KAPITEL 16

Kostas’ Versteck in Platte

Es war beinahe drei Uhr morgens, als Styx den Anruf erhielt, auf den er gewartet hatte. Er überließ es Viper, sich um etwaige Notfälle zu kümmern, und machte sich auf den Weg zu der kleinen Stadt Platte, indem er Jagrs Wegbeschreibung folgte und so Kostas’ Geheimversteck mühelos fand.

Sobald er dort eingetroffen war, begab er sich durch den völlig leeren Bunker zu der beengten Zelle, in der Jaelyn auf ihn wartete.

Die Jägerin war fast unsichtbar in ihrem schwarzen Lycra, das ihren Körper vom Hals bis zu den Fußknöcheln bedeckte. Selbst die abgesägte Schrotflinte, die sie um die Taille geschnallt am Körper trug, bestand aus einem stumpfen, nicht reflektierenden Metall. Im Augenblick ließ sie ihre Hände über die Zementwände gleiten, offenbar auf der Suche nach einer Geheimtür. Als er eintrat, wandte sie sich um und blickte ihn mit ernster Miene an, die Styx wissen ließ, dass sie keine guten Neuigkeiten für ihn hatte.

»Kostas war hier«, stellte Styx das Offensichtliche fest. Er hatte den Geruch des anderen Vampirs bereits wahrgenommen, begleitet von einem bitteren Hauch zunehmenden Wahnsinns.

Verdammt. Er hatte gewusst, dass der Ruah erzürnt darüber war, degradiert worden zu sein. Er hatte sogar erwartet, dass dieser Bastard Rachepläne schmiedete. Kostas’ übergroßer Stolz forderte natürlich nichts Geringeres als das. Allerdings hatte Styx nicht erwartet, dass Kostas seine Seele an den Fürsten der Finsternis verkaufen würde.

Das war ein weiterer Fehler, den er seiner bereits überaus langen Liste von Fehlern hinzufügen musste.

Jaelyn nickte. »Ja, zusammen mit Maluhia.«

»Wisst Ihr, wann er wieder gegangen ist?«

»Vor weniger als einer Stunde.«

Vor einer Stunde. Hatte der Verräter gewusst, dass sie ihm auf den Fersen waren? Oder war das nur ein weiteres Beispiel für Styx’ ungeheures Pech, dass Kostas sich davongemacht hatte, unmittelbar bevor sie ihn in die Enge treiben konnten?

»Ihr könnt seiner Fährte nicht folgen?«

»Noch nicht.« Jaelyn deutete mit dem Kopf auf die geöffnete Tür. »Levet ist auf der Suche.«

Na, das war ja wahrhaft perfekt. Einfach verdammt perfekt.

»Gibt es noch etwas?«

»Er war nicht allein.«

Styx musste kein Gedankenleser sein, um zu wissen, mit wem sich Kostas traf. »Gaius.«

Die Jägerin verzog das Gesicht. »Ja.«

»Verdammt.« Styx ballte die Hände zu Fäusten, und Frustration durchströmte ihn wie ätzende Säure. »Dann hat er das Kind bereits zum Fürsten der Finsternis gebracht.«

Während er diese Worte leise aussprach, trat Tane in den Raum. Sein Gesicht wirkte im Licht der Neonleuchten düster. »Es ist noch nicht zu spät«, sagte er. Sein herausfordernder Tonfall warnte davor, das Gegenteil zu behaupten. »Wo ist Nefri?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Styx trat direkt vor seinen Bruder, da er unmittelbar spüren konnte, dass der andere Vampir kurz vor dem Zusammenbruch stand. Der ehemalige Charon hatte solche Angst um seinen Sohn, dass nicht viel fehlte, um ihn in wilde Raserei ausbrechen zu lassen. »Weshalb?«

»Sie besitzt den gleichen Anhänger wie Gaius. Damit kann sie ihm folgen und …«

»Nein, Tane«, unterbrach Styx ihn sanft. »Es tut mir leid, doch Nefri versuchte bereits, ihr Medaillon zu nutzen, um den Fürsten der Finsternis aufzuspüren, aber leider ohne Erfolg. Sie ist der Ansicht, es liege daran, dass Gaius’ Medaillon in direkter Verbindung mit dem bösartigen Plagegeist stehe.«

