KAPITEL 15

Styx verdrängte die anklagenden Worte. Er konnte es sich nicht leisten, Mitleid mit dem Verräter zu haben. Nicht wenn die Zukunft der Welt auf dem Spiel stand.

»Niemand von uns kann den Verlust nachvollziehen, den Ihr erlitten habt, doch Dara war nicht die einzige Person, die auf Euch angewiesen war«, entgegnete er, in dem Versuch, die uralten Loyalitätsgefühle des anderen Vampirs zu wecken. Womöglich war es ja noch nicht zu spät, den einstmals ehrenhaften Clanchef an sein Pflichtgefühl zu erinnern.

»Meinem Clan erging es besser ohne mich.«

»Und wie sieht es mit Eurem Sohn aus?«

Gaius erstarrte, und seine Augen verdunkelten sich. In ihnen war ein Gefühl des unendlichen Verlustes zu erkennen – von der Art, die einen Mann vernichten konnte.

»Santiago?«

»Also habt Ihr ihn noch nicht vollkommen vergessen.«

»Natürlich nicht.« Gaius umklammerte das Medaillon so fest, dass seine Fingerknöchel sich weiß verfärbten. »Er ist mein Kind. Und er wird es immer sein.«

Styx musste seine Verachtung nicht vortäuschen. Nicht, nachdem er persönlich erlebt hatte, was nach Gaius’ abrupter Abreise hinter den Schleier mit Santiago geschehen war.

»Ein Vater lässt sein Kind nicht im Stich.«

Gaius runzelte die Stirn, sichtlich bewegt von der Erinnerung daran, dass er sein eigenes Kind zurückgelassen hatte. »Ich konnte es nicht zulassen, dass er durch meinen Handel mit dem Fürsten der Finsternis besudelt wurde.«

»Stattdessen habt Ihr zugelassen, dass er der Sklave eines der bösartigsten Vampire wurde, denen zu begegnen ich das Unglück hatte?«, stieß Styx mit rauer Stimme hervor, als er sich Santiagos zerschmetterten, blutenden Körper ins Gedächtnis rief, den er in den Kampfhöhlen in den Tiefen von Barcelona gefunden hatte. »Er machte ihn zu einem Gladiator. Santiago war gezwungen, jede Nacht in den Bluthöhlen zu kämpfen, nur um zu überleben.«

»Ich nehme an, Ihr erschlugt seinen Drachen und wurdet zu seinem Helden?«, versuchte Gaius zu spotten.

»Wäre es Euch lieber, ich hätte ihn im Stich gelassen, wie Ihr es getan hattet?«

Gaius zuckte zusammen, und er wandte den Blick von Styx’ anklagender Miene ab. »Nein.«

Styx senkte sein Schwert, doch er war nicht töricht genug, um sich dem unruhigen Vampir zu nähern. »Gaius, es ist nicht zu spät, Eure Ehre wiederherzustellen«, drängte er.

Gaius schauderte. »Es ist später, als Ihr es Euch überhaupt vorstellen könnt.«

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür hinter Styx, und eine Frau mit kurzen, stacheligen roten Haaren und schwarzen Augen kam in die Zelle geeilt. Es war Laylah, der Dschinnmischling und Maluhias Mutter.

»Das Baby ist verschwunden«, verkündete sie. Ihr Gesicht war weiß und ließ eine Mischung aus Schock und Angst erkennen.

Verdammt.

Er hatte doch gewusst, dass Gaius nur als Ablenkung fungierte.

»Wie?« Styx hielt sich nicht mit Sentimentalitäten auf. Die Leute kamen nicht zu ihm, um getröstet zu werden. Sie kamen zu ihm, weil sie Resultate erwarteten.

»Ich weiß nicht.« Laylah bemühte sich, ihre Panik zu bändigen. »Ich habe Maluhia in den Armen gehalten, als er mir plötzlich entrissen wurde. Er«, sie hob hilflos die Hände, »ist einfach verschwunden.«

»War es Magie?«

»Ich glaube nicht.« Laylah schüttelte den Kopf und drehte sich um, um eine Hand nach dem männlichen Vampir mit den polynesischen Gesichtszügen und dem dunklen Isokesenschnitt auszustrecken, der in den Raum geeilt kam.

