KAPITEL 10
Obwohl er seine Wolfsgestalt angenommen hatte, konnte Caine fühlen, wie ihn Panik ergriff, als er das Ende von Kassandras Spur erreichte und erkannte, dass sie wieder zurückführte.
Gottverdammt. Er hatte fast eine Stunde damit vergeudet, am Highway entlangzurennen, in dem verzweifelten Versuch, den Jeep einzuholen und die Scheißkerle zu massakrieren, die seine Frau gekidnappt hatten.
Jetzt war er gezwungen anzuhalten und seine begrenzten Möglichkeiten neu zu beurteilen. Mit einem ungeduldigen Knurren trottete er hinter einen Heuballen und verwandelte sich wieder zurück, wobei er sorgsam darauf achtete, dass man ihn von den vorbeifahrenden Autos aus nicht sehen konnte. Aus irgendeinem dämlichen Grund wirkte der Anblick eines nackten Mannes auf einem Feld auf Menschen weitaus schockierender als der eines riesigen Wolfes.
Schaudernd holte er tief Luft, wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte trotz seiner lähmenden Angst nachzudenken.
Als er das Quietschen der Reifen gehört hatte, hatte er anfangs Angst gehabt, Kassie habe versehentlich den Gang herausgenommen. Er war aus dem Wald gestürmt, in der Erwartung, sie auf dem Parkplatz im Kreis fahren zu sehen oder, Gott bewahre, zu entdecken, dass sie gegen einen Baum gefahren war.
Was er nicht vorzufinden erwartet hatte, war, dass sie verschwunden war.
Einfach … verschwunden.
Der Parkplatz war leer, ohne eine Spur von etwaigen Eindringlingen und ohne Anzeichen für einen Kampf.
Lange Minuten hatte er verwirrt in einer Ecke des Parkplatzes gestanden.
Falls Kassie angegriffen worden war, warum hatte sie dann nicht die Waffe abgefeuert? Oder wenigstens um Hilfe gerufen?
Und warum konnte er ihre Fährte nicht aufnehmen?
Da hatte er sich mit einem Knurren reiner Wut verwandelt und Kassies schnell schwächer werdende Spur verfolgt.
Was zum Teufel spielte es für eine Rolle, wie oder warum Kassie entführt worden war oder wer es getan hatte? Alles, was von Bedeutung war, war, sie zu finden, bevor sie zu Schaden kam.
Jetzt musste er sich fragen, ob er vorsätzlich auf eine falsche Fährte gelockt worden war.
Und wenn es so war, was sollte er dann tun?
Er dachte gerade über diese Frage nach, als er direkt hinter sich ein leises Rascheln hörte. Knurrend wirbelte er herum, die Zähne warnend gefletscht.
Der Anblick der winzigen Dämonin mit den schwarzen mandelförmigen Augen und dem hellen Haar, das zu einem festen Zopf geflochten war, mitten auf der Wiese trug nicht gerade dazu bei, seinen Blutdurst zu besänftigen.
»Du.«
»Ja, ich.« Yannah glättete mit den Händen ihre tadellose weiße Robe, die Lippen missbilligend zusammengekniffen. »Auch wenn ich nicht weiß, weshalb ich mir überhaupt die Mühe mache. Ich warnte dich ausdrücklich davor, dich von der Prophetin trennen zu lassen. Und dennoch bist du hier, und Kassandra ist nirgendwo zu sehen.«
Verdammt, dieses nervende … Miststück.
Caine ballte die Hände zu Fäusten, zu wütend, um sich darüber Gedanken zu machen, dass er vollkommen nackt war. Oder dass der Heuballen ihm in den nackten Hintern stach.
Er rief sich grimmig in Erinnerung, dass diese Dämonin über genug Macht verfügte, um ihn allein mit einem bloßen Gedanken zu vernichten. Und sosehr er sich auch wünschte, die winzige Kreatur zu schütteln, bis sie mit den spitzen Zähnen klapperte – er konnte Kassie nicht retten, wenn er in der Hölle schmorte.