Tane fuhr sich mit zitternden Fingern durch seinen Irokesenschnitt. »Verdammt.«

Styx legte Tane beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Wir werden einen Weg finden, um zu Eurem Sohn zu gelangen.«

In den honiggelben Augen loderte ein Ausdruck zorniger Hilflosigkeit auf. »Laylah wird verlangen, ihre Fähigkeit des Schattenwanderns einsetzen zu dürfen.«

Styx grimassierte, obwohl er nicht überrascht war. Laylah verfügte nicht über die Macht der reinblütigen Dschinnen, die zwischen den Welten hin und her reisen konnten, aber sie war imstande, den Nebel zu betreten, der sich zwischen den Dimensionen erstreckte. Es war zu erwarten gewesen, dass sie versuchen wollte, dieses Talent zu nutzen, um zu ihrem Kind zu gelangen. Gleichgültig, wie gefährlich das auch sein mochte.

»Wünscht Ihr, dass ich es ihr verbiete?«

Tane schnaubte, als er die alberne Frage vernahm. »Das würde auch nicht helfen.«

Das war wohl wahr. Styx mochte vielleicht der König sein, aber das hielt eine verzweifelte Frau nicht im Geringsten von dem Versuch ab, zu ihrem Kind zu gelangen. »Fürchtet Ihr, dass sie vom Fürsten der Finsternis gefangen genommen werden könnte?«, fragte er stattdessen.

»Nein, ich befürchte, dass sie eine Enttäuschung erleben wird«, gestand Tane. Schmerz verlieh seiner Stimme einen rauen Klang. »Während ihrer früheren Reisen hat sie den Eingang zu dem Gefängnis des Fürsten der Finsternis nie wahrgenommen. Ich bezweifle, dass er wie durch Zauberhand auftauchen wird, nun, da wir ihn brauchen. Sie wird am Boden zerstört sein, wenn der Versuch misslingt.«

Styx drückte die Schulter des jüngeren Vampirs, um wortlos seinem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen. »Werdet Ihr mit ihr gehen?«

Tane wölbte eine Augenbraue. »Soll das ein Scherz sein?«

»Gebt einfach gut Acht«, befahl Styx. »Es existieren noch mehr Gefahren als nur der Fürst der Finsternis.«

»Das ist nicht mein erster Einsatz«, rief Tane ihm ins Gedächtnis.

Styx nickte. Er war klug genug, um nicht darauf hinzuweisen, dass sowohl Tane als auch Laylah emotional angeschlagen und kaum in der Lage waren, rationale Entscheidungen zu treffen.

Im Augenblick waren sie alle emotional angeschlagen.

»Und erhaltet den Kontakt zu mir aufrecht.«

»Das werde ich tun.«

Tane nickte leicht. Dann wirbelte er auf dem Absatz herum und verschwand. Jaelyn folgte ihm, wodurch Styx allein in der kahlen Zelle zurückblieb.

Unfähig irgendetwas zu tun, um Tane bei der Suche nach seinem Sohn zu helfen, ganz zu schweigen davon, dass er die Rückkehr des Fürsten der Finsternis in Form der allmächtigen Zwillinge nicht aufhalten konnte, wandte sich Styx um, um seine Faust gegen die Zementmauer zu schmettern. Ein Hagel aus Bruchsteinen und Staub erfüllte die Luft, zusammen mit seinen heftigen Flüchen.

»Verdammt!«, brüllte er. »Ich habe genug davon, ständig einen Schritt hinterher zu sein!«

Die Luft bewegte sich leicht, bevor eine schlanke Frau mit einem kurzen blonden Igelschnitt und grünen Augen, die zu groß für ihr herzförmiges Gesicht wirkten, den Raum betrat.

