NEUNUNDDREISSIG

Dad schleifte mich durch das ganze Haus. Über eine Stunde lang, treppauf, treppab. Es war fast so wie an dem Tag nach meinem Geburtstag, an dem ich allein wie eine Verrückte durch das Haus gehetzt war, um in jedes Zimmer zu sehen. Nur dass ich vor meinen Gedanken geflohen war, während Dad eine verbissene Suchaktion veranstaltete.

Die Frage, was mit Lucian passiert war, stellte er mir ungefähr ein Dutzend Mal und ich wiederholte wie ein dressierter Papagei: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht«, bis die Worte sich anhörten wie eine sinnentleerte Litanei. Natürlich nahm mir Dad kein einziges davon ab, ebenso wenig wie Michelle, während der Officer dagegen an ihrer beider Zurechnungsfähigkeit gezweifelt hatte.

»Einen Jungen, der sich in Luft auflöst, kann ich schlecht zu Protokoll geben«, hatte er gesagt und bedauernd mit den Schultern gezuckt. Dann hatte er mich gefragt, wo ich gewesen sei.

»Ich bin einfach abgehauen«, hatte ich dem Officer zur Antwort gegeben, und nachdem Dad noch einmal verzweifelt Lucians Aussehen geschildert hatte – dünn, blass, scharfe Züge, schwarze Haare, schwarze Augen, irrer Blick –, war der Officer gegangen.

Michelle hatte sich, nachdem Faye nicht mehr aufgetaucht war, mit Val ins Kinderzimmer zurückgezogen und ich versuchte, ein letztes Mal mit Dad zu reden. Was wäre, wenn Lucian nicht mein Mörder, sondern mein einzig möglicher Retter wäre? Was wäre, wenn ich mich in Lebensgefahr befände, weil uns niemand glauben wollte? Was wäre, wenn ich sterben müsste, weil man uns trennte?

Dads Gesichtsausdruck wurde mit jeder Frage weicher, bis ich begriff, dass er glaubte, ich hätte den Verstand verloren. Dann sah er auf die Uhr und sagte, dass der Flieger meiner Mutter vor einer Stunde gelandet wäre.

Als ich diese Worte hörte, gab ich auf.

Dass Janne unter diesen Umständen mit sich reden lassen würde, konnte ich mir nicht mal im Traum einbilden. Und den Verstand verloren hatte ich einzig in dem Moment, in dem ich mir vorgemacht hatte, die ganze Sache erklären zu können.

Dad hatte mir nicht geglaubt. Und Janne würde es erst recht nicht tun. Selbst wenn ihr vielleicht klar werden würde, dass Lucian übersinnliche Fähigkeiten hatte – die Sache mit dem Engel würde sie mir niemals abnehmen.

Er ist mein Engel. Wenn ich ihn verliere, sterbe ich.

Warum klangen Worte, die zum Klischee verkommen waren, immer so verdammt unglaubwürdig? Noch nie hatte ich mir darüber Gedanken gemacht.

Selbst wenn Tyger – wo immer er sich jetzt aufhielt – versuchen würde, sich einzuschalten – meine Psychologenmutter würde ihn einfach für verrückt erklären – genau wie mich.

Mit dem einzigen Unterschied, dass ich mich nicht unsichtbar machen konnte.

»Ich möchte bitte in mein Zimmer«, sagte ich.

Dad sah mich traurig an. »Ich halte es für besser, wenn du hier bei mir bleibst, bis Janne da ist.«

»Du kannst ja hinter mir abschließen.«

Ich ging ruhig voraus. Mein Vater folgte mir. Ich schwieg, selbst, als er sich an mir vorbei ins Zimmer schob, einen Blick in den Ankleideraum warf, dann das angrenzende Bad und schließlich sogar noch den Spalt unter dem Bett inspizierte.

Einen Moment später hörte ich, wie der Schlüssel von außen umgedreht wurde.

Dad hatte sehr gründlich unter dem Bett nachgeschaut. Wer auf dem Bett saß, hatte er nicht gesehen.

Lucian und Faye hockten im Schneidersitz auf der Decke. Sie warteten auf mich.

Schweigend schaute ich sie an und in diesem Moment wurde mir zum allerersten Mal bewusst, wie anders sie waren.

Ich hatte Tyger, Faye, Lucian bis jetzt immer nur allein gesehen. Doch nun begriff ich, dass Lucian und Faye etwas verband, das ich nicht kannte, das ich niemals erlebt hatte und das ich niemals wirklich verstehen würde.

Auch wenn Lucian in den letzten beiden Tagen und Nächten so menschlich, so wirklich gewesen war, so sehr Haut und Fleisch und Blut und Mund und Herz, er war nicht wie ich. Er war wie Faye. Das hatte er heute Morgen gemeint. Er gehörte wie Faye zu einer anderen Wirklichkeit, von der ich nie ein Teil sein würde.

»Was tun wir jetzt?«, brach ich schließlich flüsternd die Stille.

Faye und Lucian sahen sich an.

»Zusammenbleiben«, sagte Faye. »Egal wo. Egal wie . . . bis es geschieht.«

Ich schluckte. Aber diesmal widersprach ich nicht und diesmal hatte ich keinen Plan, keine Lösung, keine Idee. Mein Repertoire war ausgeschöpft.

»Was schlägst du vor?«, fragte ich Lucian.

Er starrte auf seine geöffneten Hände, als könnte er die Antwort dort ablesen. »Wir versuchen, den Raum zu finden«, sagte er. »Dann wären wir wenigstens da. Dann wüssten wir, wo es uns erwartet.«

Zögernd wandte er mir sein Gesicht zu. Mein Herz fing an zu rasen, als hätte Lucian gerade vorgeschlagen, die Klippe zu suchen, von der wir uns in die Tiefe stürzen würden. Es klang wie die Vorbereitung zu einem Selbstmord. Aber gleichzeitig wusste ich, dass es einen Sinn ergab. Noch war meine Mutter nicht hier. Noch hatten wir eine Chance, zusammen zu überleben. Oder zusammen zu sterben.

Ich ging zum Fenster. Es führte zum westlichen Teil des Grundstückes hinaus. Draußen dämmerte es bereits. Das Meer war ein silberner Streifen und der Garten unter uns war ganz still. Ich blickte an dem Baum vor meinem Fenster vorbei auf die Büsche, die den Weg zur Straße abschirmten. Auf einem der Zweige, zwischen dicken sattgrünen Blättern saß ein Vogel, ein kleiner Spatz. Er stieß ein freches Zwitschern aus, dann hob er seine Flügel. Als er in die Luft flog, durchfuhr mich ein ähnliches Gefühl wie auf Suses Geburtstagsparty an der Elbe. Damals hatte es sich nur angefühlt wie ein Déjà-vu. Heute wusste ich, dass ich schon ein Mal hier gewesen war, dass ich genau diesen Moment nicht zum ersten Mal erlebte. Es war ein glücklicher Moment gewesen, auch das fühlte ich. Da war ein inneres Lachen in mir, wie ein Echo aus einer anderen Zeit.

Langsam drehte ich mich zu Lucian um.

»Okay«, sagte ich. »Wir klettern raus und suchen diesen Raum.«

Lucian war vom Bett aufgestanden. Er kam auf mich zu, legte seinen Arm um meine Taille und ich lehnte den Kopf an seine Schulter. Eine kleine Weile standen wir schweigend da, dann zeigte Lucian auf den Baum. Es war eine Linde mit großen hellgrünen Blättern. Einer der Äste war ziemlich dicht am Fenster, aber um zum Stamm zu kommen, musste man sich ein ganzes Stück daran entlanghangeln.

»Schaffst du das?«, fragte Lucian.

Ich nickte.

Faye lief zur Tür und horchte. Doch im Flur war alles still.

»Gibt es noch etwas, das du mitnehmen möchtest?«, fragte Lucian.

»Dich«, sagte ich und schlang meine Arme um seinen Hals. Über seine Schulter hinweg sah ich Faye an der Tür stehen. Sie lächelte mir zu und es steckte so viel in diesem Lächeln, Trauer, Sehnsucht, Wünsche.

Dann fiel mein Blick auf den Glücksschwamm von Spatz. Er lag auf meinem Kopfkissen und ich lief hin, um ihn zu holen. Ich verstaute ihn in meiner Tasche.

»Los«, sagte ich.

Lucian küsste mich sanft. »Ich zuerst«, sagte er und grinste leicht.»Ich Tarzan, du Jane.«

Dann schwang er sich leichtfüßig auf das Fensterbrett, setzte mit einem Sprung zu dem Ast an, griff ihn und hangelte sich mit fließenden Bewegungen bis zum Stamm, an dem er lautlos wie eine Katze nach unten kletterte.

Mein Abstieg verlief nicht ganz so elegant. Als ich auf das Fensterbrett kletterte, hämmerte mir das Herz bis in die Ohren. Um den Ast greifen zu können, musste ich mich weit vorbeugen, und wenn meine Hände in die Luft griffen, würde ich abstürzen.

»Nicht denken«, rief Lucian von unten. »Spring einfach!«

Ich holte Luft, dann streckte ich die Hände aus, machte einen Satz in die Luft und krallte mich an den Ast. Er war gerade dick genug, dass ich ihn mit den Händen umfassen konnte, aber als es knackte, stieß ich einen leisen Schrei aus. Meine Beine baumelten in der Luft und mein Körper fühlte sich an, als würde er in der Mitte durchgerissen. Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte ich es bis zum Stamm.

Der Ast hatte gehalten. Meine Hände schwitzten so stark, dass ich mich kaum noch halten konnte. Zitternd suchte ich mit meinem Fuß den nächsten Ast, ratschte mir die Handflächen an der rauen Rinde auf und rutschte die letzten Meter wie ein nasser Sack nach unten. Die Beine knickten unter mir weg und ich fiel wie ein Käfer auf den Rücken. Lucian griff mir unter die Achseln und zog mich vom Boden hoch.

Hinter uns ertönte ein Rascheln.

Ich lag noch immer halb am Boden, fest im Griff von Lucians Händen, die an mir rissen und zerrten, als hinter einem der Büsche jemand auf uns zukam.

Nicht Dad.

Nicht Janne.

Im Garten meines Vaters, kaum noch einen Meter von uns entfernt, stand Sebastian.

Lucian
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