaft und ihrer lächerlich kurzlebigen Bewohner. Es war ehrlich gesagt schier unvorstellbar, dass die Leute dieser Welt je irgendetwas erreichten. Wie gelang es ihnen auch nur zu überleben? Warum machten sie sich die Mühe? Vermutlich, weil sie es nicht anders kannten und weil die Andersweltler sie in seliger Unwissenheit hielten, was die Richtung anging, in die sich alles entwickelte. Wenn die Leute darüber Bescheid gewusst hätten, hätten sie sich lieber selbst das Leben genommen, statt die Alternative zu durchleiden. Und das wäre es dann gewesen: keine Menschen mehr, keine Welt, kein Geas. Die Andersweltler hätten sich einen Moment lang geärgert, aber danach hätte es ihnen freigestanden, in die nächste Welt und zum nächsten Geas weiterzuziehen und den Verlust sogleich zu vergessen. Denn der Verlust würde ihnen nichts bedeuten, solange nicht jede Welt, die sie aufsuchten, auf die gleiche Weise ihrem Leben ein Ende setzte und so dafür sorgte, dass die Andersweltler nie die Energie zurückgewinnen konnten, die sie dabei verbraucht hatten, sich durch die Reiche des Geas auszubreiten, sodass sie sich zu sehr strecken und ausdehnen mussten, bis ihr Dasein endete. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kam, war so gering, dass sie … nun, dass sie gar nicht vorhanden war, was wiederum seine Meinung bestätigte.

Er hatte sich aus der Welt zurückgezogen, weil er damit gerechnet hatte, dass die Andersweltler alles rasch in den Griff bekommen und hinter sich bringen würden. Aber die sture, eigensinnige Natur dieses Volks und des Geas hatte dafür gesorgt, dass sich alles lästigerweise in die Länge gezogen hatte. Die Welt schwebte weiter im Ungewissen, den Andersweltlern oder aber selbstmörderischer Vergessenheit anheimzufallen. Zu seiner großen Überraschung war beides noch nicht geschehen. Dann und wann neigte sich die Welt in eine Richtung, und es sah aus, als würde sie fallen, aber dann überrumpelte etwas Unerwartetes sie alle, und die Welt neigte sich zurück in die andere Richtung. Wie lange konnte sie so im Ungleichgewicht bleiben und dennoch überleben?

War es ein Zufall, dass die Welt noch immer überdauerte? Die Andersweltler glaubten natürlich nicht an den Zufall, nur an Komplexität. Der Sonderbare war diesbezüglich selbstverständlich nicht ihrer Meinung, denn war er nicht der Herr des Chaos? Für ihn gab es nichts Absolutes, obwohl er eingestehen musste, dass es viele Dinge gab, die so gut wie sicher waren, etwa die Art, wie die erschreckend hinterlistigen Andersweltler dafür gesorgt hatten, dass gewisse Eventualitäten unausweichlich wurden, oder die scheinbare Gewissheit, dass nichts auf dieser Welt gegen die kosmische Macht der Andersweltler bestehen oder ihre Absichten in eine andere Richtung lenken konnte. Und dennoch: So wie die Götter nicht allmächtig sein konnten, konnte es auch nichts Absolutes geben. So wie es Götter gab, gab es Sonnenmetall. So wie es Beherrschung, Ordnung und Zivilisation gab, gab es ihn selbst, den Sonderbaren.

Es war merkwürdig – nein, bezeichnend –, dass er wieder in die Angelegenheiten der Welt hineingezogen worden war. Er war anscheinend immer noch an diese Welt gebunden und gehörte zu ihrem Wesen. Entweder bedeutete das, dass nichts enden würde oder dass alle widerstreitenden Kräfte endlich aufeinanderprallen und die Angelegenheit ein für alle Mal klären würden. Er wusste nur, wie es ihm selbst ergehen würde: Entweder würde er für immer hier gefangen sitzen und nicht die Kraft haben, sich zu befreien, sofern er sich nicht eine ausreichende Menge Sonnenmetall sicherte, oder er würde das Geas selbst in Besitz nehmen, was durchaus im Bereich des Möglichen lag, vor allem, wenn er zu dem Zweck die empfindliche Freda und den unzuverlässigen Jillan lange genug am Leben halten konnte.

Er seufzte. Und so hockte er also hier auf dem Kreuzweg. Er versenkte sich in die Staubmuster auf der Straße. Die Regentropfen, die diese Muster geschaffen hatten, waren flüchtig, und doch hinterließen sie Spuren ihres Vorübergehens, Spuren, die den Gang dessen, was auf sie folgte, unterbrechen konnten. Er wollte gerade mit einem Fingernagel im Staub kratzen, als der Boden erzitterte. Endlich.

Freda stemmte sich aus der Erde empor und sah sich blinzelnd um.

»Da bist du ja, mein kleiner Maulwurf.« Der Sonderbare lächelte zur Begrüßung. »Ich habe mir Sorgen gemacht, als du nicht da warst, um unseren Freunden am Tor zu helfen.«

Fredas Gesicht blieb so ausdruckslos wie Stein, aber er wusste, dass sie bei seinen Worten ein schlechtes Gewissen haben musste. »Geht es Freund Jillan gut?«, fragte sie. »All die schweren Männer sind aus der Stadt fortmarschiert. Wohin gehen sie? Jagen sie Freund Jillan?«

»Genau. Wir sollten ihm helfen, oder?«

»Ich habe ihm versprochen, ihn nach Freistatt zu bringen.«

»Hast du das? Das ist nett von dir, meine Liebe. Übrigens hast du da schöne Steine um den Hals. Sie stehen dir sehr gut und betonen deine Augenfarbe. Dein Freund hat sie dir geschenkt, nicht wahr?«

Freda sah ihre Füße an und versetzte der Straße Tritte.

Der Sonderbare beobachtete sie eine Weile und seufzte dann. »Ist etwas nicht in Ordnung? Wenn ich dich und Jillan noch zu… Wie viele Tempel waren das doch gleich? Wenn ich euch jedenfalls dorthin führen soll, dann werden wir noch eine Weile zusammen sein. Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben, sonst wird es doch schwierig, befreundet zu bleiben, meinst du nicht auch? Ich nehme an, du wolltest mir noch irgendwann erzählen, dass du Wandars Tempel gefunden hast, oder? Dort warst du doch wohl, während wir anderen unser Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Jillan zu helfen? Also komm schon, meine Liebe, sag mir, was nicht in Ordnung ist. Ich verspreche dir auch, dass ich nicht böse werde.«

Sie sah unter ihren Augenbrauen hervor zu ihm auf, urteilte über ihn, was ihm beim besten Willen nicht gefiel, obwohl er es in diesem Fall dulden musste. »Du willst all die schweren Männer töten, nicht wahr? Du magst das Töten, Anupal.«

Er zog eine Augenbraue hoch und bemerkte, dass sie ihn nicht länger »Freund« nannte. »Meine Liebe, du weißt doch ein wenig über meine Natur, oder? Ich bin mir immer ohne innere Widersprüche selbst treu geblieben. Ich war dir gegenüber die ganze Zeit ehrlich. Ich habe dich zwei Mal aus der Gefangenschaft gerettet, und mit ein wenig Hilfe habe ich auch Jillan in Hyvans Kreuz gerettet. Ja, mein Temperament übermannt mich manchmal, und ich lasse mich davon mitreißen, aber keiner von uns ist vollkommen. Ich töte gewöhnlich nur böse Menschen oder die, die mich besonders verärgern. Ich töte nicht meine Freunde. Und ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nur versuche, Gutes zu tun, um gute Freunde zu gewinnen. Ich bin noch derselbe wie damals, als wir Freunde geworden sind. Ich habe mich nicht verändert … aber ich spüre, dass du dich verändert hast, nicht wahr, Freda? Vielleicht solltest du deshalb eher erzürnt über dich selbst als über mich sein. Sollen wir jetzt …«

»Aber wenn jemand nicht einverstanden mit dem ist, was du tust, und du dich darüber ärgerst, dann ist er deshalb doch noch nicht böse. Es heißt nicht, dass du ihn einfach töten kannst«, sagte sie langsam, während sie über alles nachdachte. »Ich will, dass du versprichst, nicht mehr so viele Leute zu töten.«

»Du willst was?«, schrie er und konnte gerade noch seine Empörung und seine körperliche Erscheinung unter Kontrolle halten. »Darf ich dich daran erinnern, dass ich der Gott solcher Dinge bin? Du verlangst von mir, um deiner Zimperlichkeit willen meine fundamentalen Prinzipien, ja, meine Natur zu ändern. Es wird schon schwer genug, Jillan zu helfen, ohne dass du mir kindische Beschränkungen wie diese auferlegst. Es marschieren mindestens fünftausend Helden auf Gottesgabe zu, gar nicht zu reden von dem wahnsinnigen Heiligen. Nur damit du es weißt: Ich bin nur mit knapper Not entkommen, als wir uns das letzte Mal begegnet sind, nicht dass du dir die Mühe gemacht hättest, danach zu fragen, vielen Dank auch. Du bist plötzlich ganz eigensüchtig nur noch an deinen eigenen Zielen interessiert, nicht wahr? Wir sind wohl ein bisschen größenwahnsinnig geworden? Schäm dich, Freda! Ich dachte, von dir wäre mehr zu halten.«

»Versprich es mir.«

»Frau, du bist starrsinnig wie ein Stein!« Der Sonderbare starrte sie böse an, aber es war offensichtlich, dass sie nicht nachgeben würde. Er fluchte leise und erklärte schließlich: »Sieh mal, ich kann dir keine bindende Abmachung darüber anbieten, aber ich kann dir versprechen, mein Bestes zu tun, nicht unnötig Menschen zu töten. Im Gegenzug musst du, wenn ich doch jemanden töten sollte, auf meine Einschätzung vertrauen, dass es wirklich notwendig war. Als Gott weiß ich vieles und kann Dinge vorhersehen, über die du nichts weißt. In Ordnung? Sind wir jetzt wieder Freunde?«

Sie strahlte ihn dankbar an. »Ja, Freund Anupal. Danke!«

»Gut. Können wir uns jetzt bitte in Bewegung setzen, bevor wir den ganzen Spaß verpassen?«

»Wir machen ein Wettrennen zum nächsten Horizont!«, rief sie und tauchte wieder in die Erde ab.

»He! Ich war noch nicht bereit. Hör mal, ich führe hier das Kommando. Komm zurück!« Er lächelte und begann darüber nachzudenken, wie er sich an ihr rächen würde.

Jillan zitterten die Hände, als hätte er die Schüttellähmung, und er sah ein paar Augenblicke lang alles doppelt. Er konnte sich kaum auf dem Hocker am Bett aufrecht halten. Er war so müde! Aber er hatte ein weiteres Leben gerettet, und gnädigerweise war das hartnäckige Nörgeln des Makels zu weniger als einem Flüstern verklungen.

»Gelobt seien die Erlöser! Es ist ein Wunder! Noch nicht einmal der Heilige hat das für uns getan!«, schluchzte die Enkelin des alten Mannes, als sie Zeugin wurde, wie die dunklen Pestflecken von der Haut ihres Großvaters verschwanden. Die Augen des Mannes waren jetzt klar statt wässrig, und er lächelte zu ihr empor.

»Das wird er auch nicht tun«, sagte Jillan erschöpft.

Der Mann berührte ehrfürchtig Jillans Arm. »Wie kann ich dir je danken? Ich fühle mich so seltsam. Mein Verstand ist klar, klarer denn je. Ich sehe jetzt alles anders. Es ist, als hätte ich mein ganzes Leben in einem Traum verbracht und das nie so recht bemerkt. Ich werde nie mehr zulassen, dass jemand auch nur ein Wort gegen dich sagt, Jillan Jägersohn. Ich kenne auch deine Eltern. Sie sind gute Menschen, ganz gleich, was andere sagen.«

Jillan lächelte traurig. »Der Heilige hat sie getötet.«

Der Mann und seine Enkelin schnappten nach Luft. »Sag das nicht!« Entsetztes Schweigen. Aber dann: »Unser Heiliger hat bekanntermaßen schon einmal Unschuldige getötet. Alle wissen, was in Neu-Heiligtum vorgefallen ist. Herzliches Beileid, mein Junge.«

»Sei still, Großvater, sonst hört dich noch jemand. Und der Heilige weiß immer Bescheid.«

»Es kümmert mich keinen Furz, wer zuhört! Du warst nicht dabei, Mädchen. Du hast nicht gesehen, wie Unschuldigen die Kehle durchgeschnitten wurde, während sie noch um Gnade flehten, und wie deinen Freunden und Angehörigen die Eingeweide herausgerissen wurden, während sie noch atmeten. Also hüte deine Zunge! Wenn der heilige Azual all das nicht getan hat, will ich nicht mehr Dan Arnesohn heißen!«

In den Augen der getadelten Enkelin stand Furcht, aber sie biss sich auf die Lippen und hielt gehorsam den Mund.

Dan wandte sich wieder an Jillan. »Aber du siehst selbst nicht besonders gut aus, Junge. Du hast dunkle Ringe unter den Augen und bist fahler als Helgas Haferbrei vom Vortag. Diese Heilerei verlangt dir einiges ab, das sehe ich dir an. Achte darauf, dass du dich erst einmal um dich selbst kümmerst, denn was soll sonst aus uns anderen werden, hm?«

»Ich schaffe das schon«, sagte Jillan und setzte eine tapfere Miene auf. »Außerdem warten draußen noch viele Leute, von denen manche bestimmt sterben, wenn sie nicht bald behandelt werden.«

Dan schnitt eine Grimasse. »Nun, ich kann wohl nichts dagegen einwenden, dass du sie heilst, da ich ja vor ihnen an die Reihe gekommen bin. Aber du siehst wachsbleich aus, also sei bitte vorsichtig mit dem, was du gibst, sonst werde ich mir nie verzeihen, dass ich schon so viel von dir bekommen habe. Nein, steh nicht auf, Meister Jillan. Helga wird mir aufhelfen, damit wir aufbrechen können und nicht noch schuld daran sind, dass ein Bittsteller stirbt, der schon längst hätte behandelt werden sollen. Ich schicke Helga mit allen Lebensmitteln noch einmal hierher, die wir entbehren können. Ja, gutes Mädchen! Hoch mit uns.«

Jillan sah ihnen nach, aber als sie die Tür erreichten, verschwammen sie ihm vor den Augen. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war oder wo in der Stadt er sich überhaupt befand. Zuerst war er von Haus zu Haus gegangen, aber als sich die Heilungen herumgesprochen hatten, waren immer mehr Leute zu ihm gekommen. Er hatte sich in irgendeinem verlassenen Haus an die Arbeit gemacht, und draußen hatte sich schnell eine lange Schlange gebildet. Es nahm kein Ende damit, kein Ende. Aber er würde weitermachen, bis er nichts mehr zu geben hatte. Wie hätte er das nicht tun können, da er doch der Grund für die Pest und den Tod so vieler war?