Hinter Tane erschien eine Vampirin, eine schöne schlanke Frau mit langem dunklem Haar und schräg stehenden blauen Augen.

»Ich konnte die Hände fühlen, die Maluhia packten«, fuhr Laylah mit brechender Stimme fort. »Und ich bin sicher, dass es da irgendeinen Luftzug gab, als ich durch die Tür gerannt bin.«

Tane drückte seine Gefährtin fest an sich, und seine Miene machte deutlich, dass er den bösartigen Dreckskerl, der seinen Sohn entführt hatte, Stück für Stück auseinandernehmen würde, sobald er ihn in die Finger bekam. Dann würde er die Teile wieder zusammennähen und ihm die gleiche Prozedur noch einmal angedeihen lassen.

»Der Entführer war unsichtbar?«, fragte er.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während sie alle über die seltsame Wendung der Ereignisse nachdachten.

Dann knurrte Jaelyn tief in der Kehle. »Kostas«, meinte sie.

Laylah warf der früheren Jägerin einen verwirrten Blick zu. »Wie kannst du das wissen?«

Jaelyn erschauerte. Sie hatte nie alles darüber erzählt, was ihr in der Gewalt des Addonexus widerfahren war, insbesondere durch Kostas, aber das wenige, was Styx herausgefunden hatte, hatte ihm gereicht, um gründlich aufzuräumen. Er ließ es nicht zu, dass sein Volk von Tyrannen terrorisiert wurde.

»Niemand sonst ist imstande, sich so tief in Schatten zu hüllen«, erklärte Jaelyn und richtete ihren Blick eindringlich auf Styx. »Und er ist rasend vor Rachsucht, seit Ihr ihn als Ruah abgesetzt habt.«

Schatten.

Styx verspürte den Drang, seinen dummen Schädel gegen die Wand zu rammen. »Hütet euch vor den Schatten«, knurrte er. »Verdammt, wir wurden gewarnt, und dennoch habe ich versagt.«

»Nein, ich habe versagt«, erwiderte Laylah leise, und ihre Stimme klang derart kummervoll, dass ihre Traurigkeit deutlich im ganzen Raum zu spüren war. »Wir werden ihn zurückbekommen, Laylah«, sagte Styx und ließ seinen Blick zu Tane wandern. »Das schwöre ich.«

»Es ist zu spät, Anasso«, sprach eine Stimme hinter ihm. »Gebt Euch geschlagen, und unterwerft Euch dem Fürsten der Finsternis.«

Knurrend wirbelte Styx auf dem Absatz herum und schritt auf den vergessenen Gaius zu, hocherfreut, dass er etwas hatte, das er mit seinem riesigen Schwert durchbohren konnte.

Es war offensichtlich, dass der Vampir sie vorsätzlich abgelenkt hatte, um Kostas die Gelegenheit zu geben, das Kind zu rauben.

Nun würde er dafür bezahlen.

»Niemals.«

Gaius lächelte mit unverkennbarer Bitterkeit. »Dann sterbt.«

Seine Worte hingen noch immer in der Luft, als er sich von einem Augenblick zum anderen in Luft auflöste.

»Verdammt.« Styx blieb stehen und hob den Blick zur Zimmerdecke. »Könnte dieser Tag noch schlimmer werden?«

»Man sollte das Schicksal nicht herausfordern«, murmelte Tane.

Styx zügelte seinen Zorn und zwang sich, sich darauf zu konzentrieren, die beste Methode zu finden, um Maluhia aufzuspüren.

Anschließend wandte er sich wieder zu seinen Kameraden um und übernahm das Kommando.

»Jaelyn, versucht die Spur dieses Bastards aufzunehmen.«

Die Jägerin nickte rasch. »Natürlich.«

»Ich begleite sie«, kündigte Laylah abrupt an.

Styx runzelte die Stirn. Die Halbdschinn verfügte über viel Macht, aber niemand wusste sicher, ob sie tatsächlich unsterblich war.