»Es ist nicht deine Schuld, mein Liebster.«

Styx griff impulsiv nach seiner winzigen Werwolfgefährtin, zog sie in seine Arme und ließ zu, dass ihre Anwesenheit seinen Zerstörungsdrang linderte. »Ich bin der Anasso«, erwiderte er und legte seine Wange auf ihren Kopf. »Es ist meine Pflicht, mein Volk zu beschützen.«

Darcy schlang die Arme um seine Körpermitte. »Es ist jetzt nicht die richtige Zeit, auf Fehlschlägen herumzureiten. Wir müssen uns auf die Dinge konzentrieren, die als Nächstes anstehen.«

Styx’ Knurren grollte durch den Raum. »Das Chaos steht als Nächstes an«, teilte er ihr mit. »Der Fürst der Finsternis hat beide Kinder in seiner Gewalt. Die Prophezeiung hat sich erfüllt.«

Sie schnalzte mit der Zunge und legte den Kopf in den Nacken, um ihn tadelnd anzusehen. »Wir wissen nicht in allen Einzelheiten, was die Worte der Prophezeiung bedeuten«, meinte sie. »Aber was ich weiß, ist, dass es für den Fürsten der Finsternis keine einfachere Art gibt, uns zu besiegen, als wenn wir einfach aufgeben.«

Sie ist tatsächlich immer optimistisch, dachte er trocken. Das funktionierte sehr gut, wenn man bedachte, dass er selbst der Definition eines Pessimisten eine vollkommen neue Bedeutung verlieh. Sein Blick glitt über ihr zartes Gesicht. Diese Frau war das Licht, das seine Dunkelheit erhellte. Die Zärtlichkeit, die seiner Brutalität Wärme entgegensetzte.

Das Herz, das seine Muskelkraft auf vollendete Weise ergänzte.

Das machte sie zu einer unbezahlbaren Kostbarkeit. Und es war der Grund dafür, weshalb er ihre Bitte, sich ihm anzuschließen, ausdrücklich abgeschlagen hatte.

»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du solltest zu Hause bleiben.«

Sie schnaubte, als sie seinen Vorwurf hörte. »Und du weißt doch, wie gut ich Befehlen gehorche.«

Er gab ihr einen Kuss. »Unruhestifterin.«

»Du würdest es doch gar nicht anders haben wollen.«

»Nein«, stimmte er ihr augenblicklich zu, drückte ihren Kopf an seinen Brustkorb und legte seine Wange wieder auf ihren Scheitel. »Ich habe Angst, mein Engel.«

»Ich weiß«, flüsterte sie und ließ ihre Hände in einer beruhigenden Liebkosung über seinen Rücken gleiten. »Wir haben alle Angst.«

»Wenn wir den Fürsten der Finsternis nicht aufhalten …«

»Pst«, unterbrach sie seinen unheilvollen Satz. »Wir finden schon einen Weg.«

»Wie kannst du dir so sicher sein?«

»Immerhin sind wir die Guten.«

Sein kurzes Gelächter hallte von den Zementwänden wider. Niemand hatte ihn je zuvor einen »Guten« genannt.

»Ich bezweifle, dass du viele fändest, die dieser recht subjektiven Behauptung zustimmen würden.« Styx erstarrte unvermittelt und hob den Kopf, um ärgerlich den Miniaturgargylen anzufunkeln, der durch die Tür gewatschelt kam. »Verschwinde.«

Levet streckte ihm die Zunge heraus, wie immer ungerührt von der Tatsache, dass Styx ihn mit einer Hand zerquetschen konnte. »Spricht man so mit einem Dämon, der versucht, dir dein Fell zu retten?«, spottete der lästige Dämon.

Styx blickte ihn finster an. »Was zum …«

»Deine Haut«, erklärte Darcy und entzog sich ihm, um dem wandelnden, sprechenden Stück Granit ein strahlendes Lächeln zu schenken. »Dir deine Haut zu retten.«

Styx rollte mit den Augen. »Was willst du?«

»Ich habe seine Fährte aufgenommen.«

»Kostas’ Fährte?«

»Oui. Er hat einen Gang benutzt, der durch einen Illusionszauber getarnt ist.« Levet flatterte mit den hauchzarten Flügeln. »Es ist ein sehr guter Zauber. Ich hätte ihn beinahe übersehen.«

»Ich hätte niemals gedacht, dass ich dies einmal sagen würde.« Widerwillig zog Styx sein Schwert und deutete damit auf die Tür. »Geh du voran.«

Nachdem Gaius mithilfe seines Medaillons zum Gefängnis des Fürsten der Finsternis gereist war, legte Gaius das Kind in dem wabernden Nebel ab und ließ sich auf die Knie nieder. Er beugte den Kopf und wartete darauf, dass seine Anwesenheit bemerkt wurde.