»Herein«, sagte er blind. »Bitte da aufs Bett.«

Schwere Schritte ertönten. »Ich bin’s, J…Jillan.«

Er kannte die Stimme fast so gut wie seine eigene. Sie hatte ihn jahrelang geneckt und schikaniert, obwohl sie nun etwas tiefer klang, als er sie in Erinnerung hatte. Er blickte auf und sah Haal in die Augen. »Du.«

Haal hob die Hände.

Jetzt wird er mich schlagen. Er ist gekommen, um endlich Rache zu nehmen.

»I…ich weiß, was du von mir halten musst. Bitte lass mich einfach ausreden, dann gehe ich auch«, sagte der bullige junge Mann eilig. »Es tut mir leid, was ich damals immer zu dir gesagt habe, Jillan, und auch, dass ich das eine Mal … mit Silus und Karl, na, du weißt schon.« Er holte Atem, um langsamer zu sprechen und das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. »Was geschehen ist, war meine Schuld, das weiß ich, und auch alles, was dir danach zugestoßen ist. Mein Vater war sehr wütend auf mich – so wütend hatte ich ihn noch nie erlebt – und hat mir gesagt, dass ich mich bei deinen Eltern entschuldigen sollte, aber dazu hatte ich keine Gelegenheit, bevor sie abgeholt wurden. Also entschuldige ich mich jetzt bei dir. Nicht nur, weil es das Letzte war, was mein Vater mir zu tun geraten hat, bevor er die Pest bekommen hat, und auch nicht wegen all dessen, was Hella gesagt hat, sondern weil ich weiß, dass ich etwas Falsches getan habe, und weil es mir wirklich leidtut.« Er sah auf seine Hände hinab und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat. Ich war nie so schlau wie du, und deshalb werde ich wütend, wenn ich etwas Dummes anstelle, verstehst du? Ich wünschte, ich wäre nicht so dämlich. Mein Vater hat gesagt, ich würde nie schlau genug sein, um wie er Ältester zu werden. Ich vermisse ihn sehr. Ich wünschte, ich hätte ihn stolz gemacht.«

Mit Tränen in den Augen schwieg Haal. Jillan wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte Haal noch nie so viel am Stück reden hören, und er hatte ganz gewiss noch nie erlebt, dass er sich für irgendetwas entschuldigt hatte. Der Haal, den er früher gekannt hatte, hatte immer mit einem hämischen Lächeln, mit finsterer Miene oder gleich mit den Fäusten gesprochen, aber dieser Junge war völlig anders. Jillan wurde bewusst, dass er sich höchstwahrscheinlich genau wie Haal verändert hatte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er nichts mehr genossen hätte, als sich über seinen kräftigen Klassenkameraden lustig zu machen, aber jetzt war das anders. Sie schwiegen eine Weile einträchtig, doch am Ende sagte Jillan: »Schon gut, Haal. Es tut mir auch leid, was Karl zugestoßen ist. Ich wollte nicht, dass das geschieht.« Er hielt inne. »Ist dein Vater …?«

Haal nickte. »Sie haben ihn zusammen mit den anderen toten Ältesten zum Südtor hinausgebracht. Es sind nicht viele Leute zur Trauerfeier gekommen. Zu dem Zeitpunkt hatten wir keinen Prediger, um sie dazu zu zwingen, ihm die letzte Ehre zu erweisen, und alle hatten aus gutem Grund Angst vor der Pest.«

»Es tut mir leid, dass ich nicht früher zurückgekommen bin. Ich mochte deinen Vater. Ich hätte versuchen können, ihm zu helfen. Ich weiß nicht. Meine Eltern sind auch gestorben.«

Haal sah ihm in die Augen, und eine Art Verständnis bildete sich zwischen ihnen heraus. »Was sollen wir jetzt tun, Jillan? Einige Leute aus der Stadt haben sich mittlerweile davongestohlen, da keine Helden mehr da sind, um sie aufzuhalten. Den Heiden scheint das gleichgültig zu sein. Aber es ist da draußen nicht sicher, oder?«

Jillan zuckte mit den Schultern. »Hier drinnen ist es wohl auch nicht sicherer als draußen. Ich bleibe aber hier, um so viele vor der Pest zu retten, wie ich nur kann.«

»Dann bleibe ich auch«, erwiderte Haal. »Wenn du mich haben willst …?«

Jillan runzelte die Stirn und war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. »Natürlich, wenn du möchtest. Aber du hast doch schon gehört, dass der Heilige mit einer Armee auf dem Weg hierher ist, oder?«

Haal nickte. »Einer der Heiden bringt mir seit einer Weile bei, wie sie kämpfen. Ich habe keine Angst.«

Jillan nickte und wartete. »Was noch?«

»Es ist meine Mutter.«

»Dann bring sie her, Haal Corinsohn, und sag dem Nächsten, der draußen wartet, dass er hereinkommen soll.«

Haal neigte wahrhaftig den Kopf und zupfte sich an einer Haarsträhne, als er rückwärts das Zimmer verließ.

Zu müde, das alles zu durchschauen, saß Jillan eine Minute lang einfach da und wartete. Diesmal erschien Samnir, frisch rasiert und in eine Lederrüstung gekleidet.

»Sieh dir doch an, in was für einem Zustand du bist, Junge! Wann hast du zuletzt gegessen und geschlafen?«

»Ich … ich …« Jillan fehlten die Worte.

»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Samnir, während er frisches Brot, Käse und eine Wasserflasche auf den Tisch stellte. Er verschränkte die Arme. »Du empfängst niemanden mehr, bevor du das nicht im Magen hast und ich dich für eine Stunde habe schlafen sehen. Sag nichts. Iss! Das ist ein Befehl.«

Jillan hatte nicht die Kraft zu widersprechen.

Nachdem er kurz geschlafen hatte, durfte er wieder mit dem Heilen beginnen, wenn auch unter Samnirs aufmerksamem, stahlgrauem Blick. Der Soldat ließ ihn nur alle fünfzehn Minuten einen Patienten behandeln, was Jillan, wie er zugeben musste, gerade eben davor bewahrte, vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Nach ein paar Stunden gelang es ihm, Samnir zu überreden, seinen Posten zu verlassen.

»Ich will, dass du den Schmied Thomas und einen jungen Bergkrieger namens Aspin suchst. Sie sind Freunde von mir. Sie helfen bestimmt Häuptling Pralar und Aspins Vater Slavin dabei, die Verteidigung zu organisieren. Du findest sie wahrscheinlich in der Nähe des Wirtshauses. Mir ist eingefallen, dass die Bergkrieger bestimmt nicht wissen, wie man den Wald am besten auskundschaftet, um Ausschau nach der Armee des Heiligen zu halten, und auch nicht, wie die Armeen des Reichs sich bei Belagerungen und in Schlachten verhalten.«

Samnir nickte. »Und sie wissen auch nicht, wie man gegen eine mit Sonnenmetall ausgerüstete Armee kämpft. Die Heiden haben ein paar Sonnenmetallwaffen erbeutet, als sie Gottesgabe eingenommen haben, aber ich bezweifle, dass sie überhaupt das eine Ende einer solchen Waffe vom anderen unterscheiden können, ganz zu schweigen davon, dass sie sicher auch nicht wissen, wie man sie im Kampf am wirkungsvollsten einsetzt. Nun gut, ich suche sie auf, aber du musst mir schwören, dass du hier einen vernünftigen Rhythmus einhältst.«

»Das schwöre ich, mögen die Erlöser und die Götter meine Zeugen sein«, antwortete Jillan lächelnd.

Kopfschüttelnd überließ Samnir Jillan seiner Heilkunst. Jillan verfiel dabei tatsächlich in einen gewissen Rhythmus und stellte fest, dass er sich an diese Art, seine Magie einzusetzen, gewöhnte und sich jedes Mal ein wenig schneller davon erholte. Bald war er in der Lage, alle zehn Minuten einen Patienten zu empfangen.

Ash besuchte ihn. Er roch stark nach Alkohol, und das Weiße seiner Augen war blutunterlaufen. »Du musst mir helfen! Ich habe mich angesteckt, Jillan! Mir zittern die Hände, der Magen und der Kopf tun mir entsetzlich weh, und ich habe vorhin Blut gehustet!«

Jillan nahm Haut, Nägel, Zähne und Haare des Waldläufers in Augenschein. »Du hast nur einen Kater. Nichts deutet auf die Seuche hin.«

»Aber es ist sicher nur eine Frage der Zeit, dass ich sie mir einfange, wenn ich noch viel länger in dieser erlöserverfluchten Stadt bleibe.«

»Ich glaube, es erkranken nur diejenigen an der Pest, die zu den Erlösern gezogen worden sind. Ihnen scheint die Energie zu fehlen, gegen die Pest anzukämpfen. Deshalb haben sich die Kinder und Bergbewohner nicht angesteckt. Aber mach dir keine Sorgen, Ash. Wenn du die Pest bekommst, heile ich dich.«

»Zu welchem Zweck, wenn der Heilige doch ohnehin kommt und uns alle tötet?«

»Ash, beruhige dich. Was willst du damit sagen? Dass du Gottesgabe verlassen möchtest, bevor der Heilige auftaucht?«

»Ich …« Der Waldläufer nickte mit gerötetem Gesicht. »Es ist doch nur vernünftig, oder? Es ist nichts zu gewinnen, wenn wir bleiben. Komm mit mir, Jillan.«

»Ich muss hierbleiben, Ash, um diese Menschen zu heilen. Gottesgabe ist meine Heimat. Hier leben Leute, die mir wichtig sind, und Aspin wird um seines eigenen Volkes willen bleiben wollen, da bin ich mir sicher. Ich kann ihn nicht allein dem Heiligen gegenübertreten lassen, wenn ich es doch war, der überhaupt erst einen Großteil dieses Ärgers ausgelöst hat. Ich habe das Gefühl, dass die Bergbewohner ohne die Ereignisse, die ich in Gang zu setzen geholfen habe, überhaupt nicht hier wären. Also kann ich sie nicht einfach im Stich lassen, Ash, das musst du einsehen. Außerdem bin ich müde. Ich bin es müde, vor dem Heiligen davonzulaufen, müde, mich zu verstecken, müde, mich schuldig zu fühlen, müde, um Gnade zu flehen. Die einzige Möglichkeit, dem ein Ende zu setzen, besteht für mich darin hierzubleiben. Kannst du das verstehen? Aber du kannst gehen, Ash. Hier gibt es nichts für dich, das weiß ich, und niemand wird schlechter von dir denken, wenn du nach Hause in die Wälder zurückkehrst, das verspreche ich dir.«

Aber alle denken ohnehin schon so schlecht von ihm, dass es ihnen ja auch überhaupt nicht möglich wäre, noch schlechter von ihm zu denken, nicht wahr?

Ash ließ einen Augenblick wie beschämt den Kopf hängen, bevor er sein gewohnt lässiges Grinsen aufsetzte. »Nun, ich freue mich, dass du Verständnis dafür hast. Ich hätte nicht verschwinden wollen, ohne es dir erklärt oder mich verabschiedet zu haben. Wir hatten doch unterwegs schöne Zeiten zusammen, was? Erlöserparadies, Linderfall, Hyvans Kreuz … Das war vielleicht eine Reise! Ja. Nun denn, ich wünsche dir alles Gute, junger Jillan. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Und geh mit den Göttern!«

Sie schüttelten einander die Hand, und der Waldläufer ging zur Tür. Er drehte sich um und winkte mit einem leicht entschuldigenden Lächeln ein letztes Mal; dann war er verschwunden.

Feigling. Oder ist er nur vernünftig? Er kann sich zumindest sicher sein, den aufziehenden Sturm zu überleben, auch wenn er es vielleicht noch bereut.

Kurz darauf kehrte Samnir zurück. »Es wird spät, mein Junge. Es ist schon dunkel, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Die nächste Besucherin ist die letzte für heute. Ich habe an alle, die noch draußen stehen, Papierstücke mit Nummern verteilt, damit sie dich morgen in der jetzigen Reihenfolge wieder aufsuchen können. Mach dir keine Gedanken. Du fängst früh an, und es geht ihnen allen noch so gut, dass sie die Nacht überstehen werden. Hier kommt also die Letzte. Ich warte draußen auf euch.«

Jillan wusste bereits, wer es war, bevor er sie sah. Wie ihm jetzt klar wurde, war er schon immer in der Lage gewesen, ihre Gegenwart zu spüren. Das Mädchen, dessen Besuch er so herbeigesehnt und vor dem er sich zugleich so gefürchtet hatte. Er war fast froh gewesen, all die kranken Leute heilen zu müssen, um eine Art Entschuldigung dafür zu haben, dass er sie nicht aufgesucht hatte. Sie machte ihm Angst; sie erregte ihn. Was würde sie dazu sagen, dass er Karl getötet und sich dann auf die Flucht vor dem Heiligen begeben hatte? Würde sie ihn hassen? Er hatte schreckliche Blasphemien begangen. Würde sie ihn auch nur ansehen wollen? Aber sie war hier! War sie gekommen, um ihn zu verurteilen?

Ihm war übel, als er langsam den Blick hob, um ihr in die Augen zu sehen. Sie lächelte, und es war, als wäre nie etwas Schlimmes geschehen. Niemand war gestorben oder zu Schaden gekommen. Es hatte nie eine Seuche gegeben. Der Heilige war nicht auf der Jagd nach ihm. Die Götter waren nie gefallen, und sie waren immer nur gut zum Volk. Das Reich und das Chaos existierten noch nicht einmal als bloße Vorstellung. Es gab nur das Geas, seine heilende Magie und Hella.

»Es ist gut, dich wiederzusehen.« Sie errötete. »Ich hatte Angst, dass das nie geschehen würde.«

»Ich auch«, murmelte er mit heißem Gesicht. Er stand auf, und sie traten aufeinander zu. Sie hielten einander fest, und Jillan verlor jegliches Gefühl dafür, ob es nur ein kurzer Augenblick oder eine Ewigkeit war.

»Vater hat gesagt, dass ich dich zum Abendessen einladen soll. Bitte sag, dass du kommst.«

Es war unmöglich, ihr etwas abzuschlagen. Er grinste wie ein Dorftrottel. »Natürlich. Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber wäre.«

Sie nahm seine Hand und führte ihn aus dem verwahrlosten Haus. Im Dunkel des Abends winkte Samnir ihnen zu. »Wir sehen uns morgen früh, Jillan. Genieß dein Abendessen und erinnere dich ein wenig daran, was es heißt, glücklich zu sein. Gute Nacht! Und verbringt nicht den ganzen Abend damit, einander in die Augen zu sehen. Du brauchst deinen Schlaf, Junge.«

»Gute Nacht, Samnir!« Jillan schrie auf, als Hella an seinem Arm zog und losrannte. Er stolperte, und sie lachte vergnügt.

Hellas Zuhause lag im Nordwestteil von Gottesgabe, wo die meisten Krämer ihre Läden und Stallungen hatten. Sie hielten sich an die Hauptstraße, die aus dem Südteil der Stadt hinausführte, und erreichten gerade den Versammlungsplatz im Zentrum nicht weit von der Schule entfernt, als vor ihnen aus der Nacht heraus eine spöttische Stimme ertönte.