»Denkst du etwa, ich hätte sie absichtlich verlassen?«, wollte er wissen. »Sie ist verschwunden.«
Yannah schnaubte verächtlich. »Es spielt keine Rolle, wie ihr voneinander getrennt wurdet, nur, dass du sie findest.«
»Was denkst du wohl, was ich gerade versuche?«
Yannah zuckte die Achseln. »Für mich sieht es so aus, als ob du im Kreis rennst.«
Caine erstarrte. Wie zum Teufel konnte sie wissen, dass er im Kreis rannte? Es sei denn …
»Hast du uns nachspioniert? Weißt du, wo sie ist?« Er ging auf Yannah zu und funkelte ihr wütend in das winzige, herzförmige Gesichtchen. »Ist sie entführt worden? Ist sie verletzt?«
»Nein und nein und nein und nein.«
Er erzitterte. Sein Wolfsanteil strebte danach, freigelassen zu werden, um erneut auf die Jagd zu gehen. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde Kassies Fährte noch etwas schwächer, und seiner inneren Bestie war es völlig egal, ob diese Dämonin Informationen hatte, die ihnen dabei helfen konnte, die Frau zu finden, oder nicht.
»Was ist ihr dann zugestoßen?«
Die schwarzen Augen wurden groß. »Es scheint, dass sie dir den Laufpass gegeben hat.«
»Den Laufpass?«
»Nennt man das nicht so, wenn man sich von einem ungewollten Partner befreit?«, fragte sie mit gespielter Unschuld. »Den Laufpass geben, mit jemandem Schluss machen, jemanden an die Luft setzen?«
»Ja, ich habe verstanden, was du meinst«, stieß er mühsam hervor. »Ich weiß nur nicht, warum du denkst, Kassie sollte mir den Laufpass geben.«
»Sie ist davongefahren und hat dich an einer Raststätte mitten im Nirgendwo zurückgelassen.«
Caine fauchte und weigerte sich zuzulassen, dass auch nur der kleinste Anflug eines Verdachtes in ihm aufstieg.
Es würde etwas in seinem tiefsten Inneren zerstören, wenn er wirklich annahm, Kassie habe ihn absichtlich im Stich gelassen.
»Sie muss entführt worden sein«, sagte er mit mehr Nachdruck als nötig, während er sich ihre leidenschaftliche gemeinsame Nacht ins Gedächtnis rief.
Es war einfach nicht möglich, dass eine Frau einem Mann so begierig ihre Unschuld schenkte, den sie bei der ersten Gelegenheit fallenzulassen beabsichtigte. Zum Teufel, sie lägen jetzt immer noch in diesem Bett, wenn die verdammte Vision nicht gewesen wäre!
Caine sog scharf die Luft ein, als ihm bewusst wurde, dass er den genauen Moment bestimmen konnte, in dem Kassandra sich von seiner süßen, großzügigen Geliebten in eine distanzierte Fremde verwandelt hatte, die ihm kaum ins Gesicht blicken konnte.
Yannah, die offensichtlich spürte, dass ihm soeben ein Licht aufgegangen war, kniff die dunklen Augen zusammen. »Was gibt es?«
»Die Vision.«
»Eine Prophezeiung?«
»Ja.« Er murmelte einen Fluch und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar. »Ich wusste doch, dass irgendwas nicht stimmte. Götter. Ich hätte sie zwingen müssen, es mir zu erzählen.«
»He!« Yannah schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Du kannst dich später noch in Selbstmitleid suhlen.«
Sein leises Knurren lag grollend in der Luft. »Du bist …«
»Reizend direkt?«, unterbrach sie ihn mit einem warnenden Unterton. Er näherte sich ihrer persönlichen Grenze, und beide wussten, dass er sie nicht überschreiten wollte.
Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, seine Frustration zu zügeln. »Weißt du, wohin Kassie will?«
»Nein, aber du weißt es.«
»Ich?« Bei dieser albernen Anschuldigung runzelte er die Stirn. »Wenn ich es wüsste, würde ich nicht im Kreis laufen.«
»Ich wusste, dass du nur Muskeln und kein Gehirn hast.« Yannah schüttelte tief enttäuscht den Kopf. »Du hast Glück, dass du so hübsch bist.«
Caine ließ die Hand sinken und ballte die Finger zu einer festen Faust. Er wollte irgendetwas schlagen. Oder noch besser, irgendetwas töten.