»Laylah.«

Eine Spur von Elektrizität lag kribbelnd in der Luft. »Ich werde mitgehen.«

»Schön.« Styx warf dem stumm neben ihr stehenden Vampir einen Blick zu. »Ich vermute, Ihr habt die Absicht, sie zu begleiten?«

In den Augen, die die Farbe von Honig besaßen, lag ein Ausdruck klarer Kompromisslosigkeit. »Ja.«

»Nehmt Jagr mit«, meinte Styx, der widerstrebend erkannte, dass sein Platz hier war, sodass er zusätzliche Suchtrupps organisieren konnte, die den Säugling aufzuspüren versuchten. »Er ist der beste Spurenleser, über den wir verfügen.«

»Wir werden auch den Gargylen brauchen«, verkündete Jaelyn zur Überraschung aller.

»Levet?«, fragte Styx düster. Der winzige Dämon war eine wandelnde Katastrophe.

»Er kann Illusionen durchschauen«, erklärte Jaelyn.

Tanes Knurren hallte durch den Raum. »Und weshalb nahm er Kostas dann nicht wahr, als dieser das Versteck betreten hat?«

Die Jägerin zuckte die Schultern. »Ich glaube, er muss nach der Illusion suchen, damit er sie auch tatsächlich sieht.«

Styx rollte mit den Augen. Es war wahrhaft ein trauriger Tag, wenn der verdammte Gargyle ihre größte Hoffnung bedeutete, um das Ende der Welt aufzuhalten. »Na schön, dann nehmt ihn mit.«

»Was ist mit Gaius?«, erkundigte sich Jagr, der in der Türöffnung stand.

Styx stieß sein Schwert zurück in die Scheide. »Er gehört mir.«

Kostas’ Versteck

Sobald er wieder vollständig angekleidet war, fand Gaius mühelos den Eingang zu Kostas’ Versteck, klopfte an die schwere metallene Tür und wartete ungeduldig darauf, dass der mürrische Vampir ihn die Treppe hinunter und durch eine Reihe von Zementtunneln führte. Schließlich betraten die beiden Männer eine zweieinhalb Meter mal zweieinhalb Meter große Schuhschachtel von einem Raum. In einer Ecke stand ein Stuhl, an dem zahlreiche scharfe Waffen lehnten. In seiner unmittelbaren Nähe befand sich ein Regal mit abgenutzten Büchern, die die Geschichte diverser Dämonenspezies behandelten. Zweifelsohne enthüllten sie alle Stärken und Schwächen, die ein Jäger kennen musste.

»Damit ich dich besser töten kann, mein Liebling …«

Gaius schnitt eine Grimasse. Nicht so sehr über die Kargheit und den Mangel an Komfort. Er selbst hatte hinter dem Schleier so spartanisch wie ein Mönch gelebt. Der Grund war eher das lastende Gefühl des bevorstehenden Todes, das den Raum erfüllte.

Lag der Grund darin, dass Kostas seine Existenz dem Töten verschrieben hatte? Oder war es eine böse Vorahnung?

»Dies ist Euer Versteck?«, wollte Gaius wissen.

Kostas sah sich in dem Zementkasten um. »Weshalb?«

»Es ist …«

»Es erfüllt seinen Zweck.«

»Vermutlich.« Gaius schüttelte den Kopf und verdrängte seine sonderbaren Gedanken. Er hatte bereits genügend Schwierigkeiten, auch ohne dass er neue hinzuerfand. »Wo ist das Kind?«

Kostas stemmte die Hände in die Hüften. Sein massiger Körper nahm einen großen Teil des Raumes ein. »Wie sieht es mit meiner Belohnung aus?«

Gaius stieß einen Laut der Ungeduld aus. »Ich sagte doch bereits, dass es sich dabei um eine Angelegenheit zwischen Euch und dem Fürsten der Finsternis handelt.«

»Das ist nicht gut genug«, fauchte der Jäger. »Keine Belohnung – kein Kind.«

Gaius ballte die Hände zu Fäusten. Es war nicht so, dass er kein Verständnis für das Bedürfnis des Mannes hätte, seine Bezahlung im Voraus zu erhalten. Verdammt, er sehnte sich selbst verzweifelt danach, seine eigene Belohnung zu empfangen. Aber er war nicht in der Stimmung, die Rolle des Diplomaten zu spielen.