»Sieh an, sieh an! Da kehren die beiden Kinder des Chaos an den Ort ihrer ersten Sünde zurück. Ihr Teufel freut euch wohl heimlich noch über die Auswirkungen eurer Machenschaften, wie? Und ihr glaubt, dass ihr einfach so durch die Dunkelheit hüpfen könnt, ohne dass die heiligen Bevollmächtigten des Reichs mit ansehen, wie ihr euch miteinander verschwört und Ränke schmiedet?«

Jillan und Hella klammerten sich entsetzt aneinander und rissen die Augen weit auf, während sie ins Zwielicht starrten. Hella kreischte, als sie ein bleiches, schmales Gesicht erkannte. »Der Prediger!«

»Nicht auszudenken, dass ich euretwegen aus Gottesgabe verbannt worden bin, ihr Schädlinge! Aber meine Rechtschaffenheit hat sich durchgesetzt, und das Volk von Gottesgabe ist für seinen mangelnden Glauben bestraft worden. Die Pest ist die göttliche Vergeltung, die es trifft, und du versuchst, sie ungeschehen zu machen, nicht wahr, du böser Junge?«

Jillan konnte nicht antworten, da düstere Erinnerungen auf seine Gedanken einstürzten. Ihm war übel vor anerzogenen Schuldgefühlen. Die alten Ängste verwandelten seine Eingeweide in Eis, packten sein Herz und ließen seine Lunge fast zusammenbrechen. Etwas Klammes schlängelte sich über seine Seele.

»Er weiß alles. Ich würde dich ja selbst vernichten, aber er hat mir befohlen, dich für ihn aufzusparen. Er kommt. Nichts kann dich retten! Die Verdammnis ist dir gewiss!«

Der Prediger kam näher. Warum tun meine Füße nicht, was ich will?

Es ist die Angst, Jillan, die Angst, flüsterte der Makel. Reiß dich davon los! Zurück, zurück! Um Hellas willen, wenn schon nicht deinetwegen!

Jillan zog Hella mit sich zurück. Sie war so erstarrt wie er.

Der lange Arm des Predigers griff nach ihnen.

Flieh!

»Du kannst nirgendwohin flüchten. Dich nirgendwo verstecken. Komm zu mir.«

Lauf!

Der Prediger stürzte sich auf sie, und der Bann, der sie hatte stillhalten lassen, war mit einem Schlag gebrochen: Jillan zog Hella beiseite, und die langen Finger des Predigers verfehlten ihr Ziel. Und dann hasteten sie durch die Nacht, verfolgt von geheulten Drohungen und großen, trampelnden Füßen. Sie huschten immer wieder nach links oder nach rechts. An einer Kreuzung verloren sich ihre Hände, und sie griffen hektisch nacheinander. Dann waren sie erneut unterwegs und hatten entsetzliche Angst, gleich dem nächsten Albtraum in die Arme zu laufen.

Jillan beobachtete nervös die Tür und wartete jedes Mal besorgt ab, wer wohl der nächste Mensch, der hindurchtrat, sein würde. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Samnir zu bitten, für ihn Wache zu halten, aber er wusste, dass der Soldat gebraucht wurde, um die Bergkrieger auszubilden.

Außerdem kannst du gut genug auf dich selbst aufpassen, wenn du nur deine Magie gebrauchst.

»Ich werde sie nur zum Heilen gebrauchen. Wann immer ich sie in etwas wie einem Kampf einsetze, sterben Menschen.«

Pech und Kleinkram, das ist alles.

Aber Menschenleben waren kein Kleinkram, zumindest nicht für Jillan, für das Reich allerdings wahrscheinlich sehr wohl.

Im Laufe des Vormittags kamen Aspin und Thomas vorbei, um ihn zu besuchen. Sie brachten Tee mit, und Jillan wärmte sich dankbar die Hände an einer Tasse. Er hatte in der Nacht kaum einen Augenblick geschlafen, weil er so aufgeregt gewesen war und sich zudem danach gesehnt hatte, seinen eigenen Träumen aus dem Weg zu gehen.

»Was ist euch zugestoßen?«, fragte Jillan, als er bemerkte, dass beide frische Schürfwunden und Prellungen aufwiesen. Aspin sah aus, als ob er ein blaues Auge bekommen würde.

Der Bergkrieger rieb sich leicht verlegen den Nacken. »Dein Freund Samnir hat mit uns geübt. Er greift sich wohl gern die heraus, von denen er annimmt, dass sie am Vorabend zu viel getrunken haben, um ihnen eine Lektion zu erteilen.«

Thomas knurrte: »Ich dachte ja, ich würde mich mit Waffen auskennen, aber gegen ihn ist das nichts. Slavin ist fast der Einzige, der mit ihm mithalten kann. Doch eines muss man Samnir lassen: Es ist ihm gelungen, ein paar der jüngeren Bergbewohner dazu zu bringen, sich auf das Wesentliche zu besinnen, was, Aspin? Sie beginnen zu begreifen, was ihnen bevorsteht. Das wird kein solcher Spaziergang wie die Eroberung von Gottesgabe!«

Aspin nickte betrübt. »Ein paar Kundschafter sind gestern zurückgekehrt, Jillan. Sie vermuten, dass die Armee des Reichs heute Abend noch nicht hier sein wird, aber wahrscheinlich spätestens morgen Abend. Das heißt, dass uns nicht viel Zeit bleibt. Du solltest dich beim Heilen nicht überanstrengen, damit du später stark genug bist, um zu kämpfen.«

»Ich werde meine Magie nicht im Kampf einsetzen, sondern wie alle Übrigen einen Bogen und andere gewöhnliche Waffen benutzen.«

Seine Freunde wurden still und tauschten dann einen Blick. Doch keiner von ihnen wandte etwas gegen seine Entscheidung ein, wofür er dankbar war.

»Vielleicht brauchen wir deine Magie ohnehin nicht«, sagte Thomas, aber seine Zweifel waren ihm deutlich anzumerken.

»Häuptling Pralar ist zuversichtlich, dass die Götter uns den Sieg gewähren werden«, sagte Aspin.

Ich frage mich allerdings, wie zuversichtlich die Götter in dieser Hinsicht selbst sind.

Als die Dämmerung sich herabzusenken begann, erschien ein seltsamer kleiner Mann mit einer Pestkranken. Sie legte sich auf die Pritsche, neben der Jillan stand, während der Mann sich in eine Ecke des Raums hockte. Nachdem die matronenhafte Frau geheilt worden war, ging sie, während der kleine Mann blieb, wo er war, und aufmerksam beobachtete, wie Jillan sich dem nächsten und dem übernächsten Patienten widmete.

Jillan sah den Mann geradewegs an. Er war bis auf einen Lendenschurz nackt und hatte einen kahl geschorenen, glänzenden Kopf. Sein Körper bestand nur aus Bändern und Sehnen, aber er wirkte dennoch stark und geschmeidig. Sein Gesicht war klein und hager, aber seine Augen waren groß und schienen Bilder der Welt zu zeigen, darunter viele aus ferner Vergangenheit.

»Kann ich dir helfen?«, fragte Jillan höflich, weil ihm sonst nichts einfiel.

Der Mann blieb hocken und saugte an seinem Zahnfleisch. »Mir kann niemand helfen – zumindest bezweifle ich das. Nicht einmal die Götter können die Vergangenheit verändern«, sagte er und rümpfte die Nase. »Magst du Pinienkerne?«

»Äh … ja, die mag ich tatsächlich.«

»Wirklich?«, fragte der Mann. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir ein paar mitgebracht. Ach ja, so ist es eben. Weißt du, du kannst sie nicht alle retten, all diese Leute.«

»Vielleicht nicht. Aber das heißt nicht, dass ich es nicht versuchen sollte.«

Der Mann säuberte einen seiner Zehennägel und schob sich in den Mund, was auch immer darunter gesteckt hatte. »Das kommt darauf an, was man bei dem Versuch verliert.«

Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht ganz verstand, ertappte sich Jillan dabei, zornig zu werden. Erinnerte dieser Kerl ihn etwa ein bisschen an Bion? »Man verliert nichts, wenn man Menschen heilt. Außerdem … was weißt du schon darüber?«

Der Mann blickte einen Moment lang melancholisch drein. »Die Rüstung, die du trägst, hat einmal mir gehört. Als ich das Kriegführen leid war, habe ich sie verschenkt oder in einem Würfelspiel verloren oder so. Ich glaube, ein anderer Häuptling in dieser Gegend hat sie für eine Weile getragen, aber danach habe ich sie aus den Augen verloren.«

In Jillans Kopf drehte sich alles. Es war unmöglich. Die Ruinen, aus denen er die Rüstung genommen hatte, waren uralt gewesen. Wie alt hätte dieser Mann also sein müssen?

»Ich bin Torpeth. Vielleicht hast du schon von mir gehört.«

Jillan schüttelte den Kopf. Er hatte den Namen noch nicht gehört – oder etwa doch? Hatte Aspin einen Torpeth erwähnt, als sie nach Gottesgabe geeilt waren?

»Hm. Macht nichts. Ich bin nicht so eitel, wie ich es früher war. Das Wichtigste ist zu verstehen, dass ich dir früher einmal sehr ähnlich war, wenn auch sicher schöner, und dass es dir höchstwahrscheinlich einmal ergehen wird wie mir.«

Wie diesem Gnom, der in der Ecke eines verfallenen Hauses in einer pestverseuchten Stadt hockte und überarbeitete Fremde mit Rätseln belästigte? Wie konnte das seine Zukunft sein?

Du würdest dich wundern.

Torpeth zog an der Luft unter seinem Kinn.

»Was tust du da?«

»Ich ziehe an meinem Bart.«

»Du hast keinen Bart.«

»Vielleicht nicht. Das heißt aber noch nicht, dass ich es nicht versuchen sollte.«

Jillan zögerte. Der Bursche sollte verflucht sein. »Es kommt darauf an, was man dabei verliert.«

»Und was verliere ich?«

»Ich weiß nicht. Deinen Glauben, dass du einen Bart hast?«, vermutete Jillan und kam zu dem Schluss, dass Torpeth vollkommen verrückt war. Hatte Aspin nicht so etwas gesagt?

»Hmm. Das ist wohl so. Ich muss gehen und darüber nachdenken. Aber vergiss nicht, dass du nicht alle retten kannst, ja?«

»Wie du willst!« Jillan verdrehte die Augen und warf die Hände in die Luft.

Als er wieder hinsah, war Torpeth verschwunden.

Da seine verbliebenen Sinne noch so scharf wie eh und je waren, konnte der heilige Azual die Heiden in Gottesgabe riechen. Er konnte ihre Lebensenergie in der Luft schmecken. Er hörte ihre trunkenen Schlachtengesänge. Durch die Augen des Volks sah er sie herumstolzieren, ohne dass sie auch nur geahnt hätten, dass sie beobachtet wurden. Es waren erbärmlich wenige, was hieß, dass ihre Bevölkerungszahl insgesamt nicht sehr groß sein konnte und wahrscheinlich unter ein kritisches Mindestmaß sinken würde, wenn diese Heiden hier erst tot waren. Dann würde das Geas keine Leute mehr im Süden außerhalb der Reichweite der gesegneten Erlöser haben. Endlich stand Azuals Aufstieg unmittelbar bevor.

Die heidnischen Kundschafter waren leicht zu fangen gewesen, da ihnen die Fähigkeit fehlte, sich leise durch einen Wald zu bewegen. Von den sechsen hatten ihm vier bis zum bitteren Ende Widerstand geleistet, und er hatte ihnen auch noch den letzten Tropfen ihrer Lebensenergie und aufkeimenden Macht ausgesaugt. Doch es war ihm gelungen, den Verstand der anderen beiden zu brechen, als er sie zu den Erlösern gezogen hatte. Die zwei waren nun völlig seinem Willen unterworfen und nach Gottesgabe zurückgeschickt worden, um dort zu melden, dass die Armee des Reichs erst in zwei Tagen eintreffen würde.

Treuer Praxis, hörst du mich?, rief der heilige Azual im Geiste.

Ja, Heiliger. Befehlt!

Es wird heute Nacht geschehen. Sie werden nicht mit uns rechnen.

Oh Gebieter, ich frohlocke. Endlich wird das Chaos vernichtet.

Triff die Vorbereitungen für unsere Ankunft, Praxis … Oder sollte ich »heiliger Praxis« sagen?

Wie Ihr wünscht, Heiliger. Doch es ist mir bisher nicht gelungen, den Jungen in die Hand zu bekommen. Ich beobachte ihn aber. Er ist gewöhnlich von Freunden umgeben.

Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich selbst darum. Enttäusche mich jetzt nicht, Praxis, denn die Rettung naht. Die gesegneten Erlöser haben dies von Beginn an geplant, und jetzt manifestiert sich ihr Wille durch uns. Sie sind die Götter, unsere Geschichte, unsere Zukunft und unser Schicksal.

Gepriesen seien die Erlöser! Heiliger, ich bitte nur darum, dass ich den Tod des Jungen und des Mädchens Hella mit ansehen darf.

Du wirst den Jungen so sehr und für solch eine lange Zeit leiden sehen, dass er mir am Ende für seinen Tod dankbar sein wird. Das Mädchen überlasse ich dir.

Oh Gebieter, danke! Niemals ist einem unwürdigen Diener so viel Liebe und Güte zuteilgeworden. Ich werde stets Eurem göttlichen Vorbild folgen.

Dann wirst du mich nicht enttäuschen, treuer Praxis.

Am Abend kamen Hella und Jacob, um mit Jillan und Samnir in dem kleinen Haus, das Jillan einst mit seinen Eltern geteilt hatte, zu Abend zu essen. Samnir hatte den Boden gefegt, ein großes Feuer im Kamin entfacht, die Kissen aufgeschüttelt und in allen Zimmern duftende, frische Kiefernnadeln ausgestreut, sodass alles gemütlich und heimelig wirkte.

»Und seht nur! Es ist mir gelungen, einen halben Krug Rotwein vor diesen durstigen Heiden zu retten«, verkündete der Soldat mit einem breiten Lächeln. »Genug, dass jeder einen Becher bekommt oder sogar zwei, wenn wir ihn mit Wasser strecken, wie es Linus, der alte Wirt, immer getan hat.«

Das Essen war ein einfacher Eintopf, aber bekömmlich und sättigend. Als Jacob nach einem Stück Brot griff, rutschte die Manschette seines Hemds ein Stück hoch, und Jillan bemerkte die verfärbte Haut rings um das Handgelenk des Händlers. Aus reiner Gewohnheit griff Jillan auf seine Magie zurück und versuchte, Jacob eine Hand aufzulegen, aber der Händler wich rasch zurück.

Der Augenblick entging den anderen beiden nicht.

Hella konnte ihre Verstimmung nicht verhehlen. »Vater, warum hast du denn nichts gesagt? Lass dich von Jillan heilen!«

Jacob versuchte, seine Tochter zu beschwichtigen. »Ich wollte dir keine unnötigen Sorgen machen. Es ist nichts, Tochter. Samnir, wie steht es um die Waffenübungen?«

Jillan erinnerte sich, dass ihn Jacob, als er ihm in Erlöserparadies begegnet war, gedrängt hatte, sich dem Heiligen zu stellen. »Dir ist es lieber, die Pest zu haben, als dich von meiner unreinen Magie berühren zu lassen, nicht wahr?«, erkundigte er sich leise.