»Gottverdammt, wir vergeuden Zeit«, bellte er mit heiserer Stimme. »Warum kannst du es mir nicht einfach sagen?«
»Weil ich es nicht weiß.« Sie hielt eine Hand in die Höhe, als er gerade zu einem ärgerlichen Protest ansetzte. »Ich weiß nur, dass du es weißt.«
»Scheiße«, murmelte er. »Du verursachst mir Kopfschmerzen.«
»Sie muss irgendetwas gesagt haben«, entgegnete Yannah völlig ungerührt. »Denk nach.«
Caine verkniff sich seine wütende Erwiderung und zwang sich, sich daran zu erinnern, was Kassie über ihre Vision gesagt hatte. Soweit er wusste, war Yannah eine verrückte Dämonin, die ihm überallhin folgte, um ihm das Leben zur Hölle zu machen. Aber wenn es auch nur den winzigsten Hauch einer Chance gab, dass sie ihm dabei helfen konnte, Kassie aufzuspüren, dann würde er durch Reifen springen und Mambo tanzen, falls sie es von ihm verlangte.
»Alles, was sie gesagt hat, war, dass sie eine Vision hatte und dass wir nach Westen reisen müssten.«
»Nur nach Westen?« Yannah wirkte beunruhigt. »Das ist etwas ungenau.«
»Nein, wirklich?«
Eine erstickende Macht erfüllte die Luft, hüllte Caine ein und ließ ihn deutlich spüren, dass ihm Yannah mühelos jeden einzelnen Knochen brechen konnte.
»Vorsicht, Werwolf.«
Er wartete ab, bis die Macht so weit abgenommen hatte, dass er wieder Atem holen konnte. Erst als er relativ überzeugt davon war, dass er nicht kurz davorstand, sich in eine verstümmelte Leiche zu verwandeln, fing er an zu sprechen. »Offenbar hat sie sich entschieden zu verschwinden, bevor …« Er vergaß, was er eigentlich sagen wollte, als er zum ersten Mal wirklich über die zeitliche Abfolge der Ereignisse nachdachte. »Moment mal.«
»Was gibt es denn?«
Er starrte auf das erst kürzlich gemähte Feld, ohne es zu sehen, und vollzog noch einmal gedanklich die Ereignisse des Morgens nach, von dem Augenblick an, als Kassie in seinen Armen aufgewacht war.
»Nach ihrer Vision hat sie angefangen, sich merkwürdig zu benehmen.«
»Und?«
»Die Vision muss sie davon überzeugt haben, dass es da irgendeine Aufgabe gibt, mit der sie allein fertigwerden müsste.«
»Ja, ja.« Yannah wedelte ungeduldig mit der Hand. »Das ist durchaus möglich.«
»Also, als sie gesagt hat, wir müssten nach Westen reisen, muss sie versucht haben, mich von ihrer Fährte abzubringen.« Er legte die Stirn in Falten, nicht ganz zufrieden mit seiner logischen Schlussfolgerung. »Aber warum dieser ausgeklügelte Plan? Warum hat sie sich nicht einfach weggeschlichen, als ich das Frühstück gemacht habe?« Er ordnete seine wirren Gedanken, während er erbittert seinen knurrenden inneren Wolf ignorierte, der kurz vor einem Zusammenbruch stand. »Oh, ich bin so dumm«, stieß er schließlich hervor.