Er spürte, wie die Zeit verstrich, obgleich es in dem eigenartigen Nebel unmöglich war, die genaue Zeitspanne zu bestimmen. In Wahrheit war ihm das auch gleichgültig. Seit seinem letzten Gespräch unter vier Augen mit dem Fürsten der Finsternis war er … was geworden? Nicht gleichgültig. Nicht einmal abgestumpft.

Es war eher ein Gefühl der Resignation. Als sei der letzte Hoffnungsschimmer, an den er sich seit Daras Tod geklammert hatte, erloschen und als schwimme er nun in einem Meer der Niederlage.

Er würde die Befehle ausführen, die ihm erteilt werden würden, aus dem einfachen Grund, dass ihm keine andere Wahl blieb. Aber sein starker Glaube an ein baldiges Wiedersehen mit seiner Gefährtin schwand mit jeder vergehenden Stunde immer mehr dahin und hinterließ eine große Leere.

Schließlich spürte er die vernichtende Macht, welche die Ankunft des Fürsten der Finsternis ankündigte. Er erzitterte, als sich seine Haut mit einem Mal so anfühlte, als werde sie ihm vom Körper gezogen, doch klugerweise hielt er den Kopf demütig gesenkt.

»Ah, Gaius.« Ein mädchenhaftes Kichern drang durch den Nebel. »Also hast du mittlerweile Zurückhaltung gelernt.«

»Ja …« Er suchte krampfhaft nach einem passenden Titel. »Meisterin.«

»Meisterin, hmmm. Ich nehme an, das wird seinen Zweck erfüllen.«

Gaius hielt seinen Kopf weiterhin gesenkt. »Ich habe Euch das Kind hergebracht.«

Er spürte einen Luftzug, und der gnadenlose Schmerz ließ nach. »Bringe es mir.«

Gaius blickte widerstrebend auf und erkannte, dass der Fürst der Finsternis aus dem wabernden Nebel einen Thron erschaffen hatte, auf dem er saß, bekleidet mit einem weißen Sommerkleid. Er wirkte wie eine Schönheitskönigin beim Abschlussball, nicht wie das ultimative Böse. Doch dann flammten in den unschuldigen blauen Augen die blutroten Feuer der Hölle auf und ruinierten das Bild der Reinheit.

»Gaius«, fuhr die junge Frau ihn ungeduldig an, »ich warte.«

»Ja, Meisterin.«

Gaius erhob sich und nahm das Kind auf die Arme, ohne nach unten zu blicken. Der Säugling war von Anfang an dazu bestimmt gewesen, geopfert zu werden. Er selbst konnte nicht das Geringste unternehmen, um das Schicksal zu ändern, nicht wahr? Er legte der Frau das warme Bündel in die ausgestreckten Arme, wich zurück und wartete stoisch auf ihre nächsten Befehle.

Der Fürst der Finsternis hob eine Braue. »Beabsichtigst du nicht, deine Bezahlung einzufordern?«

Gaius zuckte mit den Schultern. »Würde es etwas nützen?«

»Es besteht keine Notwendigkeit zu schmollen, Vampir«, schalt ihn die tödliche Frau. »Sehr bald sollst du deinen gerechten Lohn erhalten.«

Gerechter Lohn …

Gaius schauderte bei der Erinnerung daran, wie Dolf von dem schwarzen Nebel verschlungen worden war. In diesem Augenblick bestand der einzige Lohn, den er sich zu erhoffen wagte, darin, ohne irgendeine grauenhafte Folter aus dieser Zusammenkunft zu entkommen.

»Soll ich in mein Versteck zurückkehren und dort auf Eure nächsten Befehle warten?«, fragte er.

»Du möchtest doch gewiss meine glorreiche Auferstehung als die Zwillinge miterleben?« Die bösartige Kreatur klang, als sei sie wahrhaft schockiert darüber, dass Gaius sie nicht um die Möglichkeit anflehte, ihre Verwandlung mitzuerleben.