»Hoffst du etwa auch, dass die Ausbildung der Bergkrieger schlecht verläuft, Jacob?«, fragte Samnir düster.

»Nein, Vater!«

Jacob sah seiner Tochter mit vor Verzweiflung verzerrtem Gesicht in die Augen. »Hella, du bist zu jung, um das zu verstehen. Wir sind Bürger des Reichs. Alles, was wir haben, verdanken wir den Erlösern und ihren Heiligen. Sie helfen uns, das Chaos in Schach zu halten. Aber wir haben die finstere Magie des Chaos, die Pest und die Heiden nach Gottesgabe eindringen lassen. Wir müssen Widerstand leisten …«

Doch Hella wandte den Blick ab und starrte die Wand an.

»Bitte, Hella!«, flehte Jacob. »Du kannst doch nicht so halsstarrig sein. Zeig ein bisschen Dankbarkeit. Ich habe dich dein Leben lang ernährt und gekleidet. Das Reich hat dich ernährt und gekleidet. Diese Heiden werden alles verderben!«

»Was gibt es da schon zu verderben?«, fragte sie und fuhr mit zornesblitzenden Augen herum. »Wir arbeiten und arbeiten und haben doch nichts davon. Die Ältesten, die Helden und der Prediger haben jeden Gewinn, den wir gemacht haben, und alle Vorräte, die wir angelegt haben, an sich gerafft. Du hast ihnen nie die Stirn geboten, sondern immer zugelassen, dass sie sich alles holen. Ist der Heilige je hergekommen, um uns gegen die Pest zu helfen? Nein! Weil wir ihm gleichgültig sind. Und jetzt weist du Jillans Hilfe aus törichter Treue zu demselben Heiligen zurück. Wenn Mutter noch am Leben wäre, würde sie sich für dich schämen und dich einen Feigling nennen!«

Samnir schlug mit der Faust auf den Tisch, dass das Besteck und die Teller hochflogen. Ein Becher fiel um, und Wein sickerte ins Holz. Hella schrie auf, und Jacob lehnte sich so weit zurück, wie er konnte.

»Ihr hört mir jetzt beide zu, und dann ist Schluss damit, verstanden?«, befahl Samnir, und seine grauen Augen funkelten im Kerzenschein wie Klingen. Hella und Jacob nickten angstvoll. »Hella, du hast kein Recht, so mit deinem Vater zu sprechen. Du wirst ihm für all das, was er für dich getan hat, Respekt erweisen. Ich bezweifle, dass es leicht für ihn war, ganz allein eine Tochter großzuziehen. Er hat sich immer Sorgen um dich gemacht und getan, was er nur konnte, um dich zu beschützen. Er hat grausame Gebieter angelächelt, genickt und Grobianen erlaubt, ihn zu bestehlen, er hat das Knie vor denen gebeugt, für die er heimlich nichts als Verachtung empfindet. Aber was hätte er auch sonst tun können, da nicht nur sein eigenes Leben und seine Zukunft auf dem Spiel standen? Er hat seinen Stolz heruntergeschluckt und ist weniger als ein Mann gewesen, und all das aus Liebe zu dir, Kind. Was wäre aus dir geworden, wenn er nicht über dich gewacht hätte, hm? Du weißt sehr gut, dass Waisenkinder fortgeschafft werden, um Diener im Großen Tempel zu werden. Hast du jemals davon gehört, dass ein Diener aus dem Großen Tempel zurückgekehrt wäre? Nein. Also lass mich dir sagen, dass ihre Leben entsetzlich kurz sind. Ich habe ihre zerstörten Körper gesehen, sie sogar begraben! Höre auf mich, wenn ich dir sage, dass dein Vater ein stärkerer Mann ist, als du verstehen kannst. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so stark hätte sein können. Meine Selbstsucht hätte dem im Wege gestanden, und wärst du meine Tochter gewesen, wärst du folglich schon längst tot … Was dich angeht, Jacob, so sprichst du von allem, was das Reich dir geschenkt hat, ohne an das zu denken, was es dir genommen hat. Du hast nicht die Freiheit, irgendetwas bis auf das, was das Reich vorschreibt, zu denken oder zu glauben. Du hast nicht die Freiheit, deine Gedanken zum Ausdruck zu bringen oder du selbst zu sein. Man hat dir dein Leben und deine Seele genommen. Du bist ein Schatten des Mannes, der du hättest sein sollen, und sogar deiner eigenen Tochter fällt es schwer, dich zu kennen. Du hast zugelassen, dass das Reich ihr den Vater genommen und sie trotz all deiner Anstrengungen zum Waisenkind gemacht hat. Ist es das, was du für Hella willst? Und würdest du zulassen, dass sie genommen und gebrochen wird wie einst du? Willst du deine Tochter den Händen dieser grausamen Gebieter überlassen, Leuten, für die du heimlich Verachtung empfindest? Sag schon, willst du das?«

»Nein!«, stöhnte der Händler. »Lass nicht zu, dass man sie mir wegnimmt! Sie ist alles, was ich habe!«

»Und doch wirst du sie verlieren, und ihr werdet einander verlieren, wenn du nicht zulässt, dass Jillan dich heilt.«

»Bitte, Vater«, flüsterte Hella unter Tränen.

Heftig zitternd sah Jacob seiner Tochter in die Augen und streckte Jillan die Arme entgegen.

Hella und Jacob waren gegangen, und Jillan und Samnir waren gerade damit beschäftigt, die Betten zu machen, als es leise an der Tür klopfte.

»Wer da?«, fragte Samnir und ging zur Tür.

»Samnir, deine Herrin ist endlich gekommen. Du wirst mir die Tür öffnen.«

Samnir starrte die Tür mit offenem Mund an, und seine Hand hob sich von selbst, um zu gehorchen.

Jillan spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, und rief: »Warte, Samnir! Wer ist es?«

Der Soldat schob den Riegel beiseite und ließ den nächtlichen Besuch herein. Der Neuankömmling war schlank und trug einen langen schwarzen Umhang und eine groteske Holzmaske, deren linke Hälfte schön und weise war, während die rechte hässlich schielte. Dennoch war es ein durchgehendes Gesicht und recht verstörend. Erst wirkte die Hässlichkeit echt und die Schönheit trügerisch, dann wieder verhieß die Hässlichkeit Schmerz, während die Schönheit Gnade versprach. Es war anscheinend eine Darstellung von Miserath, aber weshalb hätte der heidnische Gott mit einer Maske, die ihn selbst zeigte, erscheinen sollen? Die Maske wurde abgenommen, und ein ganz neues Gesicht kam darunter zum Vorschein.

»Heilige, es ist so lange her«, wimmerte Samnir und verneigte sich tief.

»Erhebe dich, hochgeschätzter Samnir. Du bist gealtert, aber du machst immer noch eine gute Figur, hm?« Die Aufmerksamkeit der Fremden verlagerte sich auf Jillan. »Und das ist der Junge, um den so viel Aufhebens gemacht wird. Guten Abend, junger Mann. Ich bin die heilige Izat, und ich bin gekommen, um dich aus all diesem Lärm und Aufruhr wegzuholen. Diese Region ist doch geradezu verfault, nicht wahr? Ich habe keine Ahnung, wie es irgendjemandem hier auch nur gelingt, sich die Schuhe sauber zu halten. Einen Stuhl bitte, mein lieber Samnir. Süßer Mann.« Die Heilige ließ sich auf der Kante des ihr zur Verfügung gestellten Stuhls nieder und musterte Jillan von oben bis unten. »Etwas raue Schale, aber ich bin mir sicher, dass du nach ein oder zwei Bädern einen wahren Leckerbissen abgibst.«

Jillan starrte die Heilige böse an. Ihre dünnen Augenbrauen und verstörend vollen Lippen gefielen ihm nicht. Das Gesicht der Vertreterin der Erlöser wies kaum ein Fältchen auf. Diese Kreatur war sichtlich geübt darin, ihre Miene ausdruckslos zu halten, um es anderen unmöglich zu machen, ihre Gedanken zu lesen. Welche Absichten und Gelüste der Heiligen waren so fürchterlich, dass sie verborgen bleiben mussten? Welche Absichten und Gelüste hatten Heilige überhaupt? Gewiss waren sie allesamt nicht allzu appetitlich.

»Bist du gekommen, um mir die Erlösung anzubieten?«, fragte Jillan in neutralem Ton. »Oder um mich zu den Erlösern zu ziehen? Um mich mit der Verdammnis zu bedrohen, wenn ich Widerstand leiste?«

Die heilige Izat lächelte sanft. »Wenn ich so behandelt worden wäre wie du, dann wäre ich auch zynisch, Jillan. Der heilige Azual kann ein rechter Eiferer und Rohling sein, das weiß ich. Seine Leidenschaft ist fehlgeleitet, verstehst du? In meiner Region im Westen liegen die Dinge anders. Sie ist ein Garten der Liebe und des Verständnisses. Dort gibt es kein Morden und keine Unterdrückung. Komm mit mir! Bring deine Freunde mit, dann kannst du das Leben führen, das du dir immer gewünscht hast, du wirst schon sehen! Lass dieses Elend hinter dir.«

»Aber deine Region ist trotz allem ein Teil des Reichs, nicht wahr? Die Kontrollmechanismen in deiner Region mögen andere sein als in dieser hier – du regierst vielleicht eher mit liebender als mit eiserner Hand –, aber sie sind dennoch Mechanismen. In deiner Region würde es mir auch nicht freistehen, mein Leben so zu führen, wie ich will. Du würdest alle Magie aus mir ziehen wollen, nicht wahr, genau wie der heilige Azual? Dieses Elend gefällt dir vielleicht nicht, aber es ist mein Elend, in dem niemand mich besitzen, beherrschen oder zu den Erlösern ziehen darf. Samnir, bitte begleite die Heilige zur Tür.«

Die heilige Izat lächelte erneut und klopfte sich erheitert auf den Schenkel. »Samnir steht unter meinem Befehl, mein altkluger und herausfordernder junger Mann. Aber ich mag dich, und so muss ich darauf bestehen, dass du mitkommst und …«

Eine schwere Hand landete auf der Schulter der Heiligen.

»Samnir! Was hat das zu bedeuten? Wie kannst du es wagen, ohne meine gnädige Erlaubnis eine deiner schmutzigen Hände auf meine heilige Person zu legen?«, kreischte die Heilige empört.

Der Griff der Finger verstärkte sich.

»Samnir! Befeuert deine Lust dich so …«

Eine Klinge aus Sonnenmetall wurde der Heiligen gegen die hübsche Kehle gepresst und brachte sie zum Schweigen. »Jillan hat dich aufgefordert zu gehen, Heilige. Ich schlage vor, dass du das tust, bevor ich mich voll und ganz an die Dinge erinnere, die du mir angetan hast, um mich an dich zu binden, als ich noch jung war. Du bezeichnest das also als Liebe? Warum bin ich mir dann nur schmutzig und ausgenutzt vorgekommen? Zögere noch eine Sekunde, dann wird es deine letzte sein, Heilige.«

Die heilige Izat stand sofort auf, und Samnir führte sie zur Tür und stieß sie nach draußen. Dann schlug der Soldat die Tür schnell zu und verriegelte sie doppelt. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen und glitt mit teigig weißem Gesicht zu Boden.

Durch das Holz hinter seinem Ohr ertönte eine sanfte Stimme: »Du wirst wieder mein sein, süßer Samnir, und um meine Liebe flehen, bevor ich mit dir fertig bin.«

Samnir stolperte zum Stuhl zurück und konnte den Blick nicht von der Tür abwenden.

Jillan goss den letzten Rest Wein in einen Becher und drückte ihn seinem Freund in die Hand. »Trink das. Ich dachte, du würdest sie töten.«

»Ich wünschte, das hätte ich getan«, sagte Samnir zähneklappernd. »Aber es hat mir schon alles, was in mir steckt, abverlangt, ihr auch nur die Klinge an den Hals zu setzen.«

Im Dunkeln belud Praxis den Wagen mit sämtlichen Flaschen Wein, die in seinem privaten Keller lagerten, und fuhr damit durch Gottesgabe zum Nordtor. Er rief die heidnischen Wachposten zu sich herunter und reichte jedem Mann eine Flasche des stärksten Gebräus.

»Von Häuptling Pralar, damit ihr auf den Sieg morgen Abend trinken und heute Nacht die Kälte fernhalten könnt. Der Häuptling hat gesagt, dass er es als persönliche Beleidigung betrachten würde, wenn ihr eure Flaschen nicht binnen einer Stunde geleert hättet, und auch als Blasphemie gegen die Götter.«

Die Männer lachten. Sie versicherten ihm, dass sie treuen Glaubens wären.

»Und eine zweite Flasche für den, der seinen Glauben unter Beweis stellt, indem er als Erster fertig wird!«

Sie jubelten dem Prediger zu, als er mit den verbliebenen etwa hundert Flaschen zum Wirtshaus hinüberfuhr, das nicht weit vom Tor entfernt lag.

Jillan hatte geglaubt, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde, aber er versank in seinen Träumen, sobald er die Augen geschlossen hatte. Er stand wieder inmitten einer verwüsteten Landschaft mit rissigem schwarzem Boden, durch dessen Höhlen Lava strömte. Er schritt über die rauchende Erdkruste, in der alle Baumwurzeln längst verbrannt waren. Die massigen Baumstämme selbst waren hoch aufgetürmt und bildeten einen verkohlten Scheiterhaufen. Der Himmel war ein Leichentuch aus Ruß und Asche, und die schwefelhaltige Luft tat Jillan in der Lunge weh. Als er über eine leichte Anhöhe kam, stellte er fest, dass er über die zerfallenden, pulvrigen Knochen der Toten ging.

Wieder erhob sich hoch vor ihm ein großer grüner Hügel, dessen Hänge ein Meer von Menschen hinaufbrandete, nur um von einer wartenden Reihe grausam blickender, schwer bewaffneter Helden zurückgedrängt zu werden. Das Grün der unteren Hänge war schon längst dem Rot und Braun verlorener Leben gewichen. Doch die Leute kämpften weiter sinnlos gegeneinander, um die ersten zu sein, die die mörderischen Sonnenmetallspeere erreichten.

Auf der Hügelkuppe stand ein Thron aus Schädeln, von dem aus der verstümmelte, verrückte Heilige blind auf sein Reich hinabstarrte. Er lachte, als würde er einem Maskenspiel zuschauen. Eine Frau in Lumpen kam einem vierschrötigen Mann in die Quere, der ihr den Kopf ruckartig verdrehte, um ihr das Genick zu brechen. Im letzten Augenblick ihres Lebens richteten sich ihre Augen auf Jillan, und der Heilige sah ihn.

