KAPITEL 6
Salvatores Versteck in St. Louis
Caine ließ den Jeep mehrere Kilometer von Salvatores Versteck entfernt stehen, in einem nördlichen Vorort der Stadt. Dann führte er Kassandra am Ufer des großen Sees entlang, der von Backsteinvillen umgeben war, die wie edle Juwelen mitten in den makellosen Rasenflächen und den architektonischen Gartenanlagen lagen, und hielt hinter einem Bootshaus an.
Es war so spät, dass das Viertel in nachtschlafende Dunkelheit gehüllt war, aber sein Nachtsehvermögen ermöglichte es ihm mühelos, seine Umgebung nach etwaigen Gefahrenanzeichen abzusuchen.
Es waren aber keine zu finden.
Er tat den Inkubus, der im Augenblick die Fantasie einer vernachlässigten Hausfrau erfüllte, und das Harpyiennest, verborgen auf der kleinen Insel mitten auf dem See, als unwesentlich ab. Sie bedeuteten für einen Rassewolf keine Bedrohung.
Da er aber trotzdem noch lange nicht beruhigt war, studierte er genau das große, dreistöckige Haus, das auf einem Hügel stand, von dem aus man den See überblicken konnte. Die Aussicht auf die hinteren Wände, die beinahe vollständig aus Glas bestanden, wurde zum Teil von einer großen Veranda versperrt, die von Marmorsäulen eingerahmt wurde. Pergolagärten erstreckten sich über die gesamte Länge des abschüssigen Hangs und zogen sich bis zum Rande einer Steingrotte hin, die nicht nur als perfekte Stelle für ein Picknick dienen konnte, sondern auch als Beobachtungsstand für Salvatores Wachtposten.
Wachtposten, die eigentlich im Dienst sein sollten.
Also, wo zum Teufel waren sie?
Caine suchte noch nach einer Antwort, als er spürte, wie Kassandra sich neben ihn hockte, den Blick aus den weit aufgerissenen Augen auf die Villa geheftet, die über ihnen lag.
»Großer Gott«, keuchte sie. »Das ist Harleys Haus?«
»Eins davon.«
»Es ist sehr groß.«
Er verzog die Lippen, amüsiert über die Untertreibung. Das Anwesen war groß genug, um einem kleinen Land Platz zu bieten. »Wenn du möchtest, könnte ich für dich auch eins bauen lassen.«
Sie schauderte. »Nein, ich habe zu viele Jahre in seelenlosen Höhlen verbracht, um mich an solch einem Ort wohlzufühlen«, meinte sie. »Ich ziehe dein Haus vor.«
Er streckte die Hand aus, um ihre leicht zu drücken. »Unser Haus«, berichtigte er.
»Ja.« Ihre Grübchen kamen für einen kurzen Moment zum Vorschein. »Unser Haus.«
Befriedigung durchzuckte ihn. Mit einem leisen Stöhnen zog er sie eng an sich, um ihre Lippen mit einem innigen Kuss zu erobern. »Unser« klang unglaublich perfekt.
Aber dann zwang er sich mit einem Fluch, sich von ihr loszureißen. Es war nicht die richtige Zeit für eine Zerstreuung. Ganz egal, wie groß die Versuchung auch sein mochte.
Selbst wenn dies keine Falle war, wusste er, dass Salvatore ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte. Wenn das Rudel des Königs ihre Spur aufnahm, würde er es nie wieder abschütteln können.
»Fühlst du irgendwas?«, fragte er, während er seine Aufmerksamkeit wieder dem anscheinend leeren Haus zuwandte.
Kassie legte den Kopf in den Nacken und witterte. »Nein.«
»Ich auch nicht.«
Sie verzog das Gesicht. »Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«
Ja, das war die entscheidende Frage, oder?
»Salvatore hätte Harley nie völlig allein gelassen«, murmelte Caine. »Falls sie entführt wurde, sollte sein Rudel eigentlich ausschwärmen und die Umgebung durchkämmen, um sie zu suchen.«
Kassandra zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wissen sie nicht, dass sie verschwunden ist.«
»Dann sollten die Wachtposten wenigstens das Haus bewachen.«
»Meinst du, es handelt sich um eine Falle?«
Sein Kiefer spannte sich an. »Absolut.«
Sie sah ihn an, verblüfft über seine unverblümte Ehrlichkeit. »Sollten wir dann nicht ganz woanders sein?«
»Doch.«
Sie legte den Kopf auf die Seite und blickte ihn verwirrt an. »Caine?«
Er stieß einen Seufzer aus. Jeder seine Instinkte brüllte, er solle sich Kassie über die Schulter werfen und so schnell, wie er nur konnte, das Weite suchen. Selbst die Luft flüsterte eine Warnung.