Nicht nur hatte er aus nächster Nähe gesehen, was genau mit einem Diener geschah, der die Fähigkeit des Fürsten der Finsternis infrage gestellt hatte, seine Versprechungen zu erfüllen. Darüber hinaus lagen seine Nerven noch immer blank von seiner Begegnung mit dem König der Vampire und der Erinnerung an seine Pflicht gegenüber Santiago.

Niemals gestattete er es sich, an den Sohn zu denken, den im Stich zu lassen er gezwungen gewesen war.

Niemals.

»Seid kein Narr«, warnte er seinen Begleiter. »Das letzte Wesen, das den Fürsten der Finsternis herausforderte, wurde bei lebendigem Leib von einem schwarzen Nebel verzehrt. Denkt Ihr tatsächlich, es erginge Euch besser?«

»Ich werde mir meine Rache nicht verwehren lassen.«

Gaius rollte mit den Augen und fragte sich, wie es nur möglich war, dass ein Mann seine Seele allein für seine Rache verschacherte. »Sobald der Fürst der Finsternis zurückgekehrt ist, werdet Ihr in der Lage sein zu foltern und zu quälen, wen auch immer Ihr wollt«, versprach er ihm sarkastisch.

»Und wenn er nicht zurückkehrt?«

»Dann stecken wir beide in Schwierigkeiten.«

Die direkten Worte hingen in der Luft, als beide über die abscheulichen Konsequenzen eines möglichen Fehlschlages nachsannen. Dann schüttelte Kostas ärgerlich den Kopf und versetzte dem Stuhl einen Fußtritt, sodass er zur Seite geschleudert wurde und ein kleiner Hebel zum Vorschein kam, der in den Fußboden eingelassen war.

Gaius beobachtete, wie der andere Vampir den Hebel umlegte, und trat ein Stück zurück, während die Geheimtür aufglitt und den Blick in einen kleinen dahinter liegenden Raum freigab. Augenblicklich war deutlich das Schreien eines Säuglings zu vernehmen.

»Dort drinnen.« Kostas zeigte mit einer fleischigen Hand auf den dunklen Raum. »Wie beabsichtigt Ihr das Kind zum Fürsten der Finsternis zu befördern?«

Gaius deutete mit einer Geste an, dass der Jäger den Raum vor ihm betreten solle. Nicht nur weil er einen verborgenen Zauber fürchtete, sondern auch weil er dem mächtigen Dämon nicht den Rücken zuwenden wollte.

»Ich bin ein Vampir mit zahlreichen Talenten.«

Kostas warf einen Blick über die Schulter. In seinen dunklen Augen war plötzlich Gerissenheit zu erkennen. »Ich hörte, die Unsterblichen besäßen eigenartige Kräfte.«

»Eigenartig?«

»Gestaltwandeln, durch den Nebel wandern«, zählte er sie auf. »Andere Vampire in ihren Bann ziehen.«

Gaius hätte darauf niemals geantwortet, wenn Kostas noch der Anführer der Jägerinnen und Jäger gewesen wäre. Ganz egal, was Styx ihm vorgeworfen hatte – dass er in der Schuld von Nefri und ihrem Clan stand, da er bei ihnen aufgenommen worden war, ließ ihn durchaus nicht ungerührt.

Aber Kostas war seines Amtes im Addonexus enthoben worden. Abgesehen davon war es höchst unwahrscheinlich, dass der dreiste Dummkopf seinen gegenwärtigen Dienst bei dem Fürsten der Finsternis überlebte. Weshalb sollte er ihm seine Fragen nicht beantworten?

»Gestaltwandeln ist ein Talent, über das nur sehr wenige Vampire verfügen«, räumte er ein. »Obgleich es unmöglich ist, diese Fertigkeit vollständig zu entwickeln, ohne durch den Schleier zu reisen.«

»Und die anderen?«, drängte Kostas.