Azuals abscheuliche Gestalt erhob sich und zeigte auf den Jungen hinunter. »Dort steht derjenige, der euch in den Tod getrieben hat! Seht da! Er steht hinter euch und bedroht euch mit seiner Magie, und ihr sucht Zuflucht auf meinem grünenden Hügel. Seht, wie er die ganze Landschaft im weiten Umkreis verwüstet hat, sodass ihr keine Freistatt anderswo finden könnt. Seht, wie er es darauf anlegt, euch diesen Hügel, den einzig sicheren Ort, überfluten zu lassen. Wendet euch gegen ihn! Erlaubt ihm nicht, euch den Tod aufzuzwingen. Nehmt Rache! Und der, der mir seinen Kopf bringt, soll einen Platz an meiner Seite in diesem beschaulichen Garten erhalten.«

Die wild blickende Meute drehte sich um wie ein Mann, um Jillan hungrig anzustarren. Alle begannen auf ihn zuzurennen. In dem Tumult wurden die Langsamen niedergetrampelt und auf dem Boden zerquetscht. Unglückliche wurden in Erdspalten gestoßen und stürzten schreiend in die dampfende Lava. Kinder und Säuglinge wurden in dem Chaos fallen gelassen, auf vom Feuer gehärteten Ästen aufgespießt oder auf Felsen zerschmettert.

»Nein! Bleibt zurück!«, flehte Jillan und wirbelte herum. Er rutschte aus und strauchelte auf den trügerischen Überresten dessen, was einst hier gelebt hatte. »Bitte!« Er rannte um sein Leben, doch er konnte nirgendwohin. Er schwang sich über einen umgestürzten Baumstamm und sprang mit gerade genug Schwung über einen klaffenden Abgrund, um sich davor zu bewahren, in die feurigen Tiefen zu stürzen. Ein alter Mann, der kaum mehr als ein wandelndes Skelett war, warf sich hinter Jillan über die Erdspalte, erreichte die andere Seite nicht ganz, hielt sich an der bröckelnden Kante fest und versuchte hektisch, sich hochzuziehen.

»Vergib mir!«, schluchzte Jillan und rannte weiter, während der Mann in das geschmolzene Gestein fiel.

Sie strömten um den kleinen Abgrund herum. Angst und Adrenalin erlaubten es Jillan, seine Geschwindigkeit noch einmal schlagartig zu steigern, und er gewann einen Vorsprung von einer Handvoll Schritten, aber bald begann er langsamer zu werden, während die wilde Horde keinen Moment lang nachließ. Hände packten seine Kleidung und zogen daran. Sie zerrten ihn zu Boden und griffen nach seinem Kopf, kämpften darum, Halt zu finden, um ihn von seinen Schultern zu reißen. Jillan biss kräftig in Finger, bis auf den Knochen, aber ihre wahnsinnigen Besitzer bemerkten es gar nicht. Sie stachen nach seinen Augen, rammten ihm scharfe Fingernägel in die Ohren, um ihm das Trommelfell zu durchstoßen, schlitzten ihm die Nasenlöcher auf und rissen ihm das Haar büschelweise aus.

Jillan hob den Kopf und spie geradezu sein ganzes Selbst durch den Mund aus. Er schrie und schrie.

Samnir hatte ihn bei den Schultern gepackt und schüttelte ihn heftig. Eine brennende Ohrfeige. »Ich bin hier, Jillan.«

»Er ist hier!«, schrie Jillan, von kaltem Schweiß überströmt.

Es kratzte an der Haustür, und sie erbebte, als Hände sie aufzureißen versuchten. Fußtritte und Schulterstöße erschütterten sie im Türrahmen. Man rief und heulte bestialisch nach Jillans Kopf. Es war kein Traum. Das Volk war gekommen, um ihn zu holen.

»Der Heilige ist hier!«

»Wie das?«, fragte Samnir in Panik, zog sein Schwert und wandte sich der Tür zu. »Er sollte doch eigentlich erst morgen kommen! Wir sind noch nicht bereit. Wir werden niedergemetzelt werden!«

Die Morgendämmerung nahte bereits, als die letzten stinkenden Heiden im Wirtshaus in betrunkener Bewusstlosigkeit versanken. Er schnarchte so laut wie die anderen, und eine Fliege kreiste träge über seinem offenen Mund.

Prediger Praxis schüttelte den Arm ab, den der Trunkenbold neben ihm freundschaftlich um seine Schultern gelegt hatte, und stieß das Gesicht des Kriegers von sich. Der Prediger kletterte über den Tisch, suchte sich einen Weg zwischen den schlafenden Leibern und leeren Flaschen hindurch und erreichte die Tür.

»Endlich! Diese Tiere werden bald aufgespießt und über den gierigen Flammen ihrer eigenen Verderbtheit gebraten werden. Schweine!«, sagte er voller Ekel.

Er trat in den ersten schwachen Lichtschein der Morgendämmerung hinaus und rannte dann Richtung Tor. In seiner Erregung bemerkte er den Schatten nicht, der ihm aus dem Wirtshaus nachschlich.

Der Prediger konnte sich nicht beherrschen. »Gebieter, ich komme, um Eure Befehle zu erfüllen! Gelobt sei dieser Augenblick, denn der Sonnenaufgang kündet vom Beginn eines neuen Zeitalters der Zivilisation, einer Welt, in der nur noch die Würdigen leben werden, einem Land, in dem die göttlichen Erlöser, ihre Heiligen und das Volk sich vermischen und eins werden. Der Tag der ewigen Kommunion ist gekommen. Gelobt seien die Erlöser!«

»Wer da?«, lallte ein schielender Krieger am oberen Ende der Treppe neben dem Tor. »Ach, du bischt’sch, Fla…Flaschländer.«

Der Prediger beachtete ihn gar nicht, sondern hob ein Ende des Riegels vor dem Tor hoch. »Gebieter, Eure heilige Stadt erwartet Euch!«

Gut, heiliger Praxis. Wir sind bereit. Schnell, denn ich bin ausgehungert und möchte mein Fasten mit heidnischem Blut und Heidenknochen brechen! Schnell!

»He! Wasch tuscht du denn da, Flaschländer? Scholl ich dir helfen?«, fragte der Krieger mit einem Schluckauf, wankte die ersten paar Stufen hinunter, verlor dann die Kontrolle und polterte den Rest der Treppe in halsbrecherischem Tempo hinab. Er hüpfte am Boden wie ein akrobatischer Spaßmacher hoch und rief: »Da bin ich!« Von den Kriegern auf den Wehrgängen über ihm ertönte unwilliges Stöhnen.

»Willsch du spaschieren gehen, Flaschländer? Ich glaub ja nich’, dasch du dasch tun scholltescht, nich’ ohne Eschkorte oder scho. Lasch mich ein paar andere wecken.«

Schnell!

Der Prediger bleckte die Zähne und war unfähig, den abscheulichen, halb nackten Teufel anzulächeln. Er trat nahe an das Geschöpf des Chaos heran, zog eine nadelfeine Klinge aus dem Ärmel seines langen Predigermantels und rammte dem Heiden die Waffe seitlich in den Hals. Der Prediger versuchte, die Klinge wie eine Säge nach vorn zu führen, um den Mann am Schreien zu hindern, aber da der Rand nicht gezahnt war, rüttelte er nur mit der Klinge in der Wunde herum. Blut spritzte dem Prediger in Augen und Mund, dann über die Hand, mit der er das Messer festhielt, sodass es seinem Griff entglitt.

Torpeth sprang auf den Prediger zu und wollte seinem Verrat ein Ende setzen, bevor er noch weitergehen konnte, aber in dem Augenblick wandte Praxis das Gesicht von seinem blutüberströmten, röchelnden Opfer ab und sah den heiligen Mann.

»Du kommst zu spät!«, kicherte der Prediger mit roten Zähnen, während er den Krieger zurückstieß und das andere Ende des Querriegels hochstemmte. »Jetzt, Gebieter! Erlöst uns von dem Bösen!« Etwas prallte von außen krachend gegen die Torflügel, und sie begannen zitternd aufzuschwingen.

»Wacht auf! Wacht auf!«, schrie Torpeth zum Wehrgang und in den Himmel empor. »Verrat! Wacht auf, unsere Albträume sind Fleisch geworden! Wacht auf, ihre Leute, sonst wacht ihr nie mehr auf! Nun muss bezahlt werden! Der Augenblick unserer wahren Prüfung ist gekommen! Die Anderen sind hier, mit Feuer und Schwert! Oh, wo sind die Götter? Wacht auf!«

Händeringend und mit wild rollenden Augen rannte Torpeth zum Wirtshaus, während die Flammen der Sonne die Erde zu verschlingen begannen und Azual nach Gottesgabe zurückkehrte.

Samnir stieß Jillan und seinen Bogen durch das kleine Fenster der Kammer, in der einst Jillans Eltern geschlafen hatten, und versuchte dann, sich hinter ihm hindurchzuzwängen. Es gelang dem Soldaten, einen Arm und den Kopf durchs Fenster zu stecken, und so wusste er, dass er es wohl schaffen würde. Er stieß sich mit den Füßen vom Boden ab, nur um mitten in der Luft in der engen Öffnung hängen zu bleiben. Er hing halb drinnen, halb draußen und fand nicht genügend Halt, um sich hindurchzuziehen. Er trat mit den Beinen um sich, als würde er schwimmen, versuchte, den Oberkörper zu winden und sich mit der freien Hand an den Ziegeln nach draußen zu stemmen.

Jillan packte Samnirs Arm, um ihn ins Freie zu ziehen.

Samnir schlug ihn beiseite. »Hinter dir!«

Aus dem grauen Licht trat eine gespenstische Gestalt hervor, deren Augen vollkommen schwarze Abgründe waren. »Komm zu mir, Junge!«, knurrte sie Jillan vielstimmig an, als ob mehr als ein Wesen in ihr wohnte.

»Nimm das Schwert!« Samnir verzog das Gesicht, als er seinen Arm im Innern des Hauses verdrehte, um die Sonnenmetallklinge an seinem Körper vorbeizuschieben, wobei er sich die Haare versengte.

Weitere Ghule kamen aus dem Grau. Sie bewegten sich ruckartig, als würden sie an unsichtbaren Fäden vom Willen eines anderen geführt. Der erste Ghul ruckte auf Jillan zu, der sich duckte, aber der besessene Bewohner von Gottesgabe stürzte sich auf ihn und knirschte gleich neben seiner Wange mit den Zähnen. Jillan reckte den Hals nach hinten und stieß mit einer Hand gegen den Brustkorb des Mannes, weil die zweite unter ihm eingeklemmt war.

»Halt durch, Junge!«, rief Samnir und schob sich noch ein paar Zoll vorwärts. Hinter ihm ertönte im Haus ein Krachen, als die Vordertür schließlich nachgab.

Jillan erkannte, dass Samnir nicht rechtzeitig zu ihm gelangen würde, streckte den Arm aus, um nach dem Schwert zu tasten, und schloss die Finger um den Griff. Die Zähne des Stadtbewohners bissen ihn in die Wange, und er schrie auf und stach mit dem Schwert zu. Die Spitze drang dem Ungeheuer in die Schläfe und kam auf der anderen Seite des Kopfes wieder heraus. Die Augen des Mannes wurden klar und nahmen wieder ihre gewöhnliche braune Farbe an; er blinzelte ein einziges Mal und brach dann tot auf Jillan zusammen.

Jillan wälzte die tote Last von sich herunter, riss das Schwert heraus und schwang es sofort durch den Hals eines sabbernden jungen Mädchens, das mit den Fingernägeln nach ihm kratzte. Die Klinge schnitt mühelos durch Fleisch und Knochen, und ihr Kopf rollte zu Boden. Er blieb liegen und starrte anklagend zu Jillan hoch.

»Ich will dich nicht töten!«, schrie Jillan verzweifelt einem Bekannten in Zimmermannskleidung zu, der auf ihn zugestapft kam. »Bleib zurück!«

Der Zimmermann legte den Kopf schief und sprach mit der Stimme des Heiligen: »Dann hör auf, gegen mich zu kämpfen, Junge. Du hast all das hier verursacht. Wie viele müssen noch sterben, bis du dich der Autorität Älterer und Höhergestellter beugst? Sie haben nur dein Wohl und das des Volkes im Sinn. Du kannst nicht gegen ein ganzes Reich kämpfen, Jillan. Hör auf damit, bevor es zu spät ist. Aufgrund dessen, was du begonnen hast, werden in diesem Augenblick die Heiden abgeschlachtet, und Unschuldige werden in das daraus folgende Chaos hineingezogen und sterben. Du hast einen Völkermord angestoßen, Junge. Sie werden alle sterben!«

Jillan senkte das Schwert. »Wenn ich zu kämpfen aufhöre, musst du das Töten beenden.«

»Nein!«, schrie Samnir, traf, als er um sich trat, auf etwas Hartes und konnte sich so endlich weit genug abstoßen, um von seinem Körperschwerpunkt ins Freie und zu Boden gezogen zu werden.

Er landete unbeholfen, stand aber schnell auf und versetzte dem Zimmermann einen so heftigen Fausthieb ins Gesicht, dass der Mann sich einmal um die eigene Achse drehte. »Gib mir das!«, verlangte Samnir und tauschte die Sonnenmetallklinge in Jillans Hand gegen ein gewöhnliches Langmesser aus. Er packte Jillan beim Kragen und hob ihn fast von den Beinen, während er ihn das Gässchen neben dem Haus entlangschleifte. Hinter ihnen ertönte Geheul, als die Leute des Heiligen die Verfolgung aufnahmen.

»Sie sind nicht sie selbst!«, schrie Jillan verzweifelt, als Samnir ein altes Pärchen vor ihnen niederhackte.

»Das kann man wohl sagen!«, erwiderte Samnir grimmig. »Aber sie waren ohnehin nie ein besonders freundliches Völkchen, nicht wahr?«

Sie rannten aus der Gasse in eine etwas breitere, und Jillan führte sie um mehrere Biegungen und Ecken, bis sie die Hauptstraße erreichten. Sie kamen schlitternd zum Stehen, als sie sahen, dass Dutzende von Stadtbewohnern sich vor ihnen verteilt hatten und sie reglos im Zwielicht erwarteten. Hinter sich hörten Jillan und Samnir das Keuchen des Rudels von Jägern, das sich ihnen näherte. Die Augen und Köpfe der Bewohner von Gottesgabe wandten sich dem Soldaten und dem Jungen zu und sahen sofort Samnirs glänzendes Schwert. Gespenstisch aufeinander abgestimmt rückten sie vor, erst stumm, dann mit hungrigem Schnüffeln und erregtem Winseln.

»Verdammt! Dann müssen wir das hier wohl auf die schwierige Art hinter uns bringen. Bleib nahe bei mir, Junge. Jillan! Komm schon!«

Die nackte Frau, die Aspin die Stirn streichelte, lächelte ihn verträumt an und versetzte ihm dann so eine heftige Ohrfeige, dass sie ihm fast den Kiefer ausrenkte. So soll der Traum nicht ausgehen, dachte er, als er rüde aus dem Schlaf gerissen wurde. Die Frau bekam Bartstoppeln, ihre Nase wurde breit, ihre Augenbrauen dicht. Sie stank. »Thomas?«, fragte Aspin verschlafen und fragte sich, ob der Schlag des Schmieds ihm wohl den Schädel gebrochen hatte.