Yannah ließ ihre scharfen Zähne aufblitzen. »Ich erhebe keine Einwände.«
Er achtete nicht weiter auf die Beleidigung. »Sie musste irgendwie die Zauber überwinden.«
Die Dämonin blinzelte verwirrt. »Welche Zauber?«
»Die, mit denen ich mein Versteck umgeben habe.«
»Du hieltest sie gefangen?«
Caine furchte empört die Stirn. »Nein, ich habe sie wahrhaftig nicht gefangen gehalten, sondern ich habe versucht, sie zu beschützen! Für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen ist: Es gibt mehr als nur einige wenige Dämonen, die alles dafür tun würden, sie in ihre Klauen zu bekommen.«
»Mir ist die Gefahr sehr wohl bewusst, in der sie schwebt. Und aus diesem Grund musst du sie auch finden.« Die Dämonin gab ihm mit dem Finger einen Stoß gegen seinen Bauch. »Und zwar bald.«
Caine erstarrte vor Angst, als er die Besorgnis wahrnahm, die Yannah zu überspielen versuchte. »Du weißt irgendwas«, warf er ihr vor. »Was ist es?«
»Ich spüre nur, dass sie gejagt wird.« Yannah versetzte ihm noch einen Stoß. »Denk nach, Caine. Wohin ist sie verschwunden?«
»Verdammt, ich weiß es nicht!«, brüllte er.
Er lief im Kreis und zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, den er möglicherweise übersehen hatte. Kassandra sprach nur selten von der Zukunft. Wer hätte es ihr verdenken können? Ihre Visionen bedeuteten für sie eine erdrückende Last, die sie vergessen wollte, statt auf ihnen herumzureiten.
Aber eine Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm einfach keine Ruhe ließ, flüsterte ihm zu, dass sie etwas gesagt hatte … Nur was?
Etwas, woran er sich erinnern sollte.
Caine nahm sein ruheloses Umherwandern wieder auf und ignorierte Yannahs finsteren Blick genauso wie den fernen Klang vorbeifahrender Autos, während er sich intensiv bemühte, sich an jedes seiner Gespräche, das er im Lauf der vergangenen Woche mit Kassandra geführt hatte, zu erinnern. Dann plötzlich stand ihm deutlich Kassies Bild vor Augen: Sie saß auf dem Rand der Frühstückstheke, während Pizzaduft in der Luft lag.
»Hat diese Vision zufällig irgendein magisches Mittel erwähnt, das dafür sorgen kann, dass wir kein Blutsaugerfutter werden?«
»Nein. Aber wir müssen in dein Versteck in Chicago zurückkehren.«
»Jetzt?«
»Nein. Sehr bald, aber nicht mehr heute Abend.«
»Das ist es«, murmelte er.
»Weißt du es?«, erkundigte sich Yannah.
»Ich weiß es.«
»Wohin?«
»Sie ist zu meinem Versteck in der Nähe von Chicago unterwegs.«
Die Dämonin studierte ihn mit einem Stirnrunzeln, als müsse sie sich entscheiden, ob man ihm trauen konnte oder nicht. »Bist du dir sicher?«
»Ja.«
»Schön.« Ohne Vorwarnung streckte sie die Hand aus, um ihre Finger um sein Handgelenk zu schließen. Ihr Griff war erschreckend kräftig. »Dann lass uns gehen.«
»Gehen?«
Ihr Lächeln sorgte dafür, dass ihm vor Beunruhigung ein Schauder über den Rücken lief. »Halt dich fest.«
»Moment mal.« Caine versuchte sich von der verrückten Frau loszureißen. Wer wusste, was sie da ausheckte? Doch es war bereits zu spät. Vor seinen Augen schwand die Welt einfach dahin, er hatte das Gefühl, von leerer Schwärze umgeben zu sein. »Scheiße.«
Caines Versteck außerhalb von Chicago
Die Abenddämmerung färbte den Himmel in leuchtendes Violett und bernsteinfarbene Töne, als Kassandra den Wagen in der Nähe des zweistöckigen Bauernhauses parkte. Mit einem zitterigen Seufzer stellte sie den Motor ab und ließ ihre bebenden Hände in den Schoß fallen.
Es war eine höllische Reise gewesen.
Nicht nur, weil sie die vergangenen sechs Stunden mit dem Versuch verbracht hatte, auf der Fahrt zu diesem abgelegenen Ort keine glücklosen Autofahrer zu töten. Sondern auch, weil sie ununterbrochen nervös darauf gewartet hatte, dass es Caine womöglich irgendwie gelungen sein könnte, ihr auf die Spur zu kommen und sie zu verfolgen.