»Nefri, die Clanchefin, verfügt ebenfalls über ein Medaillon wie das meine, welches es ihr gestattet, durch den Nebel zu wandern und auch den Schleier zu öffnen, sodass Vampire hin und her reisen können. Und zum Thema ›andere Vampire in den Bann ziehen‹ …« Gaius zuckte mit den Achseln. »Da gibt es einige, die imstande sind, die Kontrolle über den Geist geringerer Wesen zu übernehmen.«

Die dunklen Augen verengten sich. »Gehört Ihr dazu?«

»Wenn das der Fall wäre, führten wir jetzt nicht diese lächerliche Unterhaltung.«

Kostas trat steifbeinig auf das schmale Bett zu, in dem das Baby lag und nach wie vor schrie. Seine winzige Gestalt war in eine Decke gehüllt, sein Gesicht war verzogen und rot vor Missbehagen. »Das gefällt mir nicht«, knurrte Kostas und hob den Säugling auf.

»Es muss Euch nicht gefallen, Ihr müsst lediglich gehorchen.«

Mit einem drohenden Blick legte Kostas Gaius das schreiende Baby in den Arm. Erstaunlicherweise hörte das Kind abrupt auf zu weinen und blickte Gaius mit einem Paar großer blauer Augen an, in denen eine Unschuld zu erkennen war, die ihn mitten in sein totes Herz traf.

»Wenn Ihr mich betrügt, werdet Ihr Euch nirgendwo verstecken können, ohne dass ich Euch aufspüren werde«, sagte Kostas warnend.

Gaius riss seinen Blick von der süßen Unschuld los, die in seinen Armen lag, und funkelte stattdessen zornig seinen Begleiter an, während er das Medallion umfasste.

»Zurücktreten, Hanswurst.«

Das Gefängnis des Fürsten der Finsternis

Kassandra war in einer erstickenden Finsternis gefangen. Es gab keinerlei Geräusche, und sie konnte auch nichts ertasten. Nur eine ungeheure Leere, die selbst dem Verstreichen der Zeit trotzte.

Es war beinahe eine Erleichterung, als sie von ferne einen heftigen Schlag auf ihrer Wange spürte.

»Aufwachen, aufwachen!«, sprach ihr eine Frau ins Ohr.

Kassie bemühte sich, den zähen Nebel zu durchwaten, und zuckte zusammen, als die Schläge allmählich schmerzhafter wurden.

»Caine«, flüsterte sie und öffnete langsam die Augen, um ein hübsches junges Gesicht zu erkennen, das direkt über ihr schwebte. »Ihr.«

Ein Grübchenpaar blitzte auf. »Ja, ich.«

Kassie fauchte angstvoll und wich hastig vor der bösen Gottheit zurück.

Und wie böse dieses Miststück doch war!

Nur ein wahrhaft bösartiges Herz hätte eine solche Freude dabei empfunden, den hilflosen Caine zu foltern, während Kassandra auf ihren Knien um Gnade flehte.

Sie hatte immer wieder versucht, die Visionen zu beschwören, nach denen der Fürst der Finsternis verlangte, aber sie war keine Attraktion in einer Jahrmarktshow. Sie konnte die Visionen nicht zwingen aufzutauchen.

Schließlich war sie in das schwarze Loch der Bewusstlosigkeit gesogen worden, und ihr Verstand war gezwungen gewesen, jeden quälenden Moment von Caines Folter noch einmal zu erleben. Das hatte scheinbar eine Ewigkeit angedauert.

Jetzt konnte sie sich nur zu gut vorstellen, welche neue Hölle auf sie wartete.

»Wo ist Caine?«, brachte sie hervor. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Krächzen.

Die andere Frau richtete sich auf und strich mit ihren Händen das hübsche weiße Sommerkleid glatt, das sie auf irgendeine Weise erzeugt hatte, um ihren Körper, der zuvor nackt gewesen war, zu bedecken. »Keine Sorge. Dein treuer Hund befindet sich ganz in der Nähe.«

Der Fürst der Finsternis winkte mit der Hand, und der wabernde Nebel teilte sich und enthüllte den regungslos daliegenden Caine, der noch immer in der Gestalt zwischen Wolf und Mensch gefangen war.