»Der Feind ist innerhalb der Stadtmauern!«, rief Thomas. »Hol deinen Bogen. Sofort!«

Thomas wandte sich ab, weckte andere mit Tritten und brüllte ihnen zu, dass sie aufstehen sollten. Die meisten kämpften sich hoch, darunter auch Häuptling Pralar und Slavin, aber ein paar Krieger waren derart betrunken, dass sie sich noch nicht einmal rührten.

Der Schmied gelangte zur Tür des Wirtshauses, nur um festzustellen, dass sie von außen verschlossen war. Es roch nach Rauch. Brennende Fackeln wurden durch die Fenster hereingeworfen, dann wurden die Läden zugeschlagen. Ein Tisch, auf dem während des Feierns Alkohol verschüttet worden war, fing Feuer, und die Flammen schlugen bis zur Decke empor und ließen weitere Rauchwolken im Raum aufquellen.

»Wacht auf, ihr Hunde!«, brüllte Thomas, trat von der Tür zurück und rannte dann mit der Schulter und seinem massigen Körper gegen sie an.

Die Tür krachte und sank ein. Thomas holte noch einmal Schwung und warf sich nach vorn. Die Tür sprang auf, und Thomas landete auf dem Boden. Es standen Helden mit erhobenen Sonnenmetallschwertern bereit. Einer holte sofort mit der Waffe aus, um Thomas den Kopf abzutrennen, aber ein Pfeil kam durch die Tür des Wirtshauses geflogen und traf den Helden in die Kehle. Bergkrieger sprangen über Thomas hinweg und verschafften ihm ein paar lebensrettende Augenblicke, um sich aufzurichten und den schweren Hammer zu heben.

Dutzende von Helden stießen die Heiden mit ihren Schilden zurück und versuchten, ihre Überzahl auszunutzen, um den Feind im brennenden Wirtshaus zu halten. Thomas ließ die Muskeln der mächtigen Arme und des Brustkorbs spielen und versetzte seinen Hammer in tödlichen Schwung, so dass er Schilde einschlug, Rippen zerschmetterte und Männer umriss. Weitere Helden traten in die Lücken, die im Schildwall entstanden waren. Thomas schwang den Hammer erneut, durchschlug zwei Helme und schleuderte einen dritten Mann zu Boden. Noch ein Hieb, aber diesmal wurde eine Sonnenmetallklinge vorgereckt, und der Hammer wurde geköpft. Nun setzte Thomas seinen langen Griff als Stab ein, aber die Helden standen mindestens sechs Reihen tief um das Wirtshaus herum, so dass er nicht mehr erreichte, als sich etwas Freiraum zu verschaffen.

»Für die Götter!«, ertönte ein markerschütternder Schlachtruf. Häuptling Pralar stürmte mit gesenktem Kopf mitten in die Helden hinein und drängte den Mann direkt vor ihm auf das Schwert des Soldaten in der Reihe dahinter. Pralar führte eine Klinge aus Sonnenmetall, die seine Krieger bei der Einnahme von Gottesgabe erbeutet hatten, und er benutzte sie nun, um einen weiten Halbkreis aus der ersten Reihe herauszuhauen. Slavin trat in die Lücke hinter seinem Häuptling. Er hielt in beiden Händen je einen langen, dünnen Speer, den er mit unbeirrbarer Zielsicherheit vorschnellen ließ, um hier ein Auge, da eine Kehle, dort einen offenen Mund und jede ungeschützte Achsel, die von einem erhobenen Arm entblößt wurde, zu durchbohren. Kein Held hatte Aussichten, einen Schlag gegen Pralar zu führen, solange Slavin ihn beschützte. Sterbende Männer stießen erbärmliche Schreie aus und flehten ihre gesegneten Erlöser und ihre Mütter an, ihnen zu helfen.

Aspin und mehrere weitere Krieger zwängten sich aus dem Wirtshaus hervor, schossen Pfeile ab und schleuderten kurze Wurfspieße. Es spielte keine Rolle, dass ihnen leicht die Hände zitterten, denn die Helden standen so dicht gedrängt, dass es schwer war, keinen von ihnen zu treffen.

»Einen Schritt vorwärts!«, ertönte eine befehlsgewohnte Stimme hinter den Helden, und die Reihen bewegten sich vor wie ein Mann, trampelten wenn nötig gefallene Kameraden nieder und traten fest zu, um sicheren Halt zu finden.

Thomas’ Stab war entzweigeschlagen worden. Er wirbelte die beiden Hälften mit den Händen als kurze Kampfstöcke herum, zerschmetterte Fingerknöchel, wehrte Hiebe am Arm ab, brach Ellbogen und Nasen und führte Schläge unters Kinn. Er prügelte und trommelte sich voran und wusste, dass er mit jedem Schritt, den er vorwärtsmachte, noch ein Leben aus dem Wirtshaus rettete. Inzwischen befand er sich mitten zwischen den Helden und war sich bewusst, dass jeder Augenblick sein letzter sein konnte. Er steigerte seine Geschwindigkeit, bis seine Arme sich wie rotglühendes Metall anfühlten und seine Lunge wie ein Blasebalg pumpte. Er bearbeitete das Eisen in seinen Muskeln, als wäre er zu Hause in seiner Schmiede. Tosende Flammen, drückende Hitze und blendender Rauch umgaben ihn. Er kämpfte gegen den ewigen Drachen, den Drachen von Leben und Tod, und lachte dröhnend, denn das hier war der Kampf, für den er stets bestimmt gewesen war, der Kampf, der seinem Leben einen Sinn verlieh und all sein Leid und seine Verluste zu einer wundersamen Freude werden ließ.

Irgendwie war es Pralar gelungen, an seiner Seite zu bleiben, da der stiernackige junge Mann sich nicht von einem bloßen Flachländer ausstechen lassen wollte. Der nackte Oberkörper des Häuptlings war über und über von tiefen Schnitten und Brandwunden bedeckt. Blut strömte ihm über Brust und Rücken, aber jede Verletzung schien seine Raserei und Kraft nur noch zu steigern. Bei seinem Berserkergang rollte er vor Wahnsinn die Augen, ohne auch nur den geringsten Gedanken an seine Sicherheit zu verschwenden, während er sich den Elementarkräften und dem Willen der Götter hingab. Er hatte ein zweites Sonnenmetallschwert erobert und stürmte mit beiden Waffen vorwärts, wie ein furchterregender gereizter Auerochse es getan hätte, die beiden Spitzen drohend gesenkt.

»Macht die Speere bereit! Einen Schritt vorwärts! Zustoßen!«, ertönte erneut die Stimme, deren Befehlston nun ein wenig verunsichert wirkte.

Dann rannte plötzlich Torpeth über die Köpfe und Schultern der Helden, versetzte ihre Reihen mit seinem Geheul in Angst und Schrecken und verursachte dadurch genauso viel Unordnung wie mit den kleinen, aber tödlichen Dolchen, die er in den Handflächen hielt. Er sprang, landete mit beiden Füßen auf dem Helm eines Mannes, hockte sich sofort hin und schwang die Dolche unter seine Füße, so dass sie dem Mann in die Ohren und ins Gehirn drangen. Der so gut wie nackte heilige Mann sprang wieder auf und landete mit den Füßen auf den Schultern eines weiteren Helden. Die Dolche durchschnitten dem Mann von beiden Seiten die Kehle. Torpeth hüpfte auf den nächsten Mann, landete auf einem Bein und trat mit dem freien Fuß dem Soldaten dahinter ins Gesicht. Speere stachen nach ihm, aber er blieb nie lange genug an einer Stelle, um davon getroffen zu werden. Er landete wuchtig auf dem nächsten Helden, um ihm das Genick zu brechen, und sprang und hüpfte hin und her durch die Reihen. Jeder seiner Schritte und jede seiner Berührungen brachte den Tod, so dass ständig der Todesschrei eines weiteren Mitglieds der Reichsarmee ertönte.

»Einen Schritt vor… Aaah!«

Die Bergkrieger strömten nun hustend aus dem Wirtshaus hervor, doch die meisten waren bewaffnet und kampfbereit. Die Streitmacht aus über hundert Helden, die ausgeschickt worden war, um die Leute im Wirtshaus zu töten, war völlig vernichtet worden.

Thomas blickte zum Nordtor hinüber. Die Hauptmacht der Helden metzelte gerade die Bergkrieger auf den Mauern und diejenigen nieder, die in den nahen Baracken geschlafen hatten. Welle um Welle schwer bewaffneter Helden marschierte durch das offene Tor, und dann erschien die schreckliche Gestalt des heiligen Azual. Der Herrscher der Region überragte alle und wirkte sogar noch Furcht einflößender als zu dem Zeitpunkt, als Aspin und Thomas ihm in Hyvans Kreuz gegenübergestanden hatten. Die aufgehende Sonne schuf einen grellen Heiligenschein um seinen Kopf, sodass es den mehreren hundert Verteidigern schwerfiel, ihn anzusehen.

Jillan schoss einen Pfeil ab und traf den Bäcker ins Bein, denselben Bäcker, der seiner Mutter immer Brot verkauft hatte, es jetzt aber darauf anzulegen schien, ihn umzubringen.

»Schieß, um zu töten!«, tadelte ihn Samnir. »Wir können es uns nicht leisten, Pfeile zu verschwenden.« Der Soldat schlug zu und hackte Gliedmaßen ab, die sich nach ihm ausstreckten.

Sie kämpften sich im Laufschritt die Südstraße entlang, und mehr und mehr der vom Heiligen besessenen Stadtbewohner kamen aus den Seitenstraßen hervorgeströmt, um zur Meute zu stoßen. Sie schrien nach Jillan, nach Blut und nach dem Ruhm des Reichs.

Die Mehrzahl der aufgepeitschten Leute von Gottesgabe verfolgte Jillan und Samnir, aber vereinzelt waren auch noch welche vor ihnen. Zwei näherten sich Jillan von der Seite. Er schoss einem von ihnen einen Pfeil in die Stirn, und Samnir nutzte seinen Schwung aus, um den anderen zu rammen und zu Boden zu stoßen.

»Nimm die Beine in die Hand, Junge!«, keuchte Samnir und fluchte, als ein hünenhafter Holzfäller sich ihnen in den Weg stellte.

Jillan wagte einen Blick zurück über die Schulter. »Sie holen auf!«, rief er in Panik und zog hektisch einen Pfeil aus dem Köcher, nur um ihn fallen zu lassen.

Der Holzfäller stürzte sich auf Jillan und überrumpelte Samnir so. Große Hände griffen nach der Vorderseite von Jillans Tunika und rissen ihn zu Boden. Samnir trat auf den Rücken des Holzfällers, um ihn niederzuhalten, versenkte seine Sonnenmetallklinge im Genick des Mannes und zog sie wieder hervor. Dann durchschlug der Soldat die Handgelenke des Mannes und zerrte Jillan, an dessen Tunika immer noch eine der abgeschlagenen Hände des Holzfällers hing, auf die Beine.

Die Stadtbewohner, die ihnen auf den Fersen waren, hatten sie mittlerweile fast eingeholt.

»Zieh den Kopf ein und lauf weiter zum Versammlungsplatz, wo wir mehr Bewegungsfreiheit haben. Bleib nicht stehen, ganz gleich was geschieht!«, befahl Samnir und stieß Jillan vor sich her.

»Jillan«, ertönte ein vielstimmiges Stöhnen hinter ihnen. Jetzt wagte Jillan es nicht mehr, sich umzusehen. Er war gezwungen, Bogen und Köcher wegzuwerfen, um ungehinderter laufen zu können. Außerdem hätten ihm diese Waffen in dem Nahkampf, in den sie sicher bald verstrickt werden würden, nichts genützt.

Seine Lunge brannte, und seine Beine zitterten vor Anstrengung. »Wir schaffen das nie!«

Doch, wenn du mich loslässt, du Narr!, fuhr der Makel ihn an. Dir ist aus einem bestimmten Grund Magie verliehen worden. Lass diese Selbstzweifel fahren, sonst hat der Heilige schon gewonnen.

»Ich kann nicht! Ich kann nicht!«

Lass mich frei!, heulte der Makel und kämpfte gegen Jillans Beherrschung an.

Jillan wich nach rechts und links aus, stürmte zwischen zupackenden Händen hindurch und stürzte auf den Versammlungsplatz hinaus … wo noch mehr Bewohner von Gottesgabe ihn erwarteten. Sie drehten sich alle zugleich nach ihm um.

»Jillan, es gibt kein Entkommen. Es müssen nicht noch mehr Leute sterben«, ertönte die Stimme des Heiligen aus einem Dutzend Kehlen.

Jillan, ich kann dich, Samnir und all diese Menschen retten!

»Hier!«, erscholl ein Ruf. Haal und ein paar Dutzend andere rannten auf ihn zu, unter ihnen auch Dan Arnesohn. Jillan begriff, dass es sich um all die Menschen handelte, die er von der Pest geheilt hatte – aber das hatte er doch nicht getan, damit sie ihr Leben wegwarfen, nur um ihm noch ein paar Sekunden Freiheit zu erkaufen! Viele von Haals Begleitern waren alt und hielten als Waffen allerlei Haushaltsgegenstände umklammert – wie lange konnten sie gegen eine von einem einzelnen ordnenden Intellekt gelenkte Menge durchhalten, die zehnfach in der Überzahl war?

Deine Magie hat ihnen die Freiheit verliehen, sich zu entscheiden, Jillan. Nimm sie ihnen nun nicht wieder. Du hast sie aus der Falle ihres eigenen Verstandes befreit. Sie haben jetzt einen Lebenszweck und ein Ziel. Besser ein Tod von Bedeutung als ein langes, bedeutungsloses Dasein.

Sie waren jetzt näher heran, und er sah Entschlossenheit in der Art, wie Dan die Zähne zusammenbiss, Überzeugung im Blick seines Schulkameraden Haal und sogar Freude in der Körperhaltung einer rüstigen Großmutter, die ihr Brotmesser fest umklammert hielt. Er war gerührt, fühlte sich demütig. Er konnte sie nicht enttäuschen. Er rannte zu ihnen, während die Massen der Bevölkerung von Gottesgabe auf sie zubrandeten.

Samnir war plötzlich wieder an seiner Seite. »Nach Norden! Dort müssen die Heiden sein, wenn überhaupt noch welche von ihnen am Leben sind.«

Jillan und seine Gefährten eilten über den Versammlungsplatz und um das Sitzungshaus herum. Etwa alle zwölf Schritte wurde jemand am Rande von Jillans Schar umgerissen oder überwältigt, aber der Gruppe insgesamt gelang es, weiter voranzukommen. Diejenigen, die der Heilige beherrschte, schienen ihnen sogar auszuweichen, damit sie sich weiterbewegen konnten.

»Sie treiben uns! Locken uns in die Falle!«, rief Jillan erschrocken, als seine Gefährten auf die Nordstraße gelangten und die relativ wenigen Verteidiger vor sich sahen, die der Armee aus zahllosen Helden noch standhielten. Das Bergvolk und Jillans kleine Schar saßen in der Falle.