Jetzt, da sie hier war, ohne irgendeine Spur des Werwolfes, der zu einem so wichtigen Teil ihres Lebens geworden war, fühlte sie sich jedoch … ja, wie denn? Leer. Als sei sie nur eine Hülle, die rein mechanische Handlungen vollzog.
Wo war Caine? Suchte er noch nach ihr? Quälte er sich vielleicht selbst und gab sich die Schuld dafür, dass sie verschwunden war?
Oder war er schließlich zu dem Schluss gekommen, dass er genug von ihren Verrücktheiten hatte?
Ganz sicher hatte er jedes Recht, sich angewidert von ihr abzuwenden. Nachdem er alles geopfert hatte, um ihr Wächter zu werden, war sie einfach verschwunden, ohne Warnung, ohne Erklärung. Welcher Mann, der bei vollem Verstand war, zöge daraus nicht die Schlussfolgerung, dass sie ihm mehr Ärger einbrachte, als sie wert war?
Sie biss die Zähne zusammen und versuchte den Schmerz in ihrem Herzen zu verdrängen. Verdammt. Was für eine Rolle spielte es schon, wenn sie sich fühlte, als habe sie einen Teil ihrer Seele verloren? Solange Caine in Sicherheit war, war nichts anderes von Bedeutung. Überhaupt nichts.
Sie zwang ihre steifen Muskeln, sich zu bewegen, stieg aus dem Jeep und machte sich vorsichtig auf den Weg zum Haus. Das letzte Mal, als sie zu Besuch in diesem Versteck gewesen war, hatte Caine die Zauber so verändert, dass sie sie erkannten. Aber es war schon Wochen her, seit sie zuletzt hier gewesen war. Würden sie sich an sie erinnern?
Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden.
Kassandra holte tief Luft, durchquerte die Hecke und folgte dem schmalen Pfad. Als sie nicht getötet, aufgespießt oder in einen Wassermolch verwandelt worden war, ging sie weiter und erklomm die Stufen der umlaufenden Veranda.
Sie hielt inne und sah sich ein letztes Mal in dem leeren Garten um, der von einer dichten Baumreihe umgeben war, bevor sie die schwere Eichentür öffnete und das Wohnzimmer betrat.
Es war ein schmuckloser Raum, ausgestattet mit Bauernmöbeln und hoch aufragenden Bücherregalen, die mit in Leder gebundenen Chemiebüchern vollgestopft waren. Ein wehmütiges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Das Haus erinnerte sie auf schmerzhafte Weise an Caine.
Götter, selbst die Luft roch nach ihm.
Gerade war ihr dieser Gedanke gekommen, als auch schon die Tür hinter ihr zuschlug und sie herumwirbelte, um einen blondhaarigen Werwolf zu entdecken, der an der Wand lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und ein spöttisches Lächeln auf den Lippen.
»Hallo, Schatz. Hast du mich vermisst?«
Ihr klappte wortwörtlich der Unterkiefer herunter.
Caine.
Aber … das war doch nicht möglich, oder?
Er konnte doch nicht hier sein, wenn sie ihn kilometerweit hinter sich gelassen hatte.
»Bist du eine Sinnestäuschung?«
»Nein, ich bin keine Sinnestäuschung.« Er stieß sich von der Wand ab und schritt auf ihre steife Gestalt zu, bekleidet mit einer lässigen Jeanshose und einem weißen T-Shirt. »Na, überrascht?«
Sie schüttelte den Kopf und bemühte sich zu begreifen, dass er wirklich da war und nicht bloß reine Einbildung.
»Und wie?«
Er wölbte eine Augenbraue. »Wie – was?«
Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Wie bist du hierhergekommen?«
Unvermittelt packte Caine sie an den Oberarmen und wirbelte sie herum, sodass er sie gegen die Wand drücken konnte. Erst in diesem Moment erkannte sie, dass sich hinter seiner Selbstbeherrschung und seinem süffisanten Verhalten reine Wut verbarg.
»Das ist nicht die entscheidende Frage.«
Die Hitze seines Zorns versengte ihre Haut. Er achtete sorgsam darauf, sie nicht so fest zu halten, dass er sie verletzte, aber fest genug, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihm nicht entkommen konnte.