Aber er hatte genug Zeit mit Kassandra verbracht, um zu wissen, dass sie nicht zufrieden sein würde, bevor sie sicher war, dass Harley gerettet war und sich wohlbehalten wieder in der Obhut ihres Gefährten befand.
»Scheiße«, murmelte er.
»Was ist?«
»Wenn ich Ingrids Fährte aufnehmen soll, muss ich näher ran.«
Ohne Zögern sprang sie auf, wie immer vollkommen furchtlos.
»Dann lass uns gehen.«
»Warte.« Caine richtete sich auf und umfasste warnend ihre Hände mit festem Griff. »Ich will, dass du mir versprichst, dass du nicht von meiner Seite weichst. Keine einzige Sekunde lang.«
Kassandra zögerte und kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ich versuche es«, räumte sie schließlich ein.
»Kassandra.«
»Mehr kann ich dir nicht versprechen.«
Caine verzog die Lippen, als er ihren offenen Blick erwiderte. »Tja, dann ist das wohl so.«
Er nahm ihre Hand und führte sie am Seeufer entlang, ohne die Steinstufen zu beachten, die zum Haus führten. Kassie lief neben ihm her und runzelte verwirrt die Stirn.
»Wohin gehen wir?«
Caine führte sie am Pier vorbei und blieb schließlich an einer Reihe von Containern in der Nähe einer mit Kies aufgeschütteten Zufahrtsstraße stehen. »Der Eingang zu dem Geheimtunnel ist im Inneren des Containers versteckt.«
»Schlau«, meinte Kassie, schlug sich aber die Hand vor Nase und Mund, als Caine das Schloss aufbrach und den Deckel des grünen Metallmüllcontainers aufriss, der ein kleines Stück von den anderen entfernt stand. »Und stinkend«, ergänzte sie leise, indem sie instinktiv einen Schritt zurückwich. »Wow.«
Caine, der auf den Abstoßungszauber vorbereitet war, ignorierte den fauligen Gestank, der aus dem Container aufstieg, genauso wie den magischen »Impuls«, sich umzudrehen und wegzugehen. »Das hält Dämonen davon ab, in der Nähe herumzuschnüffeln und den Eingang zu entdecken«, erklärte er, sprang in den Müllcontainer und streckte die Hand aus.
»Eine sehr effektive Abschreckung«, stieß Kassie würgend hervor. Widerstrebend ergriff sie seine Hand und kletterte in den Container.
Sobald sie die Barriere überwunden hatten, verschwand der Zauber unvermittelt, um einen peinlich sauberen Container zu hinterlassen, in dessen Metallboden eine Falltür eingelassen war. Caine beugte sich nach unten und ließ seine Finger über den Umriss der Tür gleiten, bis er den verborgenen Hebel gefunden hatte. Mit einem schwachen Klicken schwang die Tür abrupt auf und brachte einen Tunnel zum Vorschein, der in den Boden gegraben war.
Caine griff hinter sich, fasste Kassie bei der Hand und steckte ihre Finger in den Bund seiner Jeans. »Halt dich fest, und lass nicht los«, kommandierte er.
Sie rümpfte die Nase. »Du bist ganz schön herrisch.«
»Nein. Verängstigt.«
Ohne ihr Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, ließ sich Caine in den Tunnel fallen. Er landete auf dem Betonboden, und Kassandra kam sachte hinter ihm auf.
Er hielt inne und untersuchte die Finsternis mit seinen verstärkten Sinnen. Da war … nichts.
Keine Feinde, die auf sie lauerten.
Keine Fallen, die auf sie warteten.
Und kein Wolfstölengeruch.
Er knurrte frustriert. »Ingrid ist nicht durch diesen Tunnel gekommen.«
»Dann müssen wir weitergehen«, flüsterte Kassandra. »Wir wissen, dass sie im Weinkeller war. Da können wir ihre Fährte aufnehmen.«
Er warf einen Blick über die Schulter und sah ihren störrischen Blick. »Und was, wenn das eine Falle ist?«
Es gelang ihr, sogar noch widerspenstiger als sonst zu wirken.
So ein Widerspenst.
War das ein echtes Wort? Wenn nicht, sollte es eins sein.