Kassandra erhob sich vorsichtig und presste die Hände auf ihr schmerzendes Herz. »Was habt Ihr ihm angetan?«

»Er ist von einem Stillstandszauber umgeben.« Die blauen Augen flackerten in einem unheilvollen Blutrot. »Zumindest vorerst.«

Kassie verstand die Warnung. Die zeitweilige Gnadenfrist war vorbei. »Was wollt Ihr von mir?«

Die Frau streckte die Hand aus, um in Kassandras Haar zu greifen und so fest daran zu ziehen, dass Kassie Tränen in die Augen stiegen. »Du weißt, was ich will.«

Kassie versuchte gar nicht erst, sich zu wehren. Welchen Sinn hätte das schon gehabt? Diese Kreatur hätte ihr mühelos das Genick gebrochen. Oder noch schlimmer, sie hätte wieder damit angefangen, Caine zu foltern.

Kassandra warf der Frau, die sie gefangen hielt, stattdessen einen flehentlichen Blick zu. »Bitte, das kann ich Euch nicht bieten.«

Der Fürst der Finsternis schüttelte sie erzürnt so heftig, dass Kassies Zähne aufeinanderschlugen. »Du strengst dich einfach nicht genug an.«

»Doch«, schrie Kassandra auf. »Ich schwöre es!«

Die Frau richtete ihren Finger auf den ohnmächtigen Caine. »Benötigst du etwa eine Erinnerung an den Preis, den du bezahlen musst, wenn du versagst?«

»Nein, ich flehe Euch an …«

Es war alles andere als eine Überraschung, dass das böse Miststück Kassandras Flehen ignorierte. Mit einer kleinen Handbewegung ließ der Fürst der Finsternis seine unsichtbare Macht mit derartiger Wucht auf Caine los, dass dieser gewaltsam aus dem Zauber erwachte und qualvoll aufheulte.

»Ich muss wissen, wie die Zukunft aussieht, Seherin.« Die Frau funkelte Kassie zornig an. Die Frustration sorgte dafür, dass das blutrote Feuer das Blau ihrer Augen beinahe vollständig verschlang. »Du wirst sie mir enthüllen.«

Kassandra schrie auf, als sie Caines Schmerzen spürte, als seien es ihre eigenen. »Ihr tötet ihn ja!«

Die Frau schüttelte Kassie erneut heftig. »Es liegt an dir, ihn zu retten.«

»Aufhören …«

Kassandras Worte verklangen, als ein vertrautes Gefühl sich ihres Geistes bemächtigte, wobei es sämtliche Gedanken an den Fürsten der Finsternis und sogar an Caine vertrieb.

Diese Macht war größer als sie alle.

Mit heftiger Gewalt wurde sie von einer Prophezeiung durchzuckt, die sich einen Weg von dem großen Unbekannten in ihren Verstand brannte. Aufgewühlt und orientierungslos blieb sie zurück. Als sei sie von einem Zementlaster überfahren worden.

Langsam öffnete sie die Augen, verwirrt und nicht imstande, sich daran zu erinnern, weshalb sie von weißem Nebel umgeben war. Oder aus welchem Grund sie rasende Kopfschmerzen hatte. Visionen waren normalerweise nicht schmerzhaft.

Doch dann blieb ihr Blick an einer Frau hängen, die vorgebeugt dastand, um forschend ein schimmerndes Bildzeichen zu betrachten, das in der Luft schwebte. Was zum Teufel …

»Endlich.« Die Fremde richtete sich auf und wandte sich um, um Kassandra am Hals zu packen. »Was besagt es?« Sie packte fester zu, als Kassandra sich bemühte, ihre Gedanken zu klären und sich von der anhaltenden Verwirrung zu befreien. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Lasst mich in Ruhe«, stieß Kassie hervor.

»Sage mir, was sie bedeutet!«, brüllte die Frau.

»Was?«

»Die Prophezeiung.« Die Finger gruben sich in Kassandras Fleisch und versengten ihre Haut mit einer brennenden Hitze. »Was besagt sie?«

Kassandra blinzelte und zwang ihren Verstand, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Da gab es Nebel. So ungeheuer viel Nebel. Und irgendein eigenartiges Monstrum, das zitterte, ganz offensichtlich vor Schmerz.

O Götter! Sie war in diesem höllischen weißen Nebel gefangen, zusammen mit dem verrückten Fürsten der Finsternis und Caine.