»Caine …«
Die saphirfarbenen Augen glitzerten in dem immer dunkleren Dämmerlicht. »Die Frage ist, warum zum Teufel du ohne mich verschwunden bist.«
Seine Worte rissen Kassandra aus dem fassungslosen Schockzustand, der ihren Verstand vernebelte. Er hatte recht. Es spielte keine Rolle, wie er sie gefunden hatte. Oder auch nur, wie er hatte wissen können, wohin sie unterwegs war, um vor ihr hier zu sein.
Das Einzige, was von Bedeutung war, war die Tatsache, dass sie Caine loswerden musste, bevor es zu spät war.
Sie drehte ihren Kopf, um den Sekretär vor dem Fenster anzustarren, in der verzweifelten Hoffnung, ihr allzu ausdrucksstarkes Gesicht vor ihm zu verbergen. »Ich glaube, das erklärt sich wohl von selbst.«
»Das glaubst du?«
»Ja.«
Er schnaubte, ergriff mit den Händen ihr Kinn und drehte ihr Gesicht so, dass sie ihm in die zusammengekniffenen Augen sehen musste. »Offenbar bin ich besonders dämlich, weil ich absolut nicht finde, dass es sich von selbst erklärt, wenn meine Geliebte mich an einer Raststätte aussetzt.«
Sie leckte sich über die Lippen und geriet unter seinem durchdringenden Blick ins Wanken. Wer hätte gedacht, dass Lügen eine so lebensnotwendige Fähigkeit war? Oder dass ihre Unfähigkeit zu lügen durchaus dazu führen konnte, dass Caine in der Hölle schmorte.
Verdammt, sie musste es tun. Und sie musste gut genug sein, um dafür zu sorgen, dass Caine sie verließ und nie wieder zurückkehrte. Mühevoll zwang sie sich zu einem Gesichtsausdruck, von dem sie hoffte, dass er einem Lächeln nahe kam. »Ich kam zu dem Entschluss, dass ich genug hatte.«
»Genug wovon?«
»Genug von uns.«
»Nein.«
»Wie bitte?«
»Versuch es noch mal.«
Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ich verstehe nicht.«
»Eine Frau schenkt einem Mann nicht ihre Unschuld, wenn sie ›genug hat‹«, stellte er ihre Behauptung infrage.
»Ich weiß nicht, weshalb du so eine große Sache aus meiner Jungfräulichkeit machst«, murmelte sie.
Caines kochende Wut verschwand abrupt. An ihre Stelle trat eine herzzerreißende Zärtlichkeit.
»Weil es für mich eine große Sache war.« Sein Daumen zeichnete die Umrisse ihrer Unterlippe nach, und prompt verdunkelte Leidenschaft seine Augen. »Das ist ein Geschenk, das ich immer in Ehren halten werde.«
Kassie unterdrückte einen frustrierten Seufzer. Was stimmte nicht mit diesem Mann?
»Nun ja, für mich war es nicht mehr als eine Last«, erwiderte sie und weigerte sich hartnäckig, bei dem herrlichen Gefühl seines Daumens, der über die Wölbung ihrer Lippe strich, zu erbeben. »Jetzt, da ich sie verloren habe, kann ich weiterziehen …«
Etwas, das vielleicht Belustigung war, glitzerte in seinen Augen. »Weiterziehen? Wohin?«
»Zu einem anderen.«
Das hätte den Zweck eigentlich erfüllen müssen. Welcher Mann konnte es schon ertragen, wenn ihm gesagt wurde, seine Frau würde sein Bett verlassen und zu einem anderen gehen? Stattdessen verstärkte sich seine empörende Belustigung nur noch.