Der Makel erhob sich plötzlich in Jillan, als er den Riesen vor sich sah, zu dem der verhasste Heilige geworden war. Du musst zulassen, dass ich ihm einen Schlag versetze, bevor

»Ich sehe dich!«, brüllte und sabberte der heilige Azual im Geiste. »Wie nett von dir, zu uns zu kommen, Jillan. Gerade noch rechtzeitig, um all deine Freunde sterben zu sehen. Und schau her! Ich habe sogar dafür gesorgt, dass deine hübsche Hella und ihr Vater zu uns kommen. Wir wollen doch nicht, dass sie etwas verpassen, nicht wahr?«

»Nein!«, rief Jillan unwillkürlich, als er sah, dass das Mädchen, das er liebte, von mehreren Helden festgehalten wurde, die Hella auf derbe Art verhöhnten. Der Heilige lachte in dem Wissen, dass sein endgültiger Sieg nur noch wenige Augenblicke entfernt war.

Häuptling Pralar brüllte trotzig auf, schwenkte die beiden rauchenden Sonnenmetallschwerter und übertönte beinahe den Donnerhall des Heiligen. Die Bergkrieger scharten sich um den jungen, aber von den Göttern begünstigten Krieger.

»Wartet!«, schrie Jillan verzweifelt.

Aber der tapfere Berghäuptling konnte ihn nicht hören, und da ihn die Kampfeswut nach wie vor im Griff hatte, war er Vernunftgründen ohnehin nicht zugänglich. Tote Helden lagen rings um Pralar, und er war mit ihrem Blut beschmiert. Er war eine furchterregende Erscheinung und eine Verkörperung der Rache der Heiden. Die Helden in der ersten Reihe, die ihm gegenüberstanden, konnten gar nicht anders als zurückzuweichen, und das trotz der Tatsache, dass sie von ihrem Heiligen gelenkt wurden.

»Für die Götter!«, schrie Häuptling Pralar, und der Schlachtruf wurde von all seinen Männern aufgenommen. Sie stürmten mit weit aufgerissenen Augen in furchtlosem Eifer vorwärts. Die Bergkrieger bildeten eine Speerspitze, der Häuptling ganz vorn, Slavin und Thomas direkt hinter ihm, dahinter wiederum Torpeth und Aspin und ein dritter Mann und dann die übrigen zweihundert. Der Speer prallte gegen den Schildwall, den die Helden gebildet hatten, und durchstach ihn sofort.

Wo auch immer Pralar aufstampfte, bebte die Erde, und Helden verloren das Gleichgewicht und den Kopf. Wohin er auch blickte, blendeten und verwirrten seine strahlenden Augen seine Feinde, sodass sie ihren Tod nicht kommen sahen. Wo er atmete, erstickten die Soldaten des Reichs, griffen sich an die Kehle und brachen zusammen. Wo er sich bewegte, brannte die Luft, und Männer wurden von Flammen aus Blut verzehrt. Wo sein Speichel landete, verloren seine Gegner den Mut, und ihre Körper waren von eisiger Furcht gelähmt. Die Götter ritten auf seinen Schultern, und er konnte über ihre Elementarkräfte gebieten.

Wann immer eine Reihe aus zwölf Helden Pralar zugleich angriff, sprang Thomas nach links, um die Flanke des jungen Kriegsherrn zu schützen, während Slavins wirbelnde Speere die Gegner zur Rechten durchbohrten. Wenn ein Held Thomas und Slavin auswich oder sich erfolgreich gegen sie verteidigte, sprang Torpeth mit einem beinahe übersinnlichen Wissen darum, wo Waffen in der Luft waren oder gleich sein würden, so schnell vorwärts, dass man der Bewegung mit bloßem Auge nicht folgen konnte, und brachte mit der sachtesten Berührung den sofortigen Tod.

Bald wurden die Helden zurückgedrängt, bald stürmten sie wieder vorwärts wie Wellen, die an einen Strand brandeten. Sie strömten seitlich an der Speerspitze entlang, die Pralar und seine engsten Gefährten bildeten, nur um sich an Aspin und den anderen zu brechen. Die tanzenden Bergkrieger wirbelten ständig herum und duckten sich, sodass es ihrem disziplinierten Feind unmöglich war, ihrer Drehbewegung geordneten Widerstand entgegenzusetzen. Die Heiden stürmten durch die Reihen der Helden, und am Ende stand Häuptling Pralar dem heiligen Vertreter der Erlöser von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Der heilige Azual sah sie kommen und kostete den Augenblick aus. Was spielte es schon für eine Rolle, ob fünf Helden für jeden Heiden starben? Jeder tote Heide war zugleich eine Verkörperung des freien und chaotischen Geas weniger. Leben um Leben, Schritt um Schritt, Tropfen um Tropfen, Sekunde um Sekunde neigten sich die Zeit und die selbstbestimmte Kraft des Geas dem Ende zu. Bald würde nur noch der Junge aufrecht stehen, und dann würde er alles sein, was noch zwischen Azual und dem Geas stand. Da das Geas nun so mächtig an den Jungen gebunden war, würde es bis auf ihn keine andere wichtige Verkörperung und kein Versteck mehr haben. Es würde sich dem Jungen ganz übereignen müssen oder Gefahr laufen, sie beide für immer ins Verderben zu stürzen. Ja, das Geas würde sich Jillan hingeben müssen, und dann würde Azual den Jungen und das Geas in Besitz nehmen. Der Augenblick seines Aufstiegs und seiner Vergöttlichung war gekommen. Es würde auch keine anderen Götter mehr geben – keine dieser jammernden und quäkenden verworfenen Götter von Erde, Luft, Feuer und Wasser! –, denn er würde der eine Gott allen Lebens sein, der höchste und prägende Wille, der dann darangehen würde, den Kosmos herauszufordern. Die Sterne würden unter seinen Füßen zu Staub werden, und andere Welten würden seine Spielzeuge sein. Er würde den Kosmos in einer Hand halten … der Hand, die er nun lässig ausstreckte, um dem heidnischen Häuptling den Kopf zu zermalmen, so dass dessen Verstand, Körpersäfte und Leben ihm zwischen den Fingern hervorquollen. Er hob die Hand und ließ sich den berauschenden Saft in den Mund tropfen. Wie süß und betörend war doch die Essenz des Daseins, die Essenz dieser verzweifelten Inkarnation der Götter. Und wie er nun diese Leute in ihrer Gesamtheit verstand und vorausberechnen konnte!

Mit dem, was vom Körper des Häuptlings noch übrig war, fegte Azual den Boden vor sich und schleuderte verächtlich den lästigen Schmied und den schlauen Schneehaarigen beiseite. Der nackte heidnische Priester sprang erwartungsgemäß über Azuals Fegen hinweg und machte einen Satz nach oben, um dem Zwerchfell des Heiligen einen tödlichen Schlag zu versetzen. Azuals alles sehender Verstand – ein Verstand, der nun Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kannte – hatte gewusst, dass dieser letzte Augenblick der Anmaßung und des Trotzes kommen würde. Es war ziemlich enttäuschend und, nun da es geschah, etwas lästig. Mit einem geistigen Gähnen tat er seinen göttlichen Willen kund.

»Käfig!«, befahl Hauptmann Skathis, und die Sonnenmetallklingen wurden als enges Gitter um den Körper des Heiligen herum hochgereckt.

Es gab keinen Weg hindurch für Torpeth, und er musste sich mitten in der Luft wie verrückt verrenken, um nicht in Stücke geschnitten zu werden. Der Käfig aus tödlichem Sonnenmetall drang auf ihn ein, und er schlug eine Rolle rückwärts und taumelte davon.

Die Bergkrieger riefen ihre gefallenen Götter an, als sie Zeugen des Todes ihres Häuptlings wurden und sahen, wie ihre größten Kämpfer niedergestreckt wurden. Entsetzt und verzweifelt ließen sie sich zurückfallen, wobei es einigen von ihnen nicht gelang, sich von der Heldenstreitmacht zu lösen, so dass sie bald abgeschnitten waren. Torpeth und Aspin kämpften für kostbare Momente, um so vielen die Flucht zu ermöglichen, wie sie nur konnten, hatten aber am Ende keine andere Wahl, als selbst zu fliehen.

Das Gelächter des Heiligen hallte ringsum wider. »Sieh doch, Jillan, wie viele Tote du mit deinem anmaßenden Stolz und deiner Weigerung, vor einem anderen das Knie zu beugen, verursacht hast! Sieh doch, wie du deine Lieben in Gefahr bringst!«

»Verschone sie, dann ergebe ich mich dir!«, schrie Jillan.

Nein! Das kannst du nicht tun! Das wird das Ende aller Dinge sein! Lass mich frei!

Der Heilige lächelte befriedigt. »Und so war es seit jeher beschlossen. Komm zu mir, dann setzen wir diesem unnötigen Leid und der Verheerung ein Ende.«

Jillan machte hölzern einen Schritt vorwärts. Samnirs Hand schloss sich schwer um seine Schulter. »Du kannst doch nicht einmal daran denken, das zu tun, Junge! Nicht nach allem, was wir schon geopfert haben! Nicht, nachdem sich sogar deine Eltern geopfert haben!« Jillan schüttelte den alten Soldaten ab und machte noch einen Schritt.

Plötzlich grollte der Boden, und Steinsäulen stiegen vor und hinter den Heiden auf und bildeten Mauern zwischen ihnen und ihren Feinden. Freda entstieg der Erde; die funkelnden Edelsteine um ihren Hals leuchteten magisch. Die Bergbewohner wichen vor ihr zurück und hoben die Waffen, aber Jillan kam zu ihnen und bedeutete ihnen, unbesorgt zu sein. Ein goldener Jüngling schwebte durch die dicken Rauchwolken herab, die immer noch aus dem Wirtshaus hervorquollen, und landete dem Heiligen zugewandt auf der Mauer.

»Ist das möglich? Nach so langer Zeit?«, knirschte Torpeth sichtlich außer sich. »Der flüsternde Schatten? Der Große Betrüger! Noch immer stellen die Götter mich auf die Probe und fordern einen letzten Preis!«

Der Sonderbare sah auf den Heiligen hinab. »An dieser Stelle muss ich eingreifen. Habe ich dich nicht gewarnt, dass mein Anspruch auf den Jungen größer ist? Forderst du Höhergestellte heraus, kleiner Heiliger? Das kann ich nicht zulassen.« Der Sonderbare warf einen Blick über die Schulter und sprach so, dass nur die Verteidiger ihn hören konnten und davon gebannt wurden: »Haltet euch nun die Augen zu, sonst verliert ihr den Verstand.«

Mit diesen Worten verwandelte der Herr des Chaos sich in das leuchtende Bild dessen, was auch immer ein jeder in der Armee des Heiligen am sehnlichsten begehrte. Der Sonderbare hörte all ihre Gedanken und Wunschvorstellungen, nicht zuletzt die des Heiligen selbst, und verwandelte sich in sie. Er wurde zu einem Musterbild der weiblichen Schönheit und Fleischeslust, mit verletzlicher, verheißungsvoller Scham, üppigen, nachgiebigen, hungrigen Lippen, Augen, die zugleich neckten, entkleideten und flehten, Brüsten, die sich mit sehnsüchtig aufgerichteten Brustwarzen vor Leidenschaft hoben und senkten, einer schlanken Taille, die in hervortretende Hüften überging, und einem wie gemeißelten Hinterteil, das aufreizend herausgestreckt war. Ein berauschender Moschusduft erfüllte die Luft, blähte Nasenlöcher, weitete Pupillen, entblößte Eckzähne und ließ Zungen hängen. Dann übermannte der Sonderbare die verbliebenen Sinne derjenigen, die ihn wie gebannt anstarrten, und sprach in einem sich ständig wandelnden Ton, der berührte, verführte, befahl und zwang: »Nehmt eure Schwerter und setzt sie euch an die Kehle. Seht, wie auch euer Heiliger eine Klinge findet. Folgt seinem Vorbild, und wir werden zusammenkommen! Gut so …«

»Erinnerst du dich nicht an dein Versprechen, Freund Anupal?«, fragte Freda verzweifelt und brach so den Bann beinahe.

Der Sonderbare blinzelte. »Und du hast versprochen, meiner Urteilskraft zu vertrauen, wann immer ich beschließe, dass manche Leute sterben müssen. Jetzt unterbrich mich nicht noch einmal, meine Liebe.«

»Nein!«, rief Jillan. »Du kannst sie nicht alle töten!«

Der Sonderbare lächelte kokett. »O doch, das kann ich. Und nun, tapfere Helden und Heiliger, rammt eure Schwerter …«

»Verfluchter Gott!«, stieß Torpeth hervor, sprang unmöglich hoch in die Luft und landete direkt hinter dem Sonderbaren auf der Mauer. »Du hast mein eigenes Reich mit deinen Schlichen und Worten zerstört. Du hast meine Armee und mein Volk vernichtet. Du hast die Götter gebrochen und diese Welt den Anderen überlassen.« Er riss der Vision den Sonnenmetallhelm von der Stirn und beförderte sie mit einem Tritt von der Mauer. »Ich kann nicht zulassen, dass du das noch einmal tust! Das Geas wird durch deine Taten niemals wiederhergestellt werden – es wird nur noch weiter herabgemindert. Hinfort, Teufel! Hinfort von allen Lebewesen und aus dieser Welt!«

Der Sonderbare landete unten und schaute fassungslos hoch, während sein Körper und seine Gestalt sich schlagartig aufzulösen begannen. »Du! Torpeth, der Tyrann! Immer noch am Leben. Kleinliches Geas, was hast du nur getan!« Die Maske der Schönheit fiel vom Sonderbaren ab, und einen Moment lang war der Wahnsinn körperlich wahrnehmbar, als kratzendes Jucken im Schädel und Bohren im Fleisch, das sich anfühlte wie die Schnitzarbeit, die Ash in Jillans Anwesenheit in Erlöserparadies zu verkaufen versucht hatte.

Der Heilige sprang vorwärts. Ohne auch nur einen Augenblick lang zu zögern, zerschmetterte er eine Glasphiole voll Blut an den in Auflösung begriffenen Zähnen des Sonderbaren und rammte dem Gott ein Zapfröhrchen ins sich verflüssigende Fleisch. Ein einzelner, sonnenheller Diamant aus Blut bildete sich am Ende des Röhrchens, und Azual leckte ihn gierig mit der langen Zunge auf, während der Rest des Sonderbaren in der Erde versickerte.

Der Heilige warf den Kopf zurück und schrie zum Himmel, als die Hand, die er in Hyvans Kreuz verloren hatte, sich neu bildete, die Augen ihm zurückgegeben wurden und seine Körpergröße sprunghaft zunahm. »Ich bin neu geschaffen! Die Macht der Schöpfung gehört mir!« Er hob den gleißenden Helm aus Sonnenmetall, weitete ihn und senkte ihn auf seine Stirn herab. »Werdet Zeugen, wie ich zum Gott gekrönt werde!« Seine Stimme erschütterte Gebäude bis in die Grundmauern, sodass viele zusammenbrachen, ließ Trommelfelle platzen, rüttelte Gehirne durch und war geistig im ganzen Reich zu hören. Mehrere Erlöser wurden aus dem Wachtraum gerissen und erlebten zum ersten Mal in ihrem fast unsterblichen Dasein einen Verlust von Selbstbeherrschung.