»Ich erinnere mich«, flüsterte sie.

»Dann sag es mir.« Der Fürst der Finsternis bewegte seine Hand, um Kassandras Kinn in einem brutalen Griff zu zerquetschen und ihr Gesicht der schimmernden Hieroglyphe zuzuwenden. »Teile mir meine Zukunft mit.«

Kassie ließ ihren Blick widerstrebend auf der schwebenden Prophezeiung ruhen. Das Letzte, was sie wollte, war, den Fürsten der Finsternis in dem Krieg, der im Gange war, die Oberhand gewinnen zu lassen. Aber andererseits – hatte sie überhaupt eine Wahl? Auf die eine oder andere Art würde der Fürst der Finsternis sie zwingen, die Vision auszulegen.

Sie konzentrierte sich auf die Hieroglyphe und zog die Augenbrauen zusammen, als ihr die Worte in den Sinn kamen.

»Nun?«, bohrte der Fürst der Finsternis nach und schlitzte Kassandra mit den Fingernägeln die Haut auf.

Kassie neigte den Kopf, sodass ihr Haar das Lächeln verbarg, das mit einem Mal ihre Lippen kräuselte.

»Die Fluten des Chaos brechen sich an einer unüberwindlichen Mauer.«

»Nein!« Der Fürst der Finsternis ließ sie abrupt los und wartete, bis sie auf den Knien gelandet war, bevor er ihr einen heftigen Tritt in die Seite versetzte. »Das ist eine Lüge!«

Kassandra hob eine Hand, um sie auf ihre gebrochenen Rippen zu legen. Sie spürte, dass wenigstens eine von ihnen ihr die Lunge durchbohrt hatte.

»Die Prophezeiungen lügen nicht«, entgegnete sie.

»Dann lügst du!« Der Fürst der Finsternis packte eine weitere Handvoll von Kassandras Haaren und riss ihren Kopf nach hinten, sodass sie in die blutroten Flammen blicken musste, die seine Augen verschlungen hatten. »Du hoffst, deinen Gefährten retten zu können.«

Kassandra runzelte die Stirn. Sie konnte dieser Logik nicht folgen. »Wenn es mir nur darum ginge, ihn zu retten, dann hätte ich Euch erzählt, der Schlüssel zu Eurem Erfolg liege darin, ihn freizulassen.«

»Nein, das ist ein Trick.« Die Frau ging im Kreis um Kassie herum. Sie hatte eine derart trotzige Miene aufgesetzt, als sei sie ein pubertierender Teenager. »Es muss einfach ein Trick sein.«

Kassandra behielt die zornige Gottheit vorsichtig im Auge. Sie wusste, es war sehr wahrscheinlich, dass sie den nächsten Schlag nicht überlebte. »Ich habe Euch gegeben, was Ihr wolltet.«

»Vermutlich.« Der Fürst der Finsternis blieb abrupt stehen und funkelte Kassie über alle Maßen hasserfüllt an. »Nun bin ich an der Reihe.«

Kassandra erstarrte, denn sie wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. »Was meint Ihr damit?«

»Du wolltest deinen Gefährten haben, nicht wahr?« Der Fürst der Finsternis drehte sich um, um Caine ein Lächeln zuzuwerfen, der im Nebel lag und fortwährend vor Schmerzen zuckte. Sein gesamter Körper war starr vor Schmerz. »Nun kannst du ihn haben.«

Die Frau drehte ihre Hand, und Caine erhob sich mit ruckartigen Bewegungen, als sei er eine Marionette, an deren Fäden jemand zog. Mit einer weiteren Handbewegung öffnete der Fürst der Finsternis dem Werwolf die Augen, sodass der Wahnsinn zu erkennen war, der ihn in seiner Gewalt hatte.

Mit einem humorlosen Lachen tätschelte der Fürst der Finsternis Kassandra die Wange. »Genießt eure Wiedersehensfeier.«

Kassie machte sich nicht die Mühe zuzusehen, wie das Miststück im Nebel verschwand, da ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf die wilde Bestie gerichtet war, die in tödlicher Absicht auf sie zugeschlichen kam.

Kummer erfüllte ihr Herz, während sie langsam zurückwich. »Caine …«