»Ich bin lediglich Euer ergebenster Diener«, rief Gaius ihr ins Gedächtnis. »Da gibt es andere, die einer solchen Gnade weitaus würdiger sind.«

»Na, Gaius …« In den blauen Augen schimmerte ein blutrotes Feuer, der Schmerz kehrte zurück und ließ Gaius in die Knie gehen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, dächte ich doch tatsächlich, du seiest begierig darauf, mich zu verlassen.«

Sei vorsichtig, wisperte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Diese Frau war eine Gottheit. Und das bedeutete, dass ihre Eitelkeit ebenso überdimensional ausgeprägt war wie ihre Kräfte. Allein die Andeutung, dass er es womöglich bevorzugte, sich an einem anderen Ort aufzuhalten, würde ausreichen, um ihm eine Bestrafung einzubringen.

»Ich bin nicht begierig darauf, doch ich benötige Nahrung.«

»Das kann warten.«

Dies war ein Befehl, kein Vorschlag. Gaius nickte ergeben. »Sehr wohl.«

Davon überzeugt, dass Gaius das pflichtbewusste Publikum spielen würde, wandte die Frau ihre Aufmerksamkeit dem Kind zu, das sich in ihren Armen wand. Ihre Miene drückte eine nüchterne Neugierde aus, als wolle sie sich vergewissern, dass ihr Werk keine Fehler aufwies.

»Ein bezauberndes Baby, meinst du nicht?«

Gaius sah sie mit gerunzelter Stirn an. War das eine Fangfrage? Es war wohlbekannt, dass Kinder die Achillesferse der Vampire darstellten. Es widerstrebte ihnen instinktiv, Säuglingen jeder Spezies Schaden zuzufügen. Oder auch nur einer schwangeren Frau.

»Ja. Bezaubernd.«

»Ich habe nie verstanden, weshalb so viel Aufhebens um Nachkommen gemacht wird. Sklaven sind einfacher zu kontrollieren und neigen weniger dazu, sich als Enttäuschung zu entpuppen.« Der Fürst der Finsternis rümpfte die Nase und roch an der Windel des Säuglings. »Sie riechen auch besser.«

»Die meisten Wesen verspüren den Drang, sich fortzupflanzen.«

Der Fürst der Finsternis hob den Kopf, und in den blauen Augen flackerte es blutrot. »War es bei dir auch so?«

Gaius zuckte zusammen. Er glaubte nicht an Zufälle. Weshalb war er also jetzt erneut gezwungen, an Santiago zu denken?

War es eine Warnung?

»Ja. Ich habe …« Er hielt inne und berichtigte seine Worte. »Ich hatte einen Sohn.«

»Ist er tot?«

Gaius schüttelte den Kopf. »Nein, aber für mich ist er verloren.«

»Verloren?« Der Fürst der Finsternis runzelte die Stirn. »Deine Worte ergeben keinen Sinn.«

»Es spielt keine Rolle mehr.« Bestrebt, das Gespräch von Santiago abzuwenden, deutete Gaius auf den Säugling. »Was werdet Ihr mit dem Kind anfangen?«

Es folgte ein langer, angespannter Moment, in dem die Frau ohne Zweifel über das Vergnügen nachdachte, das es ihr bereiten würde, Gaius mit dem Verlust seines Sohnes zu quälen. Doch dann verlor sie abrupt das Interesse und richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen wieder auf das Baby.

»Es wird zu einem Teil von mir werden, wie es seit jeher bestimmt war. Doch zuerst …«

Die Worte verklangen, und Gaius erstarrte. Was würde nun folgen? Er hatte die Prophetin und ihren Beschützer gefangen genommen und den Säugling entführt. Zwei unmögliche Aufgaben. Er hatte doch wohl deutlich mehr getan, als nur seine Pflicht zu erfüllen, oder nicht?

Offenbar nicht, dachte er im Stillen, als der Fürst der Finsternis ihm einen finsteren Blick zuwarf und ganz eindeutig auf eine Reaktion von ihm wartete.