»Ich gehe nicht, bevor wir eine Spur gefunden haben, die zu meiner Schwester führt.«
Caine drehte sich um, um den Tunnel entlangzulaufen, während er mit leiser Stimme etwas murmelte. Das musste doch wohl der größte kosmische Witz aller Zeiten sein. Das Schicksal hatte ihm seinen größten Wunsch erfüllt und ihn in einen Rassewolf verwandelt, nur um ihm als Strafe die unaufhörliche Pflicht aufzubürden, das am meisten bedrohte Wesen der gesamten Erde beschützen zu müssen.
Eigentlich sollte er eine sorgenfreie Existenz am oberen Ende der Nahrungskette genießen, umgeben von seinem hingebungsvollen Harem, und jede Menge unrechtmäßig erworbener Gewinne einstreichen. War das nicht seine Wunschvorstellung gewesen?
Ganz bestimmt war es nicht sein größter Wunsch gewesen, durch die Finsternis zu schleichen, gequält von der Angst, dass er irgendwie die Frau im Stich lassen würde, die zu einem grundlegenden Teil seines Lebens geworden war.
Finger schlossen sich fester um seinen Hosenbund, und sein Anfall von Selbstmitleid war vergessen, als ein warmer, femininer Lavendelduft ihn einhüllte.
Kassie.
Er würde keine einzige Stunde mit dieser Frau gegen alle Harems und Reichtümer dieser Welt eintauschen.
Oh, wie sind die Helden gefallen.
Caine schüttelte den Kopf über seine Dummheit und folgte dem Gang, der direkt zu den Kellern unter Salvatores Versteck führte. Als sie die mit Eisenspitzen versehene schwere Holztür erreichten, atmete er tief ein, ganz und gar nicht getröstet durch die merkwürdig klare Luft.
Eigentlich sollten doch irgendwelche Gerüche in der Luft liegen.
In höchster Alarmbereitschaft stieß er widerstrebend die Tür auf und tat sein Bestes, um Kassie mit seinem Körper abzuschirmen, als sie den Raum betraten. Dieser verfügte über einen Lehmboden und Zementwände und wurde gesäumt von hoch aufragenden Regalen, auf denen Hunderte von staubigen Flaschen gelagert wurden. Mitten im Raum stand eine Reihe von alten Holzfässern, und am anderen Ende des riesigen Raumes befanden sich mehrere Bogenportale, die zu Speichernischen und Hightechkühlanlagen führten.
Caine war so darauf konzentriert, die Schatten in ihrer Nähe auf einen Hinterhalt zu prüfen, dass er fast die schlanke, blonde Werwölfin übersehen hätte, die auf einem Stuhl vor den Weinregalen ausgestreckt saß. Offensichtlich war sie bewusstlos geschlagen worden.
Allerdings bemerkte er es glücklicherweise sofort, als Kassandra sich in Bewegung setzte, um durch den Raum zu eilen. Er packte sie am Arm und hielt sie grimmig zurück. »Warte.«
»Das ist Harley«, fauchte sie und wehrte sich gegen seinen Griff. »Wir müssen ihr helfen!«
Caine legte einen Arm um ihre Taille und sprach die nächsten Worte direkt in ihr Ohr. »Kassie, irgendwas fehlt.«
»Und was?«
»Ein Geruch.«
»Ich rieche nicht …« Sie versteifte sich, als sie bemerkte, dass keine Spur des Geruchs ihrer Schwester in der Luft lag. »Oh.«
Caine stand kurz davor, sie wieder durch die Türöffnung zu schieben, als er spürte, wie sich die Luft bewegte, als eins der Regale aufschwang und eine versteckte Kammer enthüllte. Für einen kurzen Moment erhaschte Caine einen Blick auf eine kleine, mit Zement ausgekleidete Zelle, bevor er seine Aufmerksamkeit den beiden einander gleichenden Wolfstölen und der dunkelhaarigen Hexe zuwandte, die aus dem beengten Raum strömten.
»Sehr gut, Caine«, spottete die weibliche Wolfstöle, die offenbar ihre private Unterhaltung belauscht hatte.
»Ingrid.«
Caine schürzte spöttisch die Lippen, als er seine Aufmerksamkeit auf die männliche Wolfstöle richtete. Die Zwillinge glichen sich mit ihren übereinstimmenden Kurzhaarschnitten und ihren Körpern, deren Muskeln unter den olivgrünen Muskelshirts und Tarnhosen hervortraten, wie ein dummes Ei unter Anabolikaeinfluss dem anderen. Ihm war Ingrids allzu enges Verhältnis zu ihrem Zwillingsbruder noch nie geheuer gewesen, und das nicht nur, weil Dolf ein Magienutzer war.