»Das hätte besser laufen können«, stöhnte Samnir von dort, wo er hingefallen war. Er hustete Blut.

»Tötet sie alle!«, forderte der Heilige und zwang die Helden durch reine Willenskraft, wieder aufzustehen.

»Du hast gesagt, du würdest sie verschonen!«, schrie Jillan, dem es so heftig in den Ohren dröhnte, dass er befürchtete, ohnmächtig zu werden.

»Das war, bevor ich vergöttlicht wurde, du bettelndes Kind! Das Mädchen wird als Erstes sterben.«

Der Makel heulte und heulte und machte es Jillan unmöglich zu denken. Das Dröhnen, der Rauch, das Blut, der Tod, das Opfer: Es war alles zu viel! Es war ein nie endender Angriff, wie ein peitschender Sturm, eine Art Zauber, der im Laufe von Jahrtausenden heraufbeschworen worden war, um das Volk und das Geas zu vernichten. Es war ein Hexenwerk, zu dessen Schaffung zahllose Generationen geopfert worden waren. Es war die Magie der Erlöser, das begriff Jillan jetzt. Sie war so kolossal, dass sie diese Welt beinahe auslöschte, genau wie Azuals gewaltige Größe jetzt einen Schatten über ganz Gottesgabe warf.

Die Erlöser hatten die gesamte Geschichte und das Leben des Volks erst beeinflusst und dann kontrolliert, nur um diesen Moment herbeizuführen, in dem ihr Wille endlich das Geas verschlingen würde … und das nicht nur auf dieser Welt. Sie würden den ganzen Kosmos in Besitz nehmen und verschlingen, nur um den einen Augenblick zu erleben, ihren ersten Augenblick wahrer Schöpfung, in dem sie wahrhaftig Macht über alles gewannen und Götter des Verstands, der Materie, des Raums und der Zeit wurden.

All das wurde Jillan binnen weniger Sekunden bewusst, und doch war es ihm nur um Hellas willen wichtig. Er hatte sich entschlossen, seine Magie nie wieder einzusetzen, um etwas zu zerstören, aber seine Entschlossenheit war nichts im Vergleich zu der Vorstellung, sie für immer zu verlieren. Er würde nicht zulassen, dass man sie tötete, konnte nicht einfach tatenlos zusehen, wenn sie der einzige Lebenssinn war, der ihm noch blieb.

Endlich, nachdem er sich unwissentlich seit dem Tag seiner Geburt dagegen gesträubt hatte, ließ er zu, dass seine Stimme eins mit der des Makels wurde. Ihm ging jetzt auf, dass alles, was das Reich je gesagt und gelehrt hatte, nur dem Zweck gedient hatte, das Volk seine eigene Macht verleugnen und ablehnen zu lassen, sodass es niemals eine Bedrohung für die Erlöser darstellen konnte. Man hatte ihn beschwatzt, gepeinigt und bestraft, damit er sein Potenzial als etwas Besudeltes, Sündhaftes und Fremdartiges wahrnahm. Seine Magie war eine verlockende Stimme, die er immer unterdrücken sollte, sie war Eigensucht, für die er sich schämen sollte. Er sollte sich lieber selbst verabscheuen, verstümmeln und opfern, statt auch nur daran zu denken, seine Magie einzusetzen. Er sollte sie unterdrücken, bis der Heilige Gelegenheit hatte, sie ihm vollständig zu entziehen und sie für die Erlöser in Besitz zu nehmen. Wie viele Millionen Menschen hatten es dem parasitischen Reich gestattet, ihnen ihre Magie, ihre Freiheit und ihr Selbst zu rauben? Das Ausmaß des Verbrechens war unvorstellbar. Es würde letztendlich dafür sorgen, dass das Volk und das Geas ausstarben und die Erlöser sogar noch größere Macht gewannen, um die Katastrophe und den Weltuntergang über andere Reiche hereinbrechen zu lassen.

Der Makel war nicht die hinterlistige Stimme irgendeines verderblichen Wesens. Der Makel war ein Teil von Jillan, der sture, angriffslustige Teil von ihm, der leidenschaftlich an etwas glaubte, andere ebenso leidenschaftlich liebte und tat, was auch immer notwendig war, um zu beschützen, was er liebte. Es war der Teil von ihm, der einem Lehrer, der ihn schikanierte, die Stirn bot, sich gegen einen Schulkameraden wandte, der ihm Schaden zufügen wollte, und einem völkermordenden Heiligen trotzte.

Es ging nicht einmal darum, den Makel loszulassen oder sich ihm zu ergeben, sondern nur darum, ihm zu erlauben, zu existieren und das Leben mit ihm zu teilen, mit ihm zu verschmelzen und eins mit dem Sturm zu werden, dem Sturm der Magie und des Bewusstseins. Jetzt stieg Jillan damit auf und war dem über ihn gebeugten Azual voll und ganz gewachsen. Jillans Augen loderten so hell wie die des Heiligen, und Blitze wölbten sich zwischen seinen Fingerspitzen.

»Ihr werdet sie nicht anrühren!«, befahl Jillan den Helden, die bereits die Schwerter erhoben hatten, um Hella niederzustrecken. Die Soldaten hielten inne und sahen sich verwirrt um. Anscheinend war ihnen gar nicht mehr klar, wie sie überhaupt nach Gottesgabe gekommen waren.

»Du wagst es!«, donnerte der glorreiche Heilige und ließ mit seinem verstimmten Blick die Luft ringsum in Flammen aufgehen. Dann sandte er einen tödlichen roten Nebel in Richtung Jillan.

Jillan antwortete mit einem Sturm, fegte den Nebel hinweg und goss flüssiges Feuer über die grinsende Gottheit. Die Magie umspülte Azual, verflog aber, als er mit den Schultern zuckte und sich erneuerte.

Eine geistige Explosion vonseiten des Heiligen ließ Jillan aufschreien, denn er wusste nicht, wie er sich gegen ein solches Eindringen verteidigen sollte. Azual tobte durch Jillans Verstand und seine Erinnerungen. »Komm heraus, komm heraus, wo du auch bist!«

Jillan saß mit seinen Eltern in ihrem kleinen Haus im Südteil der Stadt beim Frühstück. Er jammerte, dass er nicht zur Schule gehen wollte, dass er sich nicht gut fühlte und dass seine Mutter mit ihm zu Hause bleiben sollte. »Er ist nicht krank«, beschloss sein Vater Jed für die ganze Familie. »Vor wem hast du Angst, mein Sohn?« Die Tür erzitterte, und die Stimme des Heiligen ertönte von der anderen Seite: »Wir wissen doch beide, vor wem du Angst hast, nicht wahr, Jillan?« Jed ging auf die Tür zu. »Wer da?« Jillan sprang vom Frühstückstisch auf, flehte seinen Vater an, den Heiligen nicht hereinzulassen, und flüchtete in die Schlafkammer seiner Eltern. Er kletterte durchs enge Fenster ins Freie und hörte, wie seine Eltern hinter ihm in Stücke gerissen wurden. Er rannte durch den Morgen auf den Versammlungsplatz zu, wo, wie er wusste, seine geliebte Hella und seine anderen Schulkameraden auf ihn warteten. Lange, scharfe Finger kniffen ihn ins Ohr, und Prediger Praxis schleifte ihn in die Schule. Den ganzen Tag lang züchtigte der Prediger sie, bis es dunkel wurde und Jillan gezwungen war, wieder nach draußen zu gehen. Die Dunkelheit lauerte darauf, ihn zu überfallen, das wusste er.

Er lief und lief, dicht gefolgt von Schlägern und Mördern, die ganze Strecke bis nach Erlöserparadies. Aspin steckte in einer Bestrafungskammer und schrie um Hilfe, aber Jillan wagte es nicht, dort hinunterzugehen, weil er wusste, dass der Heilige ihn in die Falle locken würde. Er floh mit Thomas’ Wagen und dem kranken Schmied, während er die ganze Zeit über hörte, wie Aspin grausam gefoltert wurde.

Sie gelangten in die Wälder und auf die verborgenen Wege. Jillan wollte nicht weiter, aber Thomas zwang ihn, weiter nach Linderfall zu fahren. »Nein, Thomas, bitte! Du verstehst das nicht. Linderfall ist ein Traum. Du musst aufwachen!« Der Schmied schüttelte den Kopf. »Lächerlich! Wenn ich nicht wach bin, aber wach zu sein glaube, wie um alles in der Welt soll ich dann aufwachen?«

»Wie wache ich auf?«, schrie Jillan in den Wald. »Geas, hilf mir! Wolf, hilf mir!«

Und zur Antwort zeichneten sich die leuchtenden orangefarbenen Augen des Wolfs in der Dunkelheit ab. »Also wirklich, musst du so begriffsstutzig sein? Du wachst auf, indem du einschläfst«, sagte das Raubtier mit der Stimme des Makels. »Leg dich hin, dann passe ich auf dich auf. Schnell, bevor sie deine Spur wiederfinden.«

Jillan schloss die Augen und fand sich in der verwüsteten Landschaft im Verstand des Heiligen wieder. Der grüne Hügel und der Thron aus Schädeln waren da, aber der Thron war leer. Alle Leute, die Helden und der Heilige waren irgendwo hinter ihm, durchstreiften das Land auf der Suche nach ihm. Wenn er zum Thron gelangen konnte, würde er vielleicht in der Lage sein, hier die Macht zu ergreifen. Er rannte, so schnell er nur konnte, denn sein Dasein hing davon ab.

»NEIN!«, dröhnten Himmel und Erde, als Azual erkannte, dass er selbst in Gefahr schwebte. Um sich zu retten, durchtrennte der Heilige ihre geistige Verbindung, und sie standen sich wieder im Auge des Sturms über Gottesgabe gegenüber.

Das Kräfteverhältnis ist zu ausgeglichen. Ich kann ihn nicht besiegen.

Azual flog auf Jillan zu und schlug mit den Klauen nach ihm, aber Jillans Rüstung blitzte auf und warf den Heiligen zurück. Jillan griff mit den Fäusten an, aber Azual war muskulöser und schneller. Er traf Jillan mit dem Ellbogen am Kinn und umklammerte ihn dann. Der tödliche Griff wurde enger …

Jillan rief Blitze herab, und sie trafen Azuals Helm, dessen Sonnenmetall die Energie in sich aufnahm. Jillan ließ Flammen nach oben strömen, aber auch diese verschwanden im Helm. Alles verschwamm vor seinen Augen, und er begann, Pünktchen zu sehen. Er versuchte, selbst eine geistige Explosion hervorzurufen, aber auch die wurde von der leuchtenden Kopfbedeckung abgefangen.

Der Heilige schleuderte sie beide nach Gottesgabe hinab. Jillan schlug mit der Wirbelsäule auf. Die Wucht des Aufpralls und die Strudel der gigantischen Kräfte, die beide aufeinander warfen, lösten eine Druckwelle aus, die alle Lebewesen in Gottesgabe niederstreckte und ohnmächtig werden ließ – alle bis auf Freda, die die Macht eines Erdbebens an Jillan weiterleitete, so dass er Azual damit schlagen konnte. Doch der Junge griff mit der Hand nur unbeholfen nach oben und konnte abermals lediglich die schreckliche Krone des Gottes des Reichs treffen.

Jillan konnte kaum noch etwas sehen. Er war sich nur schwach der Tatsache bewusst, dass sein Erzfeind ihn nun herumdrehte, weiter eine Hand auf Jillans Hals liegen ließ, um ihn zu würgen, und ihm mit den Klauen die Verschlüsse der Rüstung aufschlitzte, um seine Brust freizulegen. Dann streckte der göttliche Vertreter der gesegneten Erlöser die Krallen seiner freien Hand aus.

»Und nun verzehre ich dein geheiligtes Herz, Junge, um dein Lebensblut zu trinken und endlich die Macht des Geas in Besitz zu nehmen.«

Jillan zog das letzte bisschen Macht und Lebensenergie aus seinem Innersten und flüsterte: »Dann ist es mein Opfer und Geschenk an dich, Heiliger!« Er hob zwei zitternde Finger wie zum Segen und ließ seine letzte Magie in den Sonnenmetallhelm strömen.

Der Heilige lachte wahnsinnig. Als er die Klauen in Jillans Brust zu versenken begann, fiel ein einzelner Tropfen Sonnenlicht auf seine Hand. Er brannte durch Fleisch und Knochen. Azual runzelte verärgert die Stirn und versuchte sich zu erneuern, aber der Tropfen strömte zu seinem Handgelenk weiter. Mit einem mächtigen Biss trennte Azual sich die eigene Hand ab, warf sie weg und ließ sich eine neue wachsen. Ein weiterer Tropfen fiel und begann zu brennen.

Azual hatte Kopfschmerzen. Geschmolzenes Sonnenmetall rann ihm übers Gesicht, sengte sich durch eines seiner neuen Augen hindurch, brannte sich tief in seine Wange, löste ihm die Zähne auf und drang durch sein Kinn wieder ins Freie. Es tropfte auf seine Brust und brannte sich geradewegs auf sein pochendes Herz zu.

Panisch setzte er all seine Kraft dazu ein, seinen Körper wiederherzustellen und neu zu erschaffen, aber das Sonnenmetall strömte immer schneller seinen Kopf und Leib hinab.

»Biiiitte!«, würgte er hervor. »Rette mich!«

»Das kann ich nicht«, murmelte Jillan, »denn du hast mir schon alles genommen, was ich hatte, Heiliger. Wo sind deine Erlöser jetzt?«

Azual versuchte, das blendende Metall abzuwischen, doch es gelang ihm nur, es noch weiter zu verteilen. Er warf sich auf den Boden und wälzte sich, um das tödliche Metall zu ersticken oder abzureiben, aber seine Bewegungen wurden immer schwächer, bis er so gut wie still lag. Ein paar kurze Augenblicke lang schien er nur ein Junge in Jillans Alter zu sein. Mit tränenden Augen sah der Junge Jillan an und schenkte ihm ein trauriges, gebrochenes Lächeln.

»Wir sind gleich, du und ich … Hilfst du mir nicht, bevor es dunkel wird und die bösen Leute wieder zu mir kommen? Ich sitze nun schon so lange hier in meinem Zimmer gefangen. Nein. Du solltest gehen, bevor sie kommen.«

»Es tut mir leid … Damon? Ich kann eine Weile mit dir warten. Aber ich glaube, sie kommen nicht mehr wieder«, sagte Jillan mit dem letzten Atem, der ihm noch verblieben war, und schloss die Augen.

»Wirklich? Sie kommen nicht wieder?«, fragte der Junge ganz schwach, als er in schimmernder Hitze und Dampf verging.

Wenige Augenblicke später war nichts mehr vom heiligen Vertreter der Erlöser übrig.

Freda kam herüber, um die Pfütze zu betrachten, die den einzigen Überrest bildete, und schüttelte den Kopf. »Es ist, wie Freund Anupal gesagt hat. Niemand kann allmächtig sein, wenn die Welt weiter bestehen soll.«