»Und du dachtest, dass du diesen geheimnisvollen anderen in meinem Versteck finden würdest?«, fragte er gedehnt. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn, oder, Schatz?«
»Natürlich nicht«, fuhr sie ihn an. »Ich brauchte einen Ort, an dem ich wohnen kann, bis ich mir ein eigenes Versteck suchen kann.«
Caine senkte den Blick zu ihrem Mund, den sein Daumen nach wie vor streichelte. »Sicherlich kann dir dein nächster Liebhaber ein Versteck bieten? Oder wenigstens ein Bett?«
»Das geht dich nichts an.«
»Doch, es geht mich etwas an, wenn du vorhast, mein Privatversteck für deine Orgien zu benutzen.« Ein durchtriebenes Lächeln kräuselte seine Lippen. »Wenigstens sollte ich daran teilnehmen dürfen.«
Sie erbebte, und eine tiefe Sehnsucht drohte ihre edlen Absichten zu unterminieren. »Hör auf damit«, fauchte sie und schlug seine Hand weg, die sie quälte, indem sie sich selbst daran erinnerte, was es kosten würde, wenn sie versagte.
Sein Amüsement verschwand, und er stemmte seine Hände gegen die Wand neben ihren Schultern, wodurch er sie mit seinem Körper einsperrte. »Sag mir, warum du hier bist.«
Sie wandte den Kopf, erschrocken über die grimmige Entschlossenheit, die sie in seinem wunderschönen Gesicht erkennen konnte. »Weil ich fort von dir wollte und dachte, das hier sei der letzte Ort, an dem du nach mir suchen würdest.«
»Es hat nichts mit deiner Vision zu tun?«
»Nein, und jetzt geh.«
»Niemals.«
»Dann werde ich verschwinden.« Sie griff nach seinem Arm und versuchte verzweifelt, ihn zur Seite zu schieben. »Verdammt, lass mich gehen!«
Ein angespanntes Schweigen senkte sich herab, und sie spürte, wie Caines brennender Blick über ihr starres Profil glitt. Dann ließ er unvermittelt seinen Arm fallen und trat einen Schritt zurück.
»Na schön. Du bist frei und kannst gehen.« Er sagte nichts, als sie wie angewurzelt stehen blieb, zitternd von Kopf bis Fuß. Schließlich strich er sanft mit der Hand über ihre Wange. »Du kannst nicht, oder?«
Kassandra ließ den Kopf sinken und schlug die Hände vor das Gesicht, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Bitte, Caine …«
Sie spürte, wie er seine Arme um ihren bebenden Körper legte, sie an sich zog und seine Lippen auf ihre Schläfe drückte.
»Was ist los?«, fragte er und flehte: »Rede mit mir, Kassie. Ich muss wissen, was los ist.«
»Ich kann nicht.«
»War es die Vision?«
Sie leistete noch eine ganze Weile Widerstand, bevor sie sich geschlagen gab. Es gab einfach keine Möglichkeit für sie, sich von dem störrischen Werwolf zu befreien. Zumindest, wenn sie ihm nicht beweisen konnte, dass es zu gefährlich für ihn war, bei ihr zu bleiben.
Und das war nicht wahrscheinlicher, als dass ihr plötzlich Flügel sprossen und sie fliegen konnte.
Sie stieß einen resignierten Seufzer aus und lehnte ihren Kopf an seine so angenehme starke Brust. »Ja.«
Seine Hände glitten mit einer tröstenden Bewegung über ihren verkrampften Rücken. »Kannst du es mir erzählen?«
»Du bist es.«
»Ich?« Er erstarrte, offensichtlich schockiert über ihr Geständnis. »Mache ich irgendwas falsch?«
»Nein, du wirst gefangen genommen.« Sie erschauderte, und die Erinnerung an ihre Vision stand ihr schmerzhaft klar vor Augen. »Wir beide.«
»Von wem werden wir gefangen genommen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und wo wurden wir in der Vision gefangen gehalten?«
»Ich weiß nicht.« Sie erschauderte erneut. »Wir waren von einem weißen Nebel umgeben.«
Eine lange Pause folgte.
»Also bist du verschwunden, weil eine Vision dir gezeigt hat, dass ich gefangen genommen werde?«, fragte er sanft.