»Ja?«

Die Grübchen tauchten wieder auf. »Ein Opfer muss gebracht werden.«

Gaius fauchte bestürzt. »Ich?«

Das Lächeln der Frau wurde breiter, als heftige Furcht in ihm aufflackerte. »Erklärst du dich bereit dazu?«

Er kämpfte verbissen gegen seine Panik an. »Ich bezweifle, dass ich geeignet wäre.«

»Bist du dir sicher?«

»Meisterin, bitte …«

»Keine Sorge, Gaius. Wie du bereits sagtest – du verfügst nicht über das Blut, welches ich benötige«, spottete sie mit grausamer Stimme. Ihre Augen wurden fast völlig von den Flammen verzehrt. »Der Gedanke an den Tod lässt dich nicht ganz so kalt, wie du gerne glauben wolltest, nicht wahr, Gaius?«

Der Vampir erstarrte beschämt. Es war keine große Überraschung, dass der Fürst der Finsternis seine wachsende Teilnahmslosigkeit gespürt hatte. Oder dass es ihm gelungen war, Gaius’ Illusion zu zerstören, es spiele keine Rolle mehr, ob er lebte oder starb.

Dieses Miststück.

»Möchtet Ihr, dass ich in die Welt zurückkehre und das beschaffe, was Ihr benötigt?«, fragte er vorsichtig.

»Eigentlich habe ich das, was ich benötige, in Reichweite.«

Gaius blickte sich in dem dichten Nebel um. So nah konnte es eigentlich nicht sein. »Wer wird denn als Opfer fungieren?«

»Caine sollte die Prophetin inzwischen vernichtet haben.«

»Caine? Unmöglich«, murmelte Gaius, zu schockiert, um seine Zunge zu hüten. Er hatte gesehen, wie Caine die Prophetin verteidigte. Der Werwolf wäre bereitwillig gestorben, um die Frau zu beschützen. Doch dann bohrten sich scharfe Scherben des Schmerzes in seinen Körper und erinnerten ihn an die Gefahr, die darin lag, wenn man sprach, ohne zuvor nachzudenken. »Ich meine, Caine ist der Prophetin treu ergeben. Er würde ihr niemals irgendeinen Schaden zufügen.«

»Dank Dolfs Zauber war Caine nicht bei vollem Verstand«, rief die Frau ihm ins Gedächtnis, und ihre Lippen verzogen sich zu einem koketten Lächeln. »Und natürlich ist es vielleicht möglich, dass ich seinen Wahnsinn womöglich noch verstärkt habe.«

Gaius verdrängte seinen Unglauben und konzentrierte sich stattdessen auf die entscheidendere Frage. »Aber aus welchem Grunde?« Langsam erhob er sich. »Es war Euch doch so wichtig, Kassandra gefangen zu nehmen.«

Der Fürst der Finsternis warf einen Blick auf das Kind, und für einen Augenblick war die Luft von kochender Wut erfüllt, bevor es der Kreatur gelang, ihre Fassung zurückzugewinnen. »Sie erwies sich als schwere Enttäuschung.«

Gaius spürte, wie sich die kurzen Haare in seinem Nacken aufrichteten. »Enttäuschung« konnte alles Mögliche bedeuten.

Womöglich hatte Kassandra sich geweigert zu kooperieren. Oder möglicherweise hatte sie seit ihrer Gefangennahme keine Vision gehabt. Oder vielleicht waren die Visionen auch einfach nicht zu deuten gewesen.

Aber Gaius glaubte nicht, dass irgendeine dieser Annahmen zutraf.

Wenn der Fürst der Finsternis bereit war, die Seherin zu vernichten, lag es wohl daran, dass diese ihm eine Prophezeiung geliefert hatte, die ihm nicht gefiel.

Und das konnte für Gaius nur etwas Schlechtes bedeuten.

Gott. Er war zunehmend davon überzeugt, niemals wieder mit seiner Gefährtin vereint zu werden. Nun musste er der Möglichkeit ins Auge sehen, dass die Gottheit, die seine Seele erworben hatte, womöglich zum Scheitern verurteilt war und Gaius mit sich in den Höllenschlund riss. »Zu schade«, erwiderte er heiser.

Der Fürst der Finsternis riss den Kopf hoch und durchbohrte ihn mit einem wilden Blick. »Hole den Hund, und bringe ihn zu mir.«

»Augenblicklich.«

Gaius verneigte sich tief und wandte sich um, um in dem wabernden Nebel zu verschwinden und dem fernen Werwolfgeruch zu folgen.