Seine Meinung über die beiden hatte sich nicht gerade verbessert, als er herausgefunden hatte, dass der Mann es geschafft hatte, sich in eine Wolfstöle verwandeln zu lassen.
In Wirklichkeit hatte er eine ausgesprochene Mordlust entwickelt. Und nur, weil die Wolfstöle untergetaucht war, hatte er nicht seinem Impuls nachgegeben, die Welt von ihrer perversen Anwesenheit zu befreien.
»Und Dolf«, spottete er. »Ich hätte wissen müssen, dass die eine nicht ohne den anderen auftauchen würde.«
Der Mann zuckte mit den Schultern. Der Kristall, der um seinen Hals hing, glitzerte im gedämpften Deckenlicht. »Dachtest du, du könntest mich bis in alle Ewigkeit unter Verschluss halten?«
»Ich hätte dich töten lassen sollen, als ich merkte, dass deine Schwester es geschafft hat, dich verwandeln zu lassen.« Heimlich bewegte sich Caine ein Stück, sodass er zwischen den Wolfstölen und Kassie stand. »Du bist eine Monstrosität.«
»Ich bin eine Monstrosität?«, spottete Dolf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schimpft hier nicht ein Esel den anderen Langohr, Caine? Du warst doch derjenige, der als Wolfstöle eine Höhle betrat und als Rassewolf wieder herauskam.«
»Ja«, fügte Ingrid hinzu. »Wir alle können es kaum erwarten zu erfahren, wie du dieses kleine Wunder vollbracht hast.«
»Habt ihr mich deswegen hierhergelockt?«
Ohne Vorwarnung erhob sich die falsche Harley von dem Stuhl und warf ihre lange blonde Mähne nach hinten. »Nein.« Die Frau bewegte sich ein Stück zur Seite und hielt suchend Ausschau nach Kassandra. »Ihr seid hier, weil der Fürst der Finsternis die Anwesenheit der Prophetin wünscht.«
Caine hörte, wie Kassie scharf die Luft einzog. »Du bist nicht meine Schwester«, entgegnete sie der Blondine.
»Offensichtlich nicht«, gab Gaius zurück. Er verzog erleichtert das Gesicht.
Dies war sein Stichwort gewesen.
Seine Macht wogte auf, als er wieder seine wahre Gestalt annahm und nach der langen Satinrobe griff, die er auf ein Regalbrett in seiner Nähe gelegt hatte, um seinen nackten Körper zu bedecken. Dann strich er sein rabenschwarzes Haar zurück und wandte sich um, um den argwöhnischen Blick der Eindringlinge zu erwidern.
Sie machten eigentlich nicht den Eindruck, als stünden sie auf der Fahndungsliste des Fürsten der Finsternis, die winzige, hellhaarige Frau mit den grünen Augen, die zu groß für das herzförmige Gesicht wirkten, und der Werwolf, der wie ein Surfer aussah, der eigentlich am nächsten Strand ein Sonnenbad nehmen sollte.
Wie war es ihnen gelungen, den geschicktesten Spurenlesern der Dämonenwelt zu entgehen?
Dann legte Caine schützend einen Arm um die Prophetin, und Gaius erhaschte einen Blick auf den wilden Zorn, der in den blauen Augen glühte. Der Surfer war bereit, die Welt zu vernichten, um die Frau an seiner Seite zu beschützen.
»Scheiße. Wer bist du?«, fragte Caine angeekelt. »Nein, streich das. Was zum Teufel bist du?«
Gekränkt von dem Mangel an Anerkennung für seine beträchtlichen Fertigkeiten, strich Gaius mit den Händen über den schwarzen Satin seiner Robe. »Ich weiß nicht, weshalb ich immer wieder aufs Neue schockiert über die mangelnden Manieren der Werwölfe bin«, erwiderte er gedehnt. »Schließlich seid Ihr Hunde.«
Caines Augen verengten sich. Offenbar fiel es ihm schwer, Gaius’ ungewöhnliche Talente zu akzeptieren. »Blutsauger sind keine Gestaltwandler.«
»Ich verfüge über Kräfte, die Eure Vorstellungskraft weit übersteigen.«
Der Werwolf schnaubte verächtlich. »Und über ein dementsprechendes Ego.«
Gaius biss die Zähne zusammen und gab den beiden Wolfstölen ein Zeichen. Er würde sich nicht mit einem verdammten Hund streiten. Nicht, wenn er sich im Weinkeller des Werwolfkönigs befand. Je schneller sie aus St. Louis verschwunden und in sein Versteck zurückgekehrt waren, desto besser.
»Holt die Seherin«, befahl er.
Caine knurrte, und in seinen Augen glühte seine Macht, als er sich darauf vorbereitete, sich zu verwandeln. »Nur über meine Leiche.«
Dolf legte flink seine Kleidung ab. Seine Augen funkelten rot wie die aller Wolfstölen. »Das lässt sich arrangieren.«
»Nein, Dummköpfe, der Fürst der Finsternis will, dass sie lebend gefangen genommen werden«, knurrte Gaius. Die Luft um Ingrid und Dolf begann zu schimmern, und sie verwandelten sich mit dem brutalen Geräusch krachender Muskeln und Knochen in Wölfe, die die Größe von Ponys besaßen und über ein helles Fell und rote Augen verfügten. Sie fletschten die Fangzähne und ignorierten Gaius’ scharfe Zurechtweisung. Ihre Aufmerksamkeit war nach wie vor auf Caine gerichtet.
Törichte Muskelprotze. Wenn ihre Lust an der Gewalt seine Gelegenheit ruinierte, den Fürsten der Finsternis zu erfreuen und seine längst überfällige Belohnung einzustreichen, würde er dafür sorgen, dass sie gehäutet und an seine Wand genagelt werden würden.
Ihr Mangel an Kontrolle schien jedoch keine Rolle zu spielen. Gerade als sie Anstalten machten, sich zum Angriff zu ducken, erfüllte eine erstickende Hitze den Keller, und mit einer machtvollen Explosion verwandelte sich auch Caine. Gaius murmelte einen Fluch und sah entsetzt zu, wie aus der schimmernden Magie ein riesiger Wolf zum Vorschein kam.
Der Kopf der Bestie, die selbst auf allen vieren so hoch aufragte wie Gaius, besaß die Größe eines Ambosses, und ihr Brustkorb war so breit wie ein Kleinwagen. Noch enervierender war allerdings die unbarmherzige Intelligenz, die wie ein saphirblaues Feuer in den Augen des Wolfes brannte.
Im Gegensatz zu den Wolfstölen wurde Caine nicht von seiner Blutgier vereinnahmt. Ganz im Gegenteil.
Auf eine frustrierend schlaue Weise benutzte der Werwolf seinen Kopf, um die widerstrebende Prophetin in die Betonzelle zu drängen. Dann blockierte er die enge Türöffnung mit seinem großen Körper. Wer Kassandra erreichen wollte, musste zuerst an Caine vorbei.
Dieser Bastard.
Gaius wich verstohlen einen Schritt zurück, als Ingrid und Dolf sich buchstäblich dem Tod in den Rachen stürzten. Er hegte absolut nicht die Absicht, sich in den Kampf einzumischen. Nicht wenn er vom Gestaltwandeln erschöpft war, ganz zu schweigen von den Anstrengungen, die damit verbunden gewesen waren, mit zwei Wolfstölen und einer Hexe den Nebel zu durchqueren, um den Weinkeller überhaupt zu erreichen.
Stattdessen winkte er herrisch der Hexe zu, die bemüht war, sich hinter einer Steinsäule zu verbergen. »Sally.«
Sie zog sichtbar die Füße nach, als sie sich zwang, zu ihm zu gehen. »Was ist denn?«
Ihr Ton war verdrießlich, und er blickte sie finster an. »Hegt Ihr etwa die Absicht, einfach hier herumzustehen und bloß zu gaffen?«
Sie warf einen misstrauischen Blick auf die knurrenden Wolfstölen, die versuchten, den größeren Werwolf anzugreifen, indem sie sich gegenseitig ablösten.
Diese Anstrengungen waren allerdings vergeblich.
Obwohl es der einen Wolfstöle gelang, ihre Fänge in Caines dichtes Fell zu schlagen, stürzte sich dieser wild auf das Fleisch der anderen. Andererseits bedeutete der brutale Kampf natürlich, dass er vorübergehend abgelenkt war.
»Was soll ich denn tun?«, fragte Sally und rümpfte die Nase, als der deutlich wahrnehmbare Geruch nach Blut die Luft durchdrang. Womöglich lag es aber auch an den Schmerzensschreien, die durch den Keller hallten, als Caine es schaffte, Dolf ein Stück aus seiner Schnauze zu reißen.
Es gelang den beiden Wolfstölen, den Rassewolf zu verletzen, jedoch nicht, ohne selbst gefährlichen Schaden zu nehmen.
»Ihr seid immerhin eine Hexe, oder nicht?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Der Platz ist zu beengt, um einen Zauber zu riskieren.«
»Ihr habt sehr schnell Magie eingesetzt, als wir eintrafen.«
»Das war ein harmloser Versteckzauber, damit unsere Anwesenheit hier geheim blieb«, rief sie ihm ins Gedächtnis und ließ ihren Blick anzüglich über seinen angespannten Körper gleiten. »Nicht alle von uns sind … kastriert worden.«
Gaius packte das Miststück am Hals, erzürnt von der Erinnerung daran, dass er es zugelassen hatte, seiner ureigenen Essenz beraubt zu werden. Indem er seine Klauen in ihre Kehle grub, hob er sie mit einem Ruck hoch und hielt sie so in die Höhe, dass sie ihm direkt in die Augen blicken konnte. »Ihr dürft nicht glauben, dass Ihr mich verspotten könnt, Hexe«, fauchte er, wobei in seiner Sprache ein deutlicher Akzent erkennbar wurde, der so alt war wie das Römische Reich.
Sie griff nach seinem Handgelenk, die Augen qualvoll geweitet. »Der Fürst der Finsternis …«
»Wird meine demütigsten Entschuldigungen für den Tod seiner Leitung annehmen und sehr rasch eine andere finden«, unterbrach er sie ruhig.
»Bitte«, flehte sie. »Nein!«
Gaius ließ Sally abrupt los, sodass sie zu Boden fiel. Ihre lächerlichen Zöpfe baumelten um ihr Gesicht, das mit schwarzem Eyeliner und schwarzem Lippenstift bemalt war, als sie sich aufrichtete und sich das Blut vom Hals wischte.
»Dann macht Euch nützlich, und bringt mir die Seherin«, fuhr er sie an.
»Seid Ihr übergeschnappt?«
Gaius beobachtete, wie die Furcht, die die Hexe vor ihm hatte, der blanken Panik wich, die bei seinem Befehl, in den blutigen Kampf zu ziehen, in ihr aufflackerte.
»Selbst wenn ich an ihrem tollwütigen Beschützer vorbeikommen würde, was ich nicht kann, ist sie dennoch eine Rassewölfin!«
»Sie kann sich nicht verwandeln.«
»Aber sie kann mich in zwei Hälften reißen!«
Gaius beugte sich zu Sally hinunter, bis seine Nasenspitze beinahe die ihre berührte. Seine Macht ließ sie zusammenzucken. »Das kann ich ebenfalls.«
»Scheiße. Ich hätte mich einfach von meiner Mutter umbringen lassen sollen«, murmelte sie. »Wenigstens wollte sie das schnell tun.«
Sally ballte die Hände zu Fäusten und durchquerte widerwillig den Raum. Abrupt sprang sie zur Seite, als die blutende Ingrid an ihr vorbeisegelte, gegen die Weinfässer prallte und bewusstlos liegen blieb.
Gaius schüttelte den Kopf. Die Angelegenheit verlief alles andere als gut.
Das überraschte ihn jedoch nicht sonderlich. Er hatte von Anfang an vermutet, dass die feste Überzeugung der Wolfstölen, einen reinblütigen Werwolf besiegen zu können, eher ein Produkt ihrer gemeinsamen Eitelkeit war, als dass sie ihrem wahren Geschick entstammte.
Aber er hatte zumindest gehofft, Caine lange genug kampfunfähig machen zu können, um die Prophetin in die Finger zu bekommen und aus dem Keller zu verschwinden.
Jetzt war Ingrid außer Gefecht gesetzt. Dolf wurde zu Boden gedrückt, und die Fänge des Rassewolfes hatten sich fest um seine Kehle geschlossen.
Und die Hexe versuchte sich in die enge Zelle zu schleichen und ließ dabei den Enthusiasmus einer Gefangenen auf dem Weg zum Galgen erkennen.
Die Versuchung, einfach vor dem anstehenden Fiasko davonzulaufen, war ungemein stark. Er könnte in sein Versteck zurückkehren und vorgeben, niemals in der Nähe von St. Louis gewesen zu sein.
Unglücklicherweise konnte er sich nicht sicher sein, dass Caine und Kassandra ihm die Gefälligkeit erwiesen, die drei stümperhaften Amigos tatsächlich zu töten. Und wenn eine der drei Personen überlebte, würde sie zwangsläufig Protest bei dem Fürsten der Finsternis erheben.
Und dann …
Er erschauderte, nicht willens, sich vorzustellen, was dann womöglich geschah. Nein. Er konnte nicht davonlaufen. Aber er war noch immer zu schwach, um gegen einen aufgebrachten Rassewolf zu kämpfen. Was sollte er also tun?
Gaius verlor sich in seinen düsteren Grübeleien, sodass er von Sallys plötzlichem Kriegsschrei überrascht wurde. Zumindest ging er davon aus, dass es das darstellen sollte. Um die Wahrheit zu sagen: Es klang wie eine schlechte Tarzanimitation.
Er beobachtete ungläubig, wie die Hexe auf die Werwölfin zuschoss und sie am Pferdeschwanz packte, an dem sie dann heftig zerrte.
War sie etwa wahnsinnig geworden?
Die Prophetin, die eindeutig ebenso verblüfft war wie er, schob die Frau eher verwirrt als angstvoll beiseite. Für ihren Beschützer jedoch spielte es keine Rolle, was Sally zu tun versuchte. Nachdem er den bewusstlosen Dolf auf Ingrid geworfen hatte, wandte Caine seine unerbittliche Aufmerksamkeit der Hexe zu.
Sally kreischte, als seine blutigen Fänge direkt nach ihrem Gesicht schnappten, und sie raste in einem Tempo aus der Zelle, das beträchtlich höher war als die Geschwindigkeit, mit der sie hineingegangen war.
Es gab nichts Besseres als einen Werwolf, der einem den Kopf abzubeißen versuchte, um den Schritten einer Person mehr Schwung zu verleihen.
Sie ging direkt auf ihn zu und fuchtelte mit der zur Faust geschlossenen Hand in der Luft herum. »Holt uns hier raus!«
Gaius blickte sie finster an und hoffte insgeheim, dass der tollwütige Werwolf es schaffte, ihr den Todesstoß zu versetzen.
Natürlich blieb ihm dieses Glück verwehrt.
Das Tier, das eindeutig verwundet war, weigerte sich, seinem Blutdurst nachzugeben. Stattdessen blieb es in der Türöffnung stehen und beschützte seine Begleiterin, statt seinen primitiven Instinkten zu folgen.
Gaius fluchte resigniert und trat zu den verstümmelten Wolfstölen, die ordentlich neben dem Regal aufgestapelt lagen. Dann schlang er seine Finger um das Medaillon, das an einer Kette um seinen Hals hing, und wartete, bis Sally ihn erreichte, bevor er ein Zauberwort sprach und sie in Nebel hüllte.
Diese Angelegenheit war von Anfang bis Ende ein spektakulärer Fehlschlag gewesen.
Caine hatte seinen Kampf mit den beiden Wolfstölen noch lebhaft in Erinnerung. Den Geschmack ihres Blutes, als er Fellstücke und Fleisch herausgerissen hatte. Und den Geruch ihrer wachsenden Verzweiflung.
Aber es war ihm nicht gelungen zu vermeiden, dass er selbst Schaden nahm. Und obwohl keine seiner Wunden lebensgefährlich war, strömte aus ihnen allen Blut, und zwar in einem solchen Tempo, dass es ihm schnell seine Kräfte raubte.
Verbissen ignorierte er seine wachsende Schwäche, und er schaffte es, die menschliche Hexe zu vertreiben, bevor seine Beine unter ihm zusammenbrachen. Sein Kopf schlug mit genügend Wucht auf den Boden, um ihn für kurze Zeit außer Gefecht zu setzen. Als es ihm endlich gelang, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, erkannte er, dass er wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte und Kassie neben seinem nackten Körper kniete.
»Caine.« Zärtlich strich sie ihm das Haar aus der verschwitzten Stirn. »Wir müssen von hier verschwinden.«
»Ja.« Seine Stimme klang rau, aber er fühlte, dass die meisten seiner Wunden sich während seiner Verwandlung geschlossen hatten. Leider würde es einige Zeit dauern, bis sie vollständig verheilt waren. Er war sich nicht sicher, ob sie so viel Zeit hatten.
»Lass mich dir helfen«, sagte Kassandra und schob ihre Arme unter seinen Körper, als er mühsam aufstand.
»Was ist mit dem Vampir?«, fragte er krächzend und suchte mit seinem verschwommenen Blick den anscheinend leeren Keller ab.
»Er ist verschwunden.«
Widerstrebend ließ er sich von Kassandra überreden, sich schwer auf sie zu stützen, als sie auf den Tunnel zustolperten. Bei ihrer ungenauen Antwort runzelte er irritiert die Stirn. »In welche Richtung ist er gegangen?«
Sie schlang den Arm um Caines Körpermitte, als sie den Gang betraten und ihre nach Lavendel duftende Wärme ihn einhüllte. Er saugte den süßen Duft ein, in der Hoffnung, die wilde Wut seines inneren Wolfes damit lindern zu können.
Es spielte keine Rolle, dass er rein logisch begriff, dass Kassandra unverletzt war. Oder dass offenbar keine unmittelbare Gefahr bestand. Die Bestie in seinem Inneren würde nicht zufrieden sein, bevor diejenigen, die es wagten, seine Frau anzugreifen, vernichtet waren.
»Nein, ich meine, dass er wirklich verschwunden ist«, erklärte sie. »Er hat sich in Luft aufgelöst.«
Caine sah sie stirnrunzelnd an. War es der Hexe etwa gelungen, Kassie so lange zu verwirren, dass es für diese so gewirkt hatte, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätten?
»Das ist unmöglich.«
Kassandra zuckte die Schultern. »Dann hat er sich und seine Begleiter unsichtbar gemacht.« Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Ist das eher möglich?«
»Die Hexe …?«
»Nein, das war der Vampir«, erwiderte sie beharrlich. »Er griff nach einem Amulett, das um seinen Hals hing, und sie alle verschwanden.«
Gott. Sein Kopf pochte, als er die Tatsache akzeptierte, dass der widerliche Blutsauger nicht nur seine Gestalt wandeln konnte, sondern auch in der Lage war, blitzschnell aus dem Nichts aufzutauchen und wieder zu verschwinden.
Na, das war ja einfach toll.
»Die ganze Welt ist verrückt geworden«, murmelte er.
Kassie tätschelte ihm die Schulter. »Ja.«
»Versuchst du mich bei Laune zu halten?«
»Ja.«
Caine schluckte einen Seufzer herunter. Er war zu schwach, um die Empörung heraufzubeschwören, die eigentlich angebracht gewesen wäre. Tatsächlich brauchte er alle Energie, die er überhaupt besaß, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Er biss die Zähne zusammen, als sie sich langsam dem Ende des Tunnels näherten, aber als er zu der Öffnung hinaufsah, war er gezwungen, sich geschlagen zu geben. Auf gar keinen Fall würde er anderthalb Meter in die Höhe springen können.
»Ich kann nicht hinaus, bis ich mich ausgeruht habe«, gestand er widerstrebend.
Kassie veränderte ihre Position, sodass er sich gegen die Tunnelwand lehnen konnte. Ihre Miene zeigte ruhige Entschlossenheit. »Ich gehe vor und ziehe dich dann heraus.«
Er runzelte die Stirn. »Eigentlich sollte es andersrum sein.«
»Weshalb? Weil du der Mann bist?«
»Genau.«
Sie verdrehte die Augen. »Sexistischer Hund.«
Diesen Vorwurf hatte sich Caine bisher noch nie gefallen lassen müssen. Selbst als er noch eine Wolfstöle gewesen war, hatte er Frauen bevorzugt, die stark und unabhängig waren und einen gefährlichen Reiz hatten. Nichts hielt einen Mann so gut auf Zack wie mit einer Frau ins Bett zu gehen, die einem vielleicht die Kehle herausriss, wenn man sie wütend machte.
Aber bei Kassie …
Da wünschte er sich, der schlimmsten Art von Klischee zu entsprechen.
Da wollte er ein perfektes Versteck bauen, in dem sie in Sicherheit war und das genug Wärme und Komfort bot, damit sie nie wieder gehen wollte.
Da wollte er jagen, um für Nahrung zu sorgen, und dann Wache stehen und ihr Schutz bieten, während sie ihren Hunger stillte.
Da wollte er sie in den Armen halten, wenn sie schlief, ihren sanften Atem an seinem Hals spüren und das gleichmäßige Schlagen ihres Herzens unter seiner Hand.
»Es gefällt mir, wenn du auf mich angewiesen bist«, murmelte er.
Sie lächelte und drückte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. »Partner sind aufeinander angewiesen.«
»Partner«, flüsterte er und ignorierte die Tatsache, dass dieses Wort dem Ausdruck »Gefährten« gefährlich nahe kam.