»Ja.«
Sie hörte sein leises Knurren einen winzigen Moment, bevor er sich grob von ihr losriss. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, und in seinen Augen glühte die Macht seines inneren Wolfes. »Verdammt, Kassie!«, bellte er. »Was zum Teufel hast du dir nur gedacht?«
Kassandra, die auf Caines unerwarteten Wutanfall nicht vorbereitet gewesen war, sah ihn verwirrt an. »Ich habe versucht, dich zu beschützen.«
»Nein.« Er zeigte mit einem Finger auf sie, und die Adern an seinem Hals traten deutlich sichtbar hervor, als er sich bemühte, seine Empörung im Zaum zu halten. »Das ist nicht erlaubt.«
»Nicht erlaubt?«
»Das ist nicht dein Job.«
Sie blickte ihn finster an. »Aber es ist in Ordnung, wenn du mich beschützt?«
»Ja.«
Sie war sprachlos über seine unverblümte Antwort. Wie diskutierte man mit jemandem, der sich keinerlei Mühe gab, vernünftig zu sein? »Ist das überhaupt logisch?«, gelang es ihr schließlich zu fragen.
»Du bist die Prophetin.« Sein Ton war hart und ungerührt. »Und ob es dir gefällt oder nicht – du bist im Augenblick die Nummer eins auf der Fahndungsliste.«
»Das gefällt mir nicht.«
Er beachtete ihren kindischen Ausbruch nicht weiter. »Und aus irgendeinem seltsamen Grund hat das Schicksal mich zu deinem Beschützer bestimmt. So ist es nun mal.«
Kassie trat auf ihn zu. Sie wünschte sich verzweifelt, ihm die Gefahr begreiflich machen zu können, in der er schwebte. »Ich konnte es nicht ertragen, Caine.« Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, die Stimme belegt vor Angst. »Du warst …«
Sein Kopf stieß herab, um ihre Lippen mit einem wilden Kuss zu erobern, der ihr die Sprache raubte.
»Still«, befahl er sanft und wich ein Stück zurück, um sie mit ernsthafter Miene anzusehen. »Selbst wenn ich in der Vision tot gewesen wäre – du wirst nie wieder versuchen, mich zu verlassen.«
Sie schüttelte den Kopf und schloss die Finger fester um sein Gesicht. »Ich werde nicht zulassen, dass du verletzt wirst.«
»Denk nach, Kassie. Du hast selbst gesagt, dass es zu gefährlich ist zu versuchen, das Schicksal zu ändern.« Er sah ihr tief in die geweiteten Augen, seine Hände umschlossen leicht ihre Handgelenke, und seine Daumen rieben über ihren ungleichmäßig schlagenden Puls. »Was, wenn dein unangebrachter Versuch, mich in Sicherheit zu bringen, das Kräftegleichgewicht zugunsten des Fürsten der Finsternis verändert hat?«
»Das ist mir gleichgültig.«
Er stutzte, als er ihre schroffen Worte hörte. »Du würdest die ganze Welt für mich opfern?«
Sie zögerte keinen Moment. »Ja.«
»Kassie.« Mit einem Stöhnen beugte er sich vor und legte ihre Stirn an ihre. »Götter, du hörst nie auf, mich zu überraschen.«
Kassandra gab einen verzweifelten Laut von sich. Sie wollte ihn nicht überraschen. Sie wollte, dass er vor Angst floh.
»Bitte, bitte, geh, Caine!«
Er schob das Kinn vor. »Auf gar keinen Fall.«
»Dann fahren wir höchstwahrscheinlich zur Hölle«, fuhr sie ihn an.
»Ich wusste schon immer, dass das unvermeidlich war.«
Sie fauchte über seine leichtfertige Erwiderung. »Das ist nicht lustig.«
»Eigentlich würde ich sagen, dass es der größte kosmische Witz in der Geschichte der Welt ist«, bemerkte er und verzog die Lippen zu einem humorlosen Lächeln.
»Was soll das bedeuten?«
»Diese Visionen, die du hast, sind bedeutender als wir beide.« Er wandte den Kopf, sodass er ihr einen Kuss mitten auf die Handfläche geben konnte. »Und im Moment bin ich das Einzige, das dich vor den bösen Jungs beschützt.« Er brach in durchdringendes Gelächter aus. »Der Himmel stehe uns